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Mosaik der verlorenen Zeit

Ein kaleidoskopischer Roman

von Elyseo da Silva (Autor:in)
600 Seiten

Zusammenfassung

Der PAGE-TURNER "Tolles Buch, das mich in Atem gehalten hat. Spannend wie ein Thriller taucht man ein in die magisch-mystische Welt der Mayas. Die unterschiedliche Handlungsstränge verknüpfen sich im Laufe des Buches zu einer tragischen, schönen, fesselnden, traurigen Geschichte, die man bis zur letzten Seite nicht mehr aus der Hand legen möchte." (Leserin über das Mosaik der verlorenen Zeit) Julián verbrennt. Schuld daran ist ein Alptraum, der nach dem Aufwachen Brandblasen auf seinem Körper hinterlässt. Kein Arzt, kein Psychologe, kein Medikament scheinen Julián helfen zu können. Just zur Zeit seiner größten Verzweiflung steht plötzlich Kyriel vor der Tür. Die beiden Freunde haben sich seit Jahren nicht gesehen, doch ist Kyriel selbst auf der Flucht vor den eigenen Erinnerungen. Als ein unerwarteter Gast endlich Licht ins Dunkel bringt, begeben Julián und Kyriel sich auf eine Reise, die ihrer beider Leben für immer verändern wird. Auf der anderen Seite der Welt, in einem kleinen Dorf in Guatemala, wächst das Maya-Mädchen María Dolores auf. Ihre Kindheit endet von einem Tag auf den anderen, als sie vor der Hütte, in der sie gemeinsam mit ihrer Familie lebt, ein Symbol entdeckt. Auf einem Felsen prangt eine weiße Hand. Jeder in Guatemala weiß, was dieses Symbol zu bedeuten hat: Jemand wird sterben… "Elyseo da Silva besitzt ein Talent Gefühle in seinen Texten aufleben zu lassen, das seinesgleichen sucht. (...) Eines der besten Bücher das ich jemals lesen durfte." (Adrienne Ava) "Mein Jahrhundertroman." (Beka Verardi) Abenteuer, Liebesgeschichte, historischer Roman, Coming-of-Age-Geschichte - das Mosaik der verlorenen Zeit raubt dem Leser den Schlaf .

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Vom tintenblauen Himmel herab sendet ein silberner Mond seinen Atem aufs Land. Vorstadtvorhänge bauschen sich, unbemerkt.

Hinter einem solchen Vorhang, an einem Schreibtisch, sitzt ein Mann. Vornübergebeugt sitzt er, summt gedankenverloren eine traurige Weise. In seiner Hand ein Füllfederhalter. Er fliegt über einen Bogen Papier, beschreibt ihn mit eng gesetzten Lettern. Bisweilen rastet er, schwingt sich dann wieder auf. Zögerlicher Mal um Mal.

Beschwörend sendet der Mann einen Blick gen Himmel.

Abermals ringt er der Feder ein Wegstück ab. Schließlich jedoch verstummt sie, verharrt, als entweiche alles Leben aus ihr.

Der Mann seufzt.

Knisternd landet der Bogen im Feuer, wie so viele seiner Brüder zuvor, wird eins mit dem silbernen Atem.

Ein weiterer Bogen findet seinen Weg. Der Mann beugt sich vornüber, summt leise,

Lieber Pascal,

schreibt er.

Lehnt sich zurück.

Schließt die Augen.

Beugt sich abermals nach vorn und sendet die Feder fort, hinauf zu neuem Fluge.

ERSTES BUCH – STERNSCHLAG

Kapitel 1 – Freud’sche Versprechen

 

„Was führt dich zu mir?“

Julián erschrak. Er hatte den Mann mit dem schlohweißen Haar nicht hinter der Blockhütte hervorkommen sehen. Unwillkürlich ergriff er Dunas Zaumzeug und tätschelte die sternförmige Zeichnung auf ihrem verschwitzten Hals.

„Totumay?“

Das Lächeln des Alten offenbarte faulige Zahnstümpfe. „So ruft man mich“, entgegnete er. „Wenn mich denn jemand ruft.“

„Lola schickt mich zu Ihnen.“ Julián räusperte sich. „Sie ist meine Mutter.“

„Lola.“ Die Augen des Mannes funkelten, als er den Namen aussprach.

„Genau“, nickte Julián. „Ach so - entschuldigen Sie. Ich bin Julián.“ Er streckte dem Alten eine Hand entgegen und gab sich alle Mühe, nicht auf dessen Zähne zu starren. „Julián Coya de la Serna. Lola meinte, Sie könnten mir vielleicht helfen.“

Eine Brise wehte von dem dunklen Waldsee herüber und kühlte den Schweiß auf Juliáns Haut. Er wünschte, er hätte einfach ins Wasser springen können, so wie früher.

„Nun, ich will sehen, ob mir das möglich ist. Zuerst aber solltest du Duna versorgen. Sie wird sich sonst erkälten.“

Julián stutzte, als der Alte den Namen der Stute nannte. Dann aber nickte er. Natürlich. Er war nicht der einzige, der auf diesem Wege hierher gelangte.

„Du kannst sie dort hinten anbinden“, Totumay wies ihm mit dem Finger die Richtung. „Da ist es windgeschützt. Ich bringe dir ein Handtuch.“

Duna schnupperte an Juliáns Hals, als er sich bückte, um sie an dem Pflock hinter der Hütte anzubinden. Das Gefühl war ihm noch immer vertraut, obschon es so viele Jahre zurücklag, seit er seine eigene Stute in Spanien hatte zurücklassen müssen. Ein anderes Leben.

Julián hörte, dass Totumay zurückkam. Rasch richtete er sich auf.

Der Alte reichte ihm das Handtuch. Julián nahm es und rieb Duna trocken. Währenddessen fraß die Stute begierig die Karotten, die Totumay ihr hinhielt. Erst jetzt bemerkte Julián die ordentlich angelegten Gemüsebeete ringsumher. Wie sonst auch hätte der Alte sich mitten im Wald ernähren sollen?

Als Duna trocken war, folgte Julián Totumay ins Innere der Hütte.

„Willkommen in meiner bescheidenen Behausung.“

Juliáns Augen brauchten einen Moment, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Was er dann sah, glich nichts, was er je zuvor gesehen hatte. Ein Fadengespinst durchzog den Raum. Unzählige Gegenstände hingen davon herab: Muscheln, Kristallprismen, Tierzähne. An der gegenüberliegenden Wand lehnte ein Trinkhorn, darüber hing ein Kuhschädel.

Julián sog den Atem ein. Es roch eigenartig.

Bilder stiegen in ihm auf. Flüchtig.

Ein Wohnwagen an der Atlantikküste. Singende Menschen. Feuer. Ein Fest am Strand.

Ebenso schnell wie sie kamen, verschwanden sie wieder.

„Wonach riecht es hier?“ fragte Julián.

Copal“, entgegnete Totumay.

„Copal“, wiederholte Julián und ihm kam es vor, als kenne er dieses Wort, diesen Geruch.

„Setz dich! Ich hole dir etwas zu trinken.“

Totumay wies auf eine Eckbank und verließ die Hütte. Julián tat, wie ihm geheißen. Vor ein paar Jahren hätte ihm ein solcher Ritt nichts anhaben können, jetzt aber war er froh, die müden Glieder ausstrecken zu dürfen.

Totumay kehrte mit einer Karaffe in der Hand zurück und füllte einen tönernen Becher, den er Julián reichte.

„Danke.“

Julián trank.

„Was ist das?“

„Altes Rezept“, lächelte Totumay. „Genau das Richtige an einem heißen Tag wie heute, findest du nicht?“

Er setzte sich ebenfalls, holte eine Pfeife aus den Tiefen seines weiten Gewandes und stopfte sie mit Tabak. Der Pfeifenkopf stellte ein dicklippiges Gesicht dar. Totumay entzündete den Tabak und sog den Rauch ein.

„Möchtest du?“ fragte er, nachdem er den Schwaden schweigend dabei zugesehen hatte, wie sie sich im Raum auflösten.

Julián schüttelte den Kopf.

„Also, weswegen bist du zu mir gekommen?“ fragte Totumay.

Julián lehnte sich zurück und nippte an dem Getränk. Wieder füllte der würzige, leicht scharfe Geschmack seinen Mund.

Er hatte diese Geschichte schon so oft erzählt.

Da kam ihm ein Gedanke. Er stand auf, knöpfte sein Hemd auf und zog es zur Seite.

„Deshalb“, sagte er.

Totumay sah auf die nässenden Blasen, die sich sternförmig um den Nabel ausbreiteten. Einen Augenblick lang sagte er nichts.

„Sind das – Brandblasen?“ fragte er schließlich.

„Ich denke ja“, entgegnete Julián. „Aber ich habe mich nicht verbrannt. Das ist ja das Absurde an der ganzen Geschichte.“

„Woher kommen sie dann?“

Julián knöpfte das Hemd wieder zu und setzte sich.

„Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, aber“, er zögerte einen Augenblick, „aber sie sind da, wenn ich aufwache.“

„Sie entstehen im Schlaf?“ hakte Totumay nach.

„Wissen Sie, es ist so“, begann Julián, „es gibt da diesen Traum. Fragen Sie mich nicht, warum, aber es ist immer der gleiche. Und ich wache immer an der gleichen Stelle auf. Nur werden die Blasen in letzter Zeit schlimmer und schlimmer.“

„Wie lange geht das schon so?“

„Seit Jahren“, sagte Julián. „Und glauben Sie mir, hätte ich nicht schon alles probiert, wäre ich mit Sicherheit nicht hier. Ich bin nicht wie Lola.“

Er lehnte sich zurück und nippte an dem tönernen Becher.

Totumay lächelte ihn an. Abermals fiel es Julián schwer, nicht auf die braunen Stümpfe zu starren.

„In der Tat, das bist du nicht.“

„Also, verstehen Sie mich nicht falsch“, schob Julián nach, „sie ist meine Mutter. Aber manche ihrer Vorstellung sind schon – naja, wie soll ich sagen, bisschen abgedreht.“

Totumay erwiderte nichts.

„Wie dem auch sei. Auf jeden Fall sind Sie sozusagen meine letzte Hoffnung.“ Julián seufzte. „Ich bin es leid, dass keiner dieser sogenannten Experten mir helfen kann.“

„Würde es dir etwas ausmachen, mir von dem Traum zu erzählen?“ fragte Totumay.

„Deswegen bin ich ja hier.“ Julián sah sich in der Hütte um. Totumay stopfte währenddessen seine Pfeife.

„Zumindest muss ich mir bei Ihnen wohl keine Sorgen machen, dass Sie mich für verrückt halten.“

„Verrückt?“ Der Alte lachte. „Nein, da gebe ich dir Recht. Ich denke für gewöhnlich nicht in derartigen Kategorien. Insofern bist du vor einem solchen Urteil sicher.“

„Leider gibt es sowieso nicht viel zu wissen. Ich träume, dass ich mich in einer Höhle befinde. Nichts als Fels um mich herum. Einige Schatten, die über den Boden huschen. Es ist still, beinahe unheimlich still. Von irgendwoher dringt dann ein Rauschen an mein Ohr. Ganz leise zunächst, dann lauter und lauter. Plötzlich beginnt es zu brennen. Ich versuche mich zu retten, doch in diesem Moment wache ich jedes Mal auf.”

Totumay sah aus dem Fenster. Der Wind spielte in den Wipfeln der Birken.

„Ein Rauschen?” fragte er. „Was, denkst du, verbirgt sich dahinter?”

Julián starrte auf eine leuchtende Feder, die von dem Fadengespinst herabhing.

„Ich kann es nicht sagen”, erwiderte er schließlich. „Könnte sein – also was weiß ich, ich kann mich in diesem Traum ja nie bewegen.“ Er überlegte. „Aber doch, es wäre möglich, dass es Flügel sind.”

„Flügel?”

„Sag ich doch. Vielleicht sind es Flügel. Wenn, dann müssten sie allerdings sehr groß sein.“

„Flügel“, wiederholte Totumay leise. Sein Blick wirkte mit einem Mal abwesend. Er murmelte etwas.

„Wie bitte?“ fragte Julián.

Totumay antwortete nicht.

„Was haben Sie gesagt?“

Der Alte mied Juliáns Blick und richtete sich auf.

„Nichts, mein Junge, gar nichts. Entschuldige mich bitte einen Moment – ich fürchte die Natur ruft.“

Er verließ die Hütte, ohne sich umzuwenden.

Julián saß auf der Eckbank und runzelte die Stirn. Draußen hämmerte ein Specht seinen gleichförmigen Rhythmus ins Holz eines Baumes. Erst in diesem Augenblick bemerkte Julián auch das unablässige Vogel-Geschnatter und -Gezwitscher draußen im Schilf.

Als Totumay schließlich zurückkehrte, hatte Julián den tönernen Becher ausgetrunken und kaute an seinen Fingernägeln.

„Verzeih“, sagte Totumay, während er sich erneut Julián gegenüber niederließ.

„Keine Ursache.“

Totumay entzündete die Pfeife und nahm einen tiefen Zug. Sein Blick folgte den Rauchschwaden, die ihre Reise ins Nichts antraten.

„Wollen Sie gar nichts zu alldem sagen?“ fragte Julián schließlich.

„Nun, Patentrezepte gibt es nicht. Was glaubst Du, Julián?“ Totumay sah ihn an. „Was steckt hinter diesem Traum?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich kaum hier. Wenn es nicht einmal die sogenannten Experten erklären können, wie sollte ich es verstehen?“

„Ich bezweifle, dass Experten in diesem Falle zu viel nutze sind.“

„Sage ich ja.“

„Träume haben etwas mit dir selbst zu tun. Mit sonst niemandem. Sie kommen aus deinem Inneren, nicht wahr?“

„Aber was stimmt nicht mit meinem Inneren, wenn es mich verbrennt?“ flüsterte Julián. Dann richtete er sich auf und räusperte sich. „Schließlich hat auch sonst niemand solche Träume. Ich mache nichts anderes als meine Freunde oder als die Leute, die mit mir studieren. Warum also gerade ich?“

„Hast du mit deinen Freunden über diese Träume gesprochen?”

„Nur mit einem. Kevin. Das hat mir genügt, ehrlich gesagt.” Julián sah aus dem Fenster, wo gerade ein Entenpärchen auf dem See landete. „Er meinte, ich solle mich nicht so anstellen. Nett, oder?”

„Ohnehin bleibt Fakt, dass du es bist, der diese Träume hat. Nicht deine Kommilitonen. Was also ist einzigartig an dir?”

„Einzigartig?“ Julián schüttelte den Kopf. „Nichts. Glauben Sie mir. Ich führe ein ganz normales Leben.”

„Dennoch musst du davon ausgehen, dass dieser Traum nicht grundlos zu dir kommt. Er will dir etwas zeigen. Weswegen sonst sollte er dich wieder und wieder heimsuchen?“

„Sie haben leicht reden. Dieser Traum verbrennt mich! Ich habe die Schnauze voll von solchen Binsenweisheiten. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, können wir uns das hier sparen!”

„Du fühlst dich ungerecht behandelt, das kann ich nachvollziehen. Dennoch scheint mir Zorn in diesem Augenblick wenig sinnvoll. Feuer mit Feuer bekämpfen.” Totumay strich sich übers Kinn. „Sei realistisch, seit drei Jahren versuchst du den Kampf auf diese Weise auszufechten. Was hat es gebracht? Offensichtlich nichts. Die entscheidende Frage bleibt also, warum ausgerechnet du diese Verbrennungen erleidest.”

Julián zuckte mit den Achseln.

„Du sagtest, du seist praktisch austauschbar”, meinte Totumay.

„Das habe ich so nie behauptet!”

„Nicht mit diesen Worten.”

Julián musterte ihn.

„Du führst ein ganz normales Leben, sagtest du. Aber was soll das heißen – normal?”

Julián stand auf und ging zum Fenster hinüber. Er lehnte seine Stirn an die kühle Scheibe. „Ich will doch nichts als meine Ruhe haben! Verstehen Sie das nicht?”

Der Alte trat von hinten an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Auf einmal spürte Julián eine tiefe Müdigkeit. Er drehte sich um und sah Totumay an. Dieser erwiderte seinen Blick und reichte ihm dann die Hand.

„Komm“, sagte er.

Julián folgte ihm, legte sich auf die Eckbank, streckte die Beine aus und nahm das Kissen, das Totumay ihm hinhielt. Er schloss die Augen.

Auch der Alte setzte sich wieder. „Vielleicht“, begann er schließlich, „ist es an der Zeit, dich von der Vorstellung einer allgemeingültigen Normalität zu verabschieden. Für dich scheint sie nicht mehr zu existieren.“

Julián öffnete die Augen. „Was soll das heißen?“

„Für die Menschen der alten Völker bedeutete Feuer Reinigung. Sieh dir nur die Räucherrituale an, die sich in unserer Kultur bewahrt haben. Das kommt nicht von ungefähr: auch der Glaube ans Fegefeuer, das die Seelen der Menschen –”

Eine Veränderung im Raum zog Juliáns Aufmerksamkeit von den Worten weg. Das Licht schwand aus seinem Gesichtsfeld. Das Antlitz des Alten erstrahlte mit einem Mal heller und heller. Ein Leuchten ging von ihm aus „...bedenke nur die Scheiterhaufen...” seine Züge verschwammen, verwischten langsam und die Konturen einer anderen Gestalt begannen sich abzuzeichnen. Narben durchzogen ihr Gesicht wie Flüsse eine verblasste Landkarte. Nun saß eine Frau vor ihm „...Zeichen für Veränderung, die...” eine weise Gestalt mit grauschwarzem Haar, zu beiden Seiten des Kopfes zu Zöpfen geflochten „...anerkennen, was dies bedeuten kann, ja, wenn nicht muss...” sah ihm in die Augen, stieg tiefer hinab, mit sehendem Blick „...solltest die Antwort in dir suchen...” heißes Blut schoss ihm in die Lenden „...Wahrnehmung kann ein Geschenk...” jene aus Urzeiten entstiegene Indianerin lächelte ihm zu, als ob sie ihn kannte. Kannte sie ihn? Er sie? Seit langem? – Immer schon.

Ein Aufschrei entrang sich Juliáns Kehle.

Was war hier los?

Er bemerkte, dass er auf dem Boden lag und blickte sich um. Da sah er Totumay, der neben ihm kniete, als sei nichts gewesen.

Was war das für ein Mensch? Er wusste nichts über ihn! Was trieb er für ein perfides Spiel? Was wollte er wirklich, dieser zahnlose alte Kauz?

Julián bemühte sich, einen klaren Kopf zu gewinnen.

„Alles in Ordnung mit dir?” fragte Totumay. Er lächelte und hielt ihm den tönernen Becher hin. „Beruhige dich. Trink erst mal einen Schluck!”

Julián schlug ihm den Becher aus der Hand. Er zerbarst auf dem Boden. Noch war er zumindest klar genug, um sich zu wehren!

Er versuchte sich aufzurichten, schwankte jedoch, fühlte sich benommen, fand schließlich sein Gleichgewicht, als er sich am Tisch abstützte.

Totumay stand ihm mit ausdruckslosem Blick gegenüber.

„Ich, ähm, ich muss weg. Vielen Dank für alles. Und Entschuldigung. Also, ich, ich muss dann mal –”

Julián machte einen Schritt auf die Tür zu, stolperte über ein Sitzkissen und verlor erneut das Gleichgewicht. Er versuchte sich an einem gewinnenden Lächeln.

„Ich denke nicht, dass dies der rechte Moment ist, um zu gehen”, sagte der Alte, trat Julián in den Weg und versperrte die Tür.

Kapitel 2 – Vorstadtkäfig

 

„Nein, ich kann es nicht begreifen!” sagte Kyriel.

Obwohl es bereits Nacht war, wehte warmer Wind durch das geöffnete Fenster herein.

„Wenn ich ehrlich bin, Laura, ich will es auch nicht. Du verlangst zu viel von mir. Wie lang geht das schon so? Monate? – Jahre?”

Ruhig blickte sie ihn an.

„Anderthalb Jahre.”

„Du musst Dich endlich entscheiden. Siehst du die Ringe unter meinen Augen? Meine Gedanken drehen sich in einer gottverdammten Endlosschleife. Du – Pascal – du – Pascal. Wer außer mir würde das mitmachen?”

„Trenn dich, Kyriel! Das habe ich dir von Anfang an gesagt.“ Laura nahm einen Schluck von ihrem Cabernet und stellte das Glas zurück auf den Couchtisch. Es klirrte. „Wenn du es nicht aushältst, trenn dich. Wie könntest du deine Selbstachtung bewahren, wenn ich dir diese Entscheidung abnähme?“

Kyriel kaute auf seiner Unterlippe.

„Ich“, sagte Laura, „will mich nicht von dir trennen. Ich liebe dich. Die Sache mit Pascal hat daran nichts geändert!”

„Wie kannst du das von mir verlangen?“

Er beugte sich zu ihr hinüber und fuhr ihr mit der Hand durch die schwarzen Locken.

„Du bist doch meine Frau!”

„Ich bin niemandes Frau.”

Kyriel wich zurück. Seine Hände verkrampften sich.

„Warum kannst du dich nicht von ihm trennen? Genüge ich dir nicht? All meine Freunde fragen mich, ob ich einen Vollschaden habe. Sie tut dir nicht gut, mach endlich Schluss! Ich kann es nicht mehr hören! Und jetzt“, er sprang auf, „jetzt kommst ausgerechnet du mir auch noch damit!”

„Ich habe nicht gesagt, dass du Schluss machen sollst. Ich habe gesagt, trenn dich, wenn du es nicht mehr aushältst. Meinst du, es macht mir Spaß, mitanzusehen wie du leidest?”

Sie ergriff seine Hände und sah ihm in die Augen. Er ließ es geschehen.

„Aber ich glaube an uns. Wir können das schaffen – und zwar gemeinsam. Jemanden lieben heißt, ihn freilassen.”

„Seit anderthalb Jahren vögelst du mit einem anderen!”

„Sprich es aus. Sein Name ist Pascal.”

„Ich kenne seinen verdammten Namen!”

Er entzog sich ihrem Griff.

„Freilassen, freilassen – was genau stellst du dir darunter vor, bitte?”

Laura gab keine Antwort. Ihre Augen wurden dunkel und sie verschwand. Kyriel hatte aufgegeben, herausfinden zu wollen, wohin sie in diesen Augenblicken ging.

Er zündete sich eine Zigarette an, trat ans Fenster und lehnte sich hinaus.

Die Sterne funkelten durch die Zweige des Ahorns im Hof. Die Hitze war noch immer unerträglich.

Erst nachdem er eine zweite Zigarette geraucht und sein Glas ausgetrunken hatte, trat Laura von hinten an ihn heran und schlang ihre Arme um seine Hüften. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Ihr Atem ging schwer. Kyriel spürte, wie er einen Ständer bekam. Er wandte sich zu ihr um.

„Du machst dir etwas vor“, wisperte Laura, „wenn du mir die Schuld an deiner Unzufriedenheit gibst.”

Sein Lächeln fiel ebenso in sich zusammen wie der Ständer in seiner Hose.

„Ich weiß, dass du es nicht leiden kannst, wenn ich mich einmische. Trotzdem ist es kein Wunder, dass du nicht glücklich bist. Was ist aus deinen Plänen geworden? Dem Reisen? Dieser Job war doch als Übergangslösung gedacht.”

„Erstens“, wand Kyriel sich aus ihrer Umarmung, „kommt es anders und zweitens als man denkt.”

„Du hast immer die Wahl!“ Laura goss sich noch ein Glas Cabernet ein. „Das nennt man Leben.” Der Wein hatte bereits einen violetten Schimmer auf ihren Zähnen hinterlassen. „All diese Energie, die du in die Geschichte zwischen Pascal und mir steckst: Das ist nichts als Feigheit. Du weigerst dich, nach vorn zu schauen.”

„Ich möchte sehen, wie du damit umgehen würdest, wenn ich eine andere hätte!”

„Dann finde es raus – wenn es das ist, was du willst! Woher sollte ich es auch wissen? Ich kann mich nur an einer Realität beweisen. Aber wir sind schon wieder bei diesem leidigen Thema. Meine Frage war eine andere: Wie lange hast du noch vor, dich hinter diesem Drückebergerjob zu verstecken!”

„Ich habe diesen Job deinetwegen angenommen, Laura. Unseretwegen! Ich wollte Zeit für dich haben. Keinen Fulltime-Job, bei dem wir uns kaum gesehen hätten.”

„Benutze mich nicht als Ausrede für alle Entscheidungen, die du in deinem Leben triffst!”

„Was soll ich deiner Meinung nach machen? Was wäre die Alternative?”

„Wie soll ich dir diese Frage beantworten können, Kyriel? Über deine Ziele schweigst du dich seit Monaten aus!”

Kyriels Miene verdüsterte sich.

„Woher soll ich wissen, was meine Ziele sind? Nach dem Abi dachte ich, Philosophie wäre ideal.”

„Das ist doch Schnee von gestern.”

„Ich hatte geglaubt, Philosophie hätte etwas mit Leben zu tun. Aber als ich dann herausfand, wie es wirklich war – ich wollte nicht zuschauen, wie das Leben an mir vorbeizieht, während ich mich durch Kant kämpfe.”

Er lächelte müde und schenkte sich Wein nach.

„Vielleicht ist es das, was ich will”, sagte er mit leiser Stimme. „Leben.“

„Leben!“ Lauras Lachen klang heiser. „Wollen wir das nicht alle? Verrinnt das Leben nicht, während du Hamburger brätst?”

„Ach, Laura. Können wir nicht einen normalen Abend miteinander verbringen?”

„Du musst dir endlich Gedanken darüber machen, was du willst.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Nicht darüber, was du nicht willst! Oder wie du dich von mir oder deinem Vater abgrenzen kannst.“

„Lass meinen Vater aus dem Spiel!”

„Wie könnte ich das? Zwar bist du immer drauf bedacht, alles zu vermeiden, was er gutheißen könnte. Und doch hast du ähnlich spießige Vorstellungen wie er!”

„Das kann nicht dein Ernst sein! Glaub mir, er hätte dir längst einen Arschtritt verpasst, dass du achtkantig aus der Wohnung geflogen wärst!”

„Und doch“, entgegnete sie und ihre Augen funkelten, „hättest auch du mich am liebsten ganz für dich allein. Würdest mich in einen Vorstadtkäfig mit weißem Gartenzaun drum herum sperren – ich lasse es nur nicht zu! Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Welt deines Vaters ist nicht zu leugnen, oder?”

Auf Kyriels Stirn bildete sich eine Zornesfalte.

„Verdammt, Laura, was erwartest du von mir?”

Er drehte sich um und holte eine neue Flasche Wein aus der Küche.

Als er sie entkorkt hatte, sagte er: „Ich tue, was ich kann. Ich lasse dir die Freiheit, die du möchtest. Es ist eben nicht so leicht, damit umzugehen. Was, wenn ich zu schwach dazu bin?“

Er setzte sich auf das Sofa und sah in die Nacht hinaus.

„Ich habe es satt, mich Tag für Tag wie ein Versager zu fühlen! Der Mann zu sein, der deine Wünsche nicht befriedigen kann“, setzte er leise nach. „Du hast Recht – womöglich bin ich wie mein Vater. Aber wie sollte ich es auch nicht sein? Seinen Wunsch, in geordneten Verhältnissen zu leben, kann ich inzwischen jedenfalls besser nachvollziehen als früher.”

Laura setzte sich neben Kyriel, schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich heran. Sie streichelte seinen Hinterkopf und er atmete aus.

„Niemand hat uns beigebracht, so zu lieben”, flüsterte sie. „Das ist mir klar. Aber ich glaube daran, dass wir es lernen können. Du und ich. Alles ist besser als diese geheuchelte Monogamie! Wie viele Beziehungen gehen in die Brüche, weil einer den anderen betrügt. Denk nur an meine Eltern! Ich werde nicht zulassen, dass wir die gleichen Fehler machen wie sie. Meinst du, meine Mum hätte meinem Vater nicht verzeihen können, wenn er mit ihr darüber gesprochen hätte?”

„Darauf kann ich dir keine Antwort geben”, murmelte Kyriel. „Zumindest konnte sie einen klaren Schlussstrich ziehen.”

„Würdest du uns lieber aufgeben, als dich einer schwierigen Situation zu stellen?”

„Alles, was ich will, ist endlich zur Ruhe kommen.”

Kapitel 3 – Waldkönigen

 

Verschwitzt, mit vom Wind zerzaustem Haar näherte sich Julián Waldkönigen. Er konnte Dunas keuchenden Atem hören, gönnte ihr aber keine Pause. Übermächtig war sein Bedürfnis, Abstand zu gewinnen.

Wie war so etwas möglich?

Drogen. Das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.

Dennoch fühlte er sich in diesem Augenblick glasklar. Die Umnachtung war einer übergroßen Schärfe gewichen.

Ohnehin war das Gesicht der Frau in der Hütte klarer gewesen, als alles, was er zuvor erlebt hatte. Noch immer hallte ihr Blick in ihm nach.

LSD vielleicht? Konnte ein Trip so schnell vorübergehen? Julián bezweifelte es.

Vermutlich ein Kraut aus dem Wald. Tollkirschen. Fliegenpilze.

Er würde es nicht herausfinden. Keinen Fuß würde er je wieder über diese Schwelle setzen. Gerade so, dass er noch einmal davongekommen war!

War Lola von allen guten Geistern verlassen, ihn zu einem solchen Scharlatan zu schicken?

Moritz, der blonde Hüne, von dem er die Stute geliehen hatte, stand mit weit aufgeknöpftem Hemd vor der windschiefen Scheune. Seine Augen weiteten sich, als Julián auf das Gehöft ritt.

„Schon zurück?” rief er. „Ich hatte nicht vor morgen mit euch gerechnet!”

Eine Welle der Erleichterung durchflutete Julián, als er vor Moritz stand. Obschon er dieses wettergegerbte Gesicht nur einmal zuvor gesehen hatte, schien es ihm in diesem Augenblick doch vertraut.

„Ging schneller, als erwartet”, entgegnete er lakonisch und schwang sich aus dem Sattel.

„Du siehst aus, als wärst du dem Leibhaftigen begegnet. Ganz blass um die Nase!”

Als Julián nichts erwiderte, ergriff Moritz die Zügel der Stute. „Jetzt muss erst mal Duna versorgt werden. Hinten im Stall findest du Stroh. Damit kannst du sie trockenreiben. Ich hole ihr Hafer.”

Er tätschelte den Kopf des Pferdes. An Julián gewandt meinte er: „Und du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen!”

Eine halbe Stunde später saßen Moritz und Julián vor zwei dampfenden Tassen Kaffee in der Küche des Bauernhauses. Die Luft war angenehm kühl, da die Sommerhitze nicht durch die weißgekalkten Mauern drang. Im Herd knisterte das Feuer, das Moritz entfacht hatte, um den Kaffee zu brühen. Feuer.

„Darf man hier rauchen?”

„Tu dir keinen Zwang an!”

„Ein Kaffee ohne Zigarette ist wie eine Geburt ohne Kind!”

Moritz lachte. „Wohl wahr. Es ist die, die mir am meisten fehlt.”

Julián legte seinen Tabak verlegen zurück.

Der Landwirt schüttelte den Kopf. „Mach ruhig.”

Er griff hinter sich, öffnete den Schrank und stellte einen Aschenbecher auf den Tisch.

Julián zündete sich eine Zigarette an.

„Du kennst Totumay?” fragte er.

„Kennen ist übertrieben. Ich war zweimal bei ihm. Habe ihm bei der Veranda geholfen. Aber es wird allerhand geredet.”

„Wie lang lebt er schon dort draußen?”

„Als Totumay hierherkam, war ich noch grün hinter den Ohren. Ich erinnere mich daran, wie er zum ersten Mal unseren Hof betrat. Ich schleppte gerade einen Korb Kartoffeln ins Haus. Plötzlich stand mir dieser merkwürdige Fremde gegenüber. Er hatte steingraue Augen. Auch ansonsten sah er irgendwie anders aus.”

„Diese Zähne!”

„Damals hatte er noch alle Zähne. Das war es nicht. Dennoch wirkte er wie eine Gestalt aus einer anderen Welt. Ich bin erschrocken, als er auf einmal vor mir stand.”

Julián nippte an seinem Kaffee. Er griff nach seinem Pullover. Ihn fröstelte.

„Aber was ist mit seinen Zähnen passiert?”

„25 Jahre im Wald”, erwiderte Moritz. „Er ist nie rausgekommen.”

„Hat seinem eigenen Verfall zugesehen”, murmelte Julián.

Moritz zuckte mit den Achseln.

„Was wollte er damals? Als er hierherkam, meine ich.”

„Meinen Vater sprechen. Ich bin natürlich gleich losgerannt und habe ihn geholt. Die beiden haben sich dann ins Arbeitszimmer meines Vaters zurückgezogen. Zu gern hätte ich gewusst, was sie dort besprechen wollten – aber mein Vater hat mich aus dem Zimmer geschickt. Was mich allerdings nicht davon abgehalten hat, mich in der Nähe der Tür rumzudrücken. Zumindest wollte ich noch einen Blick auf diesen seltsamen Typen werfen, wenn er ging. Aber es dauerte. Irgendwann wurde mir langweilig und ich setzte mich in mein Baumhaus. Dort konnten sie mich nicht sehen, ich sie aber schon.”

Moritz nahm die Kaffeetasse zur Hand, trank jedoch nicht.

„Was haben die beiden besprochen?”

„Ich habe es nie herausgefunden. Aber ich konnte sehen, was danach passierte. Ich war so wütend, dass ich tagelang kein Wort mit meinem Vater gesprochen habe.”

„Was ist denn passiert?”

„Mein Vater hat Ravna weggegeben. Und das, obwohl er mir gehört hat. Ich hatte ihn bekommen, als er ein Fohlen war. Er war der schönste Hengst, den wir je hatten. Pechschwarz, sein Fell weich wie Seide. Das Schlimmste aber war, dass Ravna mein Gefährte war, mein bester Freund. Ich konnte nicht fassen, dass mein Vater das getan hatte.”

Moritz wandte sich ab.

„Ich hatte früher eine Stute. Sie hieß Pras”, sagte Julián leise. „Ich musste sie in Spanien zurücklassen, als wir nach Deutschland zogen” Er klopfte Moritz auf die Schulter.

„Es ist viele Jahre her. Aber du weißt, wie das ist.” Moritz räusperte sich. „Möchtest du ein Glas Wasser? Oder ein Bier?”

„Wasser ist okay”, entgegnete Julián.

Moritz kehrte mit einer Flasche Sprudel aus dem Keller zurück.

„Hast du Ravna je wiedergesehen?”

Moritz schüttelte den Kopf.

„Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich Totumay wiedersah. Von Ravna keine Spur. Ich glaube, er hat nie wieder ein Pferd besessen. Allerdings tauchten in all den Jahren immer wieder Menschen auf unserem Hof auf, um sich Pferde zu leihen.”

Julián nickte.

„Aber, wenn er nie wieder aus dem Wald gekommen ist“, fragte er, „weshalb reden die Menschen über ihn?“

„Genau deswegen natürlich. Totumays Ankunft war im Dorf nicht unbemerkt geblieben. Natürlich wurde getratscht. Die Leute begannen Geschichten über den seltsamen Fremden zu erzählen. Er kam aus dem Nichts und wollte zwischen Büschen und Bäumen leben? Das bot Stoff für Spekulationen! Schnell war er zu ihrem Waldheiligen geworden. Keine Ahnung, woher sie die Geschichten nahmen. Interessant war allenfalls, dass ihr Inhalt sich stets ähnelte.”

Julián legte die Stirn in Falten.

„Dabei hat niemand je auch nur seinen richtigen Namen herausgefunden”, fuhr Moritz fort. „Die wildesten Gerüchte machten die Runde. Totumay war abendfüllendes Thema in der Dorfkneipe.”

Julián verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Kann ich mir vorstellen.”

„Für die einen war er ein reicher Aussteiger – langweilige Theorie, wenn du mich fragst. Andere sprachen davon, dass er Probleme mit der kasachischen Mafia hätte. Es war von illegalen Hundekämpfen die Rede. Wieder andere vertraten die Auffassung, er müsse den Staat um mehrere Millionen geprellt haben – weswegen sonst hätte er seinen Namen ändern sollen? Diese Geschichten erklärten immerhin, warum er in unserem Wald untergetaucht war.”

„Klingt alles nicht sehr plausibel”, meinte Julián. „Was hätte er mit dem ganzen Geld im Wald anstellen sollen?”

„Meine Rede. Mein einziges Interesse galt am Anfang ohnehin der Suche nach Ravna. Mein bester Freund Paul unterstützte mich dabei. Aber es wollte uns einfach nicht gelingen herauszubekommen, wo Totumays Hütte stand. Unzählige Nachmittage suchten wir danach. Ohne Erfolg. Es kränkte unseren Stolz, dass wir dieses verdammte Ding nicht fanden. Auch sonst schien niemand im Dorf etwas über die Hütte zu wissen. Außer meinem Vater natürlich – und aus dem war kein Sterbenswörtchen herauszubringen.”

„Und dann all diese Geschichten.“ Moritz streckte sich. „Nach und nach entwickelte sich Totumay für uns zu einer mystischen Figur. Dennoch nahm unsere Suche in jenem Herbst ein abruptes Ende. Mein alter Herr schickte mich in die Stadt aufs Gymnasium.”

„Du hast nichts herausgefunden?”

„Es sollte 13 Jahre dauern, bis ich als diplomierter Agrarwirt hierher zurückkam. Totumay hatte ich nach all der Zeit beinahe vergessen. Erst als mir auffiel, dass noch immer Menschen auf den Hof kamen, sich Pferde liehen und im Wald verschwanden, erinnerte ich mich.”

Er sah Julián an.

„Entschuldige, ich rede und rede, möchtest du ein Bier?”

„Gern, danke.”

„Ich mache uns auch einen Happen zu essen.”

Moritz ging in die Küche.

Mit Wurst, Käse und Schwarzbrot kehrte er zurück. Das Bier goss er in steinerne Krüge.

Kaum, dass er sich wieder in seinen Schaukelstuhl gesetzt hatte, drängte Julián Moritz weiterzuerzählen.

„Wo war ich stehen geblieben?”

„Du bist nach deinem Studium hierher zurückgekommen. Da fiel dir Totumay wieder ein.”

„Richtig.” Moritz biss von einem Schinkenbrot ab und lehnte sich zurück. Er kaute in aller Ruhe, ehe er fortfuhr.

„Mir kam der Gedanke, Paul zu fragen, ob er etwas herausgefunden hätte. Ich hatte Jahre nichts von ihm gehört. Unser Kontakt war schnell eingeschlafen, als ich erst weg war. Ich hatte in der Stadt neue Freunde gefunden. Meine Herkunft war mir peinlich. Ich war ein Landei. Keine Ahnung, ob Paul an mich dachte. Immerhin war er in Waldkönigen geblieben. Die Welt hier dreht sich anders.”

Julián nahm sich noch eine Scheibe Brot und bestrich sie dick mit Butter.

„Dieses Brot ist unglaublich lecker!”

„Rezept meiner Mutter. Habe es heute Morgen gebacken.”

Julián nickte kauend.

„Ich fragte mich, was aus Paul geworden war”, fuhr Moritz fort. „Seit meiner Rückkehr war ich ihm nicht begegnet. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass er nicht mehr im Dorf lebte. Ich habe bei den Nachbarn herumgefragt, jedoch nicht viel mehr herausbekommen, als dass seine Familie den Hof aufgegeben hatte und weggezogen war. Wohin wusste angeblich niemand. Zumindest wollte es mir niemand erzählen. Zwei Jahre später hörte ich in der Dorfkneipe zufällig ein Gespräch zwischen zwei Betrunkenen mit an. Pauls Mutter muss ihn eines Morgens mit einem Hanfseil um den Hals auf dem Heuboden gefunden haben. Seine Eltern ertrugen es wohl nicht, danach weiter hier zu leben.”

Er schenkte sich nach und nahm einen kräftigen Schluck. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schaum von der Oberlippe. In diesem Moment schien der Glanz in seinen Augen verschwunden.

Julián schluckte. Schweigend betrachtete er die massige Gestalt im Schaukelstuhl.

„Wie dem auch sei. Einige Zeit später habe ich erfahren, dass Totumay, kurz bevor er in die Eifel kam, eine lange Reise nach Lateinamerika unternommen haben soll.”

„Von wem hast du das erfahren?”

„Ich will nicht vorgreifen. Es ist schon spät.”

Julián spielte an seinem Ohrläppchen herum. „Es ist gerade mal zehn!”

„Eben. Ich muss mit den Hühnern raus”, lächelte Moritz. „Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich noch ein paar Stunden Schlaf abkriegen will, sollte ich mich jetzt hinlegen. Du kannst gerne über Nacht bleiben, wenn du magst. Die Dachkammer ist frei.”

Julián nahm Moritz’ Angebot an.

„Aber unter einer Bedingung.”

Moritz warf ihm einen überraschten Blick zu.

„Morgen erzählst du mir den Rest der Geschichte!”

Der Bauer schmunzelte.

„Einverstanden.”

Schwefliges Licht.

Ein Rinnsal rieselt eine Granitwand hinab. Perlt schweigend, als könne sein Murmeln zu viel verraten.

Zeitlupenland.

Er ist allein. Jede Bewegung unmöglich. Als bänden ihn unsichtbare Mächte.

Beklemmung umwabert ihn. Kribbelt seine Beine hinauf. Ameisenhaft.

Juliáns Blick gleitet über den Boden.

Diese Schatten. Ohne Rast und Ruh.

Ein ums andere Mal derselbe sonderbare Ort.

Die Ameisen nisten sich ein.

Jählings ein Rauschen, das die gläserne Stille zerreißt. Schwingen.

Sulfurdunst umschleicht ihn. Sehnsüchtig. Fordernd. Kräuselt sein Haar.

Schwingen verklingen.

Was bleibt, ist das Reich der Ruhe.

Wie eine Pestdecke breitet sie sich über alles.

Die Schatten scheinen sie nicht zu bemerken. Unverwandt eilen sie umher.

Die Stille geliert.

Juliáns Nackenhaare richten sich auf.

Ein Flackern und die Schatten erstarren.

Zischend verdampft das Rinnsal.

Hitze. Unerträgliche Hitze.

Julián will fliehen, bietet all seine Kraft auf. Vergebens.

Sengende Flammen greifen nach ihm. Züngeln sein Rückgrat entlang. Er vermag den Bann nicht zu brechen. Sie beißen und reißen an Haut und an Haar.

Aussichtsloser Kampf. Er will die Hände hochreißen. Die jedoch –

Schreiend schrak Julián in der Dachkammer hoch. Sein Herz raste.

Er sah sich um. Vor dem Fenster zogen Wolken vorbei.

Hier.

Das Bett war klamm.

Der Traum.

Er atmete aus. Einzig mögliche Bewegung.

Atmete ein.

Aus.

Ein.

Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, musste es beinahe Mittag sein.

„Erzähl schon, Moritz!”

Julián saß auf der Eckbank in der Küche und wartete darauf, dass Moritz sich setzte. Es war bereits spät am Nachmittag. Der aber ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Er hatte den Tag auf dem Feld verbracht und schenkte sich zunächst einen starken Kaffee ein, ehe er sich Julián zuwandte.

„Wo waren wir stehen geblieben?”

„Du wolltest mir von Totumays Reise nach Lateinamerika erzählen!”

„Stimmt. Das war eine seltsame Geschichte. Ich habe sie nicht von ihm selbst erfahren, sondern von jemandem, der eines Nachmittags hier auf dem Hof auftauchte.”

Moritz griff nach der Zuckerdose und tat sich Zucker in den Kaffee.

„Und wer war das?” drängte Julián.

„Ich war kaum ein Jahr zurück, da bekamen wir eines Tages unerwartet Besuch.“ Moritz strich sich über das Kinn. „Mit quietschenden Bremsen kam ein Fiat auf den Hof gefahren – ehrlich gesagt ein Wunder, dass die Rostlaube noch nicht auseinanderfiel. Es dauerte einen Moment, dann stieg eine alte Frau aus – oder besser gesagt, eine Dame. Ihrem ganzen Auftreten nach war sie nämlich genau das – eine Dame des alten Schlags. Sie stützte sich auf einen Gehstock. Ihre Mundwinkel hingen nach unten, als ob sie nicht viel zu lachen gehabt hätte in ihrem Leben. Ich konnte nicht anders, ich empfand Mitleid mit ihr.”

Moritz nahm einen Schluck Kaffee.

„Sie muss damals über achtzig gewesen sein. Dennoch wirkte sie selbstsicher und herrisch. Als ich in ihre steingrauen Augen sah, wusste ich, wen ich vor mir hatte. Diese Augen hätte ich überall auf der Welt wiedererkannt.”

„Totumays Mutter!” flüsterte Julián.

„Augen, die als Kind meinen Ravna entführt hatten. Augen, die Paul und ich verzweifelt aufzuspüren versucht hatten. Augen, die sich nun vor mir aufbauten und in verächtlichem Ton zu mir sprachen: Ein Pferd, mein Junge, geben Sie mir ein Pferd.”

Julián schmunzelte.

„Ich habe wohl ziemlich verdutzt aus der Wäsche geguckt. Maßen Sie sich nicht an, das zu beurteilen!, wies sie mich zurecht.”

Moritz unterdrückte ein Lachen.

„Sofort schämte ich mich dafür, sie so abschätzig begutachtet zu haben. Ich stammelte hervor, wofür sie das Pferd denn bräuchte. Ihrem Blick nach zu urteilen, katapultierte mich das auf der Skala verachtenswerter Geschöpfe unter die Top-Five. Sie wolle ihren Sohn sehen, sagte sie giftig. Der Rotzlöffel habe verlangt, dass sie auf einem Pferd komme. Aber ich solle mich gefälligst um meinen eigenen Dreck scheren.”

Julián lachte. „Ich kann mir das bildlich vorstellen!”

„Ich konnte ihre Wut nachvollziehen”, meinte Moritz. „Was blieb mir also anderes übrig? Ich stellte mich auf ihre Seite. Nicht zuletzt, da ich die Gelegenheit witterte, endlich ein paar Einzelheiten zu erfahren, die ich mir in all den Jahren nicht hatte zusammenreimen können. Ich bot ihr einen Kaffee an – das besänftigte sie ein wenig. So kam es, dass ich an jenem Nachmittag einen weiteren Teil von Totumays Geschichte zu hören bekam.”

Kapitel 4 – Löcher in der Welt

 

Laura fuhr auf.

Um Gottes willen!

Ihr Atem raste.

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Locken aus dem Gesicht.

Spiegelfliesen an der Wand. Sie war also noch in Kyriels Wohnung. War nicht von dem Loch verschluckt worden.

Hörte das niemals auf?

Bisweilen wünschte Laura sich, sie könnte Kyriel davon erzählen.

Aber das ging nicht.

Sie durfte nicht zurückschauen.

Niemals.

Sie holte tief Luft und suchte jenen Punkt hinter ihrer Stirn. Das vertrieb die Bilder. Tat es immer.

Schließlich stand sie auf, zog die Jalousie hoch und öffnete das Fenster.

Die Nacht hatte keinerlei Abkühlung gebracht.

Noch einmal sah Laura zum Bett. Trotz der Hitze fröstelte sie. Sie schlang die Arme um ihre Schultern.

Alles würde gut werden. Sie durfte nur nicht daran denken.

Sie trug die leeren Cabernet-Flaschen in die Küche, leerte den überquellenden Aschenbecher, ließ Abwaschwasser ein und spülte die Weingläser.

Als sie fertig war, hielt sie einen Moment inne und sah sich um. Mit einem feuchten Lappen wischte sie die Tabakbrösel vom Tisch.

Das sollte genügen.

Danach schlüpfte Laura in die Leinenhosen, die Kyriel ihr aus Indien mitgebracht hatte, streifte sich ihr T-Shirt über und zog die braunen Riemchensandalen an. Sie wuschelte sich durch die Locken und schloss leise die Tür hinter sich.

Durch die verglaste Haustür drang kaum Helligkeit in den Korridor, doch Laura schaltete das Licht nicht ein. Womöglich hätte sie sonst bemerkt, das Kyriel gerade die Kellertreppe heraufkam.

Laura sah Kyriel jedoch nicht. Und auch er war in Gedanken woanders, schaute erst auf, als die Haustür ins Schloss fiel.

Die Schwüle lag wie ein nasser Lappen auf dem Tag.

Laura wollte Schafskäse-Creme und Oliven kaufen, bevor sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, deshalb wählte sie den Umweg durch den Park am Friedrich-Ebert-Platz. Auf den Bänken am Wegesrand saßen Mütter und beobachteten ihre Kinder beim Spielen. Denen schien die Hitze nichts anhaben zu können. Ein kleiner Junge rannte kreischend auf Laura zu, in seiner Hand ein tropfendes Schokoladeneis. Laura konnte gerade noch ausweichen, ehe er gegen ihre Beine rannte. Die Mutter warf ihr einen lethargischen Blick zu.

Als Laura durch die offene Tür des Dönerladens trat, strahlte Ahmad ihr entgegen.

„Laura!“ Er betrieb die Bude seit Jahren. „Was eine Hitze, nicht wahr?“

„Kannst du laut sagen“, erwiderte Laura. „Am besten sollte man sich gar nicht bewegen.“

Ahmad lachte. „Glaub mir, möchte ich nichts lieber, als mich von diesem Dönerspieß wegbewegen!“ Seine Augen blitzten. „Ist draußen heiß? Nichts im Vergleich zu hier drin!“

„Mit dir tauschen wollte ich nicht“, gab sie zu.

„Was kann ich für dich tun, meine Schöne? Oliven, die üblichen?“

„Genau. Und ein Schälchen von eurer Schafskäse-Paste, der scharfen.“

„Dein Wunsch ist meine Freude.“

„Ach, Ahmad“, lachte Laura, „ich wünschte, alle Männer wären so charmant wie du!“

Ahmads Grinsen wurde noch breiter.

„Habe ich schon gesagt, dass ich noch zu haben bin?“

In diesem Moment hörte Laura, dass jemand hinter ihr den Laden betrat.

„Laura! Was für ein Zufall!“

Sie wandte sich um. Vor ihr stand Tante Irmi, die Schwester ihrer Mutter.

„Tante Irmi“, sagte sie.

Ahmad, der die Veränderung in ihrer Stimme bemerkt haben musste, warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Mein Gott, Laura, das ist ja eine Ewigkeit her!“

Ihre Tante küsste die Luft neben Lauras Wangen und packte sie bei den Schultern.

Laura versuchte sich ihrem Griff zu entwinden. Dabei fiel ihr Blick auf die perfekt manikürten Fingernägel. Unwillkürlich kam ihr Lady Macbeth in den Sinn.

„Was für ein Glück, dich zu treffen“, flötete Irmi. „Wenn das mal keine schicksalhafte Fügung ist.“

Laura legte die Stirn in Falten. Ahmad reichte ihr die Plastiktüte mit Oliven und Käsecreme.

„Gib mir vier Euro“, beantwortete er Lauras unausgesprochene Frage.

„Danke“, murmelte Laura und legte ihm die Münzen auf den Tresen.

„Was kann ich Ihnen Gutes tun?“ wandte er sich an Tante Irmi.

Die ergriff Laura beim Ellbogen und schob sie aus dem Laden.

„Ich komme später wieder.“

Die Menschen auf der Straße bewegten sich wie in Zeitlupe.

„Mein Gott, wie soll man diese Schwüle nur überstehen?“ fragte Tante Irmi. „Ist es nicht fürchterlich?“

Über dem Asphalt stiegen Hitzeschlieren auf. Laura erwiderte nichts.

„Weswegen ich mit dir sprechen wollte, Laura“, Irmi schien Lauras Schweigsamkeit nicht zu bemerken, „ist Folgendes. Dein Onkel und ich haben diese Reise geplant. Wir fliegen nach Mittelamerika.“

Laura blieb abrupt stehen.

„Kind, was hast du denn? Du warst doch schon dort, oder?“

Laura zwang sich zu einem Nicken.

„Deswegen ist es ja so ein glücklicher Zufall, dass wir uns treffen. Ich hätte dich nämlich ohnehin die Tage angerufen.“

Laura wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich–“, begann sie, schluckte, wich zurück, „ich glaube nicht, dass ich dir da helfen kann.“

Sie sah Tante Irmi an. Offenbar hatte der niemand je gesagt, dass hellblauer Lidschatten und grüne Wimperntusche aus der Mode gekommen waren.

„Aber sicher kannst du das! In unserem Alter, du weißt doch, da ist das alles nicht mehr so einfach.“ Irmi seufzte. „Und ehrlich, du hast ja praktisch nichts erzählt, als du damals zurückgekommen bist.“

„Ich habe mich um meine Mutter gekümmert“, entgegnete Laura kühl. „Wie du dich womöglich erinnern kannst.“

Irmi wandte den Blick ab und betrachtete ihre Fingernägel.

„Die alten Geschichten“, murmelte sie. „Können wir die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen?“

„Vielleicht kannst du das.“

„Aber deswegen kannst du uns doch bestimmt trotzdem ein paar Tipps geben.“ Tante Irmi stand mit dem Rücken vor dem Schaufenster des Supermarkts. Lauras Blick fiel auf ein Plakat, auf dem ein Laptop beworben wurde.

„Ich habe jetzt wirklich keine Zeit.“ Sie räusperte sich. „Meine Doktorarbeit wartet. Wenn ich nicht bald nach Hause komme, vergeht wieder ein Tag, ohne dass ich etwas schaffe.“

Irmi lächelte, als sei ihr ein Früchtedrop im Hals stecken geblieben.

„Um Gottes willen“, sagte sie, „ich will dich natürlich nicht aufhalten.“

„Dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag.“

„Ebenso.“

Laura ging davon.

Sie war beinahe beim Italiener am Eck angekommen, als Irmi ihr etwas hinterherrief. Laura drehte sich um.

„Ich melde mich die Tage bei dir!“ Irmis Stimme hatte den Klang zurückgewonnen, den Laura noch von den Kindergeburtstagen her im Ohr hatte. „Dann kannst du mir von deiner Reise erzählen.“

Laura zuckte mit den Achseln und bog in die Seitenstraße.

„Das werden wir ja sehen“, murmelte sie.

Während sie die Straße hinabging, sah sie sich noch ein paar Mal um. Erst als sie sicher war, dass ihre Tante ihr nicht nachkam, blieb sie stehen und atmete aus.

Warum? Warum gerade jetzt?

Sie spürte, wie sich ein Loch in der Welt aufzutun drohte.

Rasch suchte sie Halt an einer Platane am Straßenrand.

Das durfte nicht geschehen. Sie durfte es nicht zulassen.

Die Rinde lag rau unter ihrer Handfläche. Laura lehnte sich an den Baum. Einem Instinkt gehorchend schlang sie die Arme um den Stamm und schloss die Augen. Sie sog den Geruch ein, verharrte und lauschte auf den gleichförmigen Klang ihres Atems.

Nach einer Weile schloss sich das Loch wieder.

Sie würde Irmis Nummer blockieren, sobald sie zu Hause war, ganz einfach.

Diese Person. Nie sonst hatte die Stimme ihrer Mum so kalt geklungen.

Beim Café Fatal bog Laura ab und wechselte auf die schattige Straßenseite hinüber. Vom Ende der Straße her kam ein Mann auf sie zu. Sie achtete zunächst nicht auf ihn, dann aber bemerkte sie seinen Gang und blieb stehen.

Simon!

Rasch suchte sie Deckung hinter einem Transporter.

Nicht auch das noch!

Die staubigen Hintertüren des Sprinters hatten keine Fenster, sodass sie nicht sehen konnte, ob er sie bemerkt hatte.

Sie spähte ums Eck, wagte sich nicht weit genug vor, um sicher sein zu können.

Wusste er etwa, wo sie lebte?

Sie hatte ihn seit damals kaum gesprochen, war ihm aus dem Weg gegangen. Selbst die Nachrichten auf ihrer Mailbox hatte sie ignoriert.

Laura sah sich um. Geduckt hastete sie über die Straße und wäre beinahe von einem roten Kadett erfasst worden. Der Fahrer hupte und fuchtelte mit den Händen.

Fehlte nur noch eine Blaskapelle, um ihre Anwesenheit zu verkünden!

Laura lehnte sich an den Altglascontainer.

Hatten sich heute alle gegen sie verschworen?

Der dunkle Sog schien mit einem Mal übermächtig zu werden. Dieses Loch in der Welt. Lange war es her, dass der Wunsch sich hineinzustürzen so verlockend war. Einfach loslassen.

Und dann?

Nein, sie durfte nicht nachgeben, hatte es sich geschworen. Nicht für sich selbst. Zu viele Menschen hingen mit drin. Und wer wusste, was eines Tages sein würde? Vielleicht–

Schluss damit.

Sie beugte sich nach vorn und linste um den Rand des Containers herum.

Oh Gott!

Sie lachte auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er war es gar nicht! Was war nur mit ihr los?

Sie straffte ihre Schultern und ging die Straße hinunter. Sie war schweißgebadet. Das war alles zu viel. Ohnehin könnte sie sich nicht konzentrieren.

Nein, sie würde morgen an ihrer Doktorarbeit weiterschreiben. Vielleicht sollte sie an den Birkensee fahren. Sich die Vergangenheit von der Haut waschen. Abstand schaffen zu dem gestrigen Streit, Abstand zu Pascal, Abstand zu diesem finsteren Loch in der Welt.

Kapitel 5 – Geruch nach Meuterei

 

Kyriel stellte die Tüten auf dem Fußabtreter ab, um die Wohnungstür aufzuschließen.

Trotz der Hitze hatte ihm die morgendliche Radtour gutgetan. Er hatte Kater und Wut herausgeschwitzt und freute sich auf das Frühstück mit Laura. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, ein Leben ohne sie konnte und wollte er sich trotz all ihrer Probleme nicht vorstellen.

Er öffnete die Tür und trat ein.

„Laura?“

Keine Antwort.

„Ich habe uns Brötchen mitgebracht!“

Er schlüpfte aus seinen Sneakers und ging ins Wohnzimmer. Das Bett war leer, das Chaos beseitigt. Von Laura keine Spur.

Kyriel setzte sich auf das Sofa. Zu gern hätte er sich für den gestrigen Abend entschuldigt. Schließlich hatte er Laura eingeladen, um endlich mal wieder ein paar entspannte Stunden mit ihr zu verbringen. Dass es anders gekommen war – wieso konnte er sich nicht einmal zurückhalten?

Er schob sich eine der Oliven in den Mund, die er eben noch besorgt hatte. Allein zu frühstücken, hatte er allerdings keine Lust. Ohnehin musste er gleich zur Arbeit.

Kyriel zog sein verschwitztes T-Shirt aus und war auf dem Weg in die Dusche, als sein Telefon klingelte. Er eilte zurück zum Fensterbrett, wo das Handy lag.

„Ja?“

„Wieso brauchst du so lange?”

„Ach du bist es. Was gibt es denn?”

„Hast du meinen Brief bekommen?”

„Seit wann hast du Zweifel an der Zuverlässigkeit der deutschen Post?”

„Ich wollte nur sichergehen.”

Kyriels Blick fiel auf den Umschlag auf seinem Schreibtisch. Er enthielt Stellenanzeigen aus dem Nürnberger Tagblatt.

„Und, hast du dich schon beworben?” fragte Siegmar Koesterbaum am anderen Ende der Leitung.

„Ich habe einen Job – falls dir das entgangen sein sollte.”

„Du kannst es zumindest mal versuchen. Das ist nicht zu viel verlangt, oder? Du hast hoffentlich nicht vor, bis an dein Lebensende in dieser Klitsche hängen zu bleiben?”

„Klar.“ Kyriel unterdrückte ein Stöhnen. „Das mache ich.”

Er gab dem Umschlag einen Stoß, sodass der in den Papierkorb unter dem Schreibtisch segelte.

„Außerdem gibt es natürlich immer noch die Möglichkeit, bei uns anzufangen. Du müsstest nur ein Wort sagen–”

„Papa, hör mal, ich bin gerade auf dem Weg unter die Dusche. Ich melde mich die Tage bei dir, okay?”

Kyriel legte auf, schaltete das Telefon auf stumm und ging ins Bad.

„Das werde ich nicht tun!”

Kyriel war nicht weniger überrascht als Herr Ebert, als er diese Worte ausgesprochen hatte. Drei Jahre lang hatte er klaglos alles hingenommen, was von ihm verlangt wurde.

Fassungslosigkeit blitzte im Gesicht seines Chefs auf, verwandelte sich jedoch im Bruchteil einer Sekunde in die übliche, ausdruckslose Miene.

Noch immer hielt Herr Ebert Kyriel Wischmopp und Putzeimer hin. Infernalischer Gestank drang aus dem Inneren der Toilettenkabine. Kyriel stieß mit dem Fuß die Kabinentür auf und sah hinein.

Wie konnte man bloß die Schüssel verfehlen?

Neben dem Klo lag eine vollgeschissene Unterhose.

„Wollen Sie das etwa so lassen?” fragte Ebert. Ein bedrohlicher Unterton klang in seiner Stimme mit.

„Ich werde es nicht wegputzen.”

Der Ekel, der sich um Kyriels Hals geschlossen hatte, nickte zustimmend.

„Ja glauben Sie vielleicht, dass ich?” herrschte der Chef ihn an. Kyriel hielt dem Blick stand. Er zuckte mit den Achseln.

Eberts Nasenflügel bebten. Ungläubig sogen sie den Geruch nach Meuterei ein.

„Dann sehe ich mich gezwungen–”

„Oh nein”, sprang Kyriel ihm bei. „Mein lieber Herr Ebert. Sehen Sie sich nicht gezwungen! Das könnte ich mir niemals verzeihen!”

Er streifte die Schürze ab und nahm die Mc-Donald’s-Mütze vom Kopf. Beides drückte er Ebert in die Hand.

Er drehte sich nicht noch einmal um, als er durch die Tür ging.

Seine Kollegen hinter dem Tresen starrten ihn an, als er das Uniformhemd auszog, zerknüllte und zu Boden warf.

Er ging zu ihnen hinüber und zog seinen Rucksack unter der Kasse hervor.

Silvie, eine der Kassiererinnen, schmunzelte, schlug aber schnell die Hand vor den Mund.

Mehrere Leute saßen im Raum verstreut und kauten an ihren Hamburgern herum. Alle Blicke waren auf Kyriel gerichtet.

Ein blondes Mädchen, das nicht älter als 14 sein konnte, stierte ihn mit offenem Mund an – von den Pommes in ihrer Hand tropfte Ketchup auf den Tisch. Kyriel grinste zurück, öffnete den Reißverschluss seiner Mc-Donald’s-Hose und ließ sie zu Boden fallen.

Das Mädchen kiekste.

Mit nichts als Boxershorts bekleidet kramte er T-Shirt und Baggypants aus seinem Rucksack hervor. Rasch streifte er beides über.

Die Frau, die am nächstgelegenen Tisch saß, wischte sich eilig Mayonnaise vom Kinn, als Kyriel zu ihr hinübersah.

Er hob die Hand zum Gruß, als er den Laden verließ.

Vor der Tür atmete er tief durch.

Er strich sich die Haare aus der Stirn und blickte gen Himmel.

Die Sonne strahlte auf ihn herab. Er strahlte zurück und nickte, dann machte er sich auf den Nachhauseweg.

Hoch oben, auf einem Felsen über der Stadt, thronte die Kaiserburg. Ein alter Mann mit einem Filzhut kam Kyriel entgegen. Er zog das rechte Bein nach. Als er bemerkte, dass Kyriel ihn ansah, trat ein Lächeln in seine Augen.

Lauras Duft schlug ihm entgegen, als Kyriel die Wohnung betrat. Er schlüpfte aus seinen Schuhen und ließ sich aufs Bett fallen. Als er seinen Kopf zur Seite drehte, lag Lauras Kuschelkissen vor ihm. Er vergrub sein Gesicht darin. Ihr Geruch war noch immer wie eine Droge für ihn. Er schloss die Augen. Laura würde seine Entscheidung gefallen, so viel war klar. Aber war diese überstürzte Kündigung wirklich klug gewesen? Wie sollte es jetzt weitergehen? Er hatte keinen Plan B. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich müde. War nicht alles ein einziger Kampf?

Ein Donnerschlag ließ Kyriel zusammenfahren.

Er rappelte sich auf und ging in die Küche hinüber. Auf dem Fensterbrett stand die Petersilie. Er riss einige Blätter ab.

Kauend öffnete er das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Sonne war verschwunden, die Hitze aber geblieben. Über ihm türmten sich Gewitterwolken. Erste Regentropfen trommelten auf das Garagendach und der Wind drückte die Zweige des Ahornbaums ans Nachbarhaus. Kyriel schloss das Fenster wieder und legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa.

Kurz darauf schlief er ein.

Erst das Klingeln des Handys riss ihn aus dem Schlaf.

Im Raum herrschte Zwielicht. Kyriels Hand tastete nach dem Handy, aber auf dem Tisch lag es nicht. Ächzend stand er auf. Das Handy klingelte noch immer. Er musste unbedingt diesen penetranten Klingelton austauschen. Wo war das verdammte Ding bloß?

Endlich fiel sein Blick auf die achtlos abgelegte Hose vor dem Bett. Wahrscheinlich käme er sowieso zu spät. Er griff nach der Hose und fingerte das Handy aus der Tasche. Auf dem Display wurde Unbekannter Teilnehmer angezeigt. Kyriel nahm ab.

„Ja?” fragte er.

„Ach Peter, du bist es! Deine Nummer wird nicht angezeigt. Das ist ja eine Ewigkeit her. Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?”

Kyriel streckte sich und gähnte, während er der Antwort am anderen Ende der Leitung lauschte. Mit einem Mal erstarrte er inmitten seiner Bewegung.

Das Handy fiel zu Boden.

Kyriel schrie.

Kapitel 6 – Tohil

 

Der General.

Noch nach einem Vierteljahrhundert trieb dieser Name Totumay den kalten Schweiß auf die Stirn.

Das erneute Antreten General Ríos Montts bei den guatemaltekischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2003 hatte seine Hassgefühle wieder aufflackern lassen. Ebenso wie seine Furcht. Dieser Schwelbrand war seither nicht erloschen, obwohl der General bei den Wahlen eine Niederlage hatte hinnehmen müssen. Unfassbar, dass ein Fünftel der Bevölkerung trotz all der Verbrechen des ehemaligen Diktators die Stimme für ihn abgegeben hatte. Doch Totumay wusste, wie so etwas dort lief.

Er betrachtete die Feder in seinen Händen.

Runzlig waren sie geworden, diese Hände. Er kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er alt war. Selbst der General dürfte kein Interesse mehr an der Verfolgung eines greisen Guerilleros aufbringen. Zu viel Zeit war vergangen.

Er befühlte die abgegriffene Feder. Auf der einen Seite erstrahlte sie blau, auf der anderen leuchtend rot. Sie war alles, was ihm von Yoyotli geblieben war.

Yoyotli.

Es war dieser Name, der es ihm damals ermöglicht hatte weiterzuleben. Doch um welchen Preis!

Als die Schamanin ihm die Feder geschenkt hatte, funkelte die Vorderseite bereits im selben Blau wie noch heute, so viele Jahre später. Ihre Kehrseite war von einem unscheinbaren Braun – bis zu jenem Mittwoch im August des Jahres 1983.

Totumay kauerte damals versunken auf einem Baumstumpf hoch über den Häusern von Quetzaltenango – Xela, wie die Einheimischen es nannten. Er schrieb gerade in sein Tagebuch, als sein Blick auf Yoyotlis Geschenk fiel.

Mit einem Mal leuchtete die Feder in flammendem Rot.

Es war vorbei.

Er begriff, dass er Yoyotli nie wiedersehen würde. Zugleich aber auch, weswegen sie ihm dieses Geschenk gemacht hatte: ihn zu beschützen, ihn zu warnen.

Totumay legte die Feder beiseite und blickte auf den See am Fuße der Veranda.

Und jetzt dieser Junge!

Er war so völlig anders. Silberblick. Zudem noch klein. Schutzlos – so wirkte er. Dennoch hatte es ausgerechnet ihn getroffen.

Totumay vermochte sich das nicht zu erklären: Nach all den Jahren trat der Feuertraum wieder in sein Leben und dann dergestalt! Er hatte keinen blassen Schimmer, was es damit auf sich haben sollte.

Ein Junge! Ein Kind, noch grün hinter den Ohren!

Immerhin, er war Lolas Sohn.

Weshalb aber war er tags zuvor davongestürzt wie vom wilden Affen gebissen? Etwas war geschehen. Womöglich war das ein gutes Zeichen. Sollte er sein Geheimnis bewahren.

Seine Gedanken kehrten zu Yoyotli zurück. Auch zwischen ihnen hatte es dereinst Geheimnisse gegeben. Ihr wahres Ausmaß hatte er nie erfasst. Erst als es zu spät war, begann er zu ahnen, wie viel Unausgesprochenes zwischen ihnen gestanden hatte. Aller Vertrautheit zum Trotz. Doch wen hätte er dann noch danach fragen können? Ob Yoyotli ihn mit ihrem Schweigen hatte schützen wollen?

Träger des Feuertraums hatten es gewiss nicht leicht. Er konnte nicht ermessen, welche Bürde diese Träume darstellten, geschweige denn die Verantwortung, die sie mit sich brachten.

Aber dieser Junge? Konnte sich vermutlich keinerlei Reim darauf machen, was da über ihn hereingebrochen war. Oder erfasste er es intuitiv? Nein, das war ausgeschlossen. Wieso hätte er ihn sonst aufsuchen sollen? Den Mann, der der Welt vor einem Vierteljahrhundert den Rücken gekehrt hatte. Der ihr entflohen war. Der sich in der Ödnis des Waldes verborgen hielt und sich dem eigenen Schicksal entwunden zu haben glaubte.

Bis gestern.

Er mochte sich getäuscht haben. Offenbar gab es kein Entrinnen. All die Jahre schien es funktioniert zu haben. Jetzt aber war er wieder da.

Der Feuertraum. Der Traum, von dem ihm Yoyotli erzählt hatte, als sie eines Nachts schreiend neben ihm erwacht war.

Selbst jetzt, so weit von jener Zeit und jenem Ort entfernt, vermeinte Totumay ihre Furcht zu spüren. Nie hatte er sie so erlebt. All seine Versuche, sie zu beruhigen, waren erfolglos geblieben. Natürlich hatte sie zu jener Zeit längst gewusst, dass dies eben nicht nur ein Traum war, wie er ihr ein ums andere Mal versichern wollte. Nein, der Feuertraum war ein Stigma, weitergegeben von Generation zu Generation. Unvorhersehbar. Willkürlich.

Aber ein Junge aus Köln? Er mochte spanischer Herkunft sein – aber dieser Traum entsprang der Welt der Mayas.

Allerdings war ja auch er selbst zufällig in diese Geschichte hineingezogen worden. Hätte dieser Friedenskongress damals nicht ausgerechnet in Köln stattgefunden, er hätte Yoyotli nie kennen gelernt.

Doch war er stets Randfigur geblieben. Ein hellhäutiger Europäer, dem niemand zutraute, dass er sich auf ein solch tückisches Spiel einließ und sein kostbares Weißenleben riskierte. Genau das hatte ihn für die Guerilleros wertvoll gemacht. Die Schlächter des Generals hatten in ihrer Verblendung nicht begriffen, dass Menschen aus den eigenen Reihen es wagten, sich gegen sie zu stellen. Weiße. Europäer. Undenkbar.

Grimmig stopfte er seine Pfeife. Sie war das Geschenk eines Guerilleros namens Tleyotl, ein kaum den Kinderschuhen entwachsener Widerstandskämpfer, der sie in den endlosen Stunden geschnitzt hatte, während derer er sich in Totumays Cabaña verborgen hielt. Ihr Kopf war ein Abbild des Gottes Tohil. Überbringer des Feuers.

Ein Europäer als Träger des Feuertraums? Das war, gelinde gesagt, eigenartig. Aber der Traum folgte seinen eigenen Gesetzen. Gesetzen, die selbst Yoyotli kaum verstanden hatte. Er führt dich. Wenn du dich weigerst, ihm zu folgen, wird er dich verzehren.

Ihre Worte bekamen durch Juliáns Verbrennungen einen schalen Beigeschmack. Nie hatte er vergleichbare Male auf ihrem Körper entdeckt. Yoyotli war dem Traum gefolgt. Gefolgt bis zum bitteren Ende – aber was hatte das bewirkt?

Die Einsamkeit, die ihn all die Jahre umhüllt hatte wie eine zweite Haut, war dabei aufzubrechen.

Was hatte er nur getan? Wie hatte er davonlaufen können, mit all dem Wissen, das er besaß? Er hatte seine Freunde im Stich gelassen. Menschen, die ihm vertraut, ihn womöglich gar gebraucht hatten. Er aber, außerstande seine Furcht zu bezähmen oder auch nur hintan zu stellen, hatte die eigene Haut gerettet. Bis heute hatte er nicht die Courage gefunden, ins Leben zurückzukehren.

Jetzt war es zu spät. Er war ein dahinschwindender Greis. Nie war er ein Auserwählter gewesen. Deshalb hatte er es sich erlauben können, den falschen Weg einzuschlagen. Es hatte keine Flammen gegeben, die ihn davon abgehalten hätten. Keine Yoyotli, in deren Gegenwart er hätte spüren können, dass mehr in ihm steckte, als man ihm sein Leben lang hatte glauben machen wollen. Dass er den Namen, den er von ihr empfangen hatte, zu Recht trug.

Also war er geflohen. Hatte sich verkrochen wie eine sterbende Ratte und dem eigenen Verfall zugesehen – nur dass ihm dieses Sterben unendlich lang geworden war. Zurückzukehren in die Welt dort draußen war nie eine Option gewesen. Dafür war sein Versagen zu unwiderruflich. Niemals hätte er das Wissen um die eigene Schande ertragen.

Selbst der nahende Tod seiner Mutter hatte ihn nicht dazu bewegen können, sein Exil zu verlassen. Da hatte sie toben und lamentieren können, so viel sie mochte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr seine Entscheidung zu erklären. Sie hätte ihn nicht verstanden.

Wie hätte sie diese Geschichte auch verstehen sollen? Wo er ja selbst kaum begriff, was geschehen war. Wahrscheinlich hätte sie vermutet, dass Yoyotli ihn verzaubert hatte. Eine Indianerin! Das kann ja nichts als Unheil verheißen! In dieser Hinsicht hatte sie Recht behalten.

Im Wald hatte er wenigstens seine Ruhe. Abgesehen von den Ratsuchenden, die von Zeit zu Zeit auftauchten, war er allein. Wie hätte er nicht versucht sein können, jenes letzte bisschen Selbstachtung zu wahren, indem er diesen Menschen beistand? Ohnehin war es ein erlöschender Funke, den er in sich trug, ein schwacher Abglanz dessen, was Yoyotli ihn einst gelehrt hatte.

Nun aber erschien dieser Junge auf der Bildfläche. Ebenso wenig wie dereinst die Schamanin glaubte er an Zufälle. Welch aberwitziger Zufall das auch wäre! Nein, der Feuertraum war zu ihm zurückgekehrt. Womöglich war dies seine letzte Chance, einen Teil seiner Schuld abzutragen. Das war das Geringste, was er nach all den Jahren noch für Yoyotli zu tun vermochte. Und für all die anderen.

Es gab nur ein Problem.

Er hatte nicht die leiseste Ahnung wie.

Kapitel 7 – Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

 

„Du solltest das bekommen.” Kyriel starrte Ann-Marie an. Sie hielt einen schimmernden Gegenstand in der Hand. „Sie“, Ann-Marie schluckte, „sie hätte es sicherlich so gewollt.“

Sie trug schwarz. In den wenigen Tagen hatten sich tiefe Ringe unter ihren Augen eingegraben. Ihr graumeliertes Haar hatte sie hochgesteckt, doch einzelne Strähnchen suchten das Weite.

„Was ist das?“ fragte Kyriel.

Ann-Marie kam nahe an ihn heran.

Er nahm den Geruch des Alters wahr. Nie zuvor hatte er ihn bei ihr bemerkt. Er versetzte ihn in seine Kindheit zurück. Die Nachmittage, als er mit der Großmutter auf dem grünen Samtsofa lag und auf den Wogen ihrer Atemzüge in den Schlaf ritt.

Kyriel nahm den Gegenstand in die Hand und betrachtete ihn. Er sah ein wenig wie eine Koralle aus. In der verästelten Oberfläche waren Sandkörner zu erkennen. Das Ding, was immer es sein mochte, lag kühl in seiner Hand. Die Innenseite bestand aus Glas.

„Was ist das?“ wiederholte er.

Lauras Mutter stand ihm reglos gegenüber. Ihr Blick hatte sich verloren. Lauras Blick.

„Ann-Marie?“

Sie räusperte sich und sah ihn abermals an.

„Das haben sie im Sand gefunden – direkt neben ihr.“ Ihre Stimme war rau. „Sie sagen, der Blitz habe das geformt.“

Er konnte den Stein nicht mehr halten, doch Ann-Marie war zur Stelle und fing ihn auf.

Das konnte doch alles nicht sein! Hätte er sie an jenem Morgen nur geweckt! Womöglich–? Am Ende wäre sie nicht–? Oder ein wenig später? Wie konnte sie ihm das nur antun? Verdammt! Sie konnte ihn doch nicht alleine lassen! Was war das nur für eine Welt?

Ann-Marie strich ihm über den Rücken. Er biss die Zähne zusammen und sah auf. Sein Blick fiel auf den Gegenstand in ihrer Hand.

Wie konnte sie tot sein? Wie in Gottes Namen konnte sie nur tot sein?

Neben Kyriel schulterten drei weitere Männer den Sarg: Lauras Vater, ihr Onkel Hilmar und Simon, ein Freund aus der Schulzeit. Der Tag war windig und regnerisch. Mechanisch setzte Kyriel einen Fuß vor den anderen. Wann wäre es endlich vorüber? Unter seinen Füßen knirschte es. Ob die Steinchen wohl in den Sohlen hängenbleiben würden?

Der Friedhof war voller Menschen. Kyriels Blick fiel auf Tante Irmi. Falsche Schlange. Der Anblick ihres tränennassen Gesichts würgte ihn in der Kehle.

Die Anwesenden versammelten sich um das finstere Loch, das auf einer Anhöhe inmitten frischer Gräbern ausgehoben worden war.

Wie ätzendes Harz troff Lilienduft in Kyriels Poren, drohte ihn zu ersticken, während er und die anderen Männer schwitzend den Sarg in die Tiefe hinabließen. Seine Hände waren feucht. Er musste alle Kraft aufbieten, um das Seil Zentimeter für Zentimeter hinabgleiten zu lassen.

Endlich stand der Sarg auf dem Boden des Grabes.

Kyriel trat zu den Versammelten hinüber. Er fand seinen Platz zwischen Ann-Marie und Peter. Beide starrten ins Nirgendwo, jeglichem Liliengestank entrückt.

Für Eltern, die ihre Kinder verloren, besaß unsere Sprache nicht einmal ein eigenes Wort, wohingegen die Worte „Witwe“ und „Waise“ gang und gäbe waren.

Der Wind zerzauste Kyriels Haar. Er strich sich die widerspenstige Strähne aus der Stirn und klemmte sie sich hinter das Ohr.

Wie er es hasste, an vorderster Front zu stehen! Er fing den Blick einer Frau auf, die er nie zuvor gesehen hatte. Tränen rannen über ihre Wangen. Als sie bemerkte, dass er sie ansah, wandte sie sich rasch ab. Hinter der Fremden stand ein versteinerter Pascal.

Ann-Marie stützte sich auf Kyriels Schulter. Er ließ es geschehen, obwohl er sich am liebsten geschüttelt hätte.

Viele der umstehenden Menschen kannte er. In vier Jahren war er allen möglichen Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen vorgestellt worden. Bei anderen wiederum fragte er sich, was sie hier suchten. Wer war der Mann im Jägerkostüm? Wer die Frau mit dem Hut, der noch aus den Achtzigern zu stammen schien? Und weswegen heulte sie Rotz und Wasser?

All die Menschen ringsumher und trotzdem fühlte Kyriel sich allein – unsäglich allein.

Die letzten Worte des Pfarrers verklangen im Nieselregen. Ann-Marie zupfte an seinem Sakko. Er sah auf und nickte, dann geleitete er sie an den Rand des Schlundes, der dabei war, ihr die Tochter zu rauben. Sie bückte sich, ergriff die Schaufel. Wie hatte er das Spiel im Matsch geliebt, als er klein und die Welt noch einfach war!

Ann-Marie kauerte neben dem Grab, stand nicht wieder auf. Ein Wimmern drang aus ihrer Kehle. Kyriel umfasste ihren Arm, versuchte ihr aufzuhelfen, doch jegliche Kraft schien aus ihrem Körper gewichen.

„Komm schon“, flüsterte er ihr zu. „Gleich hast du es geschafft!“ – wohlwissend, dass er log, dass nichts vorbei, nichts geschafft war.

Betreten sahen die Menschen ihn an. Seine Augen brannten.

„Ann-Marie”, flehte er.

Ein Zittern durchlief sie. Letztlich stand sie auf. Kyriel legte ihr den Arm um die Schulter. Ihr Körper starr wie eine Rüstung. Ann-Marie Bernhard hatte den Ort verlassen. Sie nahm die Lilien und ließ sie in das Loch fallen, zu dem die Welt geworden war.

Tock.

Ihre Mundwinkel zuckten, die Lippen öffneten sich leicht, wollten etwas sagen – dann schien Ann-Marie klar zu werden, dass diesem Tock nichts hinzuzufügen war. Also schloss sie die Lippen wieder.

Kyriel trat als nächster nach vorn, blickte auf den Sarg und warf die Rose hinab, die über Lauras Bett gehangen hatte.

Eine leise Rose war sie, die erste, die er Laura schenkte, zu leise für ein Tock, schüchtern, wie ihre aufkeimende Freundschaft, kaum mehr als das Tasten einer Rose, als er sie damals zur ersten Verabredung mitgebracht hatte, er, der verschämte Schuljunge. Und doch, eine Rose voller Hoffnung.

Er ergriff eine Hand voll Erde.

„Ich liebe Dich“, murmelte er. „Danke für alles!“

Er öffnete seine Hand. Dunkel fiel die Erde hinab.

Besiegelte, was nicht zu ändern war.

Leichenschmaus.

Schon beim Gedanken an Nahrung schnürte es Kyriel die Kehle zu. Dennoch saß er seit Stunden zwischen Lauras Eltern am Tisch und bemühte sich, die Guter-Schwiegersohn-Fassade aufrecht zu erhalten.

Am liebsten wäre er gegangen, egal wohin, Hauptsache fort von dieser Heuchelei. Dabei konnte er sogar verstehen, dass die Menschen sich in Belanglosigkeiten flüchteten.

Gelächter wurde am Ende der Tafel laut. Kyriel konnte und wollte nichts zu dieser Heiterkeit beitragen. Besser schweigen. Auch wenn das bedeutete, dass er versagte. Wieder einmal. So sollte das alles nicht sein. Da war er sich sicher. Laura hätte sich ein Fest gewünscht. Was hier ablief, war grotesk.

Er ging zum Tresen und bestellte sich einen Jägermeister. Mit dem Glas in der Hand trat er vor die Tür. Die Abendsonne hatte ihr Antlitz vor die Wolken geschoben. Rotgolden brach sich das Licht in den Regenperlen. Kyriel lächelte. Wenn Laura das bloß sehen könnte. Doch sie würde nie wieder etwas sehen.

Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er drehte sich um. Vor ihm stand Pascal. Schweigend sahen die beiden Männer sich an. Pascals Augen schimmerten. Kyriel schluckte.

„Lass uns trinken“, sagte Pascal schließlich und hob sein Glas. „Lass uns darauf trinken, dass wir Laura kennen durften. Möge es ihr gut gehen, wo auch immer sie jetzt ist.“

Kyriel nickte, unfähig etwas zu entgegnen. Die beiden stießen an. Die Flüssigkeit brannte sich Kyriels Kehle hinab. In der Tasche seines Jacketts tastete er nach dem Stein.

„Ein Fulgurit.“

Pascal sah ihn verständnislos an.

„Entsteht, wenn ein Blitz in Sand einschlägt“, sagte Kyriel.

Pascal zögerte, dann griff er nach dem Stein, befühlte ihn mit seinen Pianistenfingern. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Zuletzt legte er den Fulgurit zurück in Kyriels Handfläche.

Abermals sahen die beiden einander an. Graugrün traf auf Saphirblau, Saphirblau auf Graugrün. Irgendwann begannen ihre Mundwinkel zu zucken. Zu guter Letzt brach das Lachen hervor – und mit ihm die Tränen. Pascal zog Kyriel hinüber zu den Stufen unter einer Blautanne, die dem Restaurant gegenüberstand. Dort setzten sie sich. Die Sonne versank, während die beiden schweigend ihren Gedanken nachhingen.

„Wollen wir gehen?“ fragte Pascal schließlich.

Kyriel nickte.

Überall in Kyriels Wohnung lagen getragene Klamotten herum. Die Luft war erfüllt von kaltem Rauch. Auf Tisch und Boden standen Flaschen und benutzte Gläser.

„Entschuldige, dass es hier so aussieht“, sagte Kyriel und öffnete das Fenster.

Er ging in die Küche, nahm die Petersilie vom Fensterbrett, um auch dort das Fenster aufzumachen, riss einen Stängel ab und schob ihn sich in den Mund. Dann schwenkte er zwei Gläser aus und entkorkte eine Flasche Tempranillo.

Als er zurückkam, stand Pascal vor dem Fenster und sah in die Nacht hinaus. Kyriel schaltete den CD-Player ein und drückte auf Play.

„Der Tod und das Mädchen”, flüsterte Pascal, mehr Feststellung denn Frage. Kyriel reichte ihm ein Weinglas. Pascal leerte es in einem Zug.

„Gib Deine Hand, du schön und zart Gebild!

Bin Freund und komme nicht zu strafen.

Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild,

Sollst sanft in meinen Armen schlafen!”

 

Kyriel schenkte ihm nach und sah ihn an.

„Der Tod und das Mädchen”, wiederholte Pascal.

„Guter Mut“, sagte Kyriel. „Als ob das so einfach wäre.”

„Nicht für die, die bleiben.”

Kyriel schüttelte den Kopf und leerte ebenfalls sein Glas. Pascal ging zum Sofa hinüber, schob ein paar achtlos abgelegte T-Shirts beiseite und setzte sich. Kyriel lehnte sich ans Fensterbrett. Silbern stand der Halbmond am Himmel.

„Alles hat einen Sinn“, flüsterte Pascal. „Selbst das.”

Kyriel wandte sich abrupt um.

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht”, sagte er. „Sinn? Für mich war in all dem immer das Schwere reserviert, nicht wahr? Komm mir also nicht mit Sinn.”

Er spuckte aus dem Fenster. Der Speichel schmeckte gallig.

Pascal schwieg. Kyriels Hände umklammerten das Fensterbrett. Leise versickerten die Sekunden.

„Ob man hier rauchen darf, brauche ich wohl nicht zu fragen.”

In seinem Rücken vernahm Kyriel das Klicken des Feuerzeugs.

„Menschen”, Pascal stieß den Rauch aus, „Menschen, die auf so absurde Weise sterben, vielleicht haben die ihre Aufgabe erfüllt.”

Kyriel schluckte. „Laura glaubte an das Leben!” Seine Stimme bebte. Er starrte hinauf zum Mond. „Und das war es auch was sie wollte: sie wollte leben!”

„Was Laura gewollt hätte, wäre, dass wir weitermachen“, Pascal trat hinter ihn. „Zurückzuschauen – das war nicht ihre Art, oder? Alles, was ich versuche, ist, in ihrem Sinne damit umzugehen.”

Kyriel spürte Pascals Atem im Nacken. Seine Knöchel wurden weiß, so heftig krallte er sich am Fensterbrett fest. Da legte Pascal ihm die Hand auf die Schulter.

„Ich kann es nicht”, flüsterte Kyriel.

Er ließ das Fensterbrett los und lehnte sich nach hinten. Pascal stieß die Luft aus.

Mit einer neuen Flasche Tempranillo kehrte Kyriel aus der Küche zurück. Er setzte sich neben Pascal auf das Sofa.

Auf den ersten Blick war Pascal kein schöner Mann. Seine Haut war blass. Die schwarzbraunen Locken standen strohig in alle Richtungen und auch die Nase wirkte zu groß für das schmale Gesicht. Dem Leuchten seiner Augen aber konnte man sich nur schwer entziehen.

Kyriel füllte das Glas und reichte es Pascal. Der sah ihn an und lächelte.

„Ich weiß, dass die letzten Monate eine verdammt schwierige Zeit für dich waren.” Pascal sah zu Boden.

Kyriel zuckte mit den Achseln.

„Es war, was es war”, entgegnete er, stand auf und wechselte die CD.

Pascal schmunzelte, als er das Lied erkannte. Sie stießen an.

„Was hast du jetzt vor?” fragte Kyriel.

„Was meinst du?”

„Na, wie soll es weitergehen?”

Pascal räusperte sich. „Gute Frage.” Er betrachtete die dunkle Flüssigkeit in seinem Glas. „Keine Ahnung.“

Er warf Kyriel einen Seitenblick zu. „Und bei dir?”

Kyriel kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.

„Wusstest du“, fragte er schließlich, „dass ich an dem Tag, als Laura gestorben ist, meinen Job gekündigt habe?” Er strich sich die Haare aus der Stirn. „Am Abend zuvor hatten wir uns noch darüber gestritten.”

Pascal schüttelte den Kopf. „Dann bist also frei zu gehen?” fragte er.

„Wohin sollte ich wohl gehen?” Kyriel stand auf.

„Keine Ahnung“, erwiderte Pascal. „Momentan ist jeder Ort besser als hier.”

„Hast Du nicht vorhin gesagt, du wolltest in Lauras Sinne handeln? Für sie war der beste Ort immer der, wo sie gerade war.”

„Eben“, sagte Pascal.

Kyriel schmunzelte.

„Sag mal“, fragte er, „fandest du diese Beerdigung auch so furchtbar?”

„Welche wäre das nicht.”

„Ich kannte kaum die Hälfte der Leute. Laura hätte es gehasst.”

„So ist das mit der Familie” Pascal wandte sich ab. „Manchmal sieht man sie Jahre nicht, dann sind auf einmal alle da.”

„Heuchelei! Wer sich nicht für dein Leben interessiert, braucht sich auch nicht für deinen Tod zu interessieren.”

Kyriel stemmte sich hoch von der Couch hoch und schwankte in die Küche. Als er zurückkam, hielt er eine Flasche Williams in der Hand. Er füllte zwei Schnapsgläser.

„Auf das Ende der Heuchelei!”

Ein Teil der durchsichtigen Flüssigkeit schwappte aufs Sofa.

„Auf das Ende der Heuchelei.”

Kyriel schüttelte sich.

„Ich habe ein schlechtes Gewissen, Pascal.”

Pascal nickte.

„Vor einer Woche erst saß ich mit ihr auf diesem Sofa. Eine Woche. Kannst du dir das vorstellen?”

Pascal erwiderte nichts. Stattdessen goss er Schnaps nach.

„Dabei gibt es so viel, was ich ihr noch hätte sagen wollen! Einfach zu spät.”

Aus geröteten Augen sah Kyriel das Glas an, das Pascal ihm hinhielt.

„Absurd, dass ich dir das erzähle. Dass ich ausgerechnet mit dir hier sitze.”

„Du hast Laura die Chance gegeben, die sie haben wollte.”

Sie leerten die Gläser. Danach beugte Kyriel sich nach vorne und umschlang die Knie mit seinen Armen.

„Du kanntest sie, Kyriel. Sie war nicht der Schwarz-Weiß-Typ.”

Kyriel war schwindlig.

Er richtete sich auf.

„Die Freiheit, die sie wollte, konnte ich ihr trotzdem nicht geben.”

„Du hast es probiert.”

Kyriel ging zum CD-Player und wechselte abermals die CD.

„Er wusste, was Freiheit ist.”

Pascal nickte, als er Imagine erkannte.

„Wenn es einer wusste, dann er.”

Kyriel zündete sich eine Zigarette an und füllte die Gläser.

„Was du darüber gesagt hast, hier wegzugehen.”

„Wer sollte dich aufhalten?” fragte Pascal.

„Und dich?” hielt Kyriel ihm entgegen.

„Meine Arbeit.”

„Was würde davonlaufen wohl bringen?”

„Wer hat etwas von davonlaufen gesagt?”

„Wäre es keine Flucht, wenn ich weggehen würde?” Kyriel blies eine Rauchwolke in die Luft. „Alle würden es so nennen.”

„Eine Flucht ist es nur, wenn du fliehst.”

„Ich wüsste nicht einmal, wohin.”

Kyriel stand auf und setzte sich aufs Fensterbrett. Der Mond war nirgends mehr zu sehen.

„Auf das Leben!” Pascal sah Kyriel in die Augen und trank.

„Auf den Scherbenhaufen, der unser Leben war.”

Pascal ließ Kyriels Worte im Raum stehen.

„Siehst du es etwa anders?” fragte der herausfordernd, glitt von der Fensterbank und ging auf Pascal zu.

„Nein, Scherbenhaufen trifft es gut, denke ich. Wichtig aber ist nicht, was es ist. Wichtig ist, was wir daraus machen.”

„Was in Gottes Namen willst du daraus bitte noch machen?”

Pascal ließ sich Zeit.

„Ein Mosaik”, entgegnete er schließlich.

„Schon wieder Regina?”

Kyriel deutete auf den Titel: Begin to hope.

Pascal war betrunken. Draußen kündigte der erste Silberstreifen die Morgendämmerung an. Der Himmel war klar, am Firmament verblassten die Sterne. Die ersten Vögel brachten dem Morgen ihr Ständchen dar, während durch das Fenster noch die gläserne Luft der Nacht hereintrat.

Alkohol rauschte durch Pascals Adern. Er trug ein wenig der betäubenden Schwere mit sich davon. Natürlich vermochte er sie nicht ganz fortzuspülen, die Spitzen jedoch nahm er. So entstand ein unscheinbarer Raum, in dem etwas Neues aufkeimen konnte: ein erstes Gefühl für die Möglichkeit eines Danach.

Pascal griff zur Fernbedienung und sprang zum ersten Stück zurück. Er stand vom Sofa auf. Ihm war nach Tanzen.

Begin to hope.

Hoffnung. Der Strom des Lebens. Mit all seinen Strudeln und Untiefen.

Er streckte Kyriel die Hand entgegen. Dieser sah ihn bloß an.

„Komm schon!“

Letztlich ließ Kyriel sich hochziehen, mied zwar seinen Blick, begann aber, sich im Takt zu bewegen.

Gut so, dachte Pascal. Er lächelte und schloss die Augen. Überließ sich der Musik. Der Leichtigkeit des Rausches. Er sah Laura vor sich. Wie sie auf eine Parkbank sprang. Hörte ihr Lachen. Es schnürte ihm die Kehle zu. Traurig sein. Er musste traurig sein. Nur so hätte jenes Danach, das er am Horizont erahnt hatte, eine Chance. Er versank, gab sich der Musik hin. Der Kloß in seinem Hals schwoll an.

Nein! schrie es in ihm auf. Nicht jetzt!

Jenes letzte bisschen Beherrschung, das er in den vergangenen Stunden aufgebracht hatte, drohte fortgespült zu werden. Er durfte nicht schwach werden. Nicht jetzt. Wozu war er schließlich hier?

Ein Schrei zerschnitt den Raum.

Pascal erschrak, als ihm klar wurde, dass das Geräusch aus seinem Mund gekommen war. Auf einmal stand Kyriel vor ihm und schloss ihn wortlos in die Arme. Pascal sah nicht auf. Er konnte seinen Tränen keinen Einhalt gebieten.

Kyriel zog ihn näher heran.

Samson perlte Reginas Stimme. Und sie sang von Liebe. Die beiden tanzten, tanzten, wie sie nie getanzt hatten. Von Abschied und Vergessen-Werden sang Regina. Auch Laura war einfach gegangen, so ungerecht, fort, fort, an jenen Ort ohne Wiederkehr. Pianoklänge umspülten sie. Sie tanzten. Weinten. Gemeinsam. Von Küssen bis zum Morgengrauen sang Regina. Und Wange an Wange, Kyriels fiebrigen Atem am Ohr, verschmolzen Pascals Bewegungen mit denen Kyriels.

War da Hoffnung in diesem Festhalten?

Kyriels Lippen berührten die seinen.

Verlangen. Verlangen nach mehr.

Mehr Halt. Halt mich fester. Fester in dieser Kälte. Dieser Einsamkeit. Pascals Zunge nippte von Kyriels Trauer. Seine Hände fuhren Kyriels Hals entlang, tasteten nach Hemdknöpfen.

Er fühlte wie sie aufs Bett fielen, sah eben noch einen Schimmer Morgenlicht im Raum.

Dann schloss er die Augen.

Kapitel 8 – Briefe an Godot I

 

Nürnberg, 27. Juni 2008

Lieber Godot,

ich weiß nicht, weshalb gerade Du es bist, an den ich mich wende, wo Du mich doch gebeten hast, Dir nicht mehr zu schreiben. Manche Dinge ändern sich eben nie, egal, was wir tun oder sagen.

Keine Ahnung, ob die Verbindung zwischen uns noch immer besteht oder ob die Wunden, die ich hinterlassen habe, stärker sind. Für mich jedenfalls lebt sie fort, hat in all den Jahren fortgelebt, die seit damals vergangen sind.

Nie in meinem Leben habe ich mich so allein gefühlt wie in diesem Moment.

Ich habe alles verloren. Selbst wenn ich versuche, es mir schönzureden, komme ich doch stets zurück zu diesem Punkt: Ich habe alles verloren.

Womöglich kann ich nun besser verstehen, wie Du Dich damals gefühlt hast. Wie oft hast Du versucht, es mir zu erklären. Ich konnte es nicht verstehen. Nicht bis heute.

Vielleicht ist es nichts als Ironie des Schicksals, dass ich Dir jetzt schreibe, wo ein anderer Mensch mein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hat. Anders als ich bei Dir damals trägt sie noch nicht einmal die Schuld daran. Sie ist einfach gestorben. Wie könnte ich ihr das vorwerfen?

Deine Vorwürfe waren berechtigter damals. Ich hätte mich anders verhalten können. Hätte Verantwortung übernehmen, für Dich einstehen können. Dass ich es nicht getan habe, tut mir leid. Du kannst nicht wissen, wie oft ich es seither bereut habe.

Ist es egoistisch, Dir in diesem Augenblick zu schreiben, mein Freund? Ich weiß es nicht. Erst wenige Wochen sind seit Lauras Tod vergangen und ich habe seither viel nachgedacht. Wenn mir eines klar geworden ist, dann dass es Dinge in meinem Leben gibt, die ich klären muss. Wer weiß, ob es nicht eines Tages zu spät dazu ist.

Jeden Tag, wenn ich aufwache, sehe ich aus dem Fenster. Alles scheint so normal. Als hätte sich nichts verändert. Die Welt zerbricht und niemand nimmt davon Kenntnis.

Während alles seinen gewohnten Gang geht, hat sich mein Dasein über Nacht in eine Fassade verwandelt. Dahinter ist es leer. Dennoch steht sie trotzig. Aufrecht. Wüsste ich nur, was sie beschützen will! Ich schleppe mich zur Arbeit. Gehe nach Hause. Schlafe. Gehe wieder arbeiten.

Kann das das Leben sein, das uns einst versprochen wurde?

Summerhill. Weißt du noch?

Ich frage mich, wie ich all das hatte vergessen können. Es brauchte eine Laura, um mich daran zu erinnern. Dabei hatte sie nie davon gehört. Es ist so leicht zu vergessen. Alle legen es darauf an. Sei ein Rädchen und alles ist gut. Laura war anders. Keine Ahnung, woher sie die Kraft dazu nahm.

Auch sie hatte ihre dunklen Momente, gewiss. Ich habe nie gewagt zu fragen, wohin sie dann ging. Jetzt ist es zu spät. Ich werde es nicht mehr erfahren.

Trotzdem nahm sie mir das Gefühl der Verlorenheit. Ich hörte auf, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Erinnerte mich. Wie hatte es überhaupt so weit kommen können?

Jetzt ist sie fort und wieder treibe ich im luftleeren Raum. In meinem Leben war es zuvor nur einem Menschen gelungen, mir dieses Gefühl zu nehmen. Ich bin nicht sicher, ob Du es weißt, aber Du warst das, Godot.

Es würde mich sehr freuen, wenn wir nach all den Jahren die Vergangenheit endlich hinter uns lassen könnten. Letztlich aber muss ich diese Entscheidung Dir überlassen. Ob wir diesen Kontakt pflegen oder nicht, für mich bist du noch immer mein Freund, mein Vertrauter – neben all dem, was uns trennt, gibt es zu viel, was uns verbindet, als dass sich das für mich ändern könnte.

Ich umarme Dich aus der Ferne und verbinde mich im Geiste mit Dir,

Dein Pascal

Kapitel 9 – Hundstage

 

„Mrs. Ochmonek!”

Nichts.

Mit ihrem Geschrei würde sie noch die gesamte Nachbarschaft aufwecken. Lola stieß einen langanhaltenden Pfiff aus. Nichts geschah.

„Mrs. Ochmonek!” rief sie erneut.

Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar beugte sich aus dem Fenster eines der Reihenhäuser und sah zu ihr herab.

„Wissen Sie eigentlich, welchen Tag wir heute haben?” keifte sie.

„Nimmt leider der Hund nicht Rücksicht auf welche Tag.”

„Wie der Herr, so’s Gescherr!” bellte die Frau.

Lola verstand das nicht, den Tonfall aber wusste sie zu deuten. Also ging sie weiter. Die Frau schickte ihr einen bösen Blick hinterher und schloss lautstark das Fenster.

Die verwaiste Leine in der Hand trottete Lola die Straße hinab. Ihr Magen knurrte. Noch einmal bog sie auf den Spielplatz ein.

Nichts. Kein Hund. Nicht mal Kinder.

Auf einmal donnerte es.

Lola sah zum Himmel auf. Eben war er noch stahlblau gewesen.

„Mrs. Ochmonek!” schrie sie. „Wenn du kommst nicht hier sofort, ich gehe allein nach Hause! Kannst du dir eine neue Frauchen suchen dann!”

Ihre Drohung verhallte ungehört.

Dafür fiel Lola ein erster Tropfen auf die Stirn. Dann noch einer. Und noch einer.

Sie beschloss, die Hündin ihrem Schicksal zu überlassen und rannte nach Hause. Würde sie eben, wie so oft, im Tierheim anrufen müssen. Sybilles Reaktion am Telefon konnte sie sich vorstellen. Die Frau im Tierheim machte stets den gleichen Witz, den Lola leider schon beim ersten Mal nicht verstanden hatte. Nach all der Zeit aber wäre es peinlich, noch nachzufragen.

Tropfnass gelangte sie nach Hause. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und, siehe da, im selben Moment kroch Mrs. Ochmonek unter der Treppe hervor.

„Da bist du ja!”

Mrs. Ochmonek spähte zu Lola hinauf. Als diese auf sie zu trat, warf sie sich auf den Rücken, Lola aber tätschelte nur ihren Bauch.

„Gut, dass du bist wieder da. Scheiße Wetter draußen, nicht wahr?”

Sie sperrte die Tür auf. Die Hündin versuchte sich an ihr vorbei ins Innere der Wohnung zu drängen. Lola bekam sie jedoch am Halsband zu fassen.

„Hier geblieben. Erst ich mache dich trocken.”

Mrs. Ochmonek warf ihr einen traurigen Blick nach, als Lola ihr die Tür vor der Nase zudrückte und verschwand. Erst als die Tür abermals geöffnet wurde und Lola mit einem Handtuch vor ihr stand, wedelte sie wieder mit dem Schwanz.

„Ist gut, Kleine, ist ja gut”, wisperte Lola, während sie die Hündin trockenrieb.

Nachdem sie Mrs. Ochmonek eine Schale mit Futter hingestellt hatte, briet Lola sich eine Tortilla de patata. Beim Kartoffel-Schneiden dachte sie an Julián. Seit er bei Totumay gewesen war, verhielt sich ihr Sohn seltsam. Nicht nur, dass er praktisch nichts erzählt hatte. Das war sie gewohnt. Überraschend genug, dass er mit dem Feuertraum zu ihr gekommen war. Seit den Tagen in der Eifel aber wirkte er abwesend und unnahbarer als üblich. Auch hatte er sich kaum blicken lassen.

Wenn sie ihm nur helfen könnte! Diese Träume machten ihr Angst. Sie konnte sich ebenso wenig einen Reim darauf machen wie alle anderen. Selbst die Experten wussten keinen Rat. All die Ärzte, die sie aufgesucht hatten! Nichts. Die Brandblasen auf seinem Bauch blieben.

Lola sog zischend die Luft ein. Diese schrecklichen Brandblasen! Mrs. Ochmonek stupste sie mit ihrer kalten Schnauze am Bein.

„Hast Recht, Kleine, ich sollte nicht mir so viele Sorgen machen.”

Die Hündin knurrte zustimmend.

Als Julián ihr zum ersten Mal davon erzählt hatte, hatte er ihr wie ein Häufchen Elend gegenübergesessen. Lola erinnerte sich, dass ihr angst und bange wurde, als er sie mit seinem Silberblick ansah. Dieser Ausdruck in seinen Augen.

Seither hatte sie dieses ungute Gefühl.

Nein, damit konnte es nichts zu tun haben, versuchte sie sich selbst ein ums andere Mal glaubhaft zu machen.

Gelingen wollte es ihr nicht recht. Wie ein Furunkel saß der Gedanke fest. Meldete sich immer dann zu Wort, wenn sie gerade nicht auf der Hut war.

Das Klingeln des Telefons schreckte Lola aus ihren Gedanken. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Hastig schob sie das Schneidebrettchen zur Seite und stolperte auf dem Weg zum Telefon über Mrs. Ochmonek, die zu ihren Füßen lag und auf einem Kauknochen herumbiss.

Lola nahm den Hörer von der Gabel. „¿Dígame?“

Sie lauschte.

„Aber kannst du uns natürlich besuchen kommen, hijo! Das weißt du doch! Jederzeit! Und was soll das schon für ein Papier spielen, dass es lange her ist? Du weißt doch, dass du hier immer willkommen bist! Ich freue mich auf dich, Kyriel! Julián auch, bin ich sicher!”

Lola saß am Tisch, aß und hing ihren Gedanken nach.

Eine Zeit lang war Kyriel zweimal pro Jahr nach Köln gekommen, um Julián zu besuchen. Sie mochte den Burschen. Das war genau die Art von Freund, die Julián gerade brauchte. Das Rechte geschah stets zur rechten Zeit.

Wann war er zuletzt hier gewesen? Das musste vier, fünf Jahre her sein. Dann hatte er sich verliebt und hatte sich nie wieder blicken lassen. So waren die Jungs in diesem Alter – kaum in festen Händen, mir nichts dir nichts von der Bildfläche verschwunden. Bei Julián war es dasselbe gewesen, als er damals diese Freundin hatte. Von einem Tag auf den anderen war er gerade mal zu Hause aufgetaucht, um ihr seine Schmutzwäsche zu bringen und den Kühlschrank zu plündern.

Sie konnte sich gut daran erinnern, wie sie Kyriel zum ersten Mal gesehen hatte. Was für ein hübscher Kerl! Blaue Augen und schulterlange blonde Haare. Er konnte nicht älter als 16 gewesen sein. Sie spürte ein sanftes Ziehen in ihrem Schoß, wenn sie daran zurückdachte. Wie er jetzt wohl aussah?

Die beiden hatten sich damals in Spanien kennen gelernt. Kyriel machte einen Interrail-Trip durch Europa, als er in Barcelona auf Julián stieß.

Es musste Mitte August gewesen sein. Jedenfalls waren Julián und seine beiden Cousins in der Barceloneta unterwegs gewesen und hatten mitten in der Nacht beschlossen, schwimmen zu gehen. Als sie am Strand ankamen, erwartete sie ein Menschenauflauf. Ein einziger Satz drang an Juliáns Ohr: Ich verstehe kein Wort, von dem, was sie sagen. Ehe seine Cousins sich versahen, hatte Julián sie stehen lassen und schob sich durch die Menschen. Inmitten der Ansammlung, von Polizisten umringt, stand ein Junge mit blondem Haar. Er sah müde und verwirrt aus. Zu seinen Füßen stand ein Traveller-Rucksack. Verzweifelt bemühte er sich zu erklären, dass er kein Spanisch spreche und ob die Herren nicht womöglich Englisch könnten. Das konnten sie nicht.

Julián lief auf den Blonden zu. Laut rief er: „Hey, Stefan! Wo warst du denn die ganze Zeit! Ich habe mir schon Sorgen gemacht!” Er zwinkerte dem Jungen zu, noch ehe die Polizisten sich zu ihm umdrehten. Hände legten sich auf Schlagstöcke. „Wir wollten uns doch an den Ramblas wieder treffen”, fuhr Julián fort. Er lächelte einen der Beamten an. „Da müssen wir uns wohl verpasst haben –”

Er legte einen Arm um die Schultern des Fremden und fügte auf Spanisch hinzu: „Disculpen las molestias, señores. Este es un amigo mío de Alemania y nos perdimos hace algunas horas. Va a dormir en mi casa. Uds. pueden ver, todavía lleva su equipaje. Pues, quizá sea mejor que ahora le lleve a casa, ya es un poco tarde, ¿no? Venga, perdonen, por favor, y ¡muchas gracias por su ayuda!

An Kyriel gewandt: „Komm mit, ich hole dich hier raus! Es ist verboten, am Strand zu schlafen.”

Die Polizisten hatten sich noch nicht gefasst, da hatte Julián Kyriel auch schon am Arm gepackt und fortgezogen. Wie ein Lämmchen trottete dieser hinter ihm her. Erst in einer Gasse des alten Fischerviertels hielten sie an.

„Julián.”

„Kyriel.” Kyriel ergriff Juliáns Hand und grinste. „Für dich aber gern auch Stefan. Du hast mir ganz schön aus der Patsche geholfen.”

„Keine Ursache. Kannst dich ja bei Gelegenheit revanchieren. Aber komm erst mal mit. Ein Bett für dich werden wir bestimmt noch auftreiben!”

So kam es, dass Kyriel die letzten zehn Tage seiner Reise im Haus von Lolas Schwester verbrachte und er und Julián gute Freunde wurden.

Lola lächelte. Das war der Julián, an den sie sich gern erinnerte. Rotzfrech und nie um eine Antwort verlegen.

Sie stand auf und brachte ihren Teller in die Küche. Mrs. Ochmonek folgte ihr auf dem Fuße. Ihr Schwanz wedelte, als gelte es einen Preis zu gewinnen. Als sie jedoch erkannte, dass Lola zum Bücherregal ging und das Päckchen mit den Tarot-Karten aus dem Schrank zog, verkroch die Hündin sich beleidigt unter den Tisch.

Was hatte es mit Kyriels Auftauchen wohl auf sich? Und was hatte es für Julián zu bedeuten?

Mischen. Ausfächern.

Lola schloss die Augen. Behutsam glitten ihre Finger über die Karten dahin, bis sie den kühlen Sog spürte. Sie zog die Karte heraus.

Nachdenklich betrachtete sie sie.

„Gar nicht so schlecht”, murmelte sie und legte die Karte auf den Tisch.

Es war Der Tod.

Mrs. Ochmoneks Gebell hallte durch das Haus. Sie stürmte zur Tür und zurück, sprang an Lola hoch, drehte sich noch im Fluge und jagte wieder davon.

„Ist ja gut, Kleine. Ruhig! Das wird Kyriel sein.”

Lola öffnete die Tür.

Tatsächlich stand Kyriel vor ihr. Er hatte sich verändert. Seine Haare trug er noch immer länger, aber er sah männlicher aus. Muskeln zeichneten sich unter dem T-Shirt ab, das eine Nummer größer hätte sein dürfen.

„Kyriel! Was für eine Freude, dich wiederzusehen! Es ist so lange her! Wie du aussiehst! Komm her, lass dich anschauen. Auf jeden Fall ich habe Tausende Male Julián gefragt, ob er hat von dir gehört, aber er meinte, dass ihr hattet schon ewig keinen Kontakt. Na siehst du – und jetzt auftauchst du ganz von selbst! Umso besser! Aber, aber, ich rede mit die Ellenbogen! Bitte, komm erst mal rein!”

Lola drückte Kyriel an sich.

Mrs. Ochmonek sprang an ihm auf und ab, ein einziger wedelnder Schwanz. Kyriel konnte ihr nicht genug Kopf und Bauch tätscheln. Immer wieder sprang sie auf, legte ihre Pfoten auf seine Beine und versuchte ihm das Gesicht zu lecken.

„Stell doch deinen Rucksack gleich im Gästezimmer.”

„Wo ist Julián?”

„Ay, weißt du nicht? Er wohnt nicht mehr hier.” Lola blickte zu Boden. „Aber kein Problem, du kannst die alte Zimmer haben. Ich habe viel Platz allein in Hause.”

Kyriel nickte. „Aber er weiß, dass ich hier bin?”

„Kein Problem, wirklich. Du machst dich frisch, ich mache uns Café con leche. Willst du?”

Erst jetzt sah Lola Kyriel im hellen Licht und erschrak.

„Aber, hijo, was ist mit dir passiert? Du siehst so triste aus – wie sagt man? Ach ja – traurig! Nun gut, jetzt du setzt dich erst mal, dann haben wir Zeit uns unterzuhalten. Du bleibst doch ein paar Tage?”

Nachdem er geduscht hatte, setzte Kyriel sich zu Lola an den Küchentisch. Sie stellte einen Milchkaffee vor ihn hin und lehnte sich zurück. Dann erzählte Kyriel von Laura.

„Die Beerdigung war also vor fünf Wochen”, endete er schließlich. „Tatsächlich habe ich meine Zelte in Nürnberg abgebrochen. Mein Nachmieter ist schon eingezogen. Meine Sachen sind bei meinen Eltern im Keller – außer dem, was ich dabeihabe. Wahrscheinlich kannst du dir ihre Begeisterung vorstellen.”

Lola war blass.

„Was hast du jetzt vor?” wisperte sie.

„Ich musste weg, Lola. Alles hat mich an sie erinnert. Vier Jahre sind eine lange Zeit. Erinnerungen auf Schritt und Tritt. Ich konnte es nicht mehr ertragen.”

Sie ging zu ihm hinüber und zog seinen Kopf an ihre Brust. Sanft wiegte sie ihn hin und her.

„Schhhh. Hier du kannst bleiben, solange du willst.”

Kyriel löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung.

„Das ist lieb von dir.” Er schluckte. „Ich weiß das zu schätzen!”

„Noch ein Café con leche?”

„Gerne. Ganz wie in alten Zeiten! Wir zwei, gute Gespräche und Café con leche.”

Lolas Augen schimmerten als sie aus dem Raum ging.

Hatte sie deshalb den Tod gezogen?

Sie bezweifelte es. So einfach funktionierte das mit den Karten zumeist nicht.

Mit zwei vollen Tassen kehrte sie zurück. Sie setzte sich Kyriel gegenüber. Dieser lächelte sie an. Zu ihren Füßen grunzte Mrs. Ochmonek behaglich. Dann entwich ihr ein Wind, der den ganzen Raum verpestete.

Hunde!

Kapitel 10 – Le café aux folles

 

Ein lauer Wind strich durch die Kronen der Platanen auf dem Brüsseler Platz. Über die umliegenden Jugendstilhäuser erhoben sich die Türme von St. Michael. Es hatte Kyriel ins Belgische Viertel gezogen, nachdem er vergeblich versucht hatte, Julián zu erreichen. All die Cafés und Kneipen erinnerten ihn an längst vergangene Zeiten. Julián und er hatten damals gemeinsam die Straßen unsicher gemacht. Zwischen ihnen hatte es einen regelrechten Wettkampf darum gegeben, wer die schönste Frau des Abends anzusprechen wagte. Sollte er sie dann auch noch mit nach Hause nehmen, stand der Sieger fest.

Doch das war lange her.

An diesem Morgen stand Kyriel nicht der Sinn nach Eroberungen. Er suchte etwas in den Eingeweiden der Großstadt, das Hoffnung für ihn barg: Vergessen.

Hier lief er kaum Gefahr, Bekannten zu begegnen. Sich genötigt zu sehen zu erzählen, was er so verzweifelt hinter sich zu lassen suchte. Er hatte nicht gnadenlos sich selbst zu verkörpern. Kyriel – den die Menschen liebten oder ablehnten, je nachdem.

Das war der bestechende Vorteil der Fremde. Sie sprengte die Kerkermauern des Daseins. Erinnerungen anderer existierten in dieser Welt nicht.

Niemand, dessen mitleidigem Blick es zu entfliehen galt. Niemand, der krampfhaft bemüht war, einen aufzuheitern, wenn einem nicht nach Aufheiterung zumute war. Niemand, der meinte, man solle nicht allein sein, auch wenn man sich nicht nach Gesellschaft fühlte.

Vor ihm erstreckten sich die Täler der Zukunft. Eine Landschaft, die kein Kartograph bislang erkundet hatte.

Kyriel setzte sich auf die Stufen vor der Kirche. Er beobachtete die Passanten, die den Zauber des Ortes nicht zu bemerken schienen. Verblasster Bestandteil des Alltags. Er aber schloss die Augen und sog den Duft von Rosenblüten und Lavendel in sich auf.

Auf der Terrasse des Hallmackenreuther bestellte Kyriel sich einen Tee. Er wollte eben daran nippen, als das Telefon in seiner Hose zu vibrieren begann. Heiße Flüssigkeit ergoss sich über seinen Handrücken. Kyriel unterdrückte ein Fluchen.

Das musste Julián sein.

Endlich fand er das Telefon.

„Julián?” stieß er hervor.

„Koesterbaum hier. Ist Kyriel zu sprechen?“

„Papa, das ist ein Handy. Ich bin dran.”

„Wo steckst du, mein Junge?”

„Ich sitze in einem Café und trinke einen Tee. Was gibt es?”

„Ich wollte nur hören, wie es dir geht.”

„Ich bin gut angekommen.”

Siegmar Koesterbaum zögerte. Im Hintergrund tutete es leise.

„Außerdem muss ich mit dir reden. Hast du ein paar Minuten Zeit?”

Kyriel strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ja, habe ich. Worum geht es?”

„Also deine Mutter und ich – wir haben uns Gedanken über dich gemacht. Versteh mich nicht falsch. Natürlich wissen wir, dass das eine schwere Zeit für dich ist. Aber wir sind der Ansicht, dass es nichts bringt, jetzt davonzulaufen.”

„Aber Papa, das haben wir doch schon geklärt. Ich laufe nicht davon! Ich habe mir eine Auszeit genommen. Ich muss mir über einige Dinge in meinem Leben klar werden.”

„Das verstehen wir ja. Aus diesem Grund haben wir uns überlegt, dass du wieder zu uns ziehen solltest.”

Kyriel verdrehte die Augen.

„In Dinkelsbühl wirst du nicht ständig an alles erinnert, was geschehen ist. Dein altes Zimmer steht leer. Hier könntest du tun und lassen, was du möchtest. Immerhin ist uns klar, dass du jetzt erwachsen bist. Außerdem habe ich mit Herrn Rübsal aus der Personalabteilung gesprochen. Du kannst jederzeit bei uns anfangen, mein Junge. Aber bei deinem Abitur –”

„Wie oft soll ich es dir noch sagen?“ entgegnete Kyriel. „Ich habe kein Interesse daran, bei der Sparkasse zu arbeiten.“

„Ich möchte, dass du es dir noch einmal überlegst. Bei uns hast du einen sicheren Arbeitsplatz. In die Rentenversicherung würdest du auch endlich einzahlen. Außerdem verdienst du gut, wenn du ausgelernt hast. Du musst an deine Zukunft denken, mein Junge! Deine Mutter und ich sind uns einig, dass es dir Spaß machen würde, wenn du dem Ganzen bloß eine Chance geben würdest. Außerdem kämst du auf andere Gedanken. Laura hätte bestimmt gewollt –”

„Wag es nicht, sie da hineinzuziehen”, Kyriels Stimme bebte. „Woher willst du wissen, was sie gewollt hätte! Du konntest sie von Anfang an nicht leiden!”

„Das ist doch nicht wahr, mein Junge.”

„Ihr wart nicht mal auf ihrer Beerdigung! Ich bin euer Sohn, oder nicht? Sie war meine Freundin! Hättest du nicht ein Mal, nur ein einziges Mal, deinen Egofilm vergessen können?!”

„Das habe ich dir doch erklärt. Tante Muriel hatte diesen Termin beim Gerontopsychiater. Du weißt, wie schlecht ihr Zustand ist, mein Junge.”

„Hör auf mich so zu nennen! Ich hasse das! Außerdem hättet ihr ja wohl einen anderen Termin für sie bekommen können, oder etwa nicht?”

„Auch das habe ich dir schon erklärt. Es ist unglaublich schwer, überhaupt einen Termin zu bekommen. Die haben Wartezeiten von bis zu drei Monaten.”

Siegmar Koesterbaum hatte einen versöhnlichen Ton angeschlagen. Beinahe kleinlaut.

„Aber ich bin dein Sohn!” Mehrere Köpfe wanden sich zu ihm um. „Meine Freundin ist gestorben! Gestorben, verstehst du? Nichts mehr mit in drei Monaten! Und jetzt bildest du dir ein, ich würde zurück zu euch nach Dinkelsbühl kommen und alles wäre wie früher? Wie naiv bist du eigentlich?”

„Kyriel, beruhige dich. Deine Mutter und ich halten es für das Beste. Wir waren sehr großzügig, was deine Wünsche angeht. Als du damit ankamst, dass du Philosophie studieren willst, hielten wir das für keine gute Idee – aber wir haben dich finanziell unterstützt, oder? Das hast du zwar nicht lange gemacht, aber auch danach haben wir dich einfach machen lassen –”

„Einfach machen lassen? Nennst du es einfach machen lassen, wenn du mir alle zwei Wochen die neuesten Stellenanzeigen aus der Zeitung zuschickst? All die gutgemeinten Gespräche über mein Leben? Meine Zukunft? Die Rentenversicherung? Das nennst du einfach so machen lassen?”

„Wir meinen es doch nur gut, mein Junge.”

„Du sollst aufhören, mich so zu nennen. Ich bin 24. Ich bin nicht dein Junge!”

Am Nachbartisch fiel ein Kaffeelöffel zu Boden. Irritiert sah Kyriel auf.

„Kyriel, du wirst immer mein Sohn bleiben, egal wie alt du bist. Auf jeden Fall wollen deine Mutter und ich nur dein Bestes, das weißt du doch. Wir haben entschieden, dass du es mit dieser Ausbildungsstelle probieren solltest –”

„Ihr habt entschieden? Das kann nicht dein Ernst sein, oder? Erinnerst du dich, dass du eben noch meintest, ich sei erwachsen?”

„Gib dem Ganzen eine Chance! Bis September ist noch ein Monat hin. Da hast du Gelegenheit, dir über einiges klar zu werden. Wir finden es völlig in Ordnung, dass du erst mal Urlaub machen willst, um ein wenig Gras über die Sache wachsen zu lassen. Aber momentan, wo diese amerikanische Immobilienkrise herüberschwappt, ist es wichtig, langfristig zu denken. Du wirst mir eines Tages noch dankbar sein.”

Kyriels Finger hatten den Tisch mit Hilfe einiger Servietten in eine detailgetreue Nachbildung der Schlacht von Verdun verwandelt.

Unbeirrt fügte sein Vater hinzu: „Herr Rübsal meint, du hast noch zwei Wochen Zeit, es dir zu überlegen.”

„Ich habe nicht vor, mir irgendetwas zu überlegen”, zischte Kyriel.

„Dann muss ich dir leider sagen, dass du mit finanzieller Unterstützung von unserer Seite nicht mehr zu rechnen hast. Deine Mutter und ich sind uns einig, dass es Zeit wird, dass du etwas Vernünftiges mit deinem Leben anstellst. Du hast mehr als genug Zeit verplempert!”

„Ich komme auch ohne dein Geld klar. Falls es da Missverständnisse gibt, wirf einen Blick auf deine geheiligten Kontoauszüge! Und spar dir deine Erpressungsversuche!”

„Mein Junge, wie kommst du nur auf so etwas. Ich will dich doch nicht erpressen! Deine Mutter und ich -”

Kyriel legte auf und platzierte das Telefon unsanft auf dem Tisch.

„Stress?” fragte eine helle Stimme im gleichen Moment.

Kyriel sah auf.

„Darf ich mich setzen?”

Er sah sich um. Ringsumher waren kaum Tische besetzt.

Die Stimme gehörte einem blonden Mädchen. Auf dem Kopf trug sie eine türkis-gelbe Narrenkappe.

„Wenn’s denn sein muss”, brummte er.

Sie ließ sich nicht abschrecken.

„Eltern”, sah er sich zu erklären genötigt. „Meinen immer, sie wüssten alles besser.”

„Wer kennt das nicht?”

Ihr Lächeln leuchtete in den Sonnenstrahlen, die sich durch die Platanen stahlen. „Ich bin schon dankbar, wenn meine mir keinen Suchtrupp auf die Fersen hetzen, sobald sie mich ein paar Stunden nicht erreicht haben.”

Kyriel griff nach seinem Rucksack.

„Möchtest du?”

Sie sah auf das Grünzeug in seiner Hand.

„Petersilie?” Sie runzelte die Stirn.

„Ein Tick von mir. Ich habe mal versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Da habe ich es mir angewöhnt.“ Er grinste. „Jetzt rauche ich und esse Petersilie.”

„Warum nicht.”

Auch er selbst schob sie sich einige Blätter in den Mund.

„Ich heiße übrigens Kyriel.”

„Susanna.”

„Ich will dir nicht zu nahe treten, aber das ist nicht gerade der übliche Kopfschmuck zurzeit oder habe ich einen Trend verpasst?”

Susanna schüttelte den Kopf. Die Glöckchen bimmelten.

„Du trittst mir nicht zu nah.”

„Und?”

„Frag nicht!”

Susanna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Könnte ich noch ein bisschen Petersilie haben?”

„Klar.”

Rasch kramte Kyriel ein paar Stängel hervor.

Wieder erklangen die Glöckchen, als Susanna den Kellner herwinkte und einen Cappuccino bestellte. Ein paar Neugierige verrenkten sich die Köpfe, um den Ursprung des Geräuschs zu entdecken.

„Warum sitzt du hier eigentlich, so ganz allein?”

„Jetzt ist es an mir, frag nicht zu sagen.”

Susanna sah ihn erstaunt an.

„Sagen wir einfach, ich warte auf einen Freund, okay?”

Er drückte ihr einen weiteren Stängel Petersilie in die Hand.

„Erzähl mir lieber, was dich nach Köln führt. Du bist nicht von hier, oder?”

Sie legte die Stirn in Falten. „Mein Job, ursprünglich. Nicht schwer zu erraten, wo ich herkomme, nicht wahr?”

„So schlimm ist es nicht. Den Osten wird man wohl nie ganz los”, erwiderte Kyriel. „Ursprünglich?”

„Hat sich erledigt, sozusagen.”

„Der Job?”

„Lass mal – ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten”, sie nippte an ihrem Cappuccino. „Siehst aus, als hättest du den Kopf voller eigener –”

„Bitte, nur zu! Ich bin froh, wenn sich meine Gedanken ausnahmsweise mal nicht um mich selbst drehen. Ich bin Egozentriker, musst du wissen.”

Susanna musterte ihn schweigend. Schließlich sagte sie: „Wenn du meinst. Aber behaupte hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.”

„Ehrensache.”

„Um es in einem Satz zu sagen: ich bin zu nett.”

„Zu nett?”

„Laut meiner Chefin. Oder vielmehr Ex-Chefin.” Sie langte nach dem Bund Petersilie, der mittlerweile auf dem Tisch lag.

„Darf ich?“

„Vorsicht, sonst geht’s dir wie mir. Irgendwann kommst du nicht mehr davon los.“

Susanna lachte. „Vielleicht gibt es eines Tages Bilder im Kräuterregal, die die inneren Organe von Petersilie-Süchtigen zeigen. Petersilie“, sagte sie mit tiefer Stimme, „gefährdet die Gesundheit ihres Kindes schon während der Schwangerschaft.“

Kyriel grinste.

„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „war das die Begründung dafür, weshalb sie mich gefeuert hat – ich sei zu nett.”

„Das kann nicht ihr Ernst sein! Es muss doch eine Vorgeschichte geben -”

„Das war der Kündigungsgrund.” Susanna rührte in ihrem Kaffee. „Meine Kolleginnen haben sich beschwert, dass ich immer so gute Laune habe.”

„?!”

„Das könne ja nicht echt sein. Wenn ich vornerum so nett bin, muss ich praktisch eine falsche Schlange sein.”

„Wo hast du gearbeitet? Im Bestattungsinstitut?”

„In einer Buchhandlung.”

„Wie lange?”

„Fünf Jahre.”

So erzählte Susanna ihm von ihrer Zeit im Buchladen. Davon, wie mit den Jahren alles immer strenger geworden war, keine Zeit mehr für Gespräche mit den Kunden blieb und nur noch Studenten eingestellt worden waren.

„Das Problem ist, dass die Menschen heute sich alles gefallen lassen”, sagte Kyriel.

Susanna verdrehte die Augen.

„Aber ist doch so“, verteidigte er sich. „Keiner wehrt sich mehr, aus Angst um seinen Job. Die Konsequenz ist, dass jeder alles mit sich machen lässt. Und verlierst du den Job trotzdem, bist du sofort ein Sozialschmarotzer.”

Die Glöckchen stießen aneinander, als Susanna ihm zustimmte.

Ein Mann mit zerfurchtem Gesicht quittierte das Geräusch mit einem übellaunigen Seitenblick. Kopfschüttelnd zerrte er seinen Rauhaardackel hinter sich her.

„So etwas hätte es früher nicht gegeben!” flüsterte Susanna mit Grabesstimme.

Kyriel lachte.

„Aber du hast Recht”, nahm sie den Faden noch einmal auf. „Auf dem Arbeitsamt haben sie mich behandelt wie eine Verbrecherin.”

„Arbeitsagentur.”

Susanna winkte genervt ab.

„Ich brauche all diese sogenannten Errungenschaften des neuen Jahrtausends nicht”, erwiderte sie. „Nächste Station: Findhorn. Man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.”

„Findhorn?”

„Eine Kommune in Schottland. An einer kleinen Bucht gelegen. Muss zauberhaft schön sein dort. Das hat mir Christine erzählt, die habe ich letztes Jahr auf dem Summerjam kennen gelernt. Geschichten hat die erzählt, sag ich dir! Beinah zu gut, um wahr zu sein.”

„Was denn?”

„Entspannte Menschen. Nicht dieser Dauerstress. Essen selbst anbauen - solche Dinge.” Ihr Blick wanderte hinauf zu einem Ast, auf dem ein Rotkehlchen saß und sein Lied sang. „Füreinander – nicht gegeneinander. Das ist viel wert. Ohnehin habe ich es satt, mir wie eine Bittstellerin vorzukommen.”

„Gehst du mit deiner Kappe auch aufs Arbeitsamt?”

„Gerade dorthin!” versetzte Susanna.

Kyriel musste schmunzeln. „Erwarte dir einfach nicht zu viel dort”, sagte er. „Dann wird es bestimmt gut werden.”

„Was heißt schon zu viel?” Susanna funkelte ihn an. „Diese Heuchelei kotzt mich an. Ehrlichkeit wäre ein Anfang. Im Laden waren vornerum alle überfreundlich zu mir. Keiner hat mich je kritisiert. Nicht einmal diese Chance haben sie mir gegeben. Vermutlich wäre es ohnehin ein Kampf gegen Windmühlen gewesen. Wenn sie dir Falschheit unterstellen, kannst du nirgends ansetzen. Glaubt dir ja sowieso niemand. – Teufelskreis eben. Aber selbst die Chance, etwas zu ihren Anschuldigungen zu sagen, haben sie mir verweigert. Womöglich ticken die Menschen in Findhorn ja anders. Hoffen darf man schließlich. Sonst können wir uns gleich begraben lassen.”

Vielleicht hatte Susanna Recht.

Weshalb der Welt nicht einfach den Rücken zuwenden! Es ging auch anders, das war klar.

Das blasierte Gesicht des Diktators aus Dinkelsbühl sah von seiner besserwisserischen Warte auf ihn herab. Sinnbild der väterlichen Denke war seit jeher die akkurat gestutzte Hecke ums elterliche Grundstück gewesen. Jenseits derer begann das Reich des Bösen. Seiner hatte man sich mit allen Mitteln zu erwehren.

Kyriel jedoch wollte sich nicht wehren. Ihm war jenes Reich zum Land der Verlockungen geworden. Ein Land ohne Ausbildung, Rentenversicherung und Schlips.

Würde auch er sich, wie Susanna, einfach auf und davon machen, seinem alten Herrn mitsamt seiner Sparkassensippe blieben die herrlich drapierten Zukunftspläne für den Sohnemann schlicht im Halse stecken!

So viel Unvernunft, Kyriel war sich sicher, verschlüge seinem Vater den Atem. Er konnte seine Mutter vor sich sehen, wie sie beflissentlich die Schweißperlen von Siegmars stressbefleckter Stirn tupfte.

Das Handy klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Diesmal war es allerdings nicht seines.

„Alles klar!” sagte Susanna. „Bin schon auf dem Weg!”

Sie legte auf und wandte sich zu Kyriel.

„Ich muss los, sorry.” Sie streckte ihm ihre zierliche Hand entgegen. „Hat mich echt gefreut! Vielleicht läuft man sich ja mal über den Weg!”

So einen Händedruck hätte Kyriel ihr gar nicht zugetraut.

Ehe er sich versah, hatte Susanna zwei Euro auf den Tisch gelegt und bimmelte über den Brüsseler Platz davon.

„Alles Gute!” rief Kyriel ihr nach.

Susanna aber drehte sich nicht noch einmal um.

Kapitel 11 – Briefe an Godot II

 

Nürnberg, 01. August 2008

Lieber Godot,

jetzt, da Laura tot ist, kann ich die Augen nicht länger verschließen. Also habe ich gestern gekündigt. Ich ertrage die Verachtung nicht mehr, mit der mein Spiegelbild mir entgegensieht. Zeit, die Masken abzunehmen.

Mischst auch Du inzwischen mit im großen Spiel? Oder warst Du stärker als ich, mein Freund?

Partnerportale im Internet, Stierkämpfe in Spanien, der Bauchmuskelfetisch von Cristiano Ronaldo – das alles kann mir jedenfalls gestohlen bleiben. Ich verschwende meine Zeit und ich bin es leid.

Doch wohin nun?

Noch vor einigen Jahren hatte ich die Illusion, unsere Presse sei frei. Hätte ich einen Job am Fließband angenommen, ich hätte Stumpfsinn erwartet – doch bei der Zeitung? Dennoch habe ich mich einlullen lassen. Schleichend. So läuft das. Nun bin ich ratlos. Haben sie auch Dich zerbrochen, Godot, wie sie am Ende jeden Widerstand zerbrechen? Hinterfragt niemand den marktschreierisch deklamierten Endsieg des Kapitalismus?

In all ihrer Einfalt ist die Arroganz, die sich hinter diesem Glauben an ein Ende der Geschichte verbirgt, beinahe sympathisch. Sie erinnert an den Sonnenkönig.

Was nur, so frage ich mich, ist das für eine Welt, in der wir Menschen trotz all unsrer Errungenschaften nicht glücklich sind?

Die Alte, die mich anherrscht, ich solle sie erst aussteigen lassen, wenn ich reglos am U-Bahnsteig warte. Der Nachbar, der mit dem Besenstiel die Decke malträtiert, wenn ich Musik höre. Der Kollege, der mir die Mandelentzündung vorwirft, als läge ich krank im Bett, um ihm mehr Arbeit zu machen. Der Blick der Lidl-Kassiererin, wenn ich zu lange nach Kleingeld suche. Der lichthupende Mercedes-Fahrer, wenn ich einen LKW überhole. Homo homini vigil.

All diese Menschen schlucken die Schmähungen des Alltags und speien sie mir später als moralinsaure Brosamen ins Gesicht.

Verstehen kann ich sie. Doch was ist das für eine Welt?

Ich bin es leid, ständig zu kämpfen. All diese Aggression. Wieso ist im Schlaraffenland der ersten Welt meine Sehnsucht nach Zufriedenheit so abwegig?

Und schon zieht neues Unheil auf.

Finanzkrise.

Wie immer lassen sich die Lämmchen arglos zur Schlachtbank führen.

Sachzwänge. Schon rauscht es in meinen Ohren. Freiheit. Wie beim Krieg gegen den Terror. Du bist Deutschland. Uneingeschränkt.

Bis hinein in Dieter Bohlens Casting-Show.

Niemand der das Offensichtliche sagt.

Nein!

Wundert es Dich, dass ich mich verdrückt habe?

Niemand wagt aufzubegehren. Nach Alternativen zu suchen. Jenseits der ehernen Gesetze des Marktes.

Das nenne ich gelungene Fundamentalisierung – und unsereins ätzt gegen die Glaubenstreue der Muslime. Wir sind kein Stück besser, nur heißt unser goldenes Kalb nicht Koran, sondern Marktwirtschaft!

Du sahst die Dinge stets klarer als ich, sahst sie früher kommen. Besitzt Du sie noch, deine Hellfühligkeit, Godot? Ich habe Dich um diese Gabe beneidet. Manchmal aber machte sie mir Angst. Habe ich Dir das je gesagt?

Was gäbe ich darum, in diesem Augenblick Deinen Rat zu hören.

Oft schlug mir in diesen letzten Jahren Herablassung entgegen. Meine Kollegen nannten mich naiv.

Ist Naivität womöglich das Mal, das zu tragen uns auferlegt ist? Muss naiv sein, wer einmal frei war?

Derzeit mag man auf mich herabsehen. Menschen zu allen Zeiten ist es so ergangen. Menschen, die nicht ans Ende der Geschichte oder tausendjährige Reiche geglaubt haben. Die sich auf ihr Gespür verlassen haben. Auf ihren Glauben an Veränderung.

Eins wird allzu gern unterschlagen, wenn Darwins Evolutionstheorie zur Rechtfertigung angeblicher Unabänderlichkeit herangezogen wird. Neben dem Totbeißen gibt es einen weiteren elementaren Bestandteil: Solidarität. Gegenseitige Hilfe.

Möge dies mein Leitstern bleiben.

War es ein Fehler, mich mit Laura zu entziehen? Den Kampf Kampf sein zu lassen?

Letztlich, denke ich, haben wir uns gar nicht entzogen.

Wir haben versucht, frei zu sein, nicht nur darüber zu sprechen. Was mehr als einen Gegenentwurf könnte man liefern?

Ich kenne sie nicht, die einzig wahre Antwort auf alle Fragen.

Unser Ansatz war der Versuch, anders zu leben. Nur jenes bedeutungslose Leben, das uns im selben Augenblick so bedeutsam erscheint.

Ich werde diesen Weg nun allein fortsetzen müssen. Einen Weg der kleinen Schritte, nicht der globalen Umstürze.

Wenn ich doch nur mit Dir sprechen könnte, mein Freund. Ich hoffe, diese Zeilen erreichen Dich und ich höre bald von Dir. Danke für Deine Geduld. So Du diese Worte gerade liest, hast Du sie bewiesen.

Ich umarme Dich aus der Ferne und verbinde mich im Geiste mit Dir,

Dein Pascal

Kapitel 12 – Von der Flüchtigkeit der Sterne

 

Mrs. Ochmonek lag zu Lolas Füßen und gähnte. Julián versuchte krampfhaft, dieselbe Reaktion zu unterdrücken. Einzig Kyriel schien daran interessiert, was Lola zu sagen hatte.

„Wie ich habe schon gesagt, es geht um die Gesetze von Kosmos. Besonders um die Gesetz von Anziehung. Diese Gesetz sagt, dass du bekommst immer das, was du dir wünschst oder auch nicht dir wünschst, wenn du dich in Gedanken nur lange genug damit beschäftigst.”

„Das ist Schwachsinn, mamá. Wenn das so wäre, hätte ich mir den Feuertraum ja ausgesucht! Ist das dein Ernst?”

Kyriel strich sich die Haare aus der Stirn. Unter seiner Schädeldecke probte eine Samba-Truppe.

Er trank ein weiteres Glas Wasser.

„Natürlich ist dir das nicht bewusst, cariño. Aber glaub mir, irgendeinen Sinn hat das Ganze! So das Universum funktioniert nun mal. Ob du willst das einsehen oder nicht!”

Sie legte das Buch auf den Tisch. Law of Attraction.

„Dein Problem ist, dass du immer und überall Zusammenhänge sehen willst! Du bist wie diese Jesus-Freaks, die in jedem Windstoß einen Pups Gottes sehen!”

„Ich bin deine Mutter, also pass gefälligst auf, wie du redest mit mir. Außerdem komm nicht mir mit Gott! War ich in eine Klosterschule gesteckt oder du?”

Mrs. Ochmonek knurrte.

„Du musst ihn verstehen, Lola! An seiner Stelle fiele es mir auch schwer, der Situation etwas Positives abzugewinnen.”

Kyriel beugte sich hinab und tätschelte Mrs. Ochmoneks Kopf. Sofort warf diese sich auf den Rücken.

„Ich will ihm nichts einreden. Ich denke allerdings, es ist sinnvoll, die Dinge anzunehmen, so wie eben sind. Hilft nichts, gegen Träume sich verteidigen – das auch du mittlerweile verstehen haben solltest, Julián!”

„Lass uns aufbrechen, Kyriel! Kevin wartet bestimmt schon auf uns!”

„Willst du wirklich wieder losziehen?” stöhnte Kyriel. Mit glasigem Blick betrachtete er das Ziffernblatt seiner Taschenuhr. „Wollen wir nicht lieber einen Ruhigen machen?”

„Ist die von Gold?” fragte Lola.

Kyriel gab ihr die Uhr und nickte.

„Ein Erbstück von meiner Oma”, sagte er. „Sie hat sie von ihrem Vater geerbt, als der gestorben ist.”

„Es ist Samstagabend!” unterbrach Julián die beiden genervt. „Alles ist besser, als mir zu Hause komische Moralpredigten anzuhören.” Er erhob sich vom Tisch. „Nach zwei Kölsch geht‘s dir wieder gut!”

„Ich hatte nicht vor, dir eine Moralpredigt zu halten, Julián. Aber du wirst erlauben, dass ich mache mir Sorgen!”

„Mach dir Sorgen, wenn du meinst”, brummte Julián und griff nach seinem Pulli.

„Komm, Kyriel, wir gehen!”

Kyriel stand auf, warf Lola einen hilflosen Blick zu, doch da hatte Julián bereits die Tür ins Schloss gedrückt.

„Mutter!”

„Was gibt‘s denn? Ich bin im Keller!”

„Bring mir noch ein Bier, ja!”

„Ich komme sofort! Ich hänge nur noch die Wäsche auf! Kleinen Moment!”

Siegmar Koesterbaum saß in seinem Fernsehsessel. Er hatte die Beine hochgelegt. Im Fernsehen lief Fußball: Frankfurt gegen Hertha. Das Spiel ging in die achtzigste Minute. Die Eintracht lag 0:2 hinten. Siegmars Finger trommelten auf die Armlehne.

„Dein Bier.”

Hannelore Koesterbaum wischte sich die platinblonden Haare aus der Stirn.

„Ach Mutter, geh doch aus dem Weg!”

Siegmar lehnte sich nach rechts, um den Bildschirm im Auge zu behalten.

„Entschuldige bitte.”

Hannelore huschte davon. Ihr rechtes Augenlid zuckte.

„Brauchst du noch was?”

„Meinen Frieden”, brummte Siegmar. „Foul! Das war ein Foul! Dieser Schiri ist doch gekauft!”

Leise zog Hannelore die Tür hinter sich zu. Sie trottete in den Keller und machte sich daran, die verbliebene Wäsche aufzuhängen. Es war besser, ihren Mann allein zu lassen, wenn er Fußball schaute. War die Eintracht am Gewinnen, ging es noch, aber wehe, wenn nicht. Dann hieß es, besser in Deckung gehen.

Sie schnappte sich eins von Siegmars Sparkassen-Hemden, schüttelte es aus und hängte es auf einen Holzbügel. Diese elenden Hemden. Sie konnte machen, was sie wollte. Nach fünf Monaten war der Kragen nicht mehr sauber zu kriegen. Da half kein Chlor und keine Bleiche. Und Siegmar brauchte zwei am Tag! Kam er mittags zum Essen nach Hause, zog er sich stets um. Wenn Der Herr ihn mit etwas reichlich gesegnet hatte, dann mit Schweißdrüsen.

Hannelore blickte hinüber zu dem Berg Bügelwäsche, der am anderen Ende der Waschküche auf sie wartete. Was half das Klagen! Die Hemden bügelten sich nicht von alleine.

„- gottverdammter – war doch rot – denn die Möglichkeit?!” drang Siegmars Wutgeschrei die Kellertreppe hinab. Und dann: „Mutter!”

Sie öffnete die Tür der Waschküche.

„Was ist denn, Schatz?”

„Bring mir doch noch ein Bier – nein, lieber ein Weizen, diesmal! Aber eins von den Kalten! Die liegen im untersten Fach!”

Ich weiß wo sie liegen, schließlich habe ich sie ja dorthin geräumt, dachte Hannelore Koesterbaum, während sie den Kühlschrank öffnete und rief: „Natürlich, Schatz!”

„Und lass nicht wieder die ganze Hefe in der Flasche!”

Auf der Kellertreppe beging eine Spinne den Fehler, Hannelores Weg zu kreuzen.

Manchmal fragte sie sich, warum sie nicht, wie normale Bedienstete, wenigstens anständig bezahlt wurde. Aber Siegmar konnte auch anders. Und was hätte er ohne sie anfangen sollen?

Dieser Gedanke verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung, während sie das Weißbier langsam in das Weizenglas laufen ließ. Er mochte noch so ein Großkotz sein – ohne sie wäre der Herr Sparkassenzweigstellenleiter nicht einmal in der Lage, sich einen Topf Spaghetti zu kochen. Kläglich verhungern würde er –– oder noch mehr Geld in die Kneipen tragen.

Als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete, fiel ihr Blick auf Siegmars gerötete Glatze. Von der dunkelblonden Mähne seiner Jugendzeit war nichts geblieben außer einem mausgrauen Kranz um den Schädel. Kaum zu glauben, dass das derselbe Mann war, der sie damals mit seinen Luftschlössern um den Finger gewickelt hatte. Es war schwer, Siggi in Herrn Koesterbaum wiederzufinden.

Dieses Haus auf Korfu – das wäre etwas gewesen! Terrasse mit Blick aufs Meer. Stets eine salzige Brise in der Luft. Romantische Sonnenuntergänge. Jeden Tag Gyros, Kalamari und Ouzo.

Leider war es nie dazu gekommen. Vom Ouzo mal abgesehen. Siggi hatte die Beförderung angenommen. Die Zukunft musste warten. Dann kam das Kind und die Träume von einem Leben am Meer hatten sich in eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten verwandelt. Zeiten, als wenigstens die Träume noch wild und exotisch sein durften.

„So was muss doch drin sein!”

Hannelore reichte Siegmar das Weizen. Er nahm sie nicht zur Kenntnis. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Gebannt starrte er auf den Bildschirm. Es lief die 90. Minute. Da kam der Abpfiff. Die falschen Spieler rissen die Hände in die Luft.

„Zu dumm zum Eierlegen! Die stolpern über ihre eigenen Füße!” Siegmar Koesterbaum schaltete ab. Im Raum kehrte Stille ein. „Ich brauche dringend einen Schnaps!”

Mit zwei Gläsern und einer eisbeschlagenen Flasche Ouzo kehrte Hannelore aus der Küche zurück.

„Du auch?” fragte ihr Gatte.

„Heute schon.”

Sie goss sich selbst ein halbes, ihrem Mann ein ganzes Glas ein. Siegmar bedachte sie mit einem skeptischen Blick und trank. Hannelore nippte.

„Genau richtig!” er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Schenk mir doch noch einen ein!”

„Bitte.”

„Bitte.”

Nachdem er den zweiten Schnaps getrunken hatte, lehnte Siegmar sich im Sessel zurück. Er lockerte seine Krawatte, öffnete den obersten Hemdsknopf. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn.

„Ich denke übrigens, dass Tante Betty Recht hat.”

Wenn ihre Schwägerin ins Spiel kam, hatte Hannelore stets das Gefühl auf einen Mund voller Weintraubenkerne zu beißen.

„Womit?”

„Ich habe die Faxen dicke!”

Schweigend sah Hannelore ihren Gatten an.

„Jetzt tu nicht so! Du weißt haargenau, von was ich rede!”

Sie schluckte. „Er hat es nicht leicht gerade, Siggi. Lass ihm ein bisschen Zeit.”

„Es ist ja nicht so, dass er erst seit dieser dummen Sache keinen Fuß auf den Boden bekommt.”

„Der Junge braucht eben länger, bis er seinen Weg findet.”

„So was hat es zu meiner Zeit nicht gegeben! Das Land geht den Bach runter!” Siegmar nestelte an seiner Krawatte herum. „Dass so eine Finanzkrise überhaupt entstehen kann, liegt nur daran, dass die jungen Leute von heute keinen Mumm mehr in den Knochen haben. Wir haben das Land nach dem Krieg wiederaufgebaut und jetzt –”

„Du bist ’54 geboren!”

„Und wenn schon! Damals haben alle mit angepackt! Mein Vater hätte mir was erzählt, wenn ich ihm mit solchen Flausen gekommen wäre.”

Hannelore füllte Siegmars Glas. Müde blickte sie zur Standuhr in der Diele.

„Wovon will der Junge leben, wenn wir mal nicht mehr sind? Bis heute hat er keine müde Mark in die Rentenkasse eingezahlt!”

Hannelore seufzte.

„Da brauchst du nicht zu seufzen. Diese Generation hat keinen Weitblick mehr! Von klein auf wurde denen alles hinten reingeschoben!”

„Aber Siggi, das stimmt nicht!” unternahm Hannelore einen zaghaften Versuch zu widersprechen. „Bei Mc Donald’s musste der Junge seine Beiträge zahlen wie jeder andere auch.”

„Mc Donald’s. Wenn ich das schon höre. Da verrechnet ihr euch, meine Liebe. Selbst wir können froh sein, wenn wir noch eine anständige Rente kriegen! Aber er: kein Riester, kein gar nichts!”

„Du kannst ihn nicht zwingen. Was hättest du gesagt, wenn dein Vater dir ständig reingeredet hätte?”

„Das kann man überhaupt nicht vergleichen! Ich habe eine anständige Ausbildung gemacht und dann mein eigenes Geld verdient. Der Junge treibt sich nur in der Weltgeschichte herum.” Mit hochrotem Kopf saß Siegmar am Tisch. Er atmete schwer. „Schließlich mussten wir alle irgendwann lernen, was richtig ist.”

Hannelore ergriff die Ouzo-Flasche und goss zwei weitere verlorene Träume ein.

„Und was gedenkst du zu tun?”

„Das“, Siegmars Augen funkelten, „lass mal meine Sorge sein!”

Hannelore zog ihre Strickweste enger. „Aber Siggi.” Sie sah ihn von unten herauf an. „Wir sind seit 33 Jahren verheiratet, mir kannst du es doch sagen!”

„Du musst auch nicht alles wissen. Am Ende tratschst du es wieder herum – ich kenne dich! Sobald eins von deinen komischen Weibern auf den richtigen Knopf drückt –”

Gekränkt verschränkte Hannelore die Arme vor der Brust.

„Eins lass dir gesagt sein”, flüsterte Siegmar. Sein saphirblauer Blick sank auf den Grund des Weizenglases.

„Weihnachten ist der Bursche wieder zu Hause.”

Drei Kölsch und der Kater war vergessen.

Kevin saß zwischen Julián und Kyriel. Wie üblich sah er aus wie ein Teddy, der ein Verbrechen zu vertuschen suchte.

Er knuffte Julián in die Seite. „Was ist los mit dir?”

Julián zuckte zusammen und ließ von seinem Ohrläppchen ab.

„Nichts. Alles okay. Musste kurz an einen Streit mit meiner Mutter denken.”

„Die beruhigt sich wieder”, meinte Kyriel. „Außerdem hat sie es nicht böse gemeint.”

„Ist auch egal. Lasst uns woanders hingehen!” Julián sah sich um. Außer dem Barkeeper und ein paar Gestalten am Tresen, die zu tief ins Glas geschaut hatten, war niemand da. „Ich habe Lust zu tanzen!”

„Tanzen?” fragte Kevin ungläubig. „Du kriegst doch den Stock nicht aus dem Arsch!”

Julián warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Nichts gegen euch, Jungs, aber ich brauche ein paar Mädels um mich herum.”

„Und ich hatte gehofft, du wärst erwachsen geworden”, stöhnte Kyriel in gespielter Verzweiflung.

„Nur weil du es nicht mehr nötig –” Der Rest des Satzes blieb Julián im Halse stecken. „Tut mir leid.”

„Vielleicht hast du Recht“, Kyriel klopfte Julián auf die Schulter, „und eine neue Bekanntschaft würde mir helfen.”

„Was schiebt ihr denn jetzt für einen Film?” fragte Kevin.

Julián winkte ab. „Zahlen bitte!”

„Nur Prolls hier”, zischte Kevin, als sie die Treppe zur Tanzfläche des Clubs hinuntergingen.

„Habe ich dir doch gesagt!” entgegnete Julián.

Kevin zuckte mit den Achseln. „Wir müssen uns die Ladies eben schöntrinken.”

Julián legte den Arm um Kevins Schulter. Er zeigte auf ein kurzberocktes Mädchen mit langen Beinen. „Nicht so übel, oder?”

Kevins Augen weiteten sich. „Ich brauche erst mal einen Drink”, meinte er.

„Wodka!” Schon war Julián in Richtung Bar verschwunden.

Als er zurückkehrte, reichte er seinen Begleitern je ein Longdrinkglas voll durchsichtiger Flüssigkeit und wedelte mit mehreren Päckchen Ahoi-Brause vor ihren Gesichtern herum. „Ich habe einen Deal mit der Barfrau gemacht.”

„Wenn wir das geleert haben, kriegen wir nicht mal mit, wenn die Froschkönigin uns wachküssen will!” schrie Kyriel gegen den Lärm an.

„Ich nehme Waldmeister”, sagte Kevin.

Am Rande der überfüllten Tanzfläche verschanzte sich Kyriel hinter einem Lächeln. Zu wummernden Electro-Beats schlingerten entfesselte Hüften durch den Raum. Brüste wurden feilgeboten wie Obst auf dem Wochenmarkt. Bauchnabelpiercings funkelten im Stroboskoplicht. Der Wodka hatte Kyriels Kopf in einen Wattegarten verwandelt. Die Prinzesschen um ihn her waren ihm gleichgültig. Allerdings hatte er es satt, wie ein rohes Ei behandelt zu werden und harrte deshalb aus. Außerdem: wo hätte er schlafen sollen? Er hatte keinen Schlüssel zu Juliáns WG und Lola konnte er kaum mitten in der Nacht wecken.

„Sorry!” riss ihn ein Mädchen aus seinen Gedanken. Während Kyriel sich noch das Bier vom Arm wischte, war sie schon auf der Tanzfläche verschwunden.

Er sah sich um. Kevin stand am gegenüberliegenden Ende des Clubs. Mit einer Hand klammerte er sich an der Bar fest, in der anderen hielt er einen Drink. Die Mireille-Mathieu-Frisur zu seiner Linken hing gebannt an seinen Lippen.

Aber wo war Julián?

Als er ihn schließlich entdeckte, musste Kyriel sich ein Lachen verbeißen. Sein Freund war dabei, einer Blondine ins Ohr zu kriechen – was sich als schwierig entpuppte, da die Auserwählte ihn um Haupteslänge überragte. Ihr Jeans-Rock bedeckte kaum die Pobacken.

Aus dem Augenwinkel sah Kyriel einen Typen im Muskelshirt, der auf das Mädchen zusteuerte. In der Hand hielt er zwei volle Gläser. In dem Moment, als der Typ Julián bemerkte, schob er die buschigen Augenbrauen zusammen. Schlagartig war Kyriel nüchtern.

Noch während er loslief, versuchte er Julián ein Zeichen zu geben. Der aber ging völlig in der Rolle des Eroberers auf.

Das Mädchen sah auf. Kyriels Blick und der ihre trafen sich in der Mitte des Raumes. Bitte, flehte er. Sie verzog keine Miene. Hilflos deutete Kyriel auf Julián. Sie lächelte.

Da war es auch schon zu spät. Muskelshirt tippte Julián auf die Schulter. Dieser drehte sich nichtsahnend um.

So schnell er konnte, drängte sich Kyriel durch die Tänzer, aber es war einfach zu voll. Er hatte keine Chance.

Muskelshirt versetzte Julián einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Dieser ging zu Boden. Die Musik übertönte Kyriels Schrei. Muskelshirt drosch ohne Unterlass auf Julián ein.

Als Kyriel sich endlich zum Ort des Geschehens durchgekämpft hatte, versuchten einige Umstehende, Muskelshirt wegzuzerren. Der spie jedoch Gift und Galle.

„Du blöder Wichser! Dich mach ich kalt! Meine Alte angraben! Ich mach dich platt! Mit dir bin ich noch nicht fertig!”

Noch immer traktierte er den am Boden Liegenden mit Fußtritten. Mehrere kräftige Kerle mühten sich damit ab, seine Hände in Schach zu halten.

Kyriel zerrte Julián so gut es ging außer Reichweite, dabei bekam auch er einige Fußtritte ab. Als endlich einige Menschen zwischen ihnen und Muskelshirt standen, half er Julián auf.

„Lass uns verschwinden! Der dreht total durch!”

Noch immer versuchte Muskelshirt sich loszureißen. Einige Leute redeten beschwichtigend auf ihn ein. Blut tropfte aus Juliáns Nase und beschmutzte sein weißes Hemd.

„Wo ist Kevin?”

„Keine Ahnung,” erwiderte Kyriel. „Lass uns hier abhauen. Kevin kann allein auf sich aufpassen!”

„Wieso muss immer mir so was passieren?”

Julián betupfte seine aufgesprungene Unterlippe mit einem feuchten Taschentuch. Seine Nase hatte aufgehört zu bluten, doch er fühlte sich völlig zerschlagen. Er war nie der Kämpfertyp gewesen und hatte gar nicht erst versucht, der geballten Aggression, die da auf ihn niederprasselte, etwas entgegenzusetzen.

„Keine Ahnung! War vielleicht keine gute Idee, ausgerechnet in einen Club am Ring zu gehen.”

„Woher hätte ich bitteschön wissen sollen, dass die Tussi einen Freund hat? Sie hat keinen Ton davon gesagt!”

Die beiden saßen am Fuße einer Trauerweide. Sie blickten auf den Aachener Weiher, in dem sich die nächtlichen Lichter der Stadt spiegelten. Kyriel zuckte mit den Achseln. Auf manche Dinge gab es nichts zu erwidern.

„Das ist alles so ungerecht. Weißt du, wie lang ich schon keinen Sex mehr hatte?”

Kyriel schüttelte den Kopf. Zwei Wochen, wie er Julián kannte. So war das zumindest früher gewesen. Die Frauen schienen Juliáns Silberblick unwiderstehlich zu finden. Dein Freund ist ja soo süß!

„Zweieinhalb beschissene Jahre!”

„Wirst du langsam alt?”

„Sehr witzig! Meinst du, ich finde das zum Lachen?”

„Entschuldige. Natürlich nicht. Erzähl schon, wie kommt’s?”

Julián riss Grashalme aus und schleudert sie ins Wasser.

„Es ist wegen der Hautsache. Davon habe ich dir gestern erzählt, oder?”

„Schon, aber – und?”

„Also, es ist – ich, also”, druckste Julián herum. „Ich habe dir doch von meinen Brandblasen erzählt –”

Kyriel nickte.

„Die am Bauch, meine ich –” Julián stockte. „Also, ähm, naja – der Bauch ist nicht die einzige Stelle, wo ich die habe –”

„Du meinst?”

„Genau.”

Kyriel sah zum Himmel hinauf. Über ihm stand der Große Wagen.

„Das ist beschissen.”

„Was glaubst du, warum mich diese ganze Sache wahnsinnig macht!”

„Manchmal”, erwiderte Kyriel, „manchmal kommt es mir so vor, als hätte es jemand da oben auf mich abgesehen. Als würde jemand Sterne abgreifen und sie dann auf die Erde schleudern. Sternschlag. Verstehst du? – Alles um mich herum fällt in sich zusammen. Und ich? Ich stehe daneben und kann nur zusehen.”

„Sternschlag?” Julián sah zum rötlichen Großstadthimmel auf. „Also, wenn ich hier so liege – womöglich hast du Recht.” Er deutete gen Himmel. „Kaum noch Sterne übrig.”

Eine Weile sagte keiner ein Wort.

Dann meinte Kyriel: „Mach dir nicht so viele Gedanken. Irgendeine Lösung gibt es immer.”

„Du wirst verstehen, dass sich mein Optimismus mittlerweile in Grenzen hält.” Nachdenklich kaute Julián auf seinem Daumen herum. „Danke übrigens, dass du mich da rausgeholt hast!”

„Erinnerst du dich an die Nacht in der Barceloneta?”

Juliáns Augen funkelten.

„Ich hatte dir versprochen, dass ich mich eines Tages revanchieren würde!”

„Ach das. Das ist doch längst vergessen!”

Der Abend begann wie so viele andere.

Lola stand in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Mrs. Ochmonek wich ihr nicht von der Seite. Aufmerksam beäugte sie jeden von Lolas Handgriffen.

„Sollst auch nicht leben wie ein Hund”, murmelte Lola und warf ihr einen Brocken Rind zu.

Julián und Kyriel hatten sich zum Essen angesagt. Lola schälte Kartoffeln. Ihre Hände zitterten leicht. Es sind doch nur Kyriel und Julián, schalt sie sich. Aber die Abende allein wurden ihr hin und wieder lang, insofern freute sie sich auf die beiden.

Der zaghafte Versuch, den sie unternommen hatte, um Kyriel zum Bleiben zu bewegen, war in dem Augenblick zum Scheitern verurteilt gewesen, als Julián verkündet hatte, einer seiner Mitbewohner fahre über die Semesterferien nach Hause.

Sie mochte es Kyriel nicht verdenken. Wer würde schon gern mit einer alleinstehenden Frau zusammenleben, wenn er ebenso gut in einer WG in Ehrenfeld wohnen konnte? Noch dazu auf der falschen Rheinseite.

Es klingelte.

Lola erschrak. Sollten das schon die Jungs sein? Die waren doch sonst nie zu früh dran! Noch nicht mal das Essen war fertig! Hastig schob sie die Kartoffeln in die Spüle. Einige kullerten über die Arbeitsplatte davon. Während Lola sich die Hände abtrocknete, kalkulierte sie rasch. Der Salat war schnell gemacht und auch die Steaks brauchten nicht lange. Aber die Kartoffeln! Daran konnte sie nichts ändern. Es dürfte noch etwas Tortilla im Kühlschrank sein. Das musste eben genügen.

Lola eilte zur Tür. Mrs. Ochmonek dackelte hinter ihr her. Sie knurrte. Verwundert wandte Lola sich zu ihr um.

„Was ist los mit dir?”

Die Hündin blieb die Antwort schuldig, stattdessen sträubten sich ihr die Nackenhaare.

„Sitz! Alles ist gut!”

Lola öffnete die Tür, zunächst einen Spalt.

„Ich dachte, wolltet ihr erst um –”

Es verschlug ihr die Sprache. Mrs. Ochmonek gebärdete sich wie toll.

„Du?”

Die Hündin fletschte die Zähne und kläffte.

„Wirst du wohl still sein! Ruhe jetzt!”

Abermals starrte Lola den unerwarteten Besucher an. Dann besann sie sich und zog die Tür auf.

„Entschuldige bitte – wie unhöflich von mir! Komm erst mal rein! Du bist platschnass! Es regnet draußen?”

„Nicht weiter tragisch.”

„Siehst du, ich bekomme nichts mit in diese Küche ohne Fenster. Warte. Ich bringe dir ein Handtuch! Vielleicht ich finde auch anderes Hemd für dich. Ich habe ein paar alte Sachen im Schrank.”

„Lola, mach dir bitte keine Umstände.”

Mrs. Ochmonek schnüffelte an der dargebotenen Hand. Sie ließ ein letztes Knurren verlauten, dann schleckte sie zögerlich über den Handrücken.

„Aber das sind nicht Umstände! Du kommst gerade rechtzeitig zum Essen! Julián und sein Freund kommen gleich. Aber es genügt bestimmt für einen mehr!”

„Ohnehin ist es dein Sohn, den ich sprechen wollte.”

„Julián?”

Der Stern wankte bedenklich, sandte einen Eishauch zur Erde hinab.

Lola fröstelte.

Der Besucher drückte die Tür ins Schloss und trat in die Diele.

„Ich fürchte ja. Es gibt da etwas, das er erfahren muss.”

Kapitel 13 – Was vom Leben übrig blieb

 

„Habe ich Lust auf Lolas Steaks heute Abend!”

„Das kannst Du laut sagen! Deine Mama ist eine begnadete Köchin, was man von uns beiden nicht gerade behaupten kann.”

Kyriel begutachtete den Topf mit verkrusteten Spinatresten, der seit Tagen in der Spüle stand. Die Kartoffeln auf dem Teller daneben sahen kaum besser aus. Vier, fünf weitere Tage und sie könnten damit anfangen, ihnen erste einfache Sätze beizubringen.

Kyriel fasste sich ein Herz, räumte den Spinattopf und einen Stapel Teller aus der Spüle, drehte den Hahn auf und ließ heißes Wasser ein.

„Lass uns das doch später machen“, sagte Julián, „es ist so schönes Wetter draußen!”

„Du findest immer eine Ausrede! Langsam wird es eklig. Ich mache das jetzt schnell.”

„Schnell?” Julián sah ihn zweifelnd an. „Das glaubst du wohl selber nicht. Das dauert Stunden!”

Kyriel bückte sich, um das Spülmittel unter dem Becken hervorzuholen. Unbemerkt schlüpfte der Fulgurit unter seinem T-Shirt hervor. Er baumelte an einem Lederband um Kyriels Hals. Ehe er ihn zurückstopfen konnte, griff Julián danach.

„Was ist das für ein hässliches Ding?” fragte Julián.

Seine Finger schlossen sich um den Fulgurit.

„Lass ihn los!” sagte Kyriel scharf.

Julián war zu verdutzt, um loszulassen. Er nahm den Fulgurit und betrachtete ihn.

„Ich habe gesagt, du sollst ihn loslassen!”

Kyriel stieß Julián heftig von sich. Der stolperte. Verlor das Gleichgewicht. Fiel. Das Band riss entzwei.

Den Fulgurit in Händen fand Julián sich auf dem Boden wieder.

Kyriel war bleich.

„Gib das sofort zurück!”

Ihm war mit einem Mal kalt vor Zorn.

Julián sah zu ihm auf. „Sag mal, spinnst du? Was in Gottes Namen ist in dich gefahren?”

Kyriel starrte ihn an. „Du sollst ihn hergeben, habe ich gesagt.”

Kopfschüttelnd legte Julián den Fulgurit in Kyriels Hand.

Dieser wandte sich um und verließ die Küche, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Kyriel saß auf seinem Bett und betrachtete ein zerknittertes Foto.

Darauf hielt er Laura von hinten umfangen und strahlte in die Kamera. Ihr Haar wallte unter einem Strohhut hervor. Das Licht der Abendsonne brach sich auf dem Fluss. Erst am Tag vor der Abfahrt hatte er ihr dieses weiße Kleid geschenkt. Eine Ewigkeit schien seither vergangen. Laura deutete auf einen Punkt außerhalb des Fotos. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er sich nicht daran erinnern konnte, worauf sie gezeigt hatte. Den Hradschin?

Zaghaft klopfte es an der Zimmertür. Kyriel sagte kein Wort. Noch einmal. Dann wurde das Klopfen lauter. Als Kyriel noch immer nicht reagierte, verstummte es schließlich. Schritte entfernten sich den Gang hinab.

Kyriel warf noch einen Blick auf das Foto, dann steckte er es wieder in seinen Geldbeutel. Er ließ sich nach hinten fallen und zog sich die Decke über das Gesicht.

Es war wiederum ein Klopfen, das Kyriel weckte. Er brummte vor sich hin, da öffnete sich die Tür auch schon. Julián betrat den Raum.

Kyriel setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Entschuldige”, sagte Julián und hielt ihm ein ledernes Band hin. „Das habe ich für dich besorgt.” Er sah zu dem Fulgurit, der auf dem Nachttisch lag. „Darf ich?”

Kyriel nickte, also zog Julián das Band durch den Stein. Dann setzte er sich neben Kyriel aufs Bett und legte ihm das Lederband um den Hals.

Rasch schob Kyriel den Fulgurit unter sein T-Shirt.

„Ich weiß nicht, warum ich so reagiert habe”, sagte er.

„Kein Problem.”

Die beiden sahen einander an.

„Willst du mir davon erzählen?” fragte Julián.

Kyriel fuhr sich mit der Hand die Haare aus der Stirn. „Es ist wegen Laura.”

„Wie meinst du das?”

So erzählte Kyriel ihm die Geschichte des Fulgurits. Julián hörte schweigend zu.

„Keine Ahnung, weshalb ich so wütend geworden bin”, endete Kyriel schließlich. „Es ist alles so viel in letzter Zeit.”

„Du wolltest ihn beschützen. Das ist doch verständlich.”

Kyriel zuckte mit den Achseln. „Findest du?”

„Er ist alles, was dir von ihr geblieben ist.”

Kyriel schluckte. Sein Blick wanderte zum Fenster.

„Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, was gewesen wäre, wenn wir uns an diesem Abend nicht gestritten hätten.”

„Du kannst es nicht ungeschehen machen.”

„Dennoch“, entgegnete er. „Einmal? Wieso haben wir es nicht einmal geschafft? Vielleicht wären wir gemeinsam aufgestanden am nächsten Morgen. Sie wäre nicht an den See gefahren. Hätte zu Hause auf mich gewartet.”

„Du bist wütend auf sie”, stellte Julián fest.

„Wütend?“ Kyriel stand auf. „Wieso sollte ich wütend sein? Schwachsinn. Ich bin nicht wütend.”

„Natürlich bist du das.”

„Glaubst du, sie hat es sich ausgesucht? Wie könnte ich wütend auf sie sein, Julián? Sie ist tot.”

„Das spielt keine Rolle.”

„Wir hätten einen entspannten Abend haben können. Warum musste sie mit diesem Thema anfangen? Unser letztes gemeinsames Erlebnis war ein Streit! Wenn ich auf jemanden wütend bin, dann nicht auf sie, sondern auf die Welt. Das Schicksal. Es ist so verdammt ungerecht.”

„Du bist wütend auf sie. Und auf dich selbst”, beharrte Julián. „Aber das ist okay. Es ist dein gutes Recht – selbst wenn sie tot ist. Vielleicht solltest du anfangen, das zu akzeptieren.”

„Kannst du endlich damit aufhören? Ich habe sie geliebt.”

„Eben das ist der Grund.”

„Das ist vollkommen unlogisch. Wenn ich sie geliebt habe, wieso sollte ich sauer auf sie sein? ”

„Weil sie dich verlassen hat.”

„Sie hat mich nicht verlassen.“ Kyriels Augen funkelten. „Sie ist gestorben.”

„Das ist dasselbe”, entgegnete Julián.

„Wie kannst du so etwas sagen? Sie ist nicht zu einem anderen gelaufen. Sie ist bei mir geblieben.” Kyriel erhob die Stimme. „Kannst du den Unterschied nicht begreifen? Sie wurde von einem Blitz erschlagen. Sonst wären wir noch immer zusammen!”

„Du verstehst mich nicht.”

„Nein, da hast Du Recht. Und ich habe keine Lust, mir das länger anzuhören. Ich will meine Ruhe haben. Lass mich allein, bitte.”

„Kyriel.”

„Verschwinde, Julián. Ich brauche mir von dir nicht erklären zu lassen, was ich fühle.”

Julián erhob sich zögerlich. „Das ist nicht gegen dich gerichtet. Ich–”

Als er Kyriels Blick sah, verstummte er.

„Wir sehen uns dann später”, murmelte er noch, als er die Tür hinter sich zuzog.

Julián saß am Schreibtisch und starrte auf seinen Rechner, als Kyriel Stunden später sein Zimmer betrat. Sonnenlicht fiel durch die orange changierenden Vorhänge. Da Julián nicht aufsah, setzte Kyriel sich aufs Bett. Gandalf blickte milde auf ihn herab.

Kyriel drehte eine Zigarette und hielt sie dem Freund hin. Endlich sah Julián auf. Er ergriff die Zigarette und steckte sie sich an.

„Das ergibt doch keinen Sinn”, sagte Kyriel. Seine Hand umschloss den Fulgurit.

„Ich habe nicht behauptet, dass es Sinn ergäbe”, entgegnete Julián und stieß eine Rauchwolke aus.

„Wie kann ein Stein alles sein, was von einem Menschen übrig bleibt?”

Julián starrte an Kyriel vorbei aus dem Fenster. „Ist er nicht”, flüsterte er. „Du hast Erinnerungen, oder?” Er schloss die Augen. „Das ist wenigstens etwas.”

„Erinnerungen”, sagte Kyriel verächtlich.

Er hielt den Fulgurit gegen die Sonne. Das Glas im Inneren funkelte.

„Hin und wieder ertappe ich mich, wie ich darauf warte, dass sie zurückkommt. Ich habe das Gefühl, Laura sei nur kurz aus dem Raum gegangen. Oder ich höre ihre Stimme. Ihr Lachen. Ist das nicht seltsam?”

„Finde ich nicht”, entgegnete Julián.

Sie schwiegen.

„Was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte”, wechselte Kyriel letztlich das Thema, „Lola hat mit mir darüber gesprochen, dass du einen Mann in der Eifel aufgesucht hast. Diesen Waldheiligen.”

Ohne zu wissen weshalb, blickte Julián nach oben. Ein Eishauch wehte ihn an.

„Das hätte ich mir sparen können.”

„Erzähl schon! Konnte er dir nicht weiterhelfen?”

„Wenn ich es dir sage: Ein Waldschrat, nichts weiter. Ich weiß selbst nicht, warum ich auf Lola gehört habe.”

„Zu mir meinte sie”, entgegnete Kyriel, „der Typ sei außergewöhnlich.”

„Du weißt doch, wie sie ist. Sie übertreibt gern. Der Typ hatte nicht einmal mehr Zähne im Mund. Nur verfaulte Stumpen. Ekelhaft. Was weiß ich, weshalb der mitten in der Wildnis haust.”

„Aber was hat er dir geraten? Wegen des Traumes meine ich?”

„Nichts als Stuss hat der von sich gegeben. So einen Schwachsinn wollte ich mir nicht anhören, also bin ich wieder gegangen.” Juliáns Finger spielten mit seinem Ohrläppchen.

„Schade”, meinte Kyriel. „Hörte sich interessant an.”

„Du kennst Lola. Sie hat einen Tick, was dieses spirituelle Zeug angeht. Aber was sie an dem Typen fand, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Hat mich einen ganzen Tag gekostet.”

„Verstehe.”

„Ich wäre dir dankbar, wenn du das Thema heute Abend nicht anschneiden würdest. Bin froh, dass sie mir damit bislang nicht weiter auf die Pelle gerückt ist. Besser keine schlafenden Hunde wecken.”

Kapitel 14 – Briefe an Godot III

 

Nürnberg, 17. August 2008

Lieber Godot,

ich fürchte, ich habe einen Fehler begangen. Du weißt, ich hatte seit jeher ein angeborenes Talent dafür, mich in Schwierigkeiten zu bringen. Nun, ich will den Ereignissen nicht vorgreifen und von vorn beginnen:

Alles begann harmlos – mit einer unerwarteten Begegnung heute Morgen. Ich saß auf den Stufen vor der Lorenzkirche und schmökerte in der „Entdeckung des Himmels”, als plötzlich ein Mann vor mich hintrat und meinte, er glaube mich zu kennen. Ob ich nicht auf Lauras Beerdigung gewesen sei. Noch während er sich anschickte, sich mir vorzustellen, wurde mir klar, dass Peter Bernhard vor mir stand – Lauras Vater. Da er offensichtlich keine Ahnung hatte, wer ich war, stellte ich mich meinerseits vor. Er zeigte keinerlei Regung, als ich meinen Namen nannte. Scheinbar wusste er nicht, was mich mit Laura verbunden hatte. Ich sah keine Veranlassung, ihn in diesem Augenblick damit zu konfrontieren.

Obwohl er mich nur jenes eine Mal gesehen hatte, fragte er mich, ob ich einen Kaffee mit ihm trinken wolle.

So abgehärmt wie er aussah, konnte ich ihm diese Bitte kaum abschlagen. Die vergangenen Wochen hatten ihn gezeichnet – von dem stattlichen Mann, der mir auf Lauras Beerdigung begegnet war, war nicht mehr viel übrig.

Ich hatte vermutet, er wolle mit mir über Laura sprechen, doch weit gefehlt. Peter Bernhard bestellte sich einen Kaffee mit Brandy – ich selbst blieb beim Cappuccino – es war gerade mal halb elf und du weißt ich trinke kaum.

Als ich Peter gegenübersaß, bemerkte ich die Tränensäcke, die sich unter seinen Augen eingegraben hatten. Seine Augäpfel schimmerten gelblich. Es war wohl nicht der erste Morgen, an dem er trank. Kaum hatte er einen Schluck genommen, löste sich die beklommene Stimmung. Zunächst zögerlich begann er zu erzählen. Schnell vergaß er, dass er mich gar nicht kannte. Seine Geschichte sprudelte aus ihm heraus, als habe er lange keine Gelegenheit gehabt, sich jemandem anzuvertrauen.

Nicht Lauras Tod war es jedenfalls, der ihm derzeit so zu schaffen machte, sondern das Schicksal seiner Ex-Frau Ann-Marie (Lauras Mutter). Zwei Wochen zuvor hatte er sie in ihrer Wohnung gefunden, als sie gerade versuchte, sich mit einer Küchenschere die Pulsadern aufzuschlitzen. In ihrem Wahn hatte sie ganze Arbeit geleistet. Alles, was ihr in die Finger gekommen war, hatte sie akribisch zerstückelt – Vorhänge, Kleider, Bettwäsche, die Büchersammlung und alles, was sich ihrem zerstörerischen Ansinnen nicht zu widersetzen gewagt hatte. Als Peter sie fand, lag der einzige Gegenstand in ihrem Schoß, den zu zerstören sie nicht hatte über sich bringen können: das Album mit den alten Familienaufnahmen.

Alle Bilder traten mir klar vor Augen: Ann-Marie, deren verfilztes Haar sich aus ihrem Dutt gelöst hatte und ihr ins Gesicht hing, die Tränenmale verlaufener Wimperntusche und der verwischte Lippenstift. Aus Ann-Maries Schoß starrte Peter das Lächeln seiner Tochter entgegen, während Ann-Maries Hand die Küchenschere umfasst hielt. Unaufhörlich traktierte sie ihren Arm. Die Zerstörungswut hatte die Schere jedoch abgestumpft.

Wie der Zufall es wollte, hatte Peter just an diesem Nachmittag begonnen, sich Sorgen um seine Ex-Frau zu machen. Seit Tagen war Ann-Marie nicht ans Telefon gegangen. All seine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter waren unbeantwortet geblieben.

Angesichts ihres Zustands zögerte er nicht lange und brachte sie ins Krankenhaus. Dort wurde sie in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingeliefert. Peter wusste weder ein noch aus. Auf meine Frage, wie es Ann-Marie nun gehe, erwiderte er, er sei seither nicht dort gewesen, bringe es nicht über sich, wolle die ganze Sache endlich hinter sich lassen und vergessen. Es fiel mir schwer, meine Fassungslosigkeit zu verbergen.

Kaum dass ich allein auf der Straße stand, reifte der Entschluss in mir, Ann-Marie zu besuchen. Möglicherweise gab es niemanden, der sich um sie kümmerte. Der Gedanke beunruhigte mich. Immerhin war diese Frau Lauras Mutter, nicht weniger Teil dieser Tragödie als ich selbst. Was konnte schlimmer sein, als die eigenen Kinder zu überleben?

Glaub mir, Godot, es ist nicht so, dass ich Peters Schwäche nicht hätte nachvollziehen können. Dennoch verachtete ich ihn dafür, dass er sich nicht zusammenriss und Ann-Marie in dieser Zeit beistand.

Wie konnte er sie nur allein in der Psychiatrie lassen? Sich scheiden zu lassen und anzuerkennen, dass die Liebe, die man dereinst unsterblich geglaubt, eben doch sterblich war, ist eine Sache. Aber die Loyalität? Loyalität ist eine Entscheidung, kein Gefühl.

Ehe ich mich versah, stand ich in der Anmeldung der Klinik. Ich verlangte, Ann-Marie Bernhard zu sehen. Auf die Frage, wer ich sei, antwortete ich mit ihr Sohn. Die Dame an der Anmeldung schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Seit zehn Tagen sei Frau Bernhard auf der offenen Station untergebracht und habe bisher noch keinen Besuch empfangen. Ich käme von weit her, erklärte ich. Ihre blonde Turmfrisur wippte verständnisvoll, während sie mir den Weg wies.

Weshalb ich mich in diesem Moment als ihr Sohn ausgab, Godot, ich weiß es nicht. Es ist nicht so, dass ich den Plan in diesem Augenblick gefasst hätte – das kam später. Ich fürchtete wohl, sie würden mich nicht zu ihr lassen.

Sachte klopfte ich an die Tür von Zimmer II-24. Ich war kurz davor umzudrehen, als eine Stimme mich hereinbat. Die Frau im Krankenhausgewand hatte mit der eleganten Dame, die ich wenige Wochen zuvor gesehen hatte, rein gar nichts gemein. Zwar war Lauras Mutter auf der Beerdigung am Grab ihrer Tochter zusammengebrochen, dennoch war sie eine charismatische Person gewesen. In den Augen der Frau, der ich nun gegenüberstand, erblickte ich indes nicht einmal mehr Leid, nur Leere.

Ich erschrak bei diesem Anblick. Meine Aufmerksamkeit schweifte ab, suchte Halt, fand ihn schließlich in Form von Tabletten-Schachteln, die auf dem Nachttisch neben Ann-Maries Bett lagen.

„Wer sind Sie?” fragte Lauras Mutter mit tonloser Stimme.

Ich schluckte. Natürlich erkannte sie mich nicht. Wir waren uns nur einmal begegnet.

„Ein Freund von Laura”, entgegnete ich. „Mein Name ist Pascal.”

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Oh! war alles, was sie erwiderte. Dann sank sie ins Kissen zurück. Ihre Augen wanderten zur Decke. Wie angewurzelt stand ich da. Ratlos. Sie hatten diese arme Frau unter Drogen gesetzt, Godot, und das nur, weil sie nicht über den Tod ihrer eigenen Tochter hinwegkam. War das verdammt nochmal so ungewöhnlich?

Während ich sie betrachtete, spürte ich, wie Wut in mir aufstieg. Klar, so wurden hier alle Probleme gelöst! Deckel drauf und wegsperren, anstatt sich mit dem Leid der Menschen und seiner Ursache auseinanderzusetzen. Aber diese Frau war nicht irgendein Mensch! Sie war Lauras Mutter.

Der Gedanke an Laura traf mich wie ein Hieb in die Magengrube. Wenn sie sehen könnte, was Ann-Marie hier angetan wurde! Sie würde durchdrehen!

Einen Augenblick verweilte ich bei dem Gedanken. Nein, Laura würde nicht ausrasten. Sie unternähme etwas.

Aber Laura war nicht hier. Nie wieder wäre sie irgendwo, um selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Hier war nur ich. An mir war es, dieses Problem zu lösen.

Ann-Marie summte vor sich hin. Mit umwölkten Blich starrte sie an die Decke. Nehmt Abschied, Brüder.

Ich betrachtete die Tabletten. Tavor, Zyprexa – das sagte mir nichts. Ein Blick auf die menschliche Hülle vor mir allerdings genügte. Aber ich konnte doch nicht –

Nur, was blieb mir anderes übrig? Was sonst vermochte ich für sie zu tun? Sie an diesem Ort zu lassen, bedeutete, sie aufzugeben. Sie Menschen zu überlassen, die glaubten, dass ihr Verhalten krankhaft war.

Das, Godot, ist es keineswegs, davon bin ich überzeugt. Diese Frau trauert um ihre Tochter! Es ist falsch, ihr diese Möglichkeit zu nehmen! Nie wird sie über diesen Verlust hinwegkommen, wenn sie ihr die Gelegenheit zu trauern verweigern!

„Ann-Marie”, flüsterte ich, „wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?”

Sie wandte mir ihr Gesicht zu. Ihre dunklen Laura-Augen starrten mich an. Da glomm kein Funke mehr, der sich danach sehnte weiterzuleben.

Was konnte mir geschehen, sollte ich das durchziehen? Was würden sie mit mir machen? Ich hatte mich als Ann-Maries Sohn ausgegeben – wenn ich nun wieder ginge, würde das unbemerkt bleiben, wenn ich aber –

„Haben Sie Lust?” fragte ich noch einmal. Beinahe unmerklich nickte sie. Zumindest konnte ich sie an die frische Luft bringen. Womöglich weckte das ihre Lebensgeister. „Gut”, meinte ich, „dann sollten Sie sich etwas anderes anziehen. Schaffen Sie das alleine?”

Sie schaffte es. Es dauerte zwar, doch ich nutzte die Gelegenheit und ließ die Tabletten in meine Tasche gleiten. Zuletzt trug sie ein dünnes Strickjäckchen und einen beigefarbenen Leinenrock.

Ich gab der Dame mit der Turmfrisur Bescheid, dass ich mit meiner Mutter einen kurzen Spaziergang machen würde. Sie nickte wohlwollend. Artig versprach ich, das Gelände nicht zu verlassen. Schon waren wir draußen. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich es mir noch überlegen können, hätte mit ihr nur eine Runde über das Klinikgelände gehen und sie dann zurückbegleiten können.

Dann aber fuhr ein spätsommerlicher Wind durch Ann-Maries Haar. Als sie zum Himmel aufschaute, umspielte – zum ersten Mal seit ich da war – ein Lächeln ihre Lippen. Lauras Lächeln. In diesem Moment beschloss ich, sie nicht an diesen furchtbaren Ort zurückzubringen.

Wir schlenderten gemeinsam über das Krankenhausareal, an den Betonklötzen der verschiedenen Institute vorbei. Ich bot ihr meinen Arm und sie hakte sich ein. Ich wusste nicht, ob sie mich für einen Pfleger hielt oder begriffen hatte, wer ich war. Als wir uns dem Ausgang näherten, erkundigte ich mich, ob sie in ihr Zimmer zurückwollte. Sie schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal sah sie mir in die Augen.

Ich drückte ihre Hand und nickte. Wohin mich das führen würde, wusste ich nicht – aber wenn nicht ihr, so war ich es Laura schuldig. Ich konnte ihre Mutter nicht an solch einem Ort zurücklassen.

Als Mutter und Sohn auf der Rückkehr von einem Krankenbesuch verließen wir das Klinikgelände. Niemand schenkte uns die geringste Beachtung. Ich überlegte kurz, ob ich ein Taxi rufen sollte. Dann kam mir in den Sinn, dass es besser wäre, wenn es niemanden gäbe, der sich im Nachhinein erinnern konnte. Ann-Maries Verschwinden bliebe nicht lange unbemerkt. Schnell hätten sie herausgefunden, dass Frau Bernhard überhaupt keinen Sohn hatte.

Wir benötigten beinahe eine Stunde, bis wir bei meiner Wohnung am Stadtpark angelangt waren. Dies, mein Freund, war eine der längsten Stunden meines Lebens. Neben der Furcht davor, aufgehalten zu werden, verspürte ich jedoch eine tiefe Genugtuung. Ich hatte Ann-Marie da rausgeholt!

Als wir zu Hause ankamen, kochte ich uns Tagliatelle mit Lachs. Die Tabletten verstaute ich im hintersten Winkel einer Schreibtischschublade. Nach dem Essen war Ann-Marie sehr erschöpft und ich machte ihr mein Bett zurecht. Während ich Dir diese Zeilen schreibe, liegt sie drüben und schläft.

Ich selbst werde zunächst auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Ein geeigneter Schlafplatz dürfte allerdings mein geringstes Problem sein.

Ich habe keinen Schimmer, wie es weitergehen soll. Auf Dauer kann ich Ann-Marie kaum hierbehalten. Wenn Peter von der Sache Wind bekommt, kann er sich vermutlich zusammenreimen, wer dieser ominöse Sohn ist, von dessen Existenz er bis dato nichts wusste – schließlich hat er mir ja erst heute Morgen von Ann-Maries Einweisung erzählt. Gut, dass er nur meinen Vornamen kennt!

Ich muss wohl darauf vertrauen, dass mir das Richtige einfallen wird. Im Augenblick hoffe ich nur, dass Ann-Marie den Tablettenentzug gut übersteht. Bei dem Cocktail, den sie ihr verabreicht haben, weiß man nie. Ich habe jedenfalls nicht vor, ihr Tabletten zu geben, es sei denn, es lässt sich absolut nicht vermeiden. Zum Glück habe ich Zeit, mich um sie zu kümmern.

Habe ich einen Fehler begangen? Was denkst Du? Vermutlich hättest Du genauso gehandelt wie ich. Diese menschenunwürdigen Bedingungen hätten Dein großes Herz ebenso wenig kalt gelassen wie meines, Godot.

Doch wer weiß. Kenne ich Dich noch gut genug, um das zu beurteilen?

So viel erst mal von mir. Nun werde ich es mir auf meinem Sofa bequem machen.

In der Hoffnung, doch noch Nachricht von Dir zu erhalten, umarme ich Dich aus der Ferne und verbinde mich im Geiste mit Dir,

Dein Pascal

Kapitel 15 – Blick zurück nach vorn

 

„Hola, mamá!“

„Hola, cariño“, küsste Lola ihren Sohn auf die Wangen. „Wo hast du Kyriel gelassen?“

Mrs. Ochmonek sprang an Julián hoch und versuchte, sein Gesicht zu lecken.

„Er ist noch zum Geldautomaten.“

„Komm rein – du bist platschnass!“

„Du siehst blass aus. Alles okay bei dir, mamá?“

In diesem Moment trat Totumay in die Diele. Er streckte Julián die Hand entgegen.

„Was macht der denn hier?“

„Aber, hijo! Hast du keine Sitten? Ist das die Art, einen Besucher zu begrüßen? Manchmal glaube ich, meine Erziehung völlig an dir versagt hat.“

Julián senkte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches.

„Julián, ich weiß nicht, was dir damals widerfahren ist. Weshalb du so überstürzt geflohen bist. Doch bin ich gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen.“

„Wegen der Drogen?“

„Drogen?“ fragten Lola und Totumay wie aus einem Munde.

Julián stockte. „Nur ein Witz“, sagte er verlegen. Er beugte sich hinab, um Mrs. Ochmoneks Ohren zu kraulen.

Totumay trug ein ausgeblichenes Holzfällerhemd, das Julián bekannt vorkam. Wirr standen seine weißen Haare vom Kopf ab.

„Bei deinem Besuch in meiner Hütte war ich nicht aufrichtig zu dir. Ich habe dir Dinge vorenthalten, von denen du Kenntnis haben solltest. Darüber wurde ich mir im Nachhinein klar.“

„Sie haben mich belogen?“

„Entschuldigst du bitte, Totumay – muss der Junge zuerst sich trockene Kleider anziehen, sonst nimmt er sich den Tod, nass wie er ist!“

Energisch zog Lola ihren Sohn mit sich fort.

Mrs. Ochmonek warf Totumay einen Blick zu, dann ließ sie ihn allein in der Diele stehen.

Als Lola und Julián zurückkehrten, saß Totumay in Lolas altem Ohrensessel. Sein Fuß wippte auf und ab. Julián wirkte in dem blauen Sweater wie ein Junge, der sich am Kleiderschrank des Vaters vergangen hatte.

„Ich habe unverantwortlich gehandelt, indem ich dir nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, Julián“, begann Totumay ohne Umschweife. „Womöglich kannst du es mir nachsehen, wenn du meine Beweggründe kennst.“

„Ich gehe das Essen fertig bereiten“, wandte Lola sich zur Tür.

„Dich dürfte interessieren, was ich deinem Sohn zu sagen habe, Lola. Es geht um den Feuertraum.“

Julián rutschte unbehaglich auf dem Ledersofa herum.

„Das ist nicht mehr so schlimm. Wird von Tag zu Tag besser, sozusagen.“ Seine Hand knibbelte am Ohrläppchen.

„Lüg mich nicht an, Julián!“ erwiderte Totumay.

Lola sah ihn erschrocken an. Mrs. Ochmonek knurrte.

„Denn dass du lügst – dessen bist du dir ebenso bewusst wie ich.“

Der resignierte Tonfall dieses Nachsatzes verfehlte seine Wirkung nicht. Julián errötete. „Nein! Die Träume sind weniger geworden!“

Totumay blickte ihn prüfend an.

„Na gut, zumindest habe ich das Gefühl. Außerdem sind die Verbrennungen schwächer geworden.“

„Der Feuertraum”, noch immer ruhte der Blick des Alten auf Julián, „der Feuertraum verschwindet nicht einfach. Du wirst deine Probleme nicht aus der Welt räumen, indem du die Augen vor ihnen verschließt.”

„Die Sache ist mir unangenehm“, entgegnete Julián schließlich. „Gut, ich gebe es zu – die Träume sind noch da. Trotzdem fühle ich mich besser zurzeit.“

Lola warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Aber, hijo, du hast gesagt, dass sind sie fast fort!“

Totumay legte die Stirn in Falten. „Viele Jahre ist es her, da ist mir dieser Traum schon einmal begegnet. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Welt – eine Welt, die ich viel zu lange verdrängt habe.”

„Sie kennen jemanden, der den Feuertraum hatte?“ stieß Julián hervor.

Der Alte nickte. „Es kommt mir vor, als wäre das in einem anderen Leben geschehen. Aber ja, es stimmt. Ich habe nicht durch dich von der Existenz dieses Traumes erfahren“

„Und Sie wollen mir etwas von Lügen erzählen?“

„Julián!“ mischte Lola sich ein. „Du siehst doch, es tut ihm leid. Er will dich helfen. Deswegen ist er gekommen. Seit 25 Jahren er hat den Wald nie verlassen!“

„Lass nur, Lola. Der Junge hat Recht. Eben deshalb bin ich hier, um mich bei ihm zu entschuldigen.“

Totumay wandte sich wieder an Julián. „Als du mir in meiner Hütte gegenübergesessen hast, brachte ich es nicht über mich, dir die Wahrheit zu sagen. Es war so viel Zeit vergangen. Ich hatte geglaubt, dieses Leben ein für alle Mal hinter mir gelassen zu haben.“ Er schluckte. „Dann kamst du.“

Juliáns Blick wirkte glasig.

„Ich bitte dich dafür um Vergebung, Julián. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, was ich weiß. Auf meine Unterstützung sollst du von nun an zählen können – möge sie dir von Nutzen sein oder nicht.“

Julián spielte noch immer mit seinem Ohrläppchen. Seine Stimme zitterte, als er die Frage aussprach: „Wer hatte diese Träume? Und was hat er getan, damit sie aufhörten?“

„Die Trägerin des Traumes war eine Frau. Eine Schamanin.“

Aus Juliáns Gesicht wich alle Farbe.

„Schamanen sind Menschen wie du und ich, Julián. Einzig dehnt ihre Welt sich weiter aus – in Sphären, die unsereins nicht erreicht.“

„Und wie ist sie den Feuertraum wieder losgeworden?“ Julián zögerte. „Sie ist ihn doch losgeworden, oder?“

„Sie beschrieb mir den Feuertraum einmal folgendermaßen: Er führt dich. Weigerst du dich, ihm zu folgen, wird er dich verzehren.“

„Und was soll das heißen?“ flüsterte Julián. „Ist sie ihn losgeworden oder nicht?“

„Ihr Name war Yoyotli.“

„War?“

„Ich will dir gerne von ihr erzählen.“

„Ist sie tot?“

„Ja, sie ist tot, Julián” sagte Totumay leise. Julián beugte sich näher an ihn heran. „Das Wenige, was ich weiß aber, sollst du erfahren. Es mag deinen Weg noch beeinflussen.“

„Du meinst doch nicht“, Lolas Stimme überschlug sich, „du meinst doch nicht, dass Julián –“

In diesem Augenblick klingelte es.

Mrs. Ochmonek stürmte laut bellend zur Haustür.

„Das wird Kyriel sein“, meinte Julián und ging ihr nach.

„Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch immer das Land vor mir. Endlos, diese Weite. Die verstreuten Häuser der Stadt. Und die Vulkane, natürlich die Vulkane.“ Mit einem Mal wirkte Totumays Antlitz faltig. „Dieses Land. Ach, dieses Land! Wie ich mich nach ihm sehne. El país de la eterna primavera. Land des ewigen Frühlings – klingt das nicht wundervoll? Wäre dem nur so gewesen.“

„Wie meinen Sie das?“ wollte Julián wissen.

„In Guatemala lebte die Sklaverei unvermindert fort. Die Mayas lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Sie besaßen kein Land. Nicht, seit den Zeiten der spanischen Eroberer.“ Die Worte tropften von Totumays Lippen wie die Litanei eines Moribunden. „Es war nie in ihren Besitz zurückgelangt. Sie schufteten, bis sie tot umfielen. Zudem wütete, zu allem Übel, ein Bürgerkrieg.”

„Wann war das?”

„Mein Aufenthalt dort liegt 25 Jahre zurück. Anfang der 80-er Jahre folgte ich Yoyotli in eine Stadt namens Xela. Allerdings bezweifle ich, dass es heute wesentlich besser ist. ”

Der Raum lag im Zwielicht.

„Ich hole Kerzen”, flüsterte Julián und stand auf.

Mrs. Ochmonek sandte ihm begehrliche Blicke hinterher, als er in die Küche ging. Julián fragte sich, wo Kyriel stecken mochte. Er war noch nicht zurück. Eine Nachbarin hatte um Eier gebeten, als es geklingelt hatte.

Gracias“, flüsterte Lola, als Julián die Kerzen anzündete. Sie riss mit den Zähnen Fetzen ihrer Nagelhaut ab.

Julián setzte sich wieder auf das Sofa.

„Die Gräuel dieses Krieges waren unsagbar.“ Totumay fuhr sich über den Mund, zögerte. „Kaum dass ich dort war, wurde ich überflutet von Erinnerungen. Folter. Mord. Größenwahn. Ich hatte es in der Tat geschafft, das zu vergessen. Unvorstellbar, nicht? Aber in den Augen der Kinder dort sah ich den kleinen Jungen, der ich selbst einst gewesen war. Diese Augen erwarteten nichts von der Welt. Sie waren voller Furcht und beständig brannte der Hunger.“

„Worum ging es in diesem Krieg?“

„Worum es in jedem Krieg geht. Geld – Gier – Macht.“

„Aber wer kämpfte gegen wen?“

„Die Militärs führten einen Feldzug gegen das eigene Volk, allem voran gegen die Mayas.“

„Aber wie“, Julián zündete sich eine Zigarette an, „wie hängt das alles mit dem Feuertraum zusammen?“ Er blies einen Rauchkringel in die Luft und beugte sich zu Mrs. Ochmonek hinab.

„Yoyotli war eine Schamanin. Sie fühlte sich dem Kampf ihrer Landsleute verpflichtet.“

Lola räusperte sich.

Totumay und Julián sahen sie an, sie aber schüttelte nur den Kopf.

„Es war Zufall, dass ich von diesem Traum erfuhr. Aber, um mit Yoyotlis Worten zu sprechen, Zufälle gibt es nicht. So geschah es also in der letzten Nacht, die ich an Yoyotlis Seite verbrachte”, Totumay stockte. Sein Blick wanderte hinaus in die Ferne.

Als er wieder ansetzte, war seine Stimme kaum mehr als ein Wispern. „Womöglich einzig, damit ich dir heute Abend davon würde erzählen können – wer weiß das schon – geschah es in jener letzten Nacht, dass sie von einem solchen Traum heimgesucht wurde. Ich bin damals von ihren Schreien aufgewacht. Natürlich habe ich versucht sie zu beruhigen, habe ihr die Haare aus der Stirn gestrichen, sie in den Arm genommen. Doch es hat eine Weile gedauert, bis sie in die Realität zurückfand. Schließlich erzählte sie mir von dem Traum. Das war das erste und letzte Mal, das ich von ihm gehört habe. Bis“, er sah Julián an, „bis zu dem Tag, als du aufgetaucht bist.“

„Was hat sie gesagt?” Julián sah Totumay an. „Wusste sie etwas darüber? Hatte sie auch Verbrennungen?“

„Der Feuertraum, so sagte sie mir, sei das Erbe ihres Volkes. Er werde stets an Auserwählte weitergegeben.“

„Auserwählte?“ Julián beugte sich vor. „Was soll das bedeuten, auserwählt? Auserwählt wozu?“

„Ihre Andeutungen blieben dunkel. Träger des Feuertraums zu sein, bedeute, sein Leben dem einen Ziel unterzuordnen.“

„Welchem einen Ziel?“

„Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, Julián. Ich fürchte aber, es ist an dir, das herauszufinden.“

„Habe ich es immer gewusst. Dieser gottverfluchte –“ Lola verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ihr Körper bebte.

„All die Jahre ich hatte gehofft –“

Mrs. Ochmonek winselte.

„Mamá! Wovon sprichst du?“ Julián blickte seine Mutter verständnislos an. Die Hündin kniff den Schwanz ein. „Was hast du gewusst?“

Kapitel 16 – Briefe an Godot IV

 

Nürnberg, 27. August 2008

Lieber Godot,

harte Zeiten, daher habe ich kaum Zeit, Dir zu schreiben. Ohnehin weiß ich nicht, ob Du meine Briefe bekommst. Zurückgesandt wurde mir bisher keiner. Liest Du mich also? Es gibt Momente, da glaube ich, meine Briefe seien egoistisch. Dein Schweigen macht mir Angst. Ist die Verletzung zu tief? Ich wüsste zu gern, wie es Dir geht. Ich vermisse Dich, mein Freund. Mehr denn je, seit auch Laura mich verlassen hat.

Verlassen. Das Wort klingt beinahe so, als hätte sie eine Wahl gehabt. Wie kann ich ihr meine Schwermut vorwerfen?

Eines Tages werde ich wieder unbeschwert an sie denken können. In meinen düsteren Momenten rufe ich mir ins Bewusstsein, dass meine Reaktion normal ist. Normal. Was ist mit mir geschehen, dass ich diesen Begriff auf einmal nutze, um mich zu rechtfertigen? Seit jeher war das letzte, was ich sein wollte, normal. Nun soll gerade die Normalität mich retten?

Dann aber gibt es den kleinen Jungen in mir. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgt er alles, was geschieht.

Auch Ann-Marie im Nebenzimmer. Seit Tagen versucht sie, von den Medikamenten loszukommen.

Habe ich ihr damit tatsächlich einen Gefallen getan? Wenn sie, wie eben, zitternd und schwitzend auf dem Sofa liegt, mich mit irren Augen ansieht, frage ich mich das ernsthaft. Habe ich richtig entschieden?

Die Verantwortung, die ich übernommen habe, ist größer als erwartet. Es ist unmöglich, mich mit ihr zu besprechen. Sie versteht nicht, was ich ihr erkläre. Sitzt nur da und nickt. Die einzig starke Reaktion, die ich bisher erhielt, war die Antwort auf meine Frage, ob sie in die Klinik zurückwolle.

Dieses Tavor ist ein Teufelszeug, Godot. Ich hatte keine Vorstellung! Manchmal wird Ann-Marie von einer Minute auf die andere aschfahl, reagiert nicht, wenn ich sie anspreche. Dann wieder dieser Schüttelfrost, das Schwitzen. Und ich kann niemanden fragen, niemanden zur Hilfe holen. Dabei schleichen wir es aus. Kein kalter Entzug also.

Immer wieder spricht sie davon, ohnmächtig zu werden, nur geschieht es nie. Vielleicht wäre es besser. Bewusstlosigkeit reinigt.

Ich frage mich, wie lange wir diesen Kampf noch auszustehen haben. Nach Tavor steht uns noch Zyprexa bevor.

Ab und an macht Ann-Marie seltsame Andeutungen. Sie wollen mir nicht aus dem Kopf. Sie kenne das alles, sagt sie. Dann spricht sie über Laura. Unzusammenhängend. Ich frage mich, was sie meint, traue mich aber nicht, nachzuhaken. Laura jedenfalls hat nie ein Wort darüber verloren. Warum?

Keine leichte Zeit, alles in allem. Mein Gewissen plagt mich zudem. War meine Bauchentscheidung doch überstürzt? Ständig stehe ich unter Spannung. Was, wenn es plötzlich klingelt und zwei uniformierte Beamte vor meiner Tür stehen? Immerhin verstecke ich Ann-Marie, sozusagen. Kann man in diesem Fall von Entführung sprechen? Selbst wenn ich mir sicher bin, dass ich sie nicht entführt habe, mag das Gesetz das anders sehen. Irgendwann wird es auch wichtig sein, dass sie wieder unter Menschen kommt. Was dann?

Ich habe angefangen zu schreiben, Godot. Das nimmt etwas von diesem Druck. Ohne es zu wollen, landete ich schnell bei Laura. Ich tue mir schwer, das muss ich zugeben. Ich habe das Gefühl, diese Traurigkeit hört niemals auf. Wenn ich über sie schreibe, fühle ich mich ihr näher. Einerseits. Es tut gut sie in diesen Momenten an meiner Seite zu wissen, wenn auch nur als Figur auf einem Blatt Papier. Andererseits fällt mir erst jetzt auf, wie wenig ich eigentlich über sie wusste. Das lässt mir keine Ruhe. Ich habe anderthalb Jahre mit ihr verbracht. Trotzdem wüsste ich kaum etwas über das Leben zu sagen, das sie führte, bevor wir uns kennen lernten. Wie kann das sein?

Wollte sie nicht darüber sprechen oder hat es sich einfach nie ergeben? Und dann diese dunklen Momente. Wohin ging sie in diesen Momenten?

Diese Frau war einzigartig, Godot. Sie hat es verdient, nicht vergessen zu werden. Womöglich fällt es mir leichter, sie gehen zu lassen, wenn ich mich noch eine Weile mit ihr beschäftige. Das hoffe ich zumindest. Also habe ich beschlossen, mehr über ihr Leben zu erfahren. Ich will ihre Geschichte aufzeichnen. Das ist alles, was ich noch für sie tun kann.

Eine gewisse Anspannung bleibt trotz meiner neuen Aufgabe. Ich weiß zwar, dass ich Ann-Marie nicht entführt habe, doch was droht mir, sollte ich mich für mein Handeln verantworten müssen?

Ins Gefängnis werde ich nicht gehen, soviel sei Dir versichert.

Ich umarme Dich aus der Ferne und verbinde mich im Geiste mit Dir,

Dein Pascal

Kapitel 17 – Lolas Geheimnis

 

Lola hob den Kopf. Sie starrte zuerst ihren Sohn, dann den Alten an. In ihren Augen standen Tränen.

„Oh Julián! Seit du bist zum ersten Mal zu mir gekommen und hast mir von diesem Traum erzählt, ich habe gefürchtet, dieser Tag kommen würde. Aber ich konnte es doch nicht wissen, hatte keine Ahnung!“ jammerte sie. „Totumay, bis heute du hast nie mir ein Wort gesagt!“

Totumay legte ihr besänftigend die Hand auf die Schulter.

„Was, mamá, was wusstest du nicht? Was ist hier überhaupt los? Hat es etwas mit dem Feuertraum zu tun?“

„Ja, hijo, vielleicht – ja. Ich glaube jetzt, er ist daran schuld. Aber ich konnte das nicht wissen, oder?“ Tränen rannen über ihre Wangen. Auf einmal wurde es kühl.

„Wer trägt woran die Schuld, Lola?“

Sie wandte sich Totumay zu, griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich. Dann sah sie ihren Sohn an. „Dein Vater, Julián.“

Mit eingezogenem Schwanz robbte Mrs. Ochmonek unter den Tisch. Niemand sonst erkannte, dass ein Stern niedergegangen war.

„Mein Vater?” fragte Julián wie vom Donner gerührt. „Aber er ist tot! Wie kann er etwas damit zu tun haben?“

Lola hielt seinem Blick nicht stand. Sie sah hinaus in die Lichter der nächtlichen Vorstadt.

„Das stimmt nicht, hijo.” Ihre Stimme zitterte. „Das heißt, ich weiß nicht, ob er noch lebt.“

„Mamá! Was soll das heißen – du weißt es nicht?” Julián sprang auf. „Was ist mit der Serpentinen-Straße? Dem regnerischen Abend? Dem entgegenkommenden Auto?“

„Gelogen“, flüsterte Lola.

„Was?! – Aber warum? Warum hast du gelogen? Was soll das überhaupt bedeuten?“ Juliáns Stimme schraubte sich zu einem beängstigenden Vibrato auf. „Lebt er noch?“

„So beruhige dich doch, Julián!” Totumay war hinter ihn getreten. „Mir scheint, für deine Mutter ist es schwer genug, das alles zu erzählen.”

„Sag du mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe!” Julián wirbelte herum. Er starrte Totumay an. Dieser trat einen Schritt zurück.

„Ihr habt mich nach Strich und Faden belogen. Alle beide! Erzähl mir nicht, wie ich mich zu fühlen habe!”

Er wandte sich wieder Lola zu. „Also? Was soll das heißen. Lebt mein Vater noch?”

„Ich weiß nicht, cariño. – Ich weiß es doch nicht.“

„Warum in Gottes Namen hast du mir dann erzählt, dass er tot ist? Wie konntest du nur?“

Lola schwieg.

„Ich will die Wahrheit wissen. Jetzt! Keine Ausflüchte mehr!”

„Er hat mich verlassen”, flüsterte Lola kaum hörbar. „Ein Morgen er war weg – ohne Botschaft, einfach verschwunden. Seine Sachen, alles weg – kein Wort er hat gesagt. Er hat mich allein verlassen! Es war ihm egal, was mit dir ist. Du hattest gerade zwei Jahre damals. Plötzlich waren wir allein. Ich mit ein klein Kind, ohne Arbeit.” Sie schluckte den Kloß im Hals herunter. „Du fragst mich, warum ich gelogen habe? – Für mich er war tot, Julián! Wollte er es selbst genau so!“

Julián starrte sie fassungslos an. Er biss die Zähne aufeinander.

„Aber er ist mein Vater!“ Presste er schließlich hervor. „Das ist über 20 Jahre her – glaubst du nicht, dass irgendwann der Zeitpunkt gekommen wäre, es mir zu sagen?“

Totumay setzte sich neben Lola auf das Sofa. „Weshalb, Lola“, er nahm ihr Gesicht in beide Hände, „weshalb brichst du ausgerechnet heute dein Schweigen?“

Lola entwand sich seinem Griff. Sie sah aus, als wolle sie jeden Augenblick die Flucht ergreifen.

„Drehst du mir ein cigarillo, bitte, Julián.“

„Wenn du meinst. Auch schon egal.”

Juliáns Hände zitterten. Nie zuvor hatte er seine Mutter rauchen sehen. Als er fertig war, reichte er Lola die schiefe Zigarette und gab ihr Feuer, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen.

„Gute Frage, Totumay. Aber ich kann sie dir beantworten. Du hast erzählt von dieser Traum, der Feuertraum.“

„Hatte mein Vater auch solche Träume?“

„Weiß ich es doch nicht, hijo!” Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. „Aber eins ich weiß. Raúl kam auch von diese verfluchten Land! – Guatemala.“

Sie spuckte den beiden das letzte Wort vor die Füße. Dort blieb es liegen. Mrs. Ochmonek schnüffelte arglos daran, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken.

Totumay horchte auf. „War er ein Maya?“

„Ja, war er – oder, vielleicht er ist noch.“

„Du hast mir doch gesagt, er sei ein Gitano gewesen!“ sagte Julián.

„Ich musste dir deine dunkle Hautfarbe erklären“, flüsterte Lola.

„Das wäre eine mögliche Erklärung“, sinnierte Totumay. „Wenn dein Vater ein Maya ist, hat sich der Traum auf die übliche Weise auf dich übertragen – von einer Generation zur nächsten. Auch wenn er selbst keine Träume dieser Art hatte.“

Er wandte sich an Lola. „Hat Juliáns Vater dir gegenüber jemals etwas von derartigen Träumen erwähnt?“

„Nein. Ich hätte niemals das für mich halten können, wenn er das erzählt hätte.“

„Warum hast du dann geglaubt, dass diese Träume mit ihm zu tun hätten?“ zischte Julián. „Wie kamst du darauf?”

Lola duckte sich unter seinen Worten weg.

„Außerdem, wenn du das von Anfang an geglaubt hast”, seine Stimme wurde dunkel, „wie konntest du mir nur nichts davon sagen?“

„Hijo, ich war nicht sicher, es war nur ein Gefühl. Dieser Traum immer hat mich an Geschichten erinnert, die Raúl erzählt hat, als ich ihn kennen gelernt habe. Aber ich konnte doch nicht sicher sein! Das waren Märchen, cuentos, verstehst du? Dieser Feuertraum war echt! Du hattest diese Brandblasen – das war kein cuento. Ich habe gebetet, dass es hat nichts zu tun mit ihm!“

Totumay richtet sich auf.

„Besteht eine Chance, Raúl aufzuspüren?“

Daran hatte Julián bisher noch gar nicht gedacht.

Sein Vater lebte! Das bedeutete natürlich zugleich, dass er ihn finden konnte. Er hatte einen Vater! Aber einen Vater, der ihn im Stich gelassen hatte, als er ihn am meisten gebraucht hatte.

Julián krümmte sich unter dieser Erkenntnis. Sein Vater hatte ihn verlassen. Er war nicht tragisch ums Leben gekommen. Er hatte ihn verlassen. Es war eine Entscheidung gewesen. Er hatte seinen Sohn verlassen.

„Was ist?” fragte Lola.

Er ignorierte sie. Wie hatte er so naiv sein können? Es gab kein Bild von seinem Vater. Nie hatte er eins zu Gesicht bekommen. Ein Unfall! Er lächelte bitter bei diesem Gedanken.

„Ich habe nie es versucht, Totumay. Hätte ich ihn suchen sollen?” Lola ächzte. „Ich hatte keine Ahnung, wohin er verschwunden ist. Auch ich hatte Julián, den ich kümmern musste. Von einem Tag auf den anderen Raúl war weg. Diese Botschaft ich habe verstanden! Sein Onkel hat mir auch Recht gegeben. Raúl war immer schwierig, er hat gesagt. Wie alle Menschen aus dem Krieg.“

„Gab es wirklich keinen Grund, mamá?” fragte Julián ungläubig. „Es kann doch nicht sein, dass er ohne Grund abgehauen ist!“

Als Lola zu einer Antwort ansetzen wollte, klingelte es. Mrs. Ochmonek sprang auf und Julián folgte ihr zur Tür.

Als er öffnete, stand Kyriel vor ihm. Er war völlig durchnässt.

„Du wirst nicht glauben, was hier gerade abgeht!“ begrüßte ihn Julián. „Hast du keinen Wein finden können? Der Kiosk hatte nicht zu, oder?“

„Nicht direkt“, knurrte Kyriel und tätschelte Mrs. Ochmonek den Kopf.

„Nicht so schlimm“, entgegnete Julián, „ich gebe dir erst mal etwas Trockenes zum Anziehen.“

Kyriel nickte. Finster dreinblickend folgte er Julián ins Haus.

„Es ist unfassbar“, wisperte Julián ihm zu. „Ich komme nichtsahnend hierher, um gemütlich ein Steak zu essen, und da stellt sich so ganz nebenbei heraus, dass mein komplettes Leben eine Lüge ist!“

„Wie meinst du das?“ fragte Kyriel abwesend.

„Halt dich fest: mein Vater ist nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

„Ach.“

Kyriel lächelte.

„Hörst du mir überhaupt zu?” Julián packte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn. „Mein Vater ist womöglich gar nicht tot!”

„Was?”

Erst jetzt schien Kyriel zu begreifen.

„Du hast richtig gehört! Lola hat mich all die Jahre belogen! Er hat sie sitzen lassen damals! Vielleicht lebt er sogar noch! Kannst du dir das vorstellen? Unfassbar, oder?“

„Was ist das nur wieder für ein Tag?”

„Und dann ist auch noch Totumay hier–“

„Der Waldheilige?“

„Genau der! Stell dir vor: Der hat mir die Geschichte vom Pferd erzählt, als ich bei ihm war“, sprudelte es aus Julián hervor. „Hat mich belogen. Scheint ein neuer Volkssport zu sein. Er kennt nämlich diesen Traum schon und zwar aus Guatemala. Ein Traum der Maya, sagt er. Und da stellt sich doch heraus, man höre und staune, dass mein Vater auch ein Maya war! Er kam nämlich aus - drei Mal darfst du raten - richtig: Guatemala. Er war also kein Zigeuner, wie mir mein Leben lang erzählt wurde.“ Er schnaufte tief durch. „Ich kann dir nur eins sagen, ich komme mir vor wie im falschen Film!“

„Wem sagst du das“, entgegnete Kyriel. „Scheint am Tag zu liegen.”

„Was?“

„Ich habe kein Geld mehr.“

„Wie, kein Geld mehr?”

Dieser Vorgang ist aus technischen Gründen derzeit leider nicht möglich.“

„Die Automaten spinnen manchmal – ist mir auch schon passiert! Du hättest zur Volksbank runter laufen sollen!“

„So schlau war ich auch. Also laufe ich im strömenden Regen da runter. Als ich meine Karte in den Automaten schiebe und die PIN eingebe, macht es ratsch – und die Karte ist weg! Die haben meine Karte eingezogen!“

„Wieso das denn?“

„Gute Frage. Ich also zurück zur Sparkasse. Vielleicht finde ich zumindest eine Service-Nummer, denke ich. Die Sparkasse hat zu. So viel war klar. Aber ohne Karte, das hatte ich nicht bedacht, komme ich nicht hinein. Also stehe ich vor der Tür im Regen und warte.”

„Jetzt mal langsam. Warum haben sie deine Karte behalten?“

„Das wollte ich ja auch rausfinden! Nach zehn Minuten taucht endlich ein Typ auf und lässt mich rein. Ich rufe also diese Servicenummer an und erfahre, dass mein Konto gesperrt ist.”

„Ja aber – warum?”

„Das war auch meine erste Frage Das, meinte der Typ an der Hotline knochentrocken, könnte ich nur vor Ort mit ihm besprechen. Außerdem sei das das übliche Procedere, wenn über Monate kein Geld eingeht und kein Guthaben auf dem Konto ist.“

„Aber du hattest doch Geld. Wie kann das sein? Außerdem hast du bis vor zwei Monaten gearbeitet.“

„Denk mal scharf nach!“

Julián zuckte mit den Achseln.

„Wer arbeitet bei der Sparkasse? Wer kann dort schalten und walten wie er will?“

„Das ist nicht dein Ernst!“

Wir wollen nur dein Bestes, mein Junge!” Kyriel lachte hämisch. „Aber eins verspreche ich dir: mit seinen Erpressungsversuchen kommt er bei mir nicht mehr weit. Damit ist jetzt Schluss!“

„Ich weiß es wirklich nicht, cielo. Er war einfach weg. Es gab keinen Grund!“

„Aber das kann doch nicht sein!” Julián kochte. Selten hatte Kyriel ihn so aufgebracht erlebt. „Weshalb sollte er einfach so abhauen?“

„Wichtiger scheint mir“, Totumay fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, „dass diese Wendung zahllose neue Fragen aufwirft. Diese Information könnte der Schlüssel sein, der dir zum Verständnis des Feuertraums bislang gefehlt hat, Julián. Was also gedenkst du zu tun?“

„Nichts als leeres Geschwätz!“ Julián stand auf und ging zum Fenster.

Kyriel betrachtete den Waldheiligen nachdenklich.

„Was glauben Sie, weswegen dieser Traum ausgerechnet Julián heimsucht?“ fragte er.

Der Alte sah ihn an, als wäre er selbst eben aus einem Traum erwacht. „Ich kann nur wiederholen, dass es sich um einen Traum der Mayas handelt, Kyriel. – Einen alten Traum, der seit Hunderten von Jahren von Generation zu Generation weitergegeben wird. Schon Tecún Umán soll von dieser Vision heimgesucht worden sein, bevor er gegen die Spanier in die Schlacht zog.“

„Nie gehört“, brummte Julián, ohne sich ihnen wieder zuzuwenden.

„Tecún Umán war der letzte Maya-Herrscher. Heute gilt er als Nationalheld, obwohl er in der Schlacht damals sein Leben verlor. Wenn ich es recht bedenke – wahrscheinlich nicht obwohl, sondern eben deswegen.“

„Er konnte die Niederlage nicht abwenden”, murmelte Kyriel.

Totumay nickte. „Der Grundstein für Jahrhunderte des Leids und der Unterdrückung war gelegt.“

„Damit“, sagte Kyriel, „dürfte klar sein, was wir zu tun haben.“

„Ständig”, murrte Julián, „ist hier irgendwem irgendwas klar!“

„Es gibt nur einen einzigen Menschen, der uns womöglich weiterhelfen kann.“

„Nein!“ schrie Lola auf, ehe Julián auch nur den Mund aufmachen konnte.

Mrs. Ochmoneks Ohren zuckten.

„Das dürft ihr nicht!“

Sie ergriff Juliáns Arm, als könne sie ihn festhalten.

„Julián, kannst du mich hier nicht alleine lassen!“

Julián schüttelte Lolas Hand ab wie ein lästiges Insekt.

„Du hast mich all die Jahre belogen. Erwarte nicht, dass ich auf dich Rücksicht nehme.“

Noch immer verweigerte er ihr jeden Blickkontakt.

Lola schluchzte auf. Die Hündin knurrte.

„Aber, hijo, was hätte ich tun sollen? Perdóname, por favor! Ich wollte dir es erzählen, immer und immer wieder. Doch ich hatte solche Angst! Was willst du bei ihm? Er hat dich verlassen, als du warst ein Baby! Ist er ein schlechter Mensch – du bist sein Sohn und nie hat er dich gekümmert. Ich war für dich da, dein ganzes Leben!“

„Beruhige dich, Lola!“ Totumay hob die Hand.

Sie verstummte.

„Kyriel hat Recht. Auch mir scheint dies derzeit der einzig gangbare Weg zu sein.“

„Aber er tut doch etwas! Er war bei so vielen Ärzten –“

„Und was hat mir das gebracht?“ fauchte Julián. „¡Estoy hasta los cojones de estos putos médicos! Der Feuertraum ist noch immer da, nicht einmal die Verbrennungen bekommen sie weg!“

„Wir werden doch zurückkommen!“ versuchte es Kyriel. „Aber Julián muss herausfinden, was es mit dem Traum auf sich hat. Er kann nicht den Rest seines Lebens die Augen davor verschließen! “

„Aber was ist mit deinem Studium, hijo?“ fragte Lola. „Bald fängt das neue Semester an. Du kannst nicht einfach alles verlassen!“

Juliáns Zähne knirschten hörbar.

„Erzähle du mir nicht, was ich kann und was ich nicht kann, mamá! Diese Entscheidungen hast du viel zu lange getroffen – ab jetzt entscheide ich!“ Juliáns Worte trafen Lola wie Peitschenhiebe. „Ich bin es leid! Ich bin diese Träume leid, ich bin diese Heuchelei leid – und, ehrlich gesagt, bin ich dieses ganze Leben leid! Vielleicht ist es das, was mir diese Träume sagen wollen: dass ich anfangen soll, meine eigenen Entscheidungen zu treffen!“

Lola erhob sich schwankend.

„Ich mache jetzt mal die Steaks“, murmelte sie und ging in Richtung Küche davon. „Manche Entscheidung nimmt man besser mit vollem Magen.“

Leuchtende Hundeaugen folgten ihr.

„Wenn du dich dafür entscheidest, deinen Vater zu suchen, würde ich dich selbstverständlich begleiten. Immer vorausgesetzt, du wolltest das.” Kyriel zögerte einen Moment, dann fügte er hinzu: „Aber du hast mitbekommen, was mein Vater getan hat.“

„Du hast nicht vor, nach Dinkelsbühl zu fahren.“

„Auf gar keinen Fall.“

„Es gibt immer einen Weg – Geld ist nicht alles.“

 

ZWEITES BUCH – BRUCHSTÜCKE

 

Kapitel 18 – Nordwind

 

Der Sturm, der am Tage von María Dolores’ Geburt über den Lago Atitlán zog und das Palmdach von Eufemias und Salvadors Hütte riss, fegte zugleich den demokratisch gewählten Präsidenten des Landes aus dem Amt. Man schrieb den 27. Juni des Jahres 1954. Der verhängnisvolle Wind wehte von Norden.

 

„Die Natur gibt uns alles, was wir brauchen.” Eufemia strich sich mit der Hand über den geschwollenen Bauch und sah sich um. Qachu Alom. Mutter Erde. „Wir können so viel lernen. Sieh hin und sei bereit zu hören, was sie dir sagen will.”

Sie betrachtete die schwarzen Bohnen, die Frijoles, auf dem Feld, die ebenso typisch für die Ernährung der Guatemalteken waren, wie die kleinen gerösteten Maismehl-Tortillas, die die Frauen der Dorfgemeinschaft jahrein jahraus herstellten. Jäh schoss ihr ein Schmerz durch den Leib. Die Wehen setzten ein. Auf dem Rücken trug sie Pepito, ihren Jüngsten, ein Kind von elf Monaten, das fröhlich krähte, als seine Mamá unter einer ersten Schmerzwelle erbebte.

„Was ist mit dir, mamá?” Lucía hatte die Augen weit aufgerissen. Sie war neben Pepito das zweite von Eufemias und Salvadors Kindern. Das zweite, das noch lebte. Die Chance, dass sie, im Gegensatz zu ihren Geschwistern Ana, Mario und dem kleinen Salvador, das Erwachsenenalter erleben würde, wuchs von Tag zu Tag. Jetzt aber meldete sich ein weiteres Geschwisterchen zu Wort.

Zu früh. Es war noch nicht an der Zeit. Eufemia fragte sich, was sie tun sollte. Die Kinder dürften nicht hier sein! In diesem Alter sollten sie von den Schmerzen einer Geburt nichts mitbekommen. So wollte es der Brauch. Eufemia aber war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass es heute schon so weit sein könnte.

„Nichts, cariño, mach dir keine Sorgen! Lauf nur schnell runter ins Dorf und schick mir Yolanda her. Deine Schwester will ans Tageslicht!” erklärte sie der Kleinen.

„Woher weißt du, dass es eine Schwester ist?” Aufgeregt verschmierte Lucía eine Mischung aus Rotz und schwarzer Erde auf den Wangen.

„Ich weiß es eben, hija. Bei all meinen Kindern habe ich es gewusst – bei Salvador, bei Mario, bei Ana, bei Pepito und auch bei dir!”

„Bei mir auch?” rief die Kleine. Ihre Augen leuchteten.

„Ja, auch bei dir!” entgegnete Eufemia. Sie sah ihre Tochter an und fühlte sich einmal mehr bestätigt. Lucía war der richtige Name für sie gewesen – dieses Kind leuchtete. „Sogar deinen Namen habe ich schon gewusst, bevor du da warst.”

Sie strich der Kleinen über das Haar, während Pepito im Inneren des Tuches vor sich hin brabbelte. „So, mein großes Mädchen, jetzt lauf zu Yolanda und schick sie zu mir!” Eufemia bemühte sich um eine ruhige Stimme. Sie wollte Lucía nicht beunruhigen. Auch wenn sie ahnte, dass etwas schieflief. Es war nicht die erste Geburt, die sie erlebte. Sie presste die Hände in den Rücken. Lucía warf ihr noch einen Blick zu, wie er nicht recht zu einem Mädchen ihres Alters passen wollte, drehte sich um und rannte den steilen Hang hinab, durch die Milpas, in Richtung San Marcos la Laguna. Eufemia brachte ein Lächeln zustande. Diese Tochter war ein Geschenk! Mochten die Götter dafür sorgen, dass sie überlebte!

Das Wetter im Hochland war unberechenbar.

Urplötzlich wallten dichte Regenwolken über die Berge und verhüllten die noch eben sonnenbeschienenen Gipfel. Mit sich trugen sie einen übellaunigen Wind, der über die Hänge hinab ins Tal brauste.

„Gib mir Pepito!” Yolandas Entschlossenheit ließ Eufemia keine Wahl. Im Grunde ihres Herzens war sie froh darüber. So konnte sie sich ganz auf die bevorstehende Geburt konzentrieren. Die kommenden Stunden und Tage gehörten ihr und dem Baby. So war es Sitte. In den ersten acht Tagen blieben Mutter und Kind für sich. Nichts würde nach dieser Zeit die Bindung zwischen ihnen zerstören können.

Yolanda band sich Pepito auf den Rücken. Der Kleine gab keinen Mucks von sich. Mit blanken schwarzen Augen betrachtete er seine Mutter. Dann umhüllte ihn erneut das Tuch und seine Welt bestand einzig aus leuchtenden Farben. Lucía wich ihrer Mutter keinen Schritt von der Seite.

„Wir müssen ins Dorf runter”, bestimmte Yolanda.

„Warum hast du Lucía wieder mitgebracht?” flüsterte Eufemia.

„Candelaria war nicht zu Hause.”

Yolanda war die Curandera des Dorfes, eine schamanische Heilerin, zu der die Dorfbewohner mit ihren Krankheiten, aber auch mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten kamen. Die größte Freude empfand Yolanda selbst jedoch dabei, dem Nachwuchs auf die Welt helfen zu dürfen. Es gab kaum jemanden in San Marcos, der im Moment, da er die verklebten Augen öffnete, um es mit der Welt aufzunehmen, nicht von Yolandas Lächeln begrüßt wurde. Seit Langem galt es zudem als offenes Geheimnis, dass in San Marcos weniger Mütter bei der Geburt starben als anderswo am Lago.

Eufemia unterdrückte ein Stöhnen, als eine neuerliche Wehe all die Energie ihres Körpers in den Unterleib lenkte. Sie biss die Zähne zusammen. Noch ehe der Schmerz abgeklungen war, stützte sie sich auf Yolandas Schulter und sie begannen den Abstieg in Richtung Dorf.

Der Wind wirbelte ockerfarbenen Sand auf. Lucías Augen verengten sich zu Schlitzen und sie ergriff Yolandas Hand. Eufemia ächzte. Sie stemmte die Hände ins Kreuz und starrte in die Wolken.

No tenga pena, Eufemia, mach dir keine Sorgen. Gleich hast du es geschafft. Nur noch wenige hundert Meter bis zum Dorf”, sagte Yolanda. „Atme einfach weiter – langsam und gleichmäßig – genau.”

Eufemia schluckte den galligen Kommentar herunter, der ihr auf der Zunge lag. Stattdessen blickte sie sich um. Sie standen inmitten einer Milpa. Langsam atmete Eufemia ein und versuchte, die Luft gleichmäßig wieder ausströmen zu lassen. Wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hatte, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung. Die Maispflanzen bogen sich unter dem Sturm. Die Frijoles, die sie umrankten, wirbelten mit ihnen in diesem luftigen Tanz. Die beiden Pflanzen waren Schwestern, die eine der anderen Stütze. So war es seit jeher gewesen. So musste es bleiben. Das war das Prinzip der Milpa. Sich selbst inmitten dieses größeren Rahmens zu verorten, gab Eufemia ihre Zuversicht zurück.

„Ich glaube, ich schaffe es jetzt, Yolanda. Lass es uns versuchen.”

Dunkle Augen blitzten im runzligen Gesicht der Curandera. Sie und ihr Mann Ramiro waren zugleich die Abuelitos, die Dorfältesten. Das hatte, wie im Falle der beiden, nicht zwangsläufig mit dem Alter zu tun – die Witwe María del Pilar war weitaus betagter –, sondern mit dem Vertrauen, das die beiden im Dorf genossen. Die Abuelitos wurden von der Dorfgemeinschaft gewählt. Für die Bewohner des Ortes waren sie wie zweite Eltern.

„Natürlich schaffen wir das, Eufemia. Ist ja nicht das erste Mal.”

Bedachtsam setzte Eufemia einen Fuß vor den anderen. Tausendfach hatte sie diesen Weg beschritten, heute aber erschien er ihr steil wie nie. Der Sturm gewann unterdes an Stärke. Abgerissene Blätter und Zweige flogen an ihnen vorbei.

„Ich mag den Wind nicht, mamá”, rief Lucía.

„Der Wind bringt Veränderung, Kleines”, erwiderte Yolanda an Eufemias statt.

„Veränderung mag ich auch nicht”, setzte das Mädchen entgegen.

„Diese Veränderung wird dir ein Geschwisterchen bringen, Lucía. Das ist doch ein Grund zur Freude.”

Nachdenklich tippelte die Kleine neben Yolanda her.

„Unsere Vorfahren erzählen, der zwölfte Tag habe den Wind gemacht”, fügte die Alte hinzu. „Was denkst du – gab es zuerst den Wind oder die Mayas?” Eufemia, die noch immer auf Yolanda gestützt nebenherlief, schmunzelte.

Lucía überlegte.

„Die Mayas natürlich”, antwortete sie schließlich.

„Weshalb glaubst du das?” wollte die Curandera wissen.

„Das ist einfach”, Lucías helle Stimme klang selbstsicher, „wenn keine Menschen da sind, gibt es niemanden, der den Wind spürt. Also müssen die Mayas zuerst da gewesen sein.”

Yolanda zwinkerte Eufemia zu. Dann wandte sie sich wieder an Lucía. „Das ist ein weiser Gedanke. Die Alten aber erzählen, dass der zwölfte Tag den Wind hervorbrachte. Mit dem Wind kam der Geist in die Welt – der Atem, der uns das Leben einhaucht. Erst am Tag danach wurden wir Mayas geschaffen.”

„Ach so”, flüsterte Lucía und senkte den Blick. „Aber du bist doch alt”, fügte sie hinzu. Schüchtern wandten sich ihre Augen wieder dem faltendurchfurchten Gesicht der Schamanin zu.

„Da hast du recht, niña”, schmunzelte Yolanda. „Ich bin alt. Diese Geschichte ist jedoch noch viel älter als ich. Schon meine Abuela hat sie mir erzählt und sie hatte sie wiederum von ihrer Großmutter.”

Lucía riss den Mund auf. Der Sturm spielte mit ihrem pechschwarzen Haar.

„Aber das war gut so”, fuhr Yolanda fort, „denn wäre nicht zuerst der Wind geschaffen worden, gäbe es keinen Geist. Und wenn es keinen Geist gäbe, wären wir heute nicht, was wir sind. Wir könnten nicht darüber sprechen, ob der Wind oder wir Mayas zuerst da waren. Insofern hast du eine gute Antwort gegeben.”

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739349916
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Bürgerkrieg Roadmovie Realismus magischer Guatemala Maya Selbstfindung gay Traum Liebesgeschichte Saga historisch Familie Historisch Abenteuer Reise

Autor

  • Elyseo da Silva (Autor:in)

Elyseo da Silva, aufgewachsen in Nürnberg, entdeckte im Alter von 17 Jahren seine Leidenschaft für das Schreiben. Nach einem mehrmonatigen Guatemala-Aufenthalt im Jahre 2003 – einer Zeit, aus der so manches Mosaik-Steinchen für seinen Debütroman stammt – absolvierte er eine Ausbildung zum Übersetzer und Dolmetscher für Spanisch. Seit 2007 unterrichtet er junge Erwachsene in Deutsch als Fremdsprache. Elyseo da Silva lebt und schreibt in Lissabon. Derzeit arbeitet er an seinem zweiten Roman.
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Titel: Mosaik der verlorenen Zeit