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Ella & Thanasis

von Ea Devlin White (Autor:in)
200 Seiten

Zusammenfassung

Nach 22 Ehejahren wird Ella von ihrem Ehemann ohne Hinweis auf seinen weiteren Verbleib verlassen. Wenig später verliert Ella auch noch ihren Job. Die Suche nach einer neuen Arbeit gestaltet sich für die 51-Jährige als Ding der Unmöglichkeit. Selbstbewusst gibt Ella nicht auf und sie findet eine Stelle als Buchungsmanagerin in einer exklusiven Ferienanlage auf Rhodos. Der verwitwete Eigentümer der Anlage gilt als beinharter und erbarmungsloser Geschäftsmann. Schon bei ihrer ersten Begegnung krachen Thanasis und Ella gewaltig zusammen. Abgeschlossener Roman mit sehr heißen Szenen zwischen Thanasis und Ella, einigen Hindernissen und einem Happy End.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

1. Auflage – Copyright © 2020 Ea Devlin White

eadevlinwhite@gmail.com

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Redaktion und Layoutgestaltung: editio historiae

Titelbild: pixabay

Alle Ereignisse und Charaktere sind frei erfunden. Sämtliche Ähnlichkeiten mit Personen, Handlungen und Vorkommnissen sind reiner Zufall.

1

Thanasis gelang kaum ein Nicken, als ihm sein Chauffeur Nektarios die Tür aufhielt. Er glitt auf die Rückbank seiner Limousine und lehnte sich mit einem Aufstöhnen zurück. Sein Kopf drohte gleich zu zerplatzen. Den ganzen Tag war er schon durch die Hölle gegangen. Der Streit mit Kyra hatte ihm den Rest gegeben und er kochte immer noch vor Wut. Er war aber nicht nur auf seine ehemalige Geliebte wütend, sondern auch auf sich selbst. Aus Bequemlichkeit hatte er die Dinge viel zu lang schleifen lassen. Er hätte die Beziehung schon längst beenden müssen, bevor die Situation derart katastrophal kippen konnte. „Ihre Tabletten, Herr Adrianakis. Pippa hat sie mir noch für Sie mitgegeben“, sagte Nektario leise und hielt seinem Arbeitgeber die Packung hin. „Danke, Nek.“ Thanasis nahm das erlösende Medikament ein und konnte nun nur mehr auf die rasche Wirkung hoffen. Aus Rücksicht auf seinen angeschlagenen Chef schloss Nek die Tür so leise wie möglich und setzte sich ans Steuer. Die digitale Anzeige der Uhr auf der Konsole sprang auf 1:49. Draußen war es stockdunkel und die Fahrt zum Flughafen würde ohne Hindernisse verlaufen. „Pippa hat veranlasst, dass der Privatjet in einer Stunde die Starterlaubnis für den Flug nach Rhodos erhält. Iason ist informiert und wird Sie abholen. Er weiß auch, dass Sie sofort in die Ferienanlage gebracht werden möchten. Dort ist man zehn Tage nach der Inbetriebnahme allerdings kaum auf Ihre Ankunft vorbereitet, Herr Adrianakis. Man erwartet Sie erst in zwei Wochen.“ „Genau deshalb will ich hin.“

Ella schlief schon seit Jahren in der Nacht kaum mehr als fünf Stunden und sie brauchte erst gar nicht auf den Wecker zu schauen, um zu wissen, dass es vier Uhr morgens war. Sie zog nur ein Top und ihren Trainingsanzug an, denn sie wollte bei Sonnenaufgang auf dem Strand laufen gehen. Anschließend schlüpfte sie in ihre Winterjacke. Ende Februar hatte es auf Rhodos in der Früh nur 10 Grad Celsius. Sie verließ ihre Unterkunft und genoss die Düfte der Insel. Der Geruch des Meeres, der Pflanzen und der Erde ergaben selbst im Winter eine einzigartige Mischung. Ella freute sich schon auf den Sommer, wenn alles grünte und blühte. Ihre Unterkunft lag mitten in der Anlage, in einem Untergeschoss unter den Ferienhäusern, die für zwei bis sechs Gäste Platz boten. Der gepflasterte Weg durch die Anlage war schwach beleuchtet und Ella steuerte auf den Empfangsbereich zu. Sie grüßte den Nachtportier mit einem Winken. Symeon war in die Übertragung eines australischen Hunderennens vertieft und nahm Ella kaum zur Kenntnis. Ihr Büro lag hinter dem Rezeptionsbereich. Von einem Korridor führten mehrere Türen zu den Arbeitsräumen der Verwaltungszentrale von Adrianas Paradise. Vor acht Tagen hatte Ella mit dem Beantworten von Kundenanfragen begonnen. Sie war immer noch überrascht, wie viele Superreiche, die sich nach Sonne, Sand und Meer sehnten, Rhodos besuchen wollten. Es gab haufenweise Buchungsanfragen, die Ella erst koordinieren musste. Die Anlage hatte rund 30 Unterkünfte. Jede war ein voll funktionstüchtiges Haus. Das Essen wurde von eigenen Servierkräften gebracht und aufgetragen. Eine gemeinsame Ausspeisung wäre zu gewöhnlich gewesen und lag weit unter dem Niveau, das Athanasios Adrianakis anstrebte. Die Gäste trafen nur im exklusiven Restaurant, am riesigen Poolbereich mit den gewaltigen Kinderrutschen oder am Strand aufeinander, wenn sie es wünschten. Ansonsten hatte der Eigentümer jedes Haus in der Anlage so bauen lassen, dass es über einen privaten Garten mit Pool verfügte. Ella drehte das Licht und den Computer auf. Während das System hochfuhr, ging sie ihre Notizen und Übersichten, die auf ihrem Schreibtisch lagen, noch einmal durch. Sie beschriftete eine weitere Haftnotiz, stand auf und ging zum großen Plan der Ferienanlage, den sie am ersten Tag auf mehrere Flipchart-Papiere gezeichnet und mit der Hilfe eines Haustechnikers auf die Wand gehängt hatte. Ella klebte die Notiz auf die Villa, auf die sich die Anfrage bezog. Zum Glück überschnitt sich dieses Mal nichts. Mit einem skeptischen Blick schaute sie zu einem Haus in der Nähe des Poolbereichs, bei dem sich sechs Zettel um einen Platz für die erste Augustwoche rauften.

Wie aus dem Nichts stürzten die Erinnerungen an die vergangenen Jahre auf Ella ein. Lorenzos entrücktes Gesicht, während er ihr erklärt hatte, dass seine Zeit nun endgültig gekommen wäre, um in das Land seiner Träume auszuwandern. Ella hatte seine Wandlung zum Anhänger der Hindu-Religion, das tägliche Yogaprogramm und die stundenlange Meditation schon jahrelang hinnehmen müssen. Lorenzo hatte sich den gewöhnlichen Pflichten eines Familienvaters immer entzogen. In der Anfangszeit ihrer Ehe hatte er mit dem Hinweis auf die Sprachbarriere in Österreich die Karenzzeit mit Stefania übernommen, doch auch, nachdem er Deutsch gelernt hatte, hatte er tausend andere Gründe gefunden, um nie den Anschluss an ein geregeltes Arbeitsleben zu finden. Seine Befindlichkeiten, Intoleranzen und der ständige Hader mit seiner angeblich schweren Kindheit waren die Basis für eine andauernde Konzentration auf sich selbst gewesen. Zum Schluss war er immer verschrobener geworden. Ella hatte ihr Leben lang gearbeitet, war für Stefania da gewesen und hatte aus beruflichen Gründen und Interesse laufend Sprachen gelernt. Aufgrund von Lorenzos schwieriger Ernährungssituation hatte sie sich auch mit diesem Thema beschäftigt. Da Ella ein eidetisches Gedächtnis hatte, war ihr das Lernen nie schwergefallen. Sie hatte neben ihrer Arbeit in der Rezeption eines Luxushotels ein kleines Fernstudium für Lebensmittelmanagement und Ernährung abgeschlossen. Vor drei Jahren hatte sie dann zu einer Stelle in einem Fachgeschäft für alternative Ernährungsformen gewechselt. Mit dem Ausbruch einer weltweiten Wirtschafts- und Bankenkrise waren die Umsätze aber dramatisch eingebrochen. Statt Ellas Stunden herunterzusetzen, wollte die Besitzerin den reduzierten Betrieb alleine bewältigen. Ella war von einem Tag auf den anderen ohne Job dagesessen. Nach der Krise wollten so viele Arbeitslose wieder eine Stelle finden, dass Ellas Alter und ihre angebliche Überqualifikation zu Mühlsteinen um ihren Hals wurden. Gleich nach Stefanias Studienabschluss hatte Ella daher damit begonnen, sich auch im Ausland um offene Stellen umzusehen. Sie verschwieg ihre Zusatzausbildung und konnte nach vielen Anläufen bei einer internationalen Jobagentur mit ihren Sprachkenntnissen punkten.

Der altersschwache Computer war endlich zum Leben erwacht und Ella setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie ging ihre Auflistung der Sonderwünsche durch, die die Gäste oder deren dienstbare Geister den Buchungen beigefügt hatten. Da viele Extrawürste deckungsgleich waren, war Ella die Idee gekommen, konkrete Zusatzpakete zusammenzustellen. Sie wollte es dann dem Clubmanager überlassen, ob solche Sachen wie neues Sandspielzeug im Hello-Kitty-Design automatisch bei einer Buchung von Eltern mit einer Tochter ins Haus gebracht wurden oder gegen einen Aufpreis bestellt werden konnten. Symeon tauchte im Türrahmen auf. „Ich mache meine Runde“, sagte er auf Griechisch. Nach zwei Monaten Sprachkurs in Athen verstand Ella ein wenig von seinem Genuschel und nickte. Sie wollte vor dem Sonnenaufgang noch zwei Stunden arbeiten und vertiefte sich sofort wieder in ihre Listen.

„Τι είναι αυτό?“, donnerte es plötzlich in den Raum. Ella zuckte vor Schreck zusammen. Sie fuhr hoch und erstarrte. Sie kannte ihren Chef schon von einem Foto aus einer Broschüre über den Konzern. Nun stand Athanasios Adrianakis im Türrahmen und sah aus, als würde er gleich wie eine Ladung Dynamit hochgehen. „Was meinen Sie?“ Ella war so verwirrt, dass sie auf Deutsch antwortete. „Wieso sitzen Sie hier an diesem Arbeitsplatz, bekleidet mit Etwas, das maximal als Schlafanzug durchgehen kann?“, gab Adrianakis in fließendem Deutsch zurück. Ella biss sich kurz auf die Lippen. „Arbeiten. Um fünf Uhr in der Früh. Bisher kein Mensch weit und breit. Woher können Sie so gut Deutsch?“, gewann Ellas Neugier sofort die Oberhand. „Meine Mutter war eine Deutsche“, brummte Adrianakis. Er trat einen Schritt zurück und schaute auf das Schild neben dem Büroeingang. „Sind Sie Ella del Rocco?“ Ella nickte. „Und wieso sprechen SIE Deutsch?“ „Ich bin aus Österreich. Mein Mann ist Italiener.“ „Wie es scheint, verstehen Sie Griechisch aber auch.“ „Was ist das? Das war keine große Herausforderung. Eine freundliche Begrüßung und Vorstellung Ihrerseits hätte ich mich in größere Schwierigkeiten gebracht“, wies Ella ihn wenig unverblümt auf seine Unhöflichkeit hin. Um Thanasis‘ Mundwinkel zuckte es. Der Mann konnte nicht nur finster dreinschauen? „Athanasios Adrianakis“, brummte er. Ella deutete einen Knicks an. „Ella del Rocco. Sehr erfreut.“ „Sind Sie bei unseren Gästen auch so vorwitzig?“ „Nein, nur wenn ich um fünf Uhr in der Früh angebrüllt und für eine völlige Unwichtigkeit zusammengestaucht werde. Bald geht die Sonne auf und ich gehe jeden Morgen an den Strand. Die ersten Gäste werden übrigens erst in sechs Wochen zu den Osterferien eintreffen.“ Da Thanasis Ella eine Weile schweigend musterte, nahm sich Ella das gleiche Recht heraus. Athanasios Adrianakis war eine Naturgewalt. Durch und durch ein Alphatier. Er dominierte seine Umgebung allein schon durch seine Körpergröße. In jungen Jahren war er mit Sicherheit einer von diesen supersportlichen fotomodelltauglichen Typen gewesen. Nun hatte er mindestens zwanzig Kilo zu viel oben, die aber irgendwie bestens im perfekt sitzenden Maßanzug untergebracht waren. Seine grauen Haare waren immer noch dicht und machten den Eindruck, als hätte Adrianakis am Vortag noch beim besten Herrenfriseur Italiens vorbeigeschaut. Seine Lider wirkten schwer und er hatte dunkle Ringe unter seinen braunen Augen. Ella vermutete, dass der Mann in dieser Nacht noch keine Minute geschlafen hatte und bis in die Knochen müde war, obwohl sein energisches Kinn und sein harter Mund eine unverkennbare Virilität und ständige Kampfbereitschaft ausstrahlten.

Thanasis konnte Frauen in Trainingskleidung prinzipiell nichts abgewinnen, doch diese Ella war zweifellos apart. Sie hatte brünette, vermutlich längere Haare, die sie zu einem nachlässigen Knoten hochgedreht hatte. Ihr Gesicht war rund-oval und faltenfrei. Ihre dunkelbraunen Augen funkelten herausfordernd. Auf ihrer geraden Nase hatte sie ein paar Sommersprossen. Über ihren Mund konnte sich Thanasis kein Urteil fällen, denn sie hielt ihn in einer ärgerlichen Linie zusammengepresst. Da sie nicht den Eindruck vermittelte, dass Starchirurgen in ihrem Leben eine besondere Rolle spielten, schätze er sie auf Mitte bis Ende dreißig. Er weigerte sich zur Kenntnis zu nehmen, ob Ella unter diesem unsäglichen Outfit gut gebaut war oder nicht. Zu seinem eigenen Erstaunen merkte er, dass er trotzdem körperlich auf sie reagierte. „Wo ist Ihr Mann?“, platzte er plötzlich heraus. „Er fiebert irgendwo in Indien als Möchtegern-Guru seiner endgültigen Erleuchtung entgegen. Ich habe seit mehreren Jahren nichts mehr von ihm gehört. Und, wo ist Ihre Frau?“ „Das geht Sie überhaupt nichts an!“, brüllte er Ella wieder an und an seiner Stirn traten mindestens zwei Zornesadern hervor. „Aha“, gab Ella ungerührt zurück. „Was sollte dann Ihre Frage? Die Existenz oder Nicht-Existenz meines Mannes hat wohl kaum etwas mit meiner Kompetenz zu tun, die aufgelaufenen 1.367 Mails in Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch sowie Russisch zu beantworten, um die Buchungen für den Sommer zu organisieren.“ Aufgebracht zeigte Ella auf den Anlagenplan und sah ihren Arbeitgeber mindestens so finster an wie er sie.

„Sie ist vor neun Jahren gestorben und wagen Sie es nicht, mir Ihr Beileid auszudrücken. Daran habe ich kein Interesse.“ Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, schoss es Ella durch den Kopf. Sie unterdrückte ihren Impuls, diese Worte auch zu sagen. Diese arme Frau, dachte sie. „1.367 Mails?“, fragte Adrianakis unerwartet. „Ja.“ Sein Blick wanderte zu Ellas Werk. „Was machen Sie da? Können Sie das Buchungssystem nicht bedienen?“, schnauzte er sie weiter an. Himmel! Dieser Mann ist ja eine wandelnde Landplage, dachte Ella empört. „Ich kann das Buchungssystem bedienen, Herr Adrianakis.“ Sie tippte auf die Villa mit den vielen Haftnotizen. „Es hilft mir aber keinen Schritt weiter, eine Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Es berücksichtigt nicht, ob Ihre Stammkunden schon das sechste Mal in Folge dasselbe Haus buchen möchten. Es sagt mir auch nicht, dass ich bei Überschneidungen die Nachbarvilla, die noch frei ist, anbieten könnte. Und, da dieser Computer ein naher Verwandter des Commodore 64 ist, stürzt er zu den unmöglichsten Gelegenheiten ab.“ Ihre Augen schossen Blitze. „Von den häufigen Stromausfällen ganz zu schweigen.“

„Die Hauptleitung zur Anlage wird gerade erneuert.“ „Das weiß ich. Ich gehe jeden zweiten Tag zu Fuß an der Baustelle vorbei. Dabei bringe ich an dieser Stelle meine Zweifel zum Ausdruck, dass das Projekt in wenigen Wochen abgeschlossen sein wird. Vielleicht möchten Sie Ihren gerechten Zorn einmal über dem Haupt des Bauleiters ausgießen anstatt über meinem.“ Thanasis merkte, dass eine Schmerztablette offenbar nicht genügte. Er fuhr sich über die Stirn und massierte seine Nasenwurzel. „Was haben Sie gestern zu Abend gegessen?“, fragte Ella ihn plötzlich. „Meeresfrüchte, Salat mit Oliven und Brot.“ „Und getrunken?“ „Weißwein …“ „Bevor Sie mich jetzt wieder anbrüllen, dass mich das alles nichts angeht – ich erkenne die Anzeichen von Histaminintoleranz. Wenn Sie bei Ihrer Ernährung darauf achten, kriegen Sie die Kopfschmerzen in den Griff.“ Ohne es zu wissen, hatte Ella einen extrem wunden Punkt bei Thanasis erwischt. Seine Ehefrau Roxani hatte ihn mit ihrem Schlankheits- und Diätwahn an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit gebracht. Ständig hatte sie sich mit der Auswirkung verschiedener Lebensmittel auf ihre Figur auseinandergesetzt, Zutaten auf einer Apothekerwaage gewogen und Fett in jeder Form verteufelt. Viele Jahre war auch sein eigenes Gewicht ein ewiges Streitthema gewesen. Zum Schluss war er ihr immer mehr aus dem Weg gegangen und war auch nicht bei ihr gewesen, als sie einen schweren Magendurchbruch erlitten hatte. Der andauernde Überschuss an Magensäure und schwere psychische Probleme hatten zu mehreren Magenkarzinomen geführt. Ihr mangelernährter Körper war dem Eingriff nicht gewachsen gewesen und sie war nach der Operation nicht wieder aufgewacht. Thanasis schloss die Augen und versuchte seinen Puls durch ruhiges Atmen wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Sie sprechen fünf Sprachen?“, lenkte er das Gesprächsthema vom drohenden Vulkanausbruch ab. „Sechs, aber in Tschechisch waren keine Anfragen dabei.“ „Sind Sie irgendwie besonders begabt?“ „Nein, einmal wurde mir gesagt, ich hätte ein eidetisches Gedächtnis. Soll heißen, ich merke mir alles, das ich einmal lese oder sehe. Das ist nicht immer ein Vorteil, denn ich speichere auch viel entbehrliches Wissen ab.“ „So etwas wie die Histaminwerte von Meeresfrüchten und Weißwein?“, verwies Thanasis seine Angestellte auf ihren Platz. „Ja, ganz genau“, gab Ella zurück, ging um ihren Schreibtisch herum, quetschte sich an ihm vorbei und verließ das Büro.

Mit einer irren Wut im Bauch rannte Ella fast in Richtung Strand, obwohl es noch immer dunkel war. „Ich brauche den Job, ich brauche den Job, ich brauche das Zimmer, ich brauche das Zimmer, ich werde mit ihm fertig, ich werde mit ihm fertig“, sagte sie sich mantramäßig vor. Abrupt blieb sie stehen und machte ihrem Ärger laut Luft. „So ein arroganter Mistkerl!“, entfuhr es ihr. Ich hätte auf die Personalvermittlerin hören sollen, haderte Ella mit sich, denn sie war ausdrücklich vor dem etwas schwierigen Arbeitgeber gewarnt worden. In Gedanken sah sie sich schon ihren Koffer und ihren Rucksack packen. Doch, wohin sollte sie? Ella hatte die Familienwohnung vor ihrer Abreise ganz bewusst Stefania überlassen. Die vier Wände waren das einzige Erbe, das ihre Tochter zu erwarten hatte und sie war dabei, ihr Leben aufzubauen. Lorenzo hatte seinem Besitz schon vor Jahren entsagt und diese Ansicht war eine der wenigen Dinge, die Ella mit ihm teilte. In der zweiten Lebenshälfte sollte man definitiv reduzieren und nicht akkumulieren. Die Erinnerungen an das gemeinsame Familienleben waren an Stefania gegangen. Ella hatte sich von allem, was nicht in ihr aktuelles Gepäck passte, getrennt. Ihren heißgeliebten Lesestoff bezog sie nun über eine Online-Plattform. Da jedes bessere Hotel eine Arbeitsuniform ausgab, brauchte Ella nur mehr etwas Freizeitkleidung, ein paar Teile für elegante Anlässe und eine Unterkunft. Ende der Fahnenstange. Dann fuhr es ihr eiskalt in die Glieder. Das Haus des Besitzers war noch nicht fertig hergerichtet.

Trotz seiner Kopfschmerzen sah sich Thanasis die Aufzeichnungen seiner Buchungsmanagerin an. Dutzende akribisch geführte Listen lagen auf dem Schreibtisch. Hat diese Frau etwa eine Schwäche für Kalligrafie?, fragte er sich und konnte nicht verhindern, dass er ihre schöne Handschrift bewunderte. Und der Inhalt? Ja, der passte auch. Er begriff sofort, was sie sich gedacht hatte. Da er sowieso nicht schlafen konnte, setzte er sich und fischte seinen Füllhalter von Caran d’Ache aus der Sakkoinnentasche. Mit seiner Unterschrift segnete er die Zusatzpakete ab und schrieb dazu, bei welchen Posten für die Gäste keine Extrakosten anfallen sollten. Sandspielzeug und Extraküchenausstattung für die Versorgung von Säuglingen waren auf jeden Fall dabei, wenn eine Familie ihren Urlaub im Adrianas Paradise verbringen wollte. Für den täglichen Masseur ins Haus, exklusiven Champagner und Spielkonsolen für Computerspiele auf dem Fernseher sollten die Gäste aufzahlen. Thanasis zog Ellas Überlegungen zum Personal zu sich. Er gab sein Okay zur Einstellung von Kinderbetreuern, die der russischen Sprache mächtig waren. Mit einem Hinweis auf die Zustände, die in der Türkei herrschten, setzte er aber eine Buchungsquote von maximal 20 % von Gästen russischer Herkunft fest. Dann zog Thanasis Ellas Notizen für den F&B-Bereich zu sich. Sie hatte eine Fülle von Lebensmitteln notiert, die für die Versorgung von Gästen mit verschiedenen Ernährungsbedürfnissen bereitstehen sollten. Außerdem machte sie Vorschläge, das vegane Angebot auszuweiten. Das inkludierte eine barristataugliche Sojamilch für den morgendlichen Cappuccino. Verwundert las er Ellas Hinweis auf die Fleisch- und Fischlastigkeit der Hauptspeisen. Was passte ihr an der griechischen Küche nicht? Es gab kaum ein Gericht ohne haufenweise Gemüse. Thanasis hatte sich noch nie Gedanken über vegane Ernährung gemacht. Wenn er nun Fleisch, Fisch, Milchprodukte und Eier aus den griechischen Speisen wegrechnete, blieb tatsächlich wenig übrig. Er konnte sich gut vorstellen, dass er seinen veganen Gästen viel Frust bei der Bestellung ihrer Mahlzeiten ersparen konnte, wenn es von vornherein ein solides Angebot gab. Er setzte daher sein Okay auch auf diese Liste. Thanasis warf einen Blick auf die anderen Aufzeichnungen. Bettwäsche, Poolbereich, Kinderclub, Restaurant – seine Angestellte war offensichtlich die ganze Anlage aus dem Blickwinkel der Gäste durchgegangen. Wie viele Stunden hatte diese Frau schon hier gesessen? Sie arbeitete doch erst acht Tage für ihn. Er merkte, dass ihn nun doch eine bleierne Müdigkeit befiel. Thanasis machte das Licht aus und ging am Nachtportier vorbei, der auf einen kleinen Monitor starrte und überhaupt keine Notiz von seinem Arbeitgeber nahm. Da sein Kopf wieder zu platzen drohte, war Thanasis die Lust vergangen, noch einmal loszubrüllen.

Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich am Horizont. Thanasis fragte sich doch tatsächlich, ob seine vorlaute Angestellte gerade ihre Zehen in den kalten Sand grub. Er schlenderte zu seiner Villa, die etwas abseits lag und wunderte sich, dass das Licht brannte. Er kam durch den großen Wohnbereich in die Küche. Auf der Kücheninsel stand eine Kanne Tee, die das feine Aroma von Pfefferminze verströmte. Aus dem hinteren Schlafzimmer kamen Geräusche. Er stellte sich in den Türrahmen und erkannte nur am Trainingsanzug, dass die Buchungsmanagerin gerade sein Bett bezog. Ihre Kapuzenjacke hing über seinem Schreibtischsessel. Nun musste er feststellen, dass sie ein sehr weibliches Hinterteil hatte und insgesamt alles andere als fragil gebaut war. Irgendwie dürfte sie aber auch ziemlich in Form sein, denn als sie den Überzug über die riesige Daunendecke schüttelte, schien sie das keine Anstrengung zu kosten. „Wieso glauben Sie eigentlich zu wissen, dass es keine einfache Migräne ist?“, fragte er, ohne seine Anwesenheit anzukündigen. Ella schien diesmal nicht zu erschrecken und sah ihn nur flüchtig an. Dann strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schüttelte sein Bett fertig auf. Sie dürfte tatsächlich schon einige Jahre im Tourismus arbeiten, denn das Bett war tadellos gemacht. „Punkt eins: Es gibt keine einfache Migräne. Jede Form hat ihre eigenen Ursachen. Punkt zwei: Sie haben nicht nur die Kopfschmerzen. Punkt drei: Die griechische Küche hält viele hübsche Dinge bereit, die jedem Menschen auf Dauer zusetzen können. Ich habe Ihnen einen Pfefferminztee gemacht. Trinken Sie ihn in kleinen Schlucken und versuchen Sie zu schlafen. Ich kümmere mich darum, dass Ihr Haus am Nachmittag komplett auf Vordermann gebracht wird. Ich habe die Klimaanlage auf achtzehn Grad eingestellt. Es sollte im Haus bald etwas wärmer werden. Ich hoffe, es passt für Sie.“ Ella nahm ihre Jacke und schlüpfte hinein. Dabei drückte sich ihre Oberweite durch das Top. Thanasis unterdrückte ein Stöhnen. Ja, die Frau hatte äußerst weibliche Attribute.

2

Am frühen Nachmittag kam Thanasis von einem Strandspaziergang zurück. Er hatte seinen Anzug gegen Jeans, Hemd und einen Wollpullover getauscht. Einem spontanen Einfall folgend ging er durch den riesigen Küchenbereich. Da noch niemand zu verköstigen war, war alles verlassen. Aus der Personalküche hörte er Geschirr klappern. Ella stand am Herd. Sie trug den grauen Rock ihrer Arbeitsuniform und die vorgeschriebene blitzblaue Bluse. Der dunkelblaue Blazer hing über einem Küchensessel. Thanasis warf einen Blick auf ihre hübschen Beine. „Γεια σας“, begrüßte er sie zum ersten Mal. Ella drehte sich um und schenkte ihm ein Lächeln, das seine Knie weich werden ließ. Nun konnte er sich ein Urteil bilden – sie hatte einen zauberhaften Mund. „Hallo. Sie sehen viel besser aus. Haben Sie schlafen können?“ „Ja, fast acht Stunden. Hier schlafe ich immer gut, trotzdem danke für den Tee und das frisch gemachte Bett“, brummte er. Ella hatte eine Schürze umgebunden und bückte sich kurz zum Backrohr. Dabei drückte sich ihr Hinterteil an den Rockstoff. Thanasis fuhr das Blut in die Lenden. Himmel! Was sollte denn das jetzt? Er hatte doch erst am Vortag mit seiner Geliebten Sex gehabt. Kyra hatte alles, was er sich von einer Frau aus seinen Kreisen erwartete. Sie war schlank, hatte an den richtigen Stellen die richtigen Rundungen, auch wenn der Chirurg nachgeholfen hatte, und war von Kopf bis Fuß top gestylt. Ella würde einem direkten Vergleich nie standhalten. Wie immer war der Sex mit Kyra gut gewesen. Die Situation war erst nachher gekippt, als Kyra ziemlich eindeutige Bemerkungen über eine gemeinsame Zukunft gemacht hatte. Damit hatte sie gefährliches Terrain betreten. Thanasis wollte sich nicht mehr an eine Frau, die ständig Forderungen hatte, binden. Diese Situation hatte er dreißig Jahre lang gehabt. Der neueste Artikel über die angebliche Verlobung in der Klatschzeitschrift Espresso hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach einem Riesenstreit hatte er mit Kyra Schluss gemacht und die Hotelsuite wütend verlassen. Eine Stunde später hatte er sich nach Rhodos fliegen lassen.

Nach wie vor verärgert über seine Ex-Freundin schüttelte Thanasis den Kopf und sah, was Ella auf den Tisch stellte. „Das wollen Sie alles essen?“, fuhr er sie unhöflich an und warf einen prüfenden Blick auf ihre Figur. Zu seinem Erstaunen hatte sie aber einen flachen Bauch. „Ja, das werde ich alles essen, weil ich bisher nur gefrühstückt habe und dann in den nächsten sechzehn Stunden nichts mehr zu mir nehme. Ich habe übrigens gebratenes Huhn mit Polenta und gedünsteten Zucchini gemacht. Das wäre auch etwas für Sie, Herr Adrianakis. Sie sind herzlich eingeladen.“ Ella überging seine erneute Beleidigung komplett und stellte einen zweiten Teller auf den Tisch. Thanasis setzte sich, weil die Alternative nur eine Fahrt in den Nachbarort gewesen wäre, und grummelte: „Thanasis, nennen Sie mich Thanasis. Und ich darf bitte Ella zu Ihnen sagen.“ „Bisher sind Sie ja nicht gerade über Frau del Rocco gestolpert“, gab sie zurück. „Aber, wenn es Sie glücklich macht“, setzte sie hinzu. Sie gab ihm ein Stück Fleisch, eine Portion Polenta und schaufelte Zucchini dazu. „Ich habe nur ein stilles Wasser hier. Möchten Sie etwas trinken?“ Er wirkte etwas unglücklich, aber nickte dann. „Wie kommen Sie eigentlich zu Polenta?“ „Ich habe ein paar Sachen aus Athen mitgebracht. In der Nähe des Benaki-Museums gibt es die Drogerie Vassiliki. Dort bekommt man alternative Ernährungsmittel zu Apothekerpreisen. Bei dieser Kette, dem Bazaar-Supermarkt, gab es nur einige wenige Lebensmittel für Mensch mit Zöliakie. Wussten Sie, dass in Griechenland ein Mehl mit dem Namen Robin Hood verkauft wird? Mit dem Antlitz von Erol Flynn – sehr schick. Ich war schon sehr versucht, eine Packung zu kaufen, damit ich ihn weiter anhimmeln kann. Wo der Zusammenhang zwischen ihm und Mehl ist, muss sich mir erst aber noch erschließen. Und, was ich alles auf Rhodos bekommen kann, werde ich noch herausfinden.“ Thanasis hatte Ella amüsiert zugehört und stutzte, weil Ella ihn nachdenklich, aber auch verschmitzt betrachtete. „Was?“ „Sie haben übrigens etwas Ähnlichkeit mit Erol Flynn.“ „Ich hoffe, Sie meinen nur die Äußerlichkeiten“, antwortete Thanasis unangenehm berührt. Ella nickte und riss dann die Augen auf. „Äh, ja, natürlich. Ich kenne Sie ja kaum, um mir ein anderes Urteil zu erlauben.“ Spielte er etwa auf seine ganzen Frauengeschichten an?, schoss es Ella durch den Kopf. Da gäbe es allerdings etliche Parallelen zu dem berühmten Schauspieler. Wieder einmal musste sie mit ihrem flinken Mundwerk hadern. Peinlich berührt schaute sie auf ihren leeren Teller. „Wieso kennen Sie sich mit Ernährung aus?“, lenkte Thanasis von diesem unseligen Thema ab. „Zuerst stellte mein Mann jahrelang eine ziemliche Herausforderung dar. Er hatte unter anderem eine Nicht-Zöliakie-nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität. Ja, das gibt es wirklich und dann habe ich etwas in der Richtung studiert.“ „Und warum schreiben Sie dann hier Listen mit eigenartigen Gästewünschen?“, fragte Thanasis ehrlich erstaunt. Ella hatte sich auch etwas zu essen genommen. „Guten Appetit“, sagte sie und aß erst einen Bissen. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Ich habe früher in einer Rezeption gearbeitet. Die Umorientierung kam erst vor ein paar Jahren. Während der Krise verlor ich meinen Job und fand viele Monate keine neue Stelle. Vermutlich war mein Alter das Problem.“ „Ihr Alter? Sie sind mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger als ich.“ „Da Sie vermutlich um die sechzig sind, stimmt das wohl kaum.“ „Neunundfünfzig.“ „Gut, dann rechnen Sie bitte nur acht Jahre weg.“ „Sie sind einundfünfzig?“ Thanasis starrte Ella mit offenem Mund an. „Ja, und ich weiß. Keine Falten, keine grauen Haare, und, und, und. Das sind die guten Gene meiner Familie, aber dafür bin ich auch mit anderen Dingen reich beschenkt worden.“ Sein Blick war ihr vorhin nicht entgangen und etwas verletzt war sie doch. Dabei wusste Ella ganz genau, mit welchem Typ Frau er sich umgab. In Athen hatte es genügend Zeitschriften gegeben, die sich sehr für Athanasios Adrianakis und sein Privatleben interessiert hatten. Da sie die dazugehörigen Artikel noch nicht lesen konnte, hatte sie angenommen, die dauerpräsente blonde Laufstegschönheit an seiner Seite wäre seine perfekte Frau.

„Was meinten Sie, als Sie sagten, ich hätte nicht nur die Kopfschmerzen?“, wechselte er plötzlich das Thema. „Sie haben eine ganz spezielle Art von dunklen Ringen unter den Augen.“ Ella hob ihre Hand und strich ihm sanft über die Wangenknochen. „Sie haben diese roten Flecken und Sie sind … sehr übellaunig.“ Thanasis erstarrte. Schuldbewusst zog Ella ihre Hand zurück. „Entschuldigen Sie bitte“, murmelte sie und begann damit, in ihrem Essen herumzustochern. Seine Anwesenheit verdarb ihr den Appetit. „Hören Sie bitte damit auf, Ella!“ „Wa … womit denn?“ „Mit dem Rumgeschiebe auf Ihrem Teller. Sie sind die erste Frau seit Jahren, die ich ordentlich essen sehe. Sonst darf ich immer nur dabei zuschauen, wie das kleinste Salatblatt noch einmal filetiert wird“, grummelte er. Unwillkürlich musste Ella lächeln. Doch nicht alles so perfekt? Wenn er nicht so einen traurigen Ausdruck in den Augen gehabt hätte, hätte sie ihm sein schreckliches Schicksal von Herzen gegönnt. Sie sah keinen Grund, ihre Meinung über ihn zu ändern. Er war ein arroganter Mistkerl.

„Würden Sie mir noch etwas über sich erzählen?“, fragte Thanasis in das ungemütliche Schweigen hinein. „Nein“, gab Ella zurück. „Erzählen Sie mir etwas über Adrianas Paradise. Sie haben ein tolles Projekt aus dem Boden gestampft.“ „Vor neun Jahren stand ein heruntergekommener Ferienclub zum Verkauf. Mein Sohn kaufte ihn anlässlich seines 30. Geburtstags und wollte das Areal als privates Feriendomizil ausbauen. Dann allerdings starb meine Frau. Ich überschrieb meinem Sohn unsere Insel und er gab mir den Ferienclub.“ „Ihre Familie hat eine eigene Insel?“, fragte Ella wider besseres Wissen nach. „Ja, das kommt in unseren Kreisen häufiger vor.“ Ella rechnete nach. „Sie sind sehr früh Vater geworden“, platzte es aus ihr heraus. „Ja, mit zwanzig.“ Ob dieser Schritt ganz freiwillig gewesen war? „Ich kann Ihre sämtlichen Zahnräder drehen hören“, brummte Thanasis. „Ja, es war nicht geplant. Ja, ich war schon damals nicht ganz arm. Ja, Roxani hat mich mit Absicht auserkoren. Ja, ich bin glücklich über meinen Sohn und meine Tochter. Nein, es war keine gute Ehe. Habe ich irgendetwas ausgelassen?“ „Warum war es keine gute Ehe?“ „Ich konnte mich in ihrer Nähe nie entspannen.“ „Das Gefühl kenne ich“, murmelte Ella und wirkte bedrückt. Sie hatte fertig gegessen und trug beide Teller zur Spüle. „Von meiner Nachspeise biete ich Ihnen nichts an. Das ist nichts für Sie.“ Sie holte eine Schüssel mit geschnittenen Orangen- und Kiwistücken aus dem Kühlschrank. „Ich soll auch kein Obst essen?“ Ella schüttelte den Kopf. „Nein, nur ein paar Sachen nicht, die zu den Liberatoren zählen.“ Thanasis sah sie an, als hätte sie Chinesisch gesprochen. „Vergessen Sie’s“, seufzte sie und holte zwei Gabeln aus der Bestecklade.

„Ella!“ Der F&B-Manager klang eindeutig verärgert. Vom ersten Tag an hatte Dirk Putzer klargestellt, dass sie als die Buchungsmanagerin weit unter ihm stand. Zusätzlich wusste der aus Hannover stammende Deutsche nicht einmal, wie man die Worte Freundlichkeit oder Humor buchstabierte. Ella drehte sich zu ihm um. Dirk baute sich vor dem Türstock auf und kam nicht in die Personalküche herein. Dadurch übersah er, dass Ella nicht wie an den vergangenen Nachmittagen allein war. „Ich habe dein seitenlanges Mail erhalten. Und ich werde nicht zulassen, dass du mir in meine Arbeit reinredest. Was soll dieser Quatsch mit dem veganen Zusatzpaket? In wenigen Wochen werden hier mehr als zwanzig Köche stehen, die jedes Gericht wunschgerecht zubereiten können.“ Seelenruhig legte Ella die Gabeln ab. „Es lag überhaupt nicht in meiner Absicht, dir in die Arbeit dreinzureden, Dirk. Ich habe nur die Kundenwünsche der bisher bearbeiteten Anfragen zusammengeschrieben und die Sache etwas erweitert.“ „Dann lasse diese Erweiterungen zukünftig sein. Du kannst nur Erfahrungen als Rezeptionistin vorweisen. Schielst du etwa auf den F&B-Bereich?“, fragte Dirk schneidend. „Nein, das tue ich nicht. Dort wäre ich mit meinen Sprachkenntnissen wohl fehl am Platz“, landete Ella einen Seitenhieb auf die Tatsache, dass Dirk neben Deutsch nur Englisch konnte. „Überheblichkeit steht dir nicht, Ella. Das können sich nur schlanke und gutaussehende Frauen leisten. Es wundert mich keine Sekunde, dass dein Mann davongerannt ist.“ So plötzlich, wie er aufgetaucht war, war Dirk wieder verschwunden.

Schweigend nahm Ella wieder die Gabeln auf und legte sie neben die Obstschale. Dabei mied sie jeden Blickkontakt mit Thanasis. „Sie sind sauer auf mich“, stellte Thanasis fest. Ella sah ihm nun fest in die Augen. „Ich kann Sie nicht ausstehen. Und, ja, ich bin zusätzlich sauer auf Sie.“ „Weil ich nicht für Sie eingestanden bin.“ Ella nahm eine Gabel und spießte ein Kiwistück heftig auf. Thanasis musste nicht viel Fantasie aufbringen, um zu ahnen, dass sie am liebsten ihn aufgespießt hätte. „Punkt eins, meine Teure: Sie kommen sehr gut alleine zurecht. Punkt zwei: Ich wollte uns die Peinlichkeit ersparen, dass Herr Putzer annehmen könnte, wir würden uns mehr als nur den Obstsalat teilen. Punkt drei: Ich werde ihn mir später vornehmen, denn ich werde sein Benehmen nicht dulden. Ihre Ideen sind top und Sie haben zweifellos gesehen, dass ich in Ihrem Büro bereits alles abgesegnet habe.“ „Ich glaube nicht, dass jemand, der uns zusammen sieht, je zu diesem Schluss kommen könnte“, murmelte Ella und schluckte sämtliche Beleidigungen tapfer hinunter. „Erzählen Sie eigentlich jedem, dass Ihr Mann über den halben Erdball vor Ihnen geflohen ist?“, fragte Thanasis ärgerlich. Ellas Kopf fuhr hoch und sie funkelte ihn wütend an. „Sie waren bisher der Einzige, der so freundlich war, sich nach dem Verbleib meines Mannes zu erkundigen. Ich habe es Dirk nicht erzählt. Er weiß es wahrscheinlich von meinem Lebenslauf. Dort steht bei Familienstatus getrennt lebend.“ Ella lief rot an. „Die Beraterin der Vermittlungsagentur riet mir dazu, damit ich meine Chancen auf dem internationalen Arbeitsmarkt erhöhen konnte. Zukünftigen Arbeitgebern sollte klargemacht werden, dass ich flexibel sei und nur ein Einzelzimmer benötige.“ „War Ihre Ehe denn gut?“ Ella seufzte. „Lorenzo hat gute Seiten. Er hat sich sehr lieb um unsere Tochter Stefania gekümmert und wir konnten interessante Gespräche miteinander führen. Leider war er als Mann nie selbst mit sich im Reinen. Ich konnte ihm dabei nicht helfen. Ich konnte nur dafür sorgen, dass alles andere gut lief. Ich denke, er ist jetzt glücklich, da, wo er ist.“ „Haben Sie etwa Ihre Familie erhalten?“, fragte Thanasis fassungslos. Ella nickte. „Das klingt nach einem Nein.“ „Wie bitte?“ „Ein Nein. Auf meine Frage nach Ihrer Ehe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt. Es gibt viele Möglichkeiten, zueinander zu finden. Man muss nur in der Lage sein, vorgegebene Muster zu überwinden und eigene Wege zu gehen.“ „Das klingt sehr nach dem Guru-Kram Ihres Mannes.“ Ella lächelte schwach. „Möglich. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich vierzehn war. Danach wurde es aber noch mühsamer. Ich hätte das Stefania nie angetan. Es gibt viele Kämpfe, die man nicht unbedingt austragen muss.“ „Diesen Eindruck haben Sie MIR aber bisher nicht vermittelt“, sagte Thanasis amüsiert. „Ich bin ja nicht mit Ihnen verheiratet und muss mich wohl kaum mit Ihnen zusammenraufen.“

Eine Stunde später kam Thanasis in einem Dreiteiler in Ellas Büro. Sie hielt ihm seinen Füllhalter hin. „Den haben Sie vorher hier vergessen. Danke, dass Sie mir Ihr Placet gegeben haben. Ich freue mich noch mehr, wenn Sie sich mit Herrn Putzer auseinandersetzen. Es wird ihm wohl oder übel gefallen müssen.“ „Nemo placet omnibus“, zitierte Thanasis. Ella lächelte. „Auf Französisch würde man sagen: On ne peut pas ménager la chèvre et le chou.“ „Man soll Kohl und Ziege nicht essen?“ „Nicht manger, ménager, miteinander mischen. Ja, weil die Ziege den ganzen Kohl fressen würde.“ „Und, das könnte dem Kohl nicht gefallen?“ Ellas glockenhelles Lachen erfüllte den ganzen Raum. Himmel, diese Frau hatte ein erfrischendes Lachen. „Das auch, aber in erster Linie den Menschen. Das Sprichwort stammt aus einer Zeit, in der Kohl als Vorrat für den Winter überlebenswichtig war und die Ziege hat man auch nicht gegessen. Die sollte schön brav Milch geben. Das habe ich aus einem Buch.“ „Sie lesen wohl sehr viel.“ „Mit großer Begeisterung.“

„Ella?“, kam es skeptisch vom Gang. Dirk baute sich wieder vor dem Türstock auf. „Ah, Mister Adrianakis. Good evening, nice to meet you again. Wir haben hier schon einige Änderungen vorgenommen. Ich bin davon überzeugt, dass sie Ihnen zusagen werden“, sagte er weiter in tadellosem Englisch. Thanasis steckte beide Hände in die Hosentaschen und stellte damit klar, dass er nicht bereit war, seinem Angestellten zur Begrüßung die Hand zu geben. „Mister Putzer“, sagte er knapp. „Let us go in my office.“ Thanasis war schon im Korridor. Dirk steckte den Kopf in Ellas Büro. „Wieso hast du mich nicht vorgewarnt, dass er da ist? Ich war vollkommen überrumpelt, als er mich vorhin per Telefon für ein Meeting in sein Büro gerufen hat. Bist du etwa nicht nur unattraktiv, sondern auch noch eine miese Intrigantin? “ Ella starrte ihn vollkommen perplex an. „Herr Putzer“, kam es plötzlich von Thanasis’ tiefer Stimme. „Scharfsinnige Analyse liegt Ihnen offenbar nicht. Mit wem, glauben Sie, hat sich Frau del Rocco eigentlich gerade auf Deutsch unterhalten?“

Nach einer halben Stunde stürmte Dirk an Ellas offener Tür vorbei und würdigte sie keines Blickes. Ein paar Minuten später schlenderte Thanasis herein. Er ließ sich auf den Sessel vor Ellas Schreibtisch fallen. „Ich habe ihn in mein Hotel in Athen versetzt, mit einem Monat Probezeit. Der dortige F&B-Manager ist bereit, für die Sommersaison hierher zu kommen. Im Moment kann er in der Anlage wohnen, aber er hat Familie. Wenn die Sommerferien losgehen, braucht er eine geeignete Unterkunft.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Wissen Sie eigentlich, warum er sich Ihnen gegenüber so aggressiv verhalten hat?“ Ella schüttelte den Kopf und zuckte dann mit den Schultern. „Ich denke, dass er eigentlich mit Ihnen schlafen wollte, Ella. Da er aber aus irgendeinem Grund glaubt, er darf nur einen bestimmten Typ Frau begehren, war er sauer auf sich selbst und hat es an Ihnen ausgelassen.“ Ella war zu einer Salzsäule erstarrt und sah ihren Arbeitgeber ungläubig an. Sie schluckte mehrmals. „Äh, danke für Ihre Bemühungen. Es geht mir mit Ihrer abstrusen Erklärung zwar nicht besser, aber ich weiß Ihren Versuch zu schätzen.“ Thanasis wuchtete sich hoch, nickte Ella kurz zu und war einen Wimpernschlag später bei der Tür draußen. Hoffentlich reist er bald wieder ab, dachte Ella. Ich führe mit diesem Mann die eigenartigsten Gespräche.

Thanasis vergrub sich in seinem Büro und hoffte, dass Ella nicht die richtigen Rückschlüsse zog, warum er ihr gegenüber so unfreundlich war. Wie es schien, hatte Ella überhaupt keine Ahnung von ihrer Wirkung auf Männer. Wie sollte sie auch? Sie hatte während ihrer ganzen Ehe selbst den Mann stehen müssen, während dieser Vollpfosten Lorenzo offenbar in seinem Leid gebadet hatte und dann auch noch weggerannt war, um etwas Besseres zu finden. Ella sagte, sie hätte seit Jahren nichts von ihm gehört. Thanasis griff zu seinem Telefon und wählte die Nummer eines Athener Detektivbüros. Die Firma gehörte einem seiner Cousins, der aber auch sein bester Freund war. „Ορίστε!“, sagte Theo gehetzt ins Telefon. Thanasis lachte leise. „Schaust du immer noch nicht nach, wer dich anruft?“, sagte er auf Griechisch. „Thanasis! Wie geht es dir?“ Nach den üblichen Fragen nach Familie, Geschäften und Plänen kam Thanasis auf sein Anliegen zu sprechen. „Wie gut stehen die Chancen, einen Mann aufzustöbern, der in Indien als Guru abgetaucht ist?“ Das Aufstöhnen seines Cousins sprach Bände. „Wenn er nach der Ankunft seinen Namen geändert hat, sind wir bei null Prozent. Schuldet dir jemand Geld?“ „Nein, zum Glück nicht. Es geht um den Ehemann einer Bekannten von mir. Sie sagte, er sei sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwunden. Ich glaube nicht, dass sie seine Rückkehr herbeisehnt.“ „Das klingt nicht gut“, meinte Theo. „Wie meinst du das?“ „Wenn es weniger als ein Jahr her ist, sind ihr vollkommen die Hände gebunden. Da müsste es sich schon um einen Härtefall handeln. Äh, ich weiß nicht, wie du zu dieser Frau stehst. Um Kyra kann es ja wohl nicht gehen.“ „Kannst du bitte einmal vergessen, dass ich seit Roxanis Tod angeblich jeder Frau hinterher steige“, sagte Thanasis ärgerlich. „Okay, okay. Ich wollte dir nicht auf den Schlips treten, vor allem würdest du nie eine verheiratete Frau anschauen.“ „Mmh“, brummte Thanasis und musste feststellen, dass er dieses Mal sehr wohl an einer verheirateten Frau interessiert war. „Also zu diesem Fall. Wenn diese Frau verständlicherweise ihre Ehe beenden will, kann sie nur abwarten. Normalerweise genügen drei Jahre für die Trennung von Tisch und Bett. Diese Ehe wird als zerrüttet angesehen. Da gibt jeder Richter dem Scheidungsbegehren statt. Das ist in vielen europäischen Ländern ähnlich geregelt. Nach sechs Jahren der Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft ist es nur mehr ein Formalakt.“ „Muss dieser Ehemann nicht auch unterschreiben?“ „Nein, sie kann das Scheidungsbegehren stellen und dem wird dann stattgegeben. Es gibt immer wieder Fälle, dass ein Ehepartner auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Wieso sollte der zurückgebliebene Partner sein Leben lang an ein Phantom gebunden bleiben müssen? Es könnte ja auch sein, dass der oder die Verschwundene in der Zwischenzeit verstirbt. Dann würde man auch vergeblich auf eine Rückkehr hoffen, um endlich geschieden zu werden.“ „Was passiert eigentlich in so einem Fall? Gibt es da nicht die Möglichkeit, jemanden für tot erklären zu lassen?“ „Ja, aber damit wird extrem vorsichtig umgegangen, weil ja häufig auch Vermögen im Spiel ist. Wenn es nachweislich ein Unglück gegeben hat, ist es schon nach einigen Monaten möglich. Bei einem Verschwinden in einem Risikogebiet muss ein Jahr gewartet werden. Falls sich aber jemand in der Karibik die Sonne auf den Bauch scheinen lässt, müssen zehn Jahre vergehen, bevor so einem Antrag stattgegeben wird“, schloss Theo seine Erläuterungen. „Bist du noch mit Kyra zusammen?“, wollte er plötzlich wissen. „Wir möchten im Mai ein Fest zu Athinas fünfzigstem Geburtstag geben und wir hätten euch gemeinsam dazu eingeladen.“ Thanasis stöhnte kurz auf. „Wie kommt ihr denn auf diese Idee? Ich würde Kyra nie zu einer Familienfeier mitnehmen. Und, nein, ich bin nicht mehr mit ihr zusammen, da ich mich weigerte, ihr den ersehnten Dreikaräter an den Finger zu stecken. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sie unsere Beziehung ständig an die Öffentlichkeit gezerrt hat. Du weißt, wie ich das hasse.“ Theo merkte, dass er sich auf Glatteis bewegte. „Gut, lassen wir das. Hast du noch einen Namen für mich?“ „Von einer anderen Frau?“, fragte Thanasis entgeistert. „Nein. Dieser ominöse Ehemann.“ „Lorenzo del Rocco. Er ist Italiener, hat aber mit seiner Frau Ella in Österreich gelebt. Es gibt noch eine Tochter, die erwachsen sein dürfte.“ „Ist notiert. Falls mir etwas unterkommt, melde ich mich.“

Aufgewühlt beendete Thanasis das Telefonat. Er haderte in mehreren Punkten mit sich selbst. Welcher Teufel hatte ihn geritten, sich in Ellas Privatleben einzumischen? Was ging ihn das an, was sie mit ihrer Ehe vorhatte? Wieso kam er überhaupt erst auf die Idee, dass sie eine Trennung in Erwägung ziehen könnte? War da der Wunsch Vater des Gedankens? Stopp! Was? Wieso sollte es ihn interessieren, ob Ella frei war? Er kannte diese Frau seit … Er sah auf die Uhr. Seit weniger als vierzehn Stunden. Wie hatte sie es geschafft, ihm in so kurzer Zeit so unter die Haut zu gehen? Dabei war sie nicht einmal sein bevorzugter Typ. Was hatte sie über ihre Ehe gesagt? Man musste in der Lage sein, vorgegebene Muster zu überwinden. Traf diese Weisheit vielleicht auch auf ihn zu? Thanasis ging im Geiste seine bisherigen Freundinnen durch. In seinen Kreisen bewegten sich hauptsächlich Models, Ex-Models oder Frauen, die durchaus das Potenzial dazu hätten. Eine Geliebte war schöner gewesen als die andere, doch er war nie länger als wenige Monate mit ihnen zusammengeblieben. Jedes Mal, wenn es dezente Andeutungen auf Verlobungsringe gegeben hatte, hatte Thanasis die Sache beendet. Warum? In den meisten Fällen hätte er der Vater dieser Frauen sein können und selbst, wenn es etwas besser vom Alter her gepasst hatte, hatte er sich mit diesen Frauen nie so wohl gefühlt wie in den wenigen Augenblicken, die er Ella nun kannte. Darüber hinaus hauten ihn ihre Intelligenz, ihr Einfühlungsvermögen und ihr Arbeitswille schlicht ergreifend um.

Thanasis drückte die Kurzwahltaste für seine Assistentin. „Good evening, Mister Adrianakis. Wie geht es Ihnen? Haben Sie alles, was Sie brauchen?“ „Good evening, Pippa. Danke, gut. Können Sie mir bitte sagen, wer über den Winter für die Bearbeitung der Anfragen für Adrianas Paradise zuständig war?“ „Äh, Ihre Tochter, Mister Adrianakis“, gab Pippa mit leicht schriller Stimme zurück. „Sie wollten, dass Sie endlich etwas Verantwortung übernimmt und gaben mir den Auftrag, einen Laptop mit den erforderlichen Programmen und Zugangsdaten für sie bei unserer EDV-Abteilung zu ordern. Ihre Tochter sollte sich das fertige Gerät selbst abholen und die Agenden bis Ende Januar übernehmen. Gleichzeitig wiesen Sie mich an, die Personalvermittlung zu kontaktieren, damit die Stelle für die Buchungsabwicklung bereits ab Februar neu besetzt wird. Ich dachte, dass die Übergabe in Athen abgewickelt worden war und die neue Mitarbeiterin schon vor Ort sei. Soll ich etwas für Sie nachfragen?“ Thanasis fluchte etwas auf Griechisch. „Nein, ist schon gut. Ich rufe Charis selbst an.“ „Sie waren aufgrund der Wirtschaftskrise sehr mit allen anderen Geschäftsbereichen beschäftigt, Mister Adrianakis“, gab Pippa hilfreich zu bedenken. „Ja, aber das ist keine Entschuldigung, dass ich mich überhaupt nicht mehr um die Anlage gekümmert habe. Danke, Pippa. Sie können mich jederzeit erreichen.“ Nachdem er die Verbindung gekappt hatte, rief er seine Tochter an. „Hallo Papa!“, trällerte Charis ins Telefon. „Hallo, κούκλα μου. Sagen dir über 1.300 Mails an das Adrianas Paradise etwas?“ „Nein, Papa. Sollte es das?“ Thanasis seufzte. „Oder der Laptop, der seit fünf Monaten in unserer EDV-Abteilung auf dich wartet und das Übergabegespräch?“ Am anderen Ende der Leitung wurde es verdächtig still. „Ich hab’s vergessen, Papa“, sagte Charis so leise, dass Thanasis sie fast nicht verstand. Nun war es an ihm zu schweigen. Seine Tochter verstand den Hinweis. „Wie kann ich es wieder gut machen, Papa?“ „Du beziehst für diese Aufgabe, die du vergessen hast, ein ansehnliches Gehalt von der Adrianakis Corporation. Was hast du bisher dafür geleistet?“ „Oh, Papa. Wieso muss ich für das Geld, das du mir vorher ohne Bedingungen gegeben hast, eigentlich jetzt arbeiten?“ „Du bist mit deiner Ausbildung fertig und ich behandle dich genauso wie deinen Bruder vor vierzehn Jahren.“ „Pffff“, schnaufte Charis ins Telefon. „Ich war viel unterwegs, Papa. Nach dem monatelangen Lernen wollte ich endlich wieder ausgehen und meine Freunde treffen.“ „Du wolltest wissen, wie du es wieder gut machen kannst. Du packst deine Koffer und nimmst den nächsten Flug nach Rhodos. Es gibt in der Ferienanlage genug Arbeit, die dringend erledigt werden muss.“ „Was? Wieso muss ich einen Linienflug nehmen? Und, was soll ich denn auf Rhodos? Vor allem um diese Jahreszeit? Bis April haben alle Diskotheken zu.“ „Dann bleibt dir ja genug Zeit, die versäumte Arbeitszeit nachzuholen.“ „Nein, vergiss es, Papa. Ich werde nicht kommen.“ Charis schmiss ihren Vater aus der Leitung. Thanasis lächelte. Seine verwöhnte Prinzessin würde sich noch wundern. Er wandte sich zu seinem Laptop und schrieb eine Nachricht an die Personalabteilung. An Charis Adrianaki sollte ab sofort kein Gehalt mehr ausgezahlt werden, weil sie unbezahlten Urlaub nahm. Diese Maßnahme würde sich zwar erst Ende des Monats auswirken, aber es genügte, wenn Charis Anfang März hier auftauchte. Wenn er schon dabei war, erledigte er gleich alle anderen Mails. Eines ging an den Chefrezeptionisten seines Hotels, das die weitere Vorgangsweise für Kyra Basdeki betraf. Anschließend schrieb er an seine Bank, dass Kyras Kreditkarte mit sofortiger Wirkung zu sperren war. Nach einem Moment des Zögerns veranlasste er auch die Sperre für die Kreditkarte seiner Tochter. Sie hatte genügend Reserven auf ihrem Konto und sie würde wohl kaum im Penthouse des Hotels verhungern.

Draußen war die Sonne schon längst untergegangen. Dank Ellas Versorgung am Nachmittag hatte Thanasis überhaupt keinen Hunger und seit Tagen auch keine Kopfschmerzen mehr. Er spürte instinktiv, dass etwas an ihren Behauptungen dran war. Roxani hatte ihm ständig die Dinge hingestellt, die laut ihrer Diktion gut für ihn gewesen waren. In den letzten neun Jahren hatte er gegessen, was ihm seine Haushälterin oder die Kellner in den zahllosen Restaurants vorgesetzt hatten. Er merkte, dass es ihn überhaupt nicht mehr interessierte, was er aß. Das würde er wohl ändern müssen. Wann hatte er das letzte Mal Polenta gegessen? Kyra hätte über die hohe Anzahl von Kalorien vermutlich die Nase gerümpft.

„Verdammte Scheiße! Verfluchtes Mistding!“, kam es plötzlich aus Ellas Büro. Thanasis ging zu ihr und sah, dass sie wütend auf den Computer starrte. „Ich werde veranlassen, dass Sie ein neues Gerät bekommen.“ Ella sah verdutzt auf. „Sie sind noch hier? Dann entschuldige ich mich für meinen Ausbruch“, murmelte sie verlegen. „Wieso sind Sie noch hier?“, wollte Thanasis wissen. „In meinem Zimmer hat es vierzehn Grad. Ich gehe erst hier weg, wenn ich tatsächlich schlafen gehe.“ „Sie wohnen in einer Personalunterkunft?“ „Äh, ja, selbstverständlich.“ „Da ist es um diese Jahreszeit tatsächlich viel zu kalt. Herr Putzer hatte eigentlich den Auftrag, Ihnen zuerst ein Zimmer in einer der Villen zu geben.“ Ella lächelte säuerlich. „Er hatte mir tatsächlich angeboten, das Haus, das er benutzte, mit ihm zu teilen. Ich entschied mich lieber für Variante B. Da ich mich dort nur wenig aufhalte, werde ich es überleben.“ Thanasis sah auf seine Rolex. „Sie wollen jetzt noch drei Stunden arbeiten?“ „Ja, so wie jeden Abend auch. Was hätte ich denn sonst hier machen sollen? Es ist ja niemand da. Ihre lokalen Mitarbeiter gehen alle um fünf nach Hause.“ „Würden Sie den Abend mit mir verbringen?“ Ellas Augen wurden groß. „Ich mache im Kamin ein Feuer und Sie leisten mir bei einem Glas Wein Gesellschaft.“ Ella schüttelte den Kopf. „Was stört Sie? Der Kamin, der Wein oder ich?“ Sie schmunzelte. „Der Wein. Können Sie mit einem weiteren Pfefferminztee leben?“ Thanasis stöhnte auf. „Sie arbeiten aber mit sehr harten Bandagen.“ „Es ist zu Ihrem Besten“, sagte Ella sanft. „Gut, einverstanden.“ „Ich bin in einer Stunde bei Ihnen.“

Gegen acht balancierte Ella ein Tablett auf der linken Hand und klopfte an die Tür. Thanasis machte auf und er war wieder der entspannte Mann in Jeans und Wollpullover. Bibbernd hatte auch Ella sich umgezogen. Sie hatte ihre Arbeitsuniform gegen eine Wollstrumpfhose, Jeans und einen Rollkragenpullover getauscht, bevor sie in die Personalküche gegangen war. „Kommen Sie rein und geben Sie mir Ihre Jacke.“ Thanasis trat zur Seite. Ella stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab. Er nahm ihre Winterjacke entgegen. Im Kamin prasselte ein gemütliches Feuer und die Klimaanlage sorgte für zusätzliche Wärme. Der riesige Fernseher war aufgedreht und es liefen Wirtschaftsnachrichten. „Verstehen Sie eigentlich schon etwas?“ „Ich war zwei Monate in Athen bei einem Sprachkurs. Wenn langsam gesprochen wird, komme ich bei einfachen Themen ganz gut mit. Ich habe mich nur noch immer nicht an das Kopfschütteln bei Ja und das Nicken bei Nein gewöhnt.“ „Wir nicken doch nicht beim Neinsagen.“ Ella hob den Kopf in der typischen griechischen Geste nach oben und sagte: „Όχι.“ Ihre Stimme bekam dabei einen so rauchigen Klang, dass Thanasis ihr unglaublicher Sex-Appeal auffiel. Er wollte lieber nicht überprüfen, wie es klang, wenn sie Ja oder gar Ich will dich sagte. Thanasis räusperte sich. „Da haben Sie es. Wir heben den Kopf nur leicht an.“ Ella lachte. „Ja, schon gut.“ Sie zeigte auf den Couchtisch. „Ich habe Ihnen Maiscracker, einen frischen Ziegenkäseaufstrich mit Kräutern sowie aufgeschnittenen Apfel mit Kokosmilch und Mandeln mitgebracht.“ Thanasis sah sie verblüfft an. „Das dürfen Sie alles essen.“ „Danke, das war sehr aufmerksam von Ihnen.“ „Gern geschehen. Es war nicht ganz uneigennützig.“ Sie grinste ihn an wie ein Schachtelteufel. „Ich profitiere davon, wenn Sie weniger unleidlich sind.“ Thanasis bedachte sie mit einem finsteren Blick, doch sie ignorierte ihn vollkommen. Mit ihrem eigenen Selbstverständnis ging sie in seine Küche und nahm alles, was sie brauchte. Ella setzte einen Pfefferminztee auf und Thanasis überkam das Gefühl, als würde sie schon immer hierhergehören. Er kannte nur wenige Menschen, die so eine Ruhe ausstrahlten und auf diese Art mit sich im Reinen waren. „Wie hat es Ihnen in Athen gefallen?“ Ella zuckte mit den Schultern. „Ich habe vor allem gefroren. Überall, wo ich war, wurde aus Kostengründen kaum geheizt. Die Armut mancher Menschen hat mich erschüttert. Da ich Geld sparen musste, mietete ich ein Zimmer bei einer alten Dame. Die Sprachschule hatte mir das vermittelt. Die Wohnung lag in der Nähe des aufgelassenen Esperia Palace Hotels. Laut Frau Nikopolidou war die Gegend früher gut. Heute ist es ein Armenviertel. Sie bekommt nur eine ganz kleine Pension und hält sich mit der Vermietung von Zimmern über Wasser. Die Fahrt mit dem Bus zur Schule war so abenteuerlich, dass ich lieber zu Fuß ging. Der Zustand der Straßen und Gehsteige ist aber auch eine Katastrophe. Eines Tages fiel ich fast in einen Kanal, weil der Deckel durchgebrochen war. Viele Gebäude sind ebenfalls in einem grauenvollen Zustand. Das Haus, in dem die Schule untergebracht war, war etwas besser erhalten, aber auch dort hat vieles nicht funktioniert.“ „Und hier frieren Sie wieder“, sagte Thanasis leise. „Im Büro lässt es sich ganz gut aushalten.“ Er schaltete den Fernseher aus, ging zu seiner Stereoanlage und wählte einen Mix aus moderner griechischer Musik. Dann legte er ein Spiel auf den Couchtisch. „Haben Sie schon Távli gespielt?“ „Nein, ich habe es nur gesehen, wenn es ältere Herren in Cafés vor sich stehen hatten.“ Thanasis drückte sich die Hand dramatisch auf die Brust. „Sie sind schon seit über zwei Monaten in Griechenland und kennen das Nationalspiel noch nicht?“ „Frau Nikopolidou hat jeden Abend mit einer Wahnsinnslautstärke ferngesehen und dabei Spitzendeckchen gehäkelt. Die anderen Mieterinnen waren auch Ausländerinnen. Bis auf die Lehrerin in der Schule habe ich kaum andere Griechinnen kennengelernt. Und Sie sind der erste Grieche, der tatsächlich ein paar Worte mit mir wechselt.“ Thanasis nickte. „Das nehme ich Ihnen sofort ab. Die Frauen unserer Generation bewegen sich nur im Familienverband unter Männern. Und, da Sie keinen Ehering tragen, stehen Sie unter noch schärferer Beobachtung.“ Ella sah verlegen auf ihre Hände. „Haben Sie Ihren Ehering überhaupt noch?“ „Nein, ich habe ihn meiner Tochter gegeben. Dann kann sie ihn verkaufen oder das Gold für eigene Zwecke verwenden.“ „Sie haben tatsächlich alle Brücken abgebrochen“, stellte Thanasis leise fest. „Alles, was ich brauche, passt in mein Gepäck. Stefania ist mit dem Studium fertig, hat einen sehr netten Freund und ist dabei, ihr Leben nach ihren Wünschen zu gestalten. Gut, erklären Sie mir bitte die Spielregeln?“ Geduldig und mit seiner sonoren Stimme erklärte Thanasis Ella die drei Runden des Spiels, die jeweils eigene Spielregeln hatten. „Pórtes, Plakotó und Fevga“, wiederholte Ella. „Haben Sie alles verstanden?“, wollte Thanasis wissen. Ella lachte glockenhell. „Sie haben immer wieder ins Griechische gewechselt. Also, ja und nein.“ „Fangen wir einfach an“, sagte er und gab den ersten Zug vor. Während Ella ihren Zug spielte, nahm sich Thanasis etwas von den Sachen, die sie mitgebracht hatte. „Mm, das schmeckt gut.“ „Das freut mich. Gewöhnen Sie sich dran. Wer kocht in Athen für Sie?“ „Meine Haushälterin, aber meistens esse ich auswärts.“ „Könnten Sie Ihre gute Fee dazu bringen, Mahlzeiten für Sie zuzubereiten, die Ihnen bekommen? Oder wird sie wegen solch frevelhafter Forderungen sofort ihre Kündigung einreichen?“ „Frechheit noch zum Frevel hass’ ich ganz.“ „Ihre Haushälterin kennt Agamemnon von Aischylos?“ „Nein, aber offenbar meine Buchungsmanagerin.“ Ella lief rot an. „Ich habe es erst vor wenigen Wochen gelesen. Unsere Lehrerin war eigentlich gelernte Altphilologin. Sie konnte aber nur als Sprachlehrerin für anstrengende Ausländer einen Job finden. Sie sind dran.“ Thanasis machte seinen Spielzug, doch er war mehr an Ellas Erzählungen interessiert. „Warum? Wer war denn in Ihrem Kurs?“ Ella schenkte Pfefferminztee für beide ein und nahm einen Schluck. „Die meisten blieben zwei Wochen. Wir waren nur Erwachsene und erstaunlich viele Pensionisten, die sich einen lang gehegten Traum erfüllen wollten. Einer von denen hatte fixe Pläne für seinen Lebensabend auf dem Peloponnes. Er erzählte mir in epischer Breite von seinen Versuchen, ein Haus zu finden. Dabei stellte sich irgendwie heraus, dass die östlichste Halbinsel bei Kalamata eher von den deutschen und den österreichischen Auswanderern gewählt wird. In der Mitte sitzen die Engländer und ganz westlich die Franzosen. Oder waren es die Holländer?“ Thanasis zuckte mit den Schultern. „Dann gab es einen, der zum fünften Mal heiraten wollte. Diesmal eine Griechin aus München. Er wollte seine zukünftigen Schwiegereltern mit einigen Sprachkenntnissen beeindrucken. Durch die fehlende Übung kamen diese Herren nur sehr langsam mit dem Lernen voran. Am besten haben ein paar Japanerinnen gelernt. Mit einigen habe ich mich sehr gut verstanden, obwohl wir nie auf einen grünen Zweig kamen, warum sie die Sprache eigentlich lernen wollten. Ich erfuhr eigentlich mehr über die japanische Kultur von ihnen, als sie von Griechenland. In Japan ist es zum Beispiel üblich, dass die Kinder in der Schule so eine Art Altchinesisch lernen. Weil viele Schriftzeichen daraus entstanden sind. Wenn es um die Bedeutung von irgendwelchen Wörtern ging, fuhren sie die Schriftzeichen in ihrer Handfläche nach.“ „Und Sie haben nicht gleich beschlossen, Japanisch zu lernen?“, neckte Thanasis sie. „Oh, ich wäre schon hingegangen. Es hätte sogar einen Job als Rezeptionistin gegeben. Aber es war mir für die erste Zeit dann doch etwas zu weit weg von Stefania und ich hätte mich, glaube ich, nicht wohlgefühlt. Ich bin mindestens einen Kopf größer als alle Japaner.“ „Das ist hier aber nicht viel anders.“ Ellas Blick fiel auf das Spielbrett. „Sie wollten eigentlich mit mir spielen und ich quassle Sie die ganze Zeit voll.“ Thanasis hob die Hand. „Ich habe Sie mit Fragen bombardiert und ich genieße Ihr Gequassel, wenn Sie es unbedingt so ausdrücken wollen. Ich habe mich bisher keine einzige Minute in Ihrer Gegenwart gelangweilt.“ „Oh, geht es Ihnen normalerweise so? Sie haben doch sicher haufenweise interessante Gesprächspartner.“ „Gesprächspartner, ja. Gesprächspartnerinnen, nein. Essen Sie gar nichts?“, fragte er, während er sich noch einen Cracker mit reichlich Käse nahm. „Nein, ich halte mich schon seit Jahren an 16:8-Intervallfasten. Damit werde ich Sie jetzt aber nicht auch noch vollquatschen. Sie können es ja googlen, wenn Sie möchten.“ Ella lachte. „Das erinnert mich an ein T-Shirt, das ein Kursteilnehmer einmal trug. Es hatte folgende Aufschrift: Ich brauche kein Google, meine Frau weiß alles.“ Thanasis vermutete, dass es ihm mit Ella als seiner Frau ebenso erginge.

Ella bestand darauf, dass Thanasis zumindest eine Partie mit ihr spielte, doch dann kamen sie sofort wieder ins Gespräch und spannten den Bogen von der wirtschaftlichen Situation in Griechenland über den aktuellen Stand in Europa bis hin zu den Problemen, die viele Länder hatten, um ihre Einwohner mit Frischwasser zu versorgen. „Nach wie vor machen mich die vielen Plastikflaschen wahnsinnig“, gab Ella zu. „Als wir in Italien lebten, hatten wir eine mobile Umkehr-Osmose-Anlage, die das Wasser für uns aufbereitet hat. Damit konnten wir den Kauf von Wasserflaschen vermeiden. Am Montag war der Abholtag für den Plastikmüll. Vor dem Haus türmten sich immer die Säcke mit den zerdrückten Flaschen der Nachbarn. Es gab dann sogar eine Initiative, dass man sich um 5 Cent einen Liter Wasser bei so eigenen Ausgabesäulen besorgen konnte. Ich habe mir einmal die Analysewerte durchgelesen und es war im Grunde dasselbe Wasser, das auch aus dem Wasserhahn gekommen war. So eine Augenauswischerei“, ärgerte sich Ella. „Vor allem hätten die Leute dafür auf Glasflaschen umsteigen müssen. Viele unterliegen dem Irrtum, dass man alle Plastikflaschen wiederverwenden kann. Das geht nur bei einigen PE-Verbindungen. Das abgedruckte Ablaufdatum gilt ja nicht für das Wasser, sondern für die Flasche.“ „Wie lange haben Sie in Italien gelebt?“ „Vier Jahre. Stefania war acht, als wir übersiedelten, und zwölf bei der Rückkehr.“ Ella wirkte nicht sehr glücklich bei der Erinnerung an diese Zeit. „Wieso sind Sie zurückgekehrt?“ „Wir lebten vorher zehn Jahre in Österreich. Mein Mann wollte es so, da er in Italien unzufrieden war. Dann fühlte er sich aber auch in Wien nicht wohl und ich stimmte zu, dass wir in das Land seiner Herkunft gingen. Eigenartigerweise fand er sich in Italien aber auch nicht mehr zurecht und so kehrten wir wieder zurück. Es war nur kurzfristig besser. Lorenzo begann sich mehr und mehr in diesen Hindu-Kram zu flüchten. Eines Tages verließ er uns. Den Rest kennen Sie.“ Ella unterdrückte ein Gähnen. „Danke für den netten Abend, Thanasis.“ Er hielt in der Bewegung inne. „Das war das erste Mal, dass Sie mich beim Namen genannt haben.“ „Oh, das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich hoffe, ich habe es richtig ausgesprochen.“ „Alles perfekt. Ich begleite Sie noch zu Ihrem Quartier.“ „Da ist aber ein Umweg in die Personalküche mit drin. Ich habe meine Wärmflasche vorhin dort abgelegt. Ich muss sie unbedingt noch füllen. Das Bett ist sonst so kalt, dass ich ewig nicht einschlafen kann.“ „Hier ist es mittlerweile warm genug. Wollen Sie hier im Haus schlafen? Sie können zwischen drei Zimmern wählen.“ Ella schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein, das wäre unangebracht.“ Hektisch griff sie nach ihrer Jacke. „Und, bitte, bleiben Sie auch. Wir sehen uns morgen. Καληνύχτα.“ Er konnte gar nicht schnell genug reagieren. Ella war schon bei der Tür draußen und eilte über den gepflasterten Weg. Thanasis konnte sich nicht daran erinnern, wann eine Frau das letzte Mal richtiggehend vor ihm geflohen war.

Trotz Wärmeflasche konnte Ella ewig nicht einschlafen. Ihre Gedanken hielten sie wach. Der Mann, von dem sie beschlossen hatte, dass sie ihn eigentlich nicht ausstehen konnte, hatte sich als netter Zeitgenosse und interessanter Gesprächspartner herausgestellt. Sie konnte auch nicht leugnen, dass sie ihn seit der ersten Begegnung sehr attraktiv fand. Mit ihm hätte man auch eine ganze Menge Mann in der Hand. Lorenzo war schon immer sehr schlank, doch am Schluss war er fast dürr gewesen. Ella hatte immer ein wenig darunter gelitten, dass er so fragil war. Er war weder psychisch noch körperlich belastbar gewesen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Ella, wie sie die ganzen Jahre durchgehalten hatte. Über zehn Jahre hatten sie das Bett nicht mehr miteinander geteilt. Lorenzo hatte sich über Ellas unruhigen Schlaf beschwert. Mit der räumlichen Trennung war auch der körperliche Aspekt der Ehe weggefallen. Im Endeffekt hatte Ella auch damit zu leben gelernt, denn zu einem Gespräch war Lorenzo immer bereit gewesen und dadurch hatte sich Ella nie einsam gefühlt. In den vergangenen Jahren hatte er ihr tatsächlich ab und an gefehlt. Nun lag sie hier. In einem fremden Land. In einem fremden Bett. Und dachte an einen anderen Mann.

3

Da sie so lange nicht einschlafen konnte, wachte Ella für ihre Verhältnisse sehr spät auf. „Schon nach sechs“, murmelte sie und rappelte sich hoch. Sie tappte in das winzige Bad ihrer Unterkunft und schlüpfte anschließend in ihren Trainingsanzug. Noch ziemlich verschlafen zog sie ihre Laufschuhe an und verließ ihr Kämmerchen bei der ersten Morgendämmerung. Nach den ersten Schritten fiel ihr auf, dass sie auf ihre Haare vergessen hatte. Sie kramte in ihrer Jacke nach einem ihrer Haarcrunchies, doch sie fand nur ein Haarband. Musste reichen. Sie hatte keine Lust zurückzugehen. Ella adjustierte das Haarband und war über die zusätzliche Wärme an ihren Ohren froh. Brrr! Zumindest war sie jetzt wach. Beschwingt beschleunigte sie ihre Schritte und begann ab dem Poolbereich zu laufen. Sie steuerte auf den Strand zu und machte mit einem Jauchzer einen Satz in den Sand. Wegen der Unebenheiten ging Ella nur mit schnellen Schritten bis zum Wasser und saugte die salzige Luft gierig in ihre Lungen. Dann wandte sie sich nach Osten und lief im Bereich der Brandung, wo der Sand hart war, dem Sonnenaufgang entgegen.

Thanasis sah seiner Buchungsmanagerin verblüfft nach. Ihre Lebensfreude war einfach unglaublich. Und nun lief sie wie die Göttin Artemis auf der Jagd über den Strand. Mit einer braunschillernden Kaskade auf dem Rücken. Reichten ihre Haare tatsächlich fast bis zu ihrer Hüfte? Er war früh aufgewacht und hatte beschlossen, Ella im Büro abzupassen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr wieder seine Gesellschaft aufzunötigen. Im Büro war noch alles finster gewesen. Dieses Mal hatte ihn der Portier sogar zur Kenntnis genommen und war aufgesprungen, um seinen Arbeitgeber zu begrüßen. Thanasis hatte ein paar Worte mit ihm gewechselt und war dann Richtung Strand gegangen. Auf der anderen Seite des Poolbereichs hatte er Ella dann vorbeiflitzen sehen und hatte auch ihren Sprung in den Sand beobachtet. Da er ihr wohl kaum nachrennen konnte, machte er einen langsamen Rundgang durch die Poolanlage. Dabei machte er Fotos von den Bereichen, die seiner Meinung nach noch verbesserungswürdig waren. Der Winter hatte seine Spuren hinterlassen, die vor der Ankunft der ersten Gäste beseitigt werden mussten. Dann diktierte er ein paar Memos an seine Assistentin. Aus dem Augenwinkel entdeckte er Ella, die in dem Bereich angekommen war, wo eine eigens engagierte Sporttrainerin im Sommer Yoga- und Fitnesslektionen anbieten würde. Was machte sie denn jetzt? Yoga? Nein, sie schien Dehnübungen zu machen. Nun ging sie in die Grätsche und verschwand immer mehr Richtung Boden. In einen Spagat? Ella saß tatsächlich flach auf dem Boden und hatte ihre Beine vollkommen gerade nach rechts und links gestreckt. Thanasis schlenderte zu ihr hin. „Sie strafen Ihr Alter in jeder Hinsicht Lügen.“ Ella drehte den Kopf. „Guten Morgen, Thanasis. Das ist alles nur eine Frage der Konsequenz.“ „So, wie Sie 16 Stunden lang ohne Essen bleiben.“ „Sie haben es tatsächlich gegoogelt?“ Thanasis zuckte mit den Schultern. „Ich konnte länger nicht einschlafen. Können Sie da bitte wieder hochkommen? Ich kriege schon Krämpfe, wenn ich Ihnen nur zuschaue.“ Ella schenkte ihm einen pikierten Blick. „Äh, wie wäre es, wenn Sie einfach NICHT zuschauen?“ Thanasis lächelte breit und erntete einen verwirrten Gesichtsausdruck. „Was ist?“ „Ich habe nur gerade feststellen dürfen, dass Sie nicht nur finster dreinschauen können.“ Sofort runzelte er die Augenbrauen. „Das hätten Sie gestern Abend auch schon bemerken müssen“, grummelte er und fühlte sich ertappt. Er ging tatsächlich sehr sparsam mit seinem Lächeln um. Ella kam endlich in die Gerade hoch. Kaum war seine Hoffnung aufgekeimt, dass sie mit ihren schrecklichen Verrenkungen fertig war, hob sie ihr rechtes Bein mühelos hoch, schnappte sich ihren Knöchel und machte einen Standspagat. „Und immer noch Krämpfe?“, neckte sie ihn herausfordernd. Thanasis verdrehte die Augen und sah zum Strand. „Haben Sie Lust, ein paar Schritte in einem normalen Tempo mit mir zu gehen?“ Ella ließ ihr Bein sinken und nickte. „Sehr gern. Für einen langsamen Spaziergang war es mir bisher immer etwas zu einsam.“ Sie ließ ihren Blick über den Strand gleiten. „An meinem ersten Tag war ich ehrlich entsetzt“, erzählte sie. „Ihre Leute mussten mit dem Bagger anrücken, um alles wegzuräumen, was sich über den Winter hier angesammelt hatte. Da konnte man nur erahnen, dass es hier einen Sandstrand gibt. Das meiste Zeug war Holz und Gestrüpp, aber es war auch mindestens eine Tonne Abfall und der Kadaver irgendeines Tieres dabei.“ Ella schüttelte es. Thanasis wollte ihr lieber nicht erzählen, dass es griechische Inseln gab, wo immer wieder verweste Leichen von verunglückten Flüchtlingen an den Strand gespült wurden. „Sie haben sehr lange Haare“, stellte er plötzlich fest. „Das hat sich so ergeben“, murmelte Ella. „Meine Haare sind nicht sehr dicht und machen es durch Wachstum wieder wett.“ Er nahm sie näher in Augenschein. „Und, das ist tatsächlich alles noch Ihre echte Haarfarbe?“ „Sie machen mich nervös. Ich … ich bin das nicht gewöhnt.“ „Was?“ „Das … das mich jemand ansieht.“ Ella wich einen Schritt zurück. Thanasis war verblüfft, doch er nickte. „Wie geht es in der Ferienanlage weiter? Wann wird der Clubmanager eintreffen? Wie heißt er überhaupt?“, fragte Ella. Thanasis holte sein Mobiltelefon hervor und schaute in den Kalender. „Er heißt Evangelos Karadimas. Im Moment ist er noch in Dubai bei seinem Winterjob. Er hat schon in Athen für mich gearbeitet. Ich konnte ihn für die Leitung des Clubs für die kommende Saison gewinnen. Der vorige Manager hatte im vergangenen Jahr die Midlife-Krise gekriegt. Er suchte sich ausgerechnet die Buchungsmanagerin als neue Gefährtin aus und beide verließen den Arbeitsplatz vor Saisonende. Deshalb ist dieses ganze Chaos überhaupt erst entstanden. Das ist der Grund, warum Sie schon hier sind, Ella. Sonst wäre bis Mitte April alles über Athen abgewickelt worden. Karadimas sollte in ungefähr drei Wochen eintreffen. Bis das der Fall ist, werde ich regelmäßig hier sein und kümmere mich um die Verträge für das restliche Personal.“ Ella bückte sich und hob eine Muschel auf. Sie inspizierte sie und warf sie dann ins Meer. „Wie lange läuft Ihr Vertrag?“, fragte Thanasis. „Bis Ende Oktober.“ Sie rechnete nach. „Wenn alles gut geht, werde ich also die nächsten neun Monate hier verbringen. Im Moment ist es laut meiner Arbeitsbeschreibung vorgesehen, dass ich die Flut der Buchungen verwalte. Für die Saison ist geplant, dass ich vorwiegend an der Rezeption stehe.“ „Was sollte nicht gut gehen? Sie leisten wunderbare Arbeit.“ Ella zuckte mit den Schultern. „Danke, entschuldigen Sie bitte meinen Anfall von Schwermut. Normalerweise gehöre ich zum optimistischen Lager. Das letzte Jahr war nur extrem hart. Für alle, nicht nur für mich. Zum Glück steht meine Tochter schon auf eigenen Beinen. Ich muss mich nur mehr um mich selbst kümmern. Das ist schon einmal sehr gut.“ „Die Adrianakis Corporation finanziert schon seit der ersten Finanzkrise in Athen Suppenküchen und Sozialprojekte. Meine Verwandten und Freunde engagieren sich seit Jahren für gute Zwecke. Wir können aber nicht alles stemmen.“ „Wieso sagen Sie mir das?“ „Ihr Eindruck von Athen hat mich getroffen. Ich weiß, welches Bild von den griechischen Unternehmern und Reedern im Ausland gezeichnet wird. Wir zahlen aber unsere Steuern und beschäftigen zigtausende Leute im Land. Für die jahrzehntelange Misswirtschaft durch die Politik können wir wenig.“ Ella nickte nachdenklich. „Ich frage mich gerade, ob ich einem Einheimischen seinen Job weggenommen habe.“ Thanasis schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst. Ich kann mich glücklich schätzen, dass sich jemand mit Ihren Qualifikationen bereit erklärt hat, hier zu arbeiten.“ „Diesen Eindruck hat die Personalvermittlungsagentur aber nicht vermittelt. Es klang eher so, als müsste ich auf irgendwelchen Hochaltären Opfer darbringen, dass ich für die Adrianakis Corporation arbeiten darf.“ „Das stimmt ja wohl auch.“ Ella entdeckte rechtzeitig, dass Thanasis sie gnadenlos auf den Arm nahm. Sie versank in einen Hofknicks. „Natürlich, Hoheit. Ich weiß gar nicht, wie ich mit dieser großen Ehre leben soll. Darf ich bitte Ihre Füße küssen?“ Als sie sich aufrichtete und ihn anlachte, hatte Thanasis einen seltsamen Ausdruck in den Augen. Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt auf sie zu. Bevor sie richtig wahrnahm, was mit ihr geschah, schlang er seine Arme um sie. „Nein, die Füße nicht, γλυκύτητά μου.“ Thanasis legte seinen Mund auf ihre Lippen und die Berührung fuhr ihm wie ein Stromschlag durch den ganzen Körper. Ella hatte die weichsten Lippen, die er je gespürt hatte. Sanft fuhr er mit seiner Zunge über ihre Unterlippe. „Küss mich, Ella. Bitte, küss mich“, flüsterte er auf Griechisch. Ella sank gegen ihn und Thanasis verstärkte seine Umarmung. Gleichzeitig küsste er sie wie ein Besessener. Mit entschlossenen Bewegungen erforschte er jeden Winkel ihres Mundes. Er presste sich mit seinem ganzen Körper an Ella und ließ keine Zweifel darüber entstehen, wie sehr er sie wollte und begehrte. Plötzlich spürte er ihre Hände auf seiner Brust. Sie schob ihn weg und löste sich auch von seinen Lippen. „Keine … nein, keine gute Idee.“ Thanasis ließ seine Arme um sie gelegt und lehnte seine Stirn schwer atmend an ihre. „Du hast mich bezaubert, Ella. Noch nie habe ich mich mit jemandem so wohl und komplett gefühlt wie mit Dir. Du bist nicht nur außen, sondern auch innen wunderschön.“ Ella holte tief Luft. Sie schloss die Augen und schob ihn sanft, aber entschlossen weg. „Nein, keine gute Idee.“ Sie wandte sich ab und ließ ihn nachdenklich am Strand zurück.

Nach einer Dusche hatte sich Ella wieder so weit im Griff, dass sie klare Gedanken fassen konnte. Athanasios Adrianakis war ein Frauenheld. In einer der Zeitschriften, die Frau Nikopolidou stapelweise zu Hause liegen gehabt hatte, war aus irgendeinem Grund Thanasis’ ganzes bisheriges Liebesleben dokumentiert gewesen. Wahrscheinlich, weil es die aktuelle Geliebte schon etwas länger gab, fühlte sich die Regenbogenpresse bemüßigt, Vergleiche mit den Verflossenen anzustellen. Zu ihrem Leidwesen erinnerte sich Ella an alle zehn Schönheiten, die bei Empfängen oder in Freizeitsituationen in allerlei Posen an ihm gehangen hatten. Er nahm sich, was und wer ihm gerade in den Kram passte. Er war ohne seine Freundin nach Rhodos gekommen und hatte vermutlich das Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft. Ella war hier und jetzt verfügbar. Diese Schmach wollte sie sich nicht antun. Dafür hatte sie zu viel Selbstachtung. Doch Thanasis hatte einen schlafenden Vulkan geweckt. Ella hatte ihre sexuellen Bedürfnisse schon vor Jahren begraben. Nun brodelten sie mit einer nie gekannten Macht an die Oberfläche zurück. Nur die Kälte in ihrem Zimmer hielt sie davon ab, selbst Abhilfe zu schaffen. Thanasis verfluchend und zur Hölle wünschend zog sie ihre Jeans und einen Pullover an. Ihre Vorräte waren fast zu Ende und der Fußmarsch zum Supermarkt im nächsten Ort war eine gute Gelegenheit, um ihr erhitztes Gemüt wieder abzukühlen. Sie schlüpfte in ihre Winterjacke, steckte die Einkaufsliste, ihre Stoffgeldbörse in Form eines Hamburgers ein und schulterte ihren Rucksack. Mit finsterer Miene machte sie sich auf den Weg. Während Ella die lange Zufahrtsstraße zu Adrianas Paradise an der immer noch stillstehenden Baustelle entlangging, überlegte sie, ob sie den Leiter dieses Supermarkts vielleicht dazu bewegen konnte, Sachen außerhalb des Sortiments zu bestellen. Nach einer Weile hörte sie ein Auto kommen. Ohne aufzusehen, ging sie so weit wie möglich auf die Seite. „Ella! Wo zum Teufel willst du hin?“ Thanasis hatte mit einem SUV neben ihr angehalten und das Fenster runtergefahren. Sie sah Richtung Kiotari. „Zum Supermarkt. Ich muss einkaufen.“ „Das sind über zwei Kilometer.“ Ella zuckte mit den Schultern. „Die vergangenen Male bin ich auch nicht zusammengebrochen.“ „Hat sich im Club niemand um dich gekümmert? Jeder vom Management kann dieses Auto benützen.“ „Wie schön.“ „Du hast es nicht gewusst“, stellte Thanasis resigniert fest und fluchte heftig auf Griechisch. „Hören Sie, Thanasis …“ Er verdrehte die Augen. Ella biss sich auf die Lippen. „Also gut, ich versuche es mit Du. Mein Start mit Dirk war alles andere als glücklich. Er hat mich mit diesem Auto vom Flughafen abgeholt und sich so gebärdet, als wäre er hier der König der Welt. Ich ging davon aus, dass das Auto nur ihm zur Verfügung stünde. Als ich merkte, dass es hier noch keine Lebensmittel gab, googelte ich diesen Supermarkt und bin damit gut zurechtgekommen. Und tue es weiterhin“, giftete sie ihn an und trat noch einen Schritt zurück. Thanasis stieg aus, umrundete die Motorhaube und öffnete für Ella die Tür. Plötzlich bückte er sich, hob sie hoch und setzte sie ins Auto. Dann drückte er der völlig überraschten Ella noch einen Kuss auf den Mund. „Von alleine hättest du deinen süßen Hintern wohl nie hier hineinbewegt. Das Frühstück geht auf mich. Dann gehe ich mit dir einkaufen. Und, wage es nicht, zu protestieren.“

In der riesigen Bar wurde Thanasis wie der verlorene Sohn begrüßt. Mehrere Männer scharten sich erfreut um ihn und redeten gleichzeitig auf ihn ein. Ella fühlte sich unbehaglich, suchte sich einen Platz und studierte die Karte. Sie entschied sich für ein typisches griechisches Frühstück mit Brot, Schafskäse, Gurken, Tomaten und Oliven. Sie war noch nicht hier gewesen und sah sich neugierig um. Zur Straßenseite hin gab es eine Theke, die im Sommer für den Eisverkauf verwendet wurde. Neben einigen gemütlichen Sitzecken verfügte die Bar über eine Tanzfläche. Hier war während der Saison wohl von früh bis spät Betrieb. Ella zog ihre Einkaufsliste heraus. Da sie auch ihre Geldbörse erwischt hatte, legte sie den Hamburger auf den Tisch. Sie überschlug die nächsten Tage und überlegte, ob sie noch etwas vergessen hatte. „Sagt dir ein griechisches Frühstück zu?“ Thanasis setzte sich neben sie. „Genau das habe ich mir ausgesucht. Bis auf das Weißbrot ist das ein guter Start in den Tag.“

Eine ältere Dame kam zum Tisch und feuerte eine Begrüßungssalve auf Thanasis ab. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Olympia. Wie geht es deinen Enkelkindern?“ Olympia strahlte übers ganze Gesicht und Ella merkte, dass Thanasis keine bessere Frage hätte stellen können. Noch während sie schwärmte, wanderte ihr Blick immer wieder zu Ella. „Darf ich dich mit der Buchungsmanagerin von Adrianas Paradise bekannt machen, Olympia? Ella del Rocco. Ella, das ist Olympia Passadakou.“ Ella lächelte die Dame an. „Sehr erfreut.“ Olympia scannte Ella und sie blieb bei ihren Händen hängen. Dann sah sie wieder zu Thanasis. Innerlich schien sie eine Frage, die ihr auf der Seele brannte, zu verneinen. „Wie geht es Kyra?“, fragte sie schließlich. Thanasis verkrampfte sich. „Sie ist in Athen und wird vermutlich auch dort bleiben. Es geht mich nichts mehr an.“ Olympia hob das Kinn und schnalzte kurz mit der Zunge. „Das griechische Frühstück, Thanasis? Auch für Sie?“, fragte sie in Ellas Richtung. „Ja, danke.“

„Hast du dir dein Essen schon mitgebracht?“ Er zeigte auf ihr Accessoire. „Das ist meine Geldbörse zum Einkaufen von Lebensmitteln.“ „Darf ich?“ Ella nickte und schob sie zu ihm hinüber. Mit einem Schmunzeln schaute sich Thanasis das kleine Kunstwerk an. Der Stoffburger ließ keine Wünsche offen. Zwischen dem flauschigen Brötchen mit aufgestickten Sesamkörnern gab es das Fleisch aus rauem Stoff, eine angedeutete Käsescheibe, eine Gurke und eine feine grüne Spitze mimte den Salat. Ein Reißverschluss auf der Seite führte anscheinend zum Innenleben der Geldbörse. „Hast du das gemacht?“ „Ja, das ist ein Prototyp. Es war eine Idee für das Geschäft, in dem ich arbeitete. Meine Chefin wollte aber nur den Broccoli, den Kohl und den Mangold in den Verkauf nehmen. Vom Hamburger wollte sie nichts wissen. Sie betrachtete ihn als Sakrileg. Obwohl es mittlerweile auch vegane Burger gibt.“ „Ich finde ihn witzig.“ Thanasis gab ihn Ella zurück und sein Blick fiel auf ihre Notiz. „Sogar deine Einkaufsliste ist ein kalligraphisches Kunstwerk.“ Ella lachte fröhlich auf. „Wie hast du dir die nächsten Tage eigentlich vorgestellt?“ Mit dir zu jeder Gelegenheit ins Bett zu gehen, schoss es Thanasis durch den Kopf, doch er hielt sich rechtzeitig davon ab, diesen Gedanken auch laut auszusprechen. „Was meinst du?“ „Wolltest du jeden Tag auswärts essen gehen?“ Er nickte. „Sobald es sich herumgesprochen hat, dass ich hier bin, regnet es Einladungen. Die sind aber nur für den Abend. Würde es dir etwas ausmachen, für mich mit zu kochen?“ „Das kann ich gerne machen.“ Ella kramte in ihrem Rucksack und holte einen Bleistift heraus, um ihre Liste zu ergänzen. Sie begann an ihrem Fingernagel zu kauen und schrieb noch einige Dinge auf. „Ich habe mich von Kyra getrennt. Das ist aus und vorbei“, sagte Thanasis. Ella zuckte nur leicht mit den Schultern. „Wie es scheint, droht dir mit mir sowieso keine Gefahr, dass ich als deine neue Freundin herbeifantasiert werde. Ganz Griechenland weiß, wie fantastisch Kyra aussieht.“ „Kaust du immer an den Fingernägeln?“ „Nein, nur, wenn ich nervös bin.“ Ella hörte sofort auf. „Mache ich dich nervös?“ „Nein, dein Scheinwerferlicht.“ „Normalerweise sonnen sich die Frauen an meiner Seite sehr gerne darin.“ Ella erblasste und sah ihn ehrlich entsetzt an. „Stell mich bitte nie wieder mit denen in eine Reihe“, krächzte sie. „Da gehöre ich nämlich nicht hin.“ „Nein, das tust du nicht. Aber im besten aller Sinne, Ella. Es tut mir leid“, sagte Thanasis weich und er schien es wirklich zu bedauern. Olympia brachte das Frühstück. Da sie bemerkte, dass sich diese Ella nicht wie eine Klette an Thanasis klebte, war sie eine Spur freundlicher. „Ich hoffe, Sie mögen einen echten griechischen Kaffee.“ Ella schenkte der Barbesitzerin ein strahlendes Lächeln. „Ich nehme ihn sehr gerne, ευχαριστώ πολύ.“

Im Supermarkt wurde Thanasis genauso umkreist wie zuvor in der Bar. Ella schnappte sich einen Einkaufswagen und tauchte zwischen den Regalen ab. Bei der Theke ließ sie sich frischen Ziegenkäse und Schinken geben. „Wie geht es Ihnen, Agni?“, fragte sie die Verkäuferin, mit der sie schon bei ihrem ersten Einkauf ins Plaudern gekommen war. „Danke, gut. Haben Sie sich eingelebt? Genießen Sie die Spaziergänge am Strand?“ „Ja, die Arbeit läuft gut. Und der Strand ist wunderbar“, sagte Ella. Thanasis stellte sich neben sie und schenkte ihr einen liebevollen Blick. Ella war einfach entzückend, wenn sie Griechisch sprach. „Hast du alles gefunden?“ „Mandeln und Nudeln fehlen noch. Auf Wiedersehen, Agni. Ich wollte noch mit dem Leiter des Supermarkts reden, ob ich ein paar Sachen außerhalb des Sortiments bestellen kann.“ Thanasis legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich mache dir einen anderen Vorschlag, Ella. Du gibst mir die Liste und ich kümmere mich darum, dass das Zeug in den Club geliefert wird. Wie ich das sehe, werden wir diese Vorräte sowieso auch für die Gäste brauchen.“ Ella nickte zurückhaltend, doch musste sie zugeben, dass Thanasis’ Vorschlag die einfachste Lösung war. Sie strahlte ihn an. „Danke.“ Kaum waren die Kunden weg, zog Agni ihr Mobiltelefon hervor. Rasch tippte sie eine Nachricht an ihren Verlobten Vassos. Er war Fotograf und verdiente sich gerne Geld als Paparazzo dazu. Adrianakis ist hier. Mit neuer Frau. Bei Sonnenaufgang am Strand vom Paradise könnte es klappen. Hochzufrieden steckte sie das Telefon wieder ein und malte sich aus, wie viel Geld Vassos mit den Fotos verdienen würde.

Im Club wollte Thanasis die Einkäufe in sein Haus bringen, doch Ella dirigierte ihn in die Personalküche und übernahm das Einräumen. Die Uhr sprang auf neun Uhr und in Athen begann offensichtlich das Arbeitsleben. Thanasis’ Telefon begann zu klingen. Er warf Ella eine Kusshand zu und verschwand in sein Büro. Ella ging sich umziehen und setzte sich wenig später auch an die Arbeit. Das Klingeln ihres Telefons holte sie vom 836sten Mail weg. „Stefania!“, rief sie erfreut aus. „Hallo, Mama. Ich habe tolle Neuigkeiten. Lukas hat mich gestern gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Er war so süß und romantisch. Ich habe natürlich Ja gesagt.“ „Oh, mein Schatz, das ist ja ganz wunderbar.“ „Er hat mir einen wunderschönen Ring gekauft. Ich schicke dir nachher ein Foto davon.“ Ella merkte, dass ihre Tochter herumhüpfte wie ein Gummiball. Das hatte sie schon als Kind gemacht, wenn sie sich sehr über etwas gefreut hatte. „Ich bin sehr glücklich für dich“, sagte Ella weich. „Heute Abend sind wir bei seinen Eltern eingeladen und wollen es ihnen gemeinsam sagen. Zum Glück geht es bei denen normal zu und nicht so komisch wie bei dir und Papa.“ „Meine Ehe war komisch?“, fragte Ella leise. Stefania schien nicht zu merken, wie sehr sie ihre Mutter verletzte. „Na, ja. Du bist immer arbeiten gegangen. Und dann die Sache, dass ihr nicht zusammen geschlafen habt oder, dass du dich von ihm getrennt hast. Lukas’ Mutter wollte bewusst zu Hause bleiben und sein Vater geht arbeiten. Ich hoffe, dass wir das auch so machen können.“ Ella holte tief Luft. „Ich danke dir für deine Einschätzung, Stefania. Dein Vater hat mir mit seinen Launen das Leben zur Hölle gemacht, weil ich seinen heiligen Schlaf gestört habe. Darum bin ich mit meinem Bett ins Wohnzimmer übersiedelt. Ich habe mich nicht von ihm getrennt, sondern er hat mich nach 22 Ehejahren ohne Hinweis auf seinen Verbleib verlassen. Nur allzu gern wäre ich zu Hause geblieben, um mein Kind aufwachsen zu sehen. Dein Vater hatte einige Jobs, hat aber immer nach wenigen Wochen befunden, dass es nichts für seinen natürlichen Rhythmus wäre und es blieb mir überlassen, die Familie mit zahllosen Überstunden und Wochenenddiensten zu ernähren. Und ich freue mich, wenn du dein fertiges Studium, das ich mit meiner Arbeit finanziert habe, jetzt dazu verwendest, um Hausfrau und Mutter zu werden.“ Ella begann zu weinen. „Ich … ich muss das Gespräch beenden.“ Ella kappte die Verbindung, warf das Telefon auf ihren Schreibtisch, vergrub das Gesicht in ihren Händen und sie weinte. Sie weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Plötzlich wurde sie von starken Händen hochgezogen und landete an einer harten Männerbrust in einer tröstenden Umarmung. Thanasis drückte Ella an sich und flüsterte ihr griechische Koseworte zu. Es schien, dass Ella ihr ganzes Leben beweinte. Nur langsam verebbten ihre Schluchzer. „Ella, meine süße Ella. Es tut mir leid, aber ich habe alles gehört. Ich war gerade im Gang.“ „Meine Tochter denkt, dass meine Ehe komisch war. Ich … ich habe mich zwei Jahrzehnte bemüht, mit einem psychisch labilen Mann eine halbwegs solide Beziehung zu führen. Ich habe meine Tochter keiner Trennung und keinem Scheidungskrieg ausgesetzt. Jetzt will sie heiraten und teilt mir mit, dass sie die Ehe ihrer Eltern komisch gefunden hat.“ „In ein paar Jahren wird sie herausgefunden haben, was für ein schwieriges Unterfangen eine Ehe ist. Selbst mit den besten Vorzeichen gibt es Höhen und viele, viele Tiefen. Wenn der Start schon unter einem schlechten Stern gestanden hat, wird es eine noch größere Herausforderung“, sagte Thanasis leise. „Ich … ich habe zu spät bemerkt, dass Lorenzo wirkliche Probleme hat. Da war Stefania schon auf der Welt und wir steckten mitten im Alltag. Ich habe oft überlegt, mich scheiden zu lassen, doch ich wusste, dass mein Mann dann komplett abstürzt und die Situation aus dem Ruder gerät. Seine andauernden Krisen wären mir ja doch nicht erspart geblieben. Es wäre noch schlimmer geworden. Ich wusste, es war besser, ihm ein stabiles Umfeld zu bieten.“ „Möchtest du das immer noch? Dich scheiden lassen?“ Ella holte tief Luft. „Ich … ich denke schon. Vor allem nach diesem Telefonat weiß ich, dass ich wirklich einen Schlussstrich ziehen sollte. Nur, fürchte ich, dass es jetzt zu spät ist. Ich kann den Scheidungsantrag wohl schlecht an Lorenzo Guru Indien Nirgendwo schicken.“ „Wie lange ist er schon weg?“ „Über zwei Jahre.“ „Würdest du mich dir helfen lassen? So, wie ich das sehe, war die Zeit der Trennung lang genug und dein Mann hat sich einige schwere Eheverfehlungen zuschulden kommen lassen. Dafür wird jeder Richter Verständnis haben und deinem Scheidungsbegehren stattgeben.“ „Ich kann mich auch ohne ihn vom ihm scheiden lassen?“ „Ja, Ella. Du wirst wieder frei sein.“ Thanasis nahm ihr Gesicht liebevoll in seine Hände und lächelte. „Du musst aber damit rechnen, dass ich nicht zulassen werde, dass sich ein anderer Mann um dich bemühen kann.“ Er legte seinen Mund auf ihren und wie an diesem Morgen am Strand flüsterte er: „Küss mich, Ella. Bitte, küss mich.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739495538
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Über 50 Best Ager Seelenpartner Silver Ager Zweite Chance Sexszenen Hindernisse Liebe Erotik

Autor

  • Ea Devlin White (Autor:in)

Ea Devlin White verführt ihre Leserinnen und Leser mit erotischen Geschichten in eine Welt, in der Silver Ager die Liebe mit all ihren schönen Seiten wiederfinden.
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Titel: Ella & Thanasis