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Schmetterling mit Narben

Innere Heilung – Ein kleines Buch für große Seelen

von Friedlinde Eichhorn (Autor:in)
134 Seiten

Zusammenfassung

Unser Inneres ist nicht sichtbar, jedoch ein essentieller Bestandteil des menschlichen Daseins. Wird es verletzt, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht. Dieses Buch gibt einen tiefen Einblick in unsere menschliche Seele, was uns verletzt, aber auch, was uns stärkt, aufrichtet, ermutigt und gut tut. Es richtet sich vor allem an Menschen, die tiefergehende Verletzungen erleben und erlebt haben, soll aber auch denjenigen als Hilfestellung dienen, die verletzte Menschenseelen verstehen wollen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Dieses zweite Buch entstand auf Nachfragen und Wunsch vieler, ob ich nicht so manche Gedanken, Ideen und Vergleiche, die als hilfreich und anschaulich erlebt wurden, in einem Buch zusammenfassen könne. Dieser Bitte komme ich sehr gerne nach in der Hoffnung, dass der Inhalt dieses Buches vielen durch den einen oder anderen Gedanken eine Hilfestellung sein kann. Eine Anregung, Ermutigung und Bewusstwerdung, um vielleicht weitere gute Schritte in Gang zu setzen oder um festzustellen: es ist schön, dass es mich gibt auf dieser Welt. Gleichzeitig beinhaltet es bei meinem eigenen fortgeschrittenen Alter unwillkürlich Erfahrungen, die das Altern mit sich bringt, an denen ich gerne teilhaben lasse.

 

Wie das vorhergehende Buch „Rendezvous mit meiner Seele“ hat auch dieses nicht den Anspruch, ein Fachbuch zu sein. Selbstverständlich kann es auch keine individuelle und eventuell indizierte Therapie ersetzen und bitte gehen Sie auch nicht von diesem Gedanken aus! Sehr bewusst gebrauche ich keine Fachsprache, weil ich, wie auch im Rahmen meiner Arbeit, möchte, dass ich von möglichst vielen verstanden werde. Insofern verstehe ich mich schon seit langem als eine Art Übersetzer, indem ich versuche, schwierige und komplexe Dinge in eine einfache und hoffentlich gut verständliche Sprache zu übertragen.

 

In dieses Buch werden Themen einfließen, die mir persönlich, fachlich und auch gemäß meiner Überzeugung sehr am Herzen liegen. Der eine oder andere Gedanke mag dem Leser bekannt vorkommen, falls Betreffende/r mein erstes Buch gelesen hat. Allerdings ist dieses jetzt nicht auf mich persönlich bezogen. Ich hoffe, dass sich viele in diesem jetzigen wiederfinden, sowohl in der erlebten Problematik als auch in den gedanklichen Hilfestellungen, einfach, weil viele dieser Beschreibungen und Anregungen unser Menschsein ausmachen. Denn so individuell jede Persönlichkeit ist, so vieles haben wir dennoch gemeinsam an erlebten Verletzungen unserer Seelen, an sich nicht wirklich verstanden fühlen und an Sehnsucht nach Befreiung davon, nach Freisetzung in ein lebenswertes Leben.

 

Selbstverständlich werde ich aus Gründen des persönlichen Schutzes keine Erlebnisse anderer erwähnen. Dennoch versuche ich das, was verletzte Menschen oft gemeinsam haben, aufzugreifen, zu erklären und Hilfestellungen zu geben, soweit man diese eventuell (teilweise) alleine umsetzen könnte.

 

Auch dieses Mal muss niemand meine Erfahrungen und Meinung teilen. Genauso wenig muss jemand meine persönliche Glaubensüberzeugung haben. Dennoch gehe ich davon aus, dass auch anders eingestellte Leser den einen oder anderen Gedanken für sich als hilfreich erleben können, sich auf den Weg zu machen, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich weniger als „Außenseiter“ zu betrachten oder sich vielleicht sogar Hilfe zu holen. Diese Welt braucht in erster Linie Menschen, die sich gegenseitig eine Hilfe werden, ob weitgehend seelisch unverletzt oder verletzt. Nur in gegenseitiger Achtung kann genau daraus so etwas wie Schönheit entstehen.

 

In diesem beschriebenen Sinn ist es ein Buch, das wichtige Aspekte verletzter Seelen aufgreift und was diese oft an Hilfen, Wertschätzung u.v.a. brauchen, was ihnen wohl tut und zur Aufrichtung einer gebeugten Seele beitragen kann. Es soll aber auch ein Buch für Menschen sein, die sich glücklicherweise als weitgehend gesund empfinden, damit beide voneinander lernen und vielleicht besser miteinander leben können.

 

Im Nachwort greife ich schwerpunktmäßig auf, weshalb ich persönlich der Meinung bin, dass bei aller Fürbitte und Gebet, die im christlichen Kontext geschieht, ich es für dringend angebracht halte, sich bei derartigen, sicherlich wichtigen Diensten ernsthaft zu informieren. Nämlich darüber, was eine verletzte Seele im Inneren wirklich ausmacht und was sie zusätzlich an Aufrichtungshilfen benötigt. Selbst dann, wenn es der verletzten Person (noch) nicht bewusst sein sollte. Denn wir Menschen brauchen nicht eine Einheitsrichtung, sondern eine Buntheit, wenn ich es mal so formulieren darf.

 

Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

 

Um in diesem Sinne miteinander leben zu können brauchen wir hilfreiche Informationen über Zusammenhänge menschlichen Daseins. Darum soll es im Kern in diesem Buch gehen. So kann es als eine Art Sprungbrett dienen, über Gelesenes nachzudenken, vielleicht sogar in der Familie darüber sprechen zu lernen, begonnene Gedanken fortzusetzen und zu vertiefen.

 

In diesem Sinne bin ich der Meinung, dass jede Person, auch die auf christlicher bzw. spiritueller Basis seelsorgerlich tätige, dahingehend mit Verantwortung trägt.

 

Anhand des Inhaltsverzeichnisses können Sie Themen wählen, die Ihnen für sich interessant erscheinen. Sie können das Buch aber auch einfach von vorne bis zum Schluss lesen. Bitte lassen Sie sich Zeit damit, es ist kein Roman und für manchen mag es sogar schwere Kost sein, die es zu kauen gilt. Möge der Inhalt gut verdaulich sein und zu so etwas wie einer Seelenspeise werden!

Unser Körper altert und irgendwann zerfällt er. Dass unsere Seele, unser Geist – oder wie das Alte Testament es urtextlich formuliert – unser „Innerstes“ weiterleben wird, ist für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit. Christlich geprägte Menschen, und sehr wahrscheinlich nicht ausschließlich diese, gehen davon aus, dass das Innerste dann in wahrem Frieden in der Gegenwart ihres Schöpfers sein wird. Jesus beschreibt das im Johannesevangelium, Kapitel vierzehn, mit dem wunderbaren Bild, dass er uns eine Wohnung im Himmel bereiten wird.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude, hoffentlich viel Ermutigung, ein Sich-selbst-etwas-besser-verstehen-und-anneh-men-Können und ein tiefes Durchatmen beim Lesen. Bibelzitate bzw. Übertragungen in diesem Buch basieren auf der Zürcher Übersetzung 1975.

 

Mein ganz persönlicher Dank gilt in diesem Buch all den Menschen, mit denen ich in den letzten 25 Jahren zusammenarbeiten durfte und natürlich auch denen, mit denen das in der Gegenwart geschieht.

Ich habe viel von ihnen gelernt und ebenso dazu gelernt, durch sie erkannt, und ich tue das bis zum heutigen Tag. Es ist nicht immer leicht, sich nahezu täglich neu dieser Lernherausforderung zu stellen und immer wieder neu die Bereitschaft dazu zu haben. Mich persönlich hat all das mir selbst und meinem himmlischen Vater noch näher gebracht.

 

Vielen Dank!

Friedlinde Eichhorn

Warum dieser Buchtitel?

Ein Schmetterling wird von uns Menschen als farbenfroh, zart, zerbrechlich und wunderschön anzusehen wahrgenommen, soweit wir ihn denn mal anschauen und ihm unsere Aufmerksamkeit widmen. Wenn er seine Flügel zusammenklappt, verschwindet er nahezu aus dem Sichtfeld und man muss schon ziemlich genau hinsehen, um ihn zu finden. Manchmal hilft da nur ein Perspektivenwechsel, ein Blick von der Seite, und man sieht zumindest seine Konturen wieder. Dabei hat er mit Anmut, Schönheit und Zerbrechlichkeit vieles mit unserer Seele gemein. Wir wollen bildlich gesprochen deren Flügel aufklappen, ihre Farbenpracht (neu) entdecken und den Blick vor den Narben, die sie trägt, nicht (mehr) verschließen.

 

Seit ich berufstätig bin, widme ich mich den Störungen und Erkrankungen anderer Menschen, lange Zeit auf körperlicher und inzwischen genauso lange denen auf seelischer Ebene.

Es gibt kaum eine Art von Leid, die ich nicht dadurch miterlebt, gesehen oder mit dem ich nicht konfrontiert worden wäre. Und auch dadurch komme ich zu dem Schluss, dass es unendlich viel Leid gibt. Von Außen schnell erkennbares, genauso aber auch stilles Leid, über das (zu) wenig oder gar nicht gesprochen wird.

Meine Zielrichtung hat sich immer mehr dem stillen Leid zugewandt, den nicht gehörten und gesehenen Menschen, den Mutlosen, den Gebeugten, den Verzagten, denen, die vielleicht sogar nach Außen unauffällig wirken, weil sie gelernt haben, gut zu funktionieren und sich anzupassen. Die aber im Stillen unendlich leiden. Darin verstehe ich meine persönliche Berufung, die altersbedingt inzwischen nur noch sehr begrenzt lebbar sein kann. Entsprechend „still“ tue ich auch meine Arbeit.

 

Anhand der Medien bekommen wir viel an Leid mit und kommen vielfach mit der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit in Berührung, sofern wir diese zulassen können. Ich gelange schon seit langem und immer mehr zu der Überzeugung, dass das Leid in dieser Welt unermesslich ist und es unendlich viele verletzte Menschen gibt. Bei den einen unverkennbar groß und deutlich sichtbar, bei anderen eher im Verborgenen zu entdecken. Denn diese Welt besteht leider, meiner Meinung nach, in erster Linie aus verletzten Menschen. Das erinnert mich immer an das Bibelwort, dass alle Kreatur nach Gottes Erlösung schreit (Römerbrief, Kapitel 8, Vers 22).

 

Und dennoch wird aus meiner Sicht die Welt zu einseitig nach dem Verständnis regiert, dass es gar nicht so viel Leid gäbe und vor allem, dass die vom Leid Betroffenen so zu leben hätten wie die davon zum Glück weitgehend verschont Gebliebenen. Das ist für mich ein Auf-den-Kopf-Stellen der Wahrheit. In meinen Seminaren ringe ich deshalb vielfach darum, die Teilnehmer zu ermutigen zu wagen, die Realität wahrzunehmen, anstatt sie schön zu reden. Denn nur, wenn ich der Realität ins Auge zu schauen wage, habe ich die Chance, gehbare Wege heraus aus dem Leid und Leiden zu entdecken.

So real wie für mich persönlich eine Existenz Gottes ist, so real ist für mich gleichzeitig die Herausforderung, vom Leid betroffene Menschen nicht ausschließlich mit Worten abzuspeisen, sondern – je nach persönlichem Engagement – mit ihnen ein Stück des Weges zu gehen. Die Begleitung erfolgt auf unterschiedliche Art und Weise, auf die jeweiligen Bedürfnisse der/des Betreffenden abgestimmt, jedoch immer in gegenseitigem Respekt und (gegenseitiger) Achtung und mit- statt gegeneinander.

Dieser Weg ist aus meiner Sicht der weitaus schwierigere, weil ich mich auf das Gegenüber einlassen muss – und umgekehrt – und auf die Details, die ein Mensch jeweils mit sich bringt.

Von diesen Schritten, solch einer Wegbegleitung, handelt dieses Buch. Anhand von Beispielen, hoffentlich anschaulichen Bildern und praktikablen Anregungen, wovon mir viele rückgemeldet haben, dass es ihnen weitergeholfen hat, führe ich Sie durch diesen Prozess.

 

Immer wieder entdecke ich aufs Neue, dass es sich lohnt, wirklich hinzuhören, wirklich verstehen zu wollen, auf moralisieren zu verzichten und zu wagen, mit der verletzten Person zusammen in ein von Leid und Kummer geprägtes Herz zu schauen. Nur so kann ich helfen, Ungesundes, Destruktives, Störendes, Hinderliches, das aus Gründen von Schutz entstanden ist, anzuschauen und mit Gutem zu füllen.

 

So sehr ich Gott alles an Wundern zutraue, so sehr glaube ich gleichzeitig, dass dieser Weg der von Gott tatsächlich gemeinte ist, weil er Gemeinschaft bedeutet, ein wahres Mitleiden, lernen Trost zu geben, aber auch zuzulassen und vieles mehr, um auf diese Art als Mensch ein Stück Göttlichkeit zu spiegeln.

Innere Heilung – was genau ist das eigentlich?

Bevor ich in diesem und den weiteren Kapiteln versuche, den Kern innerer Heilung zu beschreiben, möchte ich eine Geschichte weitergeben, die ich nur vom Hörensagen kenne:

Ein Mensch unternahm mit dem Schiff eine sehr große Reise. Als die dafür nötige Reisezeit zu Ende war, legte das Schiff am Zielort an. Alle Passagiere verließen das Schiff und gingen entweder nach Hause oder in ihre vereinbarte Unterkunft – bis auf einen Menschen. Dieser setzte sich ans Ufer. Es wurde Abend, der Mensch saß immer noch dort. Es wurde Nacht. Dann brach der nächste Tag an, doch der Mensch saß unverändert dort. Es wurde wieder Abend, wieder Nacht, wieder begann ein weiterer neuer Tag.

Auch dieser verging, wie auch viele der folgenden Tage und Nächte.

Ein Arbeiter am Hafen sah das und schließlich ging er auf den Menschen zu und fragte ihn, warum er dort Tag und Nacht sitze. Da antwortete ihm der Mensch, dass sein Körper vor vielen Tagen mit dem Betreten des Festlandes angekommen sei und er jetzt auf das Ankommen seiner Seele warte.

 

Wirkt das ein wenig schräg? Zumindest für unsere Ohren, aber ungewöhnlich, in jedem Falle nachdenkenswert.

Unsere Seele hat (nun mal) ein anderes Lebenstempo als unser Körper. Verstandesmäßig WISSEN wir das vielleicht. Wann werden wir es verinnerlichen/begreifen?

Wieviel Leid müssen Menschen noch erleben, bis dieses Wissen zur Erkenntnis und damit zur Änderung unseres Lebensstils wird? Dass LEBEN wirklich LEBEN wird, anstelle funktionieren, hetzen, sich leben lassen, getrieben sein, um dann vielleicht auf dem Sterbebett die erschreckende Erkenntnis zu bekommen, genau das wahre Leben verpasst zu haben?

 

Und eine Frage an Menschen, die eine Gottesbeziehung leben und leben wollen: ist die Seelenheilung nicht das noch wichtigere als ein berufliches und materiell erfolgreiches Leben?

 

Zweifellos ist es schön, einen gut funktionierenden Körper zu haben, aber ist nicht noch wertvoller, wenn unsere Seele, auch trotz Alterns und einem vielleicht körperlichen Handicap, Frieden hat, mit sich selbst, mit Menschen um sich herum und mit dem Schöpfer?

 

Und sollte alles vorrangige Bemühen nicht in erster Linie dahin gehen, anderen Menschen und uns selbst ein solches Leben zu ermöglichen?

 

Ist nicht das innere Heilung, anstatt „weg“ mit Angst, Wut und sogenannten negativen Gefühlen und Befindlichkeiten?

 

Ich habe den Verdacht, dass wir Christenmenschen und auch viele Menschen überhaupt, einen entscheidenden Denkfehler machen:

 

Wir gehen davon aus, dass man die verletzte Seele genau so behandeln kann wie einen verletzten Körper.

 

Das ist ein geradezu tragischer Irrtum!

 

Ein gebrochenes Bein kann ich operieren oder eingipsen, je nach Verletzung. In der Regel, bei nicht allzu komplizierter Verletzung, heilt der Bruch, gerade oder auch nicht ganz achsengerecht. Und wenn alles so weit gut geht, kann ich wieder gut, vielleicht fast so gut wie vor dem Unfall laufen.

 

Die obige Geschichte macht hoffentlich deutlich, dass die menschliche Seele ihr eigenes Tempo hat, insofern können wir sie in Wahrheit nicht antreiben. Ganz im Gegenteil regt sich sonst unbewusst Widerstand auf unterschiedliche Art. Auch Ihre Seele lässt sich von niemand anderem antreiben. Das tut schon der sogenannte „innere Antreiber“ oder ein „Es- anderen-recht-machen-Wollen“ oder ein vermeintliches „Dazu-gehören-Wollen“ oder ein „Nicht-anders-sein-Wollen“ und Ähnliches, was die meisten sich früher oder später beigebracht haben um nicht aufzufallen. Oder es ist ihnen sozusagen früh beigebracht worden.

 

Jesus selbst stellt sich genau dazu: zu unserem Handicap, auch und besonders zu dem auf unserer Seelenebene, zu unserem vielleicht Unvermögen, unserem Ohnmachtsempfinden, unseren Ängsten.

Es ist wunderbar, dass es zunehmend auch dahingehend fachliche Erkenntnisse und Hilfen gibt. Aber im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen und Handicaps braucht es auf der Seelenebene unser Mitwirken, soweit das individuell möglich ist.

Haben Sie einmal reflektiert, welche Art von Heilungsberichten Jesu im Neuen Testament stehen? Es sind zwar fast ausschließlich Berichte über körperliche Heilung, aber nicht, weil Jesus unsere Seele nicht wichtig wäre, sondern vielleicht, weil wir Menschen so sehr auf das Sichtbare fixiert sind.

 

Jesus macht über andere Botschaften sehr klar, wie wichtig für ihn unser Seelenheil, der innere Frieden ist. „Meinen Frieden gebe ich euch – nicht so wie die Welt gibt, euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Johannesevangelium, Kapitel 14, Vers 27).

Auch im alten Testament hebt Gott sehr deutlich unser „Seelenheil“ hervor. Das Buch Hesekiel, Kapitel 34 beschreibt Gottes entsetztes „Herz“ über das Desinteresse eingesetzter Seelenhirten. Deshalb, so die Beschreibung, beschließt Gott, genau das in Zukunft selbst zu übernehmen, also der Seelenhirte zu sein. Für mich ein Hinweis auf den damals angekündigten Erlösungsweg durch die Menschwerdung Gottes in Jesus.

Die Heilungsberichte Jesu machen aus meiner Sicht auch noch etwas anderes deutlich: Heilung auf Körperebene hat oft nur sehr kurzen Dank zur Folge, wenn dieser überhaupt erfolgt.

 

Ich meine immer wieder zu beobachten, dass gewisse Gefühle und persönliche Erlebenszustände als „schlecht“ und vielleicht sogar als „böse“ bezeichnet werden. Für mich sehr erschreckend. Was wäre das Menschsein ohne Gefühle? Ich meine, ohne jede Art von Gefühlen? Gefühle weisen uns hin auf Gefahr, Grenzen und drohende Grenzüberschreitungen, aufkommenden Ärger und Wut aufgrund zum Beispiel solcher Grenzverletzungen. Auch ein „das kann ich nicht, da brauche ich Hilfe“ und vieles mehr.

 

Ist Ihnen bewusst, dass Jesus selbst, wenn wir ihn denn zumindest als eine maßgebliche „Person“ sehen können, sämtliche Gefühlsqualitäten hatte und zeigte? Auch Hass, wobei er auch hier sehr klar differenziert zwischen dem Gefühl gegenüber einer Verhaltensweise oder Situation und seiner „dennoch“ Liebe zu dem Menschen.

 

Wie kommt es, dass zum Beispiel Ärger, Wut und ähnliches nicht selten als angeblich böse bezeichnet werden? In der Regel, weil die Menschen, die uns das verbieten wollen oder verbieten, ziemlich gleiches erlebt haben und es gemäß diesem, ihrem früherem Erleben weitergeben, leider. Aber es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen Wut, vielleicht da und dort punktuell Hassgefühlen einer Sache gegenüber und Destruktion.

 

Erfahrungsgemäß nimmt unbewusst die Destruktion zu, wenn „aggressive“ Gefühle verboten werden. Denn die damit verbundene Energie, die eigentlich einen Kraftschub geben sollte, kann sich durch Unterdrückung durchaus potentiell destruktiv entwickeln.

 

Erleben wir im Heute eigentlich weniger Heilungswunder, mal unabhängig, ob körperlich oder seelisch?

 

Ich kann es nicht beurteilen, aber es scheint zumindest in Europa bzw. der westlichen Welt so. Immerhin ist die medizinische Hilfe an einem doch gänzlich anderen Punkt der Möglichkeiten angelangt als vor Jahrtausenden. Aber ist das schlecht oder verkehrt? Ich bin zwar nicht der Meinung, dass man alles umsetzen sollte, was inzwischen möglich geworden ist, aber wie viele Menschen nehmen zu Recht derartige Hilfen auf Körperebene in Anspruch?

 

Weshalb erlauben viele Menschen Hilfe für den Körper, lehnen das aber für die Seele ab ?

 

Ich denke, man sollte Hilfe für die Seele nicht schlecht reden geschweige denn „verteufeln“. Hier dürfte man sich durchaus mehr an den Errungenschaften, die die moderne Medizin bereits für unseren Körper bereithält, orientieren und dadurch ermutigen lassen. Das stellt gewissermaßen den Appell dar, auch für die inneren Verletzungen die passende Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

 

Wir leben im 21. Jahrhundert und nutzen ja auch meist gerne viele technische Fortschritte und Annehmlichkeiten. Inzwischen haben wir sogar den gewissen „Luxus“, für die Seelenebene ausgebildete Menschen und deren Hilfe und Erfahrung in Anspruch nehmen zu können. Und was glauben Sie, wie viele Menschen das nicht nur dringend brauchen, sondern wie viele dieses Angebot gerne annehmen würden, sich das aber aus den verschiedensten Gründen immer noch nicht trauen?

Stattdessen erleben wir immer noch häufig, dass die Moral ganz weit nach oben gesetzt wird und wir Deutschen sind darin, glaube ich, besonders gut. Natürlich ist nichts gegen Moral einzuwenden, es hängt aber sehr viel daran, welche Priorität diese vergleichsweise zu dem einzelnen Menschen bekommt.

 

Ich finde sehr viel Grund, sich an inzwischen vielen fachlichen Hilfe-Angeboten zu freuen und diese jedem, der es braucht, von Herzen zu gönnen.

 

Denn: NOTwendige Hilfe geht vor Moral!

Was ist eigentlich unsere Seele?

Das Verständnis von Seele ist in gewisser Weise etwas unterschiedlich. Viele Menschen verstehen darunter Gefühle bzw. unsere Gefühlswelt, das dazugehörende Erleben und Empfinden und unseren Verstand.

Mir persönlich sagt das alttestamentliche Verständnis am meisten zu. Es bezeichnet die Seele als unser „Innerstes“, gepaart mit Gottes Geist.

Das bedeutet: alles, was sich in unserem Inneren abspielt an Gefühlen, empfundenem Erleben, unterschwelligen Denkweisen, inneren Diskussionen, aber auch besonders an Intuition und ganz tief innen so etwas wie das Wissen um gut und nicht gut, liegt hier wie verborgen. Sprich, die Erkenntnis, was uns persönlich tatsächlich gut tut und was wir besser sein lassen und meiden sollten.

Nimmt man dazu noch die Bibelstelle im Alten Testament im Buch Jeremia 31, ab Vers 33, die beschreibt, dass Gott selbst seine Gebote „in unser Herz gelegt“ habe, dann könnte dieses Innere etwas vollständig Umfassendes an Gespür bedeuten, ein tiefes inneres, gesundes Wissen um unser Menschsein. Vielleicht sogar bis dahin, wie wir unser Leben eigentlich in guter Weise leben könnten/sollten, einschließlich ganz leiser Botschaften, wovon wir zum Beispiel die Finger lassen sollten und was dagegen unserem Innersten wirklich gut täte.

Insofern könnte man die Seele als eine Art innere Zentrale für ein mir gut tuendes Leben beschreiben.

Dabei scheint mir diese „innere Kompetenz“ nicht davon abhängig, ob jemand eine persönliche Beziehung zu Gott hat/ will oder nicht.

Menschen , die auf ihr Inneres „hören“ (gelernt haben), erlebe ich oft als sehr ausgeglichen und zufrieden. Das Vergleichen mit anderen scheint dabei in den Hintergrund zu treten.

Zumindest ist unser Inneres und damit auch unsere Seelenebene etwas existenziell Hilfreiches für unser persönlich gelebtes Leben.

 

Ich persönlich vergleiche die Seele gern mit einem Schmetterling: die Schönheit und Zartheit, auch die leichte Verletzbarkeit bei zu festem Zupacken, das Bedürfnis nach fliegen und Freiheit, die Buntheit der Farben und zusammengefasst einfach nur schön. Unsere Seele ist also etwas Einmaliges, Wunderschönes, Verletzbares und jeweils sehr Unterschiedliches. Denn auch wenn Schmetterlinge einer bestimmten Spezies angehören, gibt es, soweit mir bekannt ist, keinen, der mit einem anderen identisch ist oder wirklich vergleichbar wäre.

Verletzte Seelenwürde

In Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und ich finde es wunderbar, ja geradezu revolutionär, dass dem so geschrieben ist.

Das ist das Ziel. Aber wie sieht die Realität aus – nicht nur in unserem Land, sondern weltweit?

Damit beschäftigt sich, vorrangig auf unsere Kultur und unser Land bezogen, dieses Buch: Mit dem Ziel – aber auch mit der leider noch äußerst verletzten und verletzenden Realität. Jeden Tag hören und lesen wir darüber, es sei denn, wir schalten ab, innerlich und äusserlich, weil die Realität manchmal kaum zu ertragen ist.

Das heißt, es klaffen meiner Meinung nach, die sehr gut gedachte Theorie und die Wirklichkeit mehr oder weniger auseinander und vermutlich wird es ein noch recht langer Weg sein, bis beides zueinander findet. Hoffentlich wird das aber eines Tages so sein.

 

Ist es im eigenen Leben nicht oft recht ähnlich? Ich meine das Auseinanderfallen zwischen dem eigentlich Richtigen und dem, was wir dann tatsächlich tun: Wir wollen auf eine Anfrage hin „Nein, es geht leider nicht“ oder „Nein, das möchte ich nicht“ formulieren und trauen uns nicht, klar darin zu sein, was wir wirklich wollen. Je nachdem sagen wir womöglich sogar „ja“ und wünschen uns innerlich „Nein“. Oder wir reagieren auf eine Art und Weise, dass wir uns im Nachhinein selbst nicht verstehen.

Oder wir würden so gerne anders leben, mehr Zeit, zum Beispiel für Beziehungen, haben, statt dessen flüchten wir uns in Arbeit und so weiter.

 

Eine Veränderung zu wollen und auf diesen Weg zu gelangen, geschweige denn, dieses Ziel zu erreichen, ist für uns Menschen nicht selten (mehr oder weniger) mühsam und oft langwierig …

 

… aber absolut lohnend und aller Mühen wert!

 

Leider gibt so manche/r auf diesem Weg auf. Das ist sehr schade. Und unter anderem hoffe ich, dass dieses Buch Sie, vielleicht erneut, ermutigt, den Weg einzuschlagen, den Sie eigentlich gehen wollten und eigentlich immer noch gehen wollen.

 

Verletzungen auf Seelenebene kommen leider sehr häufig vor. Zum Beispiel verbale, immer wiederkehrende Abwertungen, verachtende Äußerungen, Demütigungen und Vergleichbares. Geschweige denn direkte Gewalterfahrungen. Ein Kind wird sich gegen solche Dinge nicht oder wenn es älter ist allenfalls ansatzweise wehren können. Selbst einem erwachsenen Menschen fällt das oft schwer.

Viele Menschen sind immer noch der Meinung, solche Erlebnisse würden keine Spuren in der Seele hinterlassen, nur weil sich viele – unberechtigterweise – dafür schämen und Erlebtes verdrängen. Das ist ein großer Irrtum!

Derartige Verletzungen sitzen oft sehr tief in unserem Inneren. Manchmal „schießen“ sie dann plötzlich hervor und wir wundern uns im Nachhinein darüber und schämen uns eventuell noch mehr. Das oben Beschriebene ist manchmal wie ein nie enden wollender Kreislauf, der sich im Inneren abspielt, und es kostet, je nachdem, viel Reflektion, der Wurzel auf den Grund zu kommen und zunehmend frei davon zu werden.

 

Und alles soll binnen Minuten oder Stunden „weg“ sein?

 

Ich will gar nicht ausschließen, dass es so etwas wie eine Art „plötzliche Heilung“ von seelischen Verletzungen gibt. Es gibt ja fast nichts, was es nicht gibt. Aber die Regel ist es meiner Erfahrung nach nicht und sollte deshalb auch nicht einseitig behauptet oder gar erwartet werden. Denn die meisten Menschen, die von Verletzungen auf Seelenebene betroffen sind, schließen ansonsten schnell daraus, dass sie verkehrt sind.

Ich bin deshalb der Meinung, dass das Propagieren von solcher Instantheilung unverantwortlich ist, weil es nicht realitätsbezogen oder vielleicht sogar die Realität ignorierend ist.

 

Immerhin basieren meine Äußerungen auf inzwischen über 40 Berufsjahren, ca. die Hälfte davon betont somatisch [d.h. körperbezogen], die andere Hälfte betont auf die Seelenebene ausgerichtet. Zweifellos gibt es zahlreiche noch sehr viel erfahrenere Menschen, aber mit vielen davon teile ich obige Meinung.

Jeder Mensch ist eine eigene Persönlichkeit

Ich habe die Überzeugung, dass jeder Mensch eine individuelle Persönlichkeit ist, sein sollte und sein darf. Dennoch gibt es natürlich viele Gemeinsamkeiten zwischen uns Menschen und diese sind nicht ausschließlich auf körperlicher, sondern genauso auf seelischer Ebene vorhanden. Wir alle sehnen uns nach bestimmten Dingen, zum Beispiel nach Wertschätzung, gesehen, geachtet zu werden, und uns alle verletzt bestimmtes Erleben, wenn zum Beispiel genau obiges nicht geschieht. Vor allem, wenn es seitens derer nicht geschieht, die uns von Natur aus erst mal am wichtigsten sind: die Eltern und andere wichtige Bezugspersonen wie Geschwister, Verwandte, Schulkameraden, Lehrer, später der Partner, die Partnerin und gegebenenfalls auch Geistliche.

 

Die Forschung hat gezeigt: je näher uns ein Mensch biologisch steht, desto eher sind wir durch diese Person verletzbar, denn wir beziehen, in diesem Zusammenhang sehr gut nachvollziehbar, die Reaktionen oder Nichtreaktionen auf uns persönlich. Jedes Kind dieser Welt tut das erst einmal. Genauso liebt jedes Kind grundsätzlich erst einmal seine Eltern, einfach, weil es die Eltern sind. Dabei steckt ein Kind scheinbar leider vieles weg und sucht unbewusst viele Wege, um vielleicht seitens der Eltern doch noch die Liebe zu erhalten, nach der es sich sehnt: eine weitgehend bedingungslose Liebe einschließlich Annahme der Persönlichkeit.

 

Kinder sind dabei sehr phantasievoll. Sie versuchen es über brav sein, Anpassung, gute Leistung, den Wunsch von den Augen ablesen, in die Bresche springen, bestimmte Rollen übernehmen, helfen und vieles mehr.

 

Genauso haben alle Kinder dieser Welt eine umwerfende Ehrlichkeit gemeinsam. Oft haben sie auch die Fähigkeit, komplizierte Dinge auf den Punkt zu bringen.

 

Ihre Direktheit ist wohltuend, manchmal unangenehm treffend.

 

Sie haben kein Problem, im einen Moment die Mutter zu „hassen“ und im nächsten Moment in ihr die „beste und liebste Mutter der Welt“ zu sehen. Und das alles meinen sie ehrlich. Bis, ja bis sie in ein Alter kommen, in dem sie die Realitäten zunehmend erkennen. Und auch dann gehen sie oft noch davon aus, dass die Erwachsenen „es richtig“ machen. Sie haben so etwas wie eine Art Urvertrauen, selbst gegenüber dem sie Missbrauchenden. Eher kommen sie zu dem Schluss, dass sie etwas falsch gemacht haben oder falsch sind.

Das ist die Crux und bewirkt so etwas wie eine Verwirrung der Seele, das heißt, vieles hat sich auf der Gefühlsebene wie auf den Kopf gestellt. Das Opfer fühlt sich schuldig und der Gewaltmensch im Recht, also umgekehrt, als es der Wahrheit entspricht.

Unser zerbrochenes Herz und tiefe Sehnsucht

Unsere tiefe Sehnsucht nach Heilung und wahrem Leben ist sehr verständlich.

 

Viele verletzte Menschen sind danach auf der Suche, durch Gebet, durch restriktive Verhaltensweisen und Regularien wie zum Beispiel Fasten, selbst auferlegte Rituale, auf der Suche nach authentischen Menschen, die ihnen helfen mögen und anderes.

Zur rechten Zeit mag das eine oder andere dran und gut sein und damit hilfreich. Aber wenn schon unser Körper für bestimmte Verletzungen Zeit zur Heilung benötigt, wie sehr unsere Seele? Vor allem mag sie keine Instantlösungen. Doch wie oft muss sich die Seele in gewisser Weise anhören: „werde heil und zwar sofort“. „Du mußt einfach nur wollen, fester glauben, intensiv genug beten“ oder, oder … Selbst dann, wenn die Verletzungen unter Umständen tiefgreifend und umfassend waren.

Dennoch befehlen wir oft auch selbst unserer Seele oder auch der Seele anderer, möglichst schnell gesund zu werden. Warum eigentlich? Damit wir funktionieren können, durch gute Leistungen Anerkennung finden, uns fühlen können, wie sich angeblich „alle anderen“ fühlen ? Warum ist das häufig so?

Ein Grund aus meiner Sicht ist, weil wir Menschen vor allem den Seelenschmerz oft unbewusst fürchten. Wir wollen ihn umgehen.

Ein anderer Grund ist, vermute ich, dass wir uns Menschen gegenüber, die seelische Nöte haben, oft hilflos fühlen, das aber ungerne zugeben.

Aber seelisch Leidende wollen nicht immer eine Lösung, nicht selten tut ihnen alleine gut, im Leiden nicht alleine sein zu müssen oder wenn ihnen einfach auch mal jemand zuhört.

Es ist bekannt, dass zum Beispiel der sogenannte Bindungsschmerz, also der Seelenschmerz, der durch eine mangelnde oder sogar fehlende sichere Bindung entstanden ist, sich existentiell schmerzhaft und damit bedrohlich anfühlt. Ebenso ist bekannt, dass seelische Wunden nicht selten als sehr viel schmerzhafter empfunden werden als körperliche.

Schon vor Jahrzehnten gab es Studien, die belegten, dass eine emotionale Vernachlässigung meist schlimmere Folgen hat als gewisse materielle Reduktion. Außerdem heilen viele körperliche Wunden in gewissen Zeiträumen, auf der Seelenebene haben wir das nicht in der Hand. Selbst jemand Professionelles nicht wirklich.

 

Unsere verletzte Seele verlangt unsere Aufmerksamkeit, Zuwendung, Verstehen und Geduld, oft auch die Barmherzigkeit mit uns selbst und noch vieles mehr.

 

Alles Eigenschaften, die nicht mit Eile verbunden sind, sondern mit Beziehung, und zwar liebevoller, sprich wertschätzender Beziehung.

 

So mag manche Suche im Außen helfen, aber heilsam ist letztlich, wie wir mit uns selbst umgehen. Für so manchen ist das eine sehr große Herausforderung, und das umso mehr, je umfassender Betroffene komplexe und weitreichende Verletzungen erlebt haben.

Das existentiell wichtige Thema einer sicheren Bindung

Man mag zur Existenz eines Schöpfergottes stehen wie man will. Ich bin der Meinung, dass im Schöpfungsbericht in der Bibel das Thema einer sicheren Bindung an ein zuverlässiges „Wesen“, das es liebevoll mit mir meint, sehr treffend beschrieben wird.

 

Für uns Menschen ist eine sicher erlebte Bindung so ziemlich das A und das O, mal ungeachtet, an wen diese sichere Bindung erfolgt, ob an Eltern, ein Elternteil, Anverwandte oder eine dritte Person.

Was bewirkt solch ein Erleben? Das tiefe, im Innersten verankerte Wissen, ich bin gewollt, geliebt so wie ich bin, letztlich bedingungslos. Das heißt, jemand steht zu mir, selbst wenn ich Mist baue. Dass im christlichen Kontext das zwar theoretisch, real jedoch leider oft so nicht vermittelt wird, halte ich für geradezu tragisch. Denn genau das ist der Kern der biblischen Botschaft: geliebt zu sein als die, die wir sind.

Heranwachsende Kinder, die diese Grundbotschaft nicht oder ambivalent vermittelt bekommen, sprich: sie hören zwar entsprechende Worte, erleben aber anderes, werden in ihrem Inneren zunehmend verunsichert, oft ängstlich, manchmal auch depressiv oder aggressiv, sie entwickeln unter Umständen eine sogenannte Bindungsstörung. Im schlimmsten Fall haben diese Menschen auch als Erwachsene das Gefühl (nicht rational), sie wären verkehrt, es wäre für sie sinnlos, überhaupt zu existieren. Dabei entdecken sie oft eine Art Nische, über die sie wenigstens wahrgenommen werden. Sei es beispielsweise, dass sie gute Leistungen bringen, sich auffallend brav verhalten, lieb, nett sind, sich verstärkt um andere kümmern. Oder sie fallen auf durch Aggression und Schlimmeres, um wenigstens „gesehen“ und „gehört“ zu werden.

 

Aufgrund meiner langjährigen Praxis würde ich sagen, dass sich ein Großteil der verletzten Menschen im Thema „Bindung“ wiederfindet, zumindest ursächlich.

Zahlreiche Störungsbilder sind aus meiner Sicht wie unterschiedliche Gesichter ein und derselben Grundproblematik. Viele lassen ihr Innerstes aber an dieses Thema gar nicht heran, weil sie den damit verbundenen, existentiellen Schmerz zu sehr fürchten, und lenken sich lieber, mehr unbewusst als bewusst, durch Ersatz davon ab.

Dieser Ersatz kann sich auf vielfältige Art zeigen, leider durchaus auch durch Drogen und vergleichbare Suchtmittel. Aber auch eventuell durch Perfektionismus, einseitiges funktionieren und leisten, manchmal wie eine Maschine. Das überaus Frustrierende daran ist, dass all das den Schmerz nicht stillt, weil es ein Ersatz anstelle des Originals ist. Denn wir Menschen brauchen mindestens ein uns bedingungslos liebendes, annehmendes Gegenüber.

Spätestens in einer Partnerschaft, Ehe, meinen viele, das gesuchte Gegenüber zu finden. Welch eine Enttäuschung, denn die Wunde kann gar nicht vollständig von einer solchen Person geheilt werden. Deshalb, weil der verletzte Mensch unbewusst auf der Suche nach der ursprünglichen, sozusagen elterlichen Liebe und Annahme ist und diesen Mangel gestillt haben möchte. Das ist, zweifellos verständlich, für ein anderes Gegenüber, also zum Beispiel spätere/r Partner/in, meist eine Überforderung.

 

Was tun, wenn ich davon betroffen bin?

 

In den letzten Jahren ist man diesen Dingen immer mehr auf den Grund gekommen und hat entdeckt, dass für solche Menschen wie für uns alle besonders wichtig ist zu lernen, mit sich selbst gut umzugehen. Sozusagen liebevoll, annehmend, auch sich selbst barmherzig, verständnisvoll begegnend. Fachleute nennen das Selbstfürsorge und Achtsamkeit. Das heißt, ich hole mit und an mir selbst nach, was eigentlich die Verantwortung eines liebevollen Gegenübers gewesen wäre. Für Betroffene ist das nicht selten ein sehr herausfordernder, mühsamer Weg des Umlernens im Umgang mit sich selbst, zumal er leicht mit Egoismus verwechselt und daher verworfen wird. Aber es ist ein sich lohnender Weg. Hierüber gibt es inzwischen vielfältige Literatur.

Übrigens wird auch das in der Bibel beschrieben, sowohl im vollständigen(!) Gebot der Nächstenliebe und Selbstliebe (vergleiche Matthäusevangelium, Kapitel 22, Vers 39) als auch in dem Buch der Sprüche, Kapitel 11, Vers 17, was deutlich macht, dass nur der Mensch Gutes wirken kann, der fähig ist, mit sich selbst gut und barmherzig umzugehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783946914013
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Achtsamkeit Lebenshilfe Traumatisierung Seele

Autor

  • Friedlinde Eichhorn (Autor:in)

Dr. med. Friedlinde Eichhorn, Jahrgang 1949, Fachärztin der Chirurgie, bildete sich in Sozialmedizin sowie psychotherapeutischem Wissen und Traumatherapie weiter. Auf diesen therap. Gebieten ist sie seit gut zwei Jahrzehnten in eigener privatärztlicher Praxis tätig. Sie hat hierbei besonders Menschen im Blick, die sehr Verletzendes in Kindheit und Jugend erlebt haben sowie über alle Denominationen hinweg auch solche mit einer verletzten Gottesbeziehung.
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Titel: Schmetterling mit Narben