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Vertrau dir (nicht): Psychothriller

von Chris Karlden (Autor:in)
244 Seiten

Zusammenfassung

Ein verlorenes Gedächtnis. Eine schockierende Erinnerung. Eine grausame Wahrheit. Manchmal lässt man die Vergangenheit besser ruhen! Vor Jahren verlor Vincent sein Gedächtnis. Plötzlich glaubt er, sich wieder daran zu erinnern, den Mord an einer jungen Frau beobachtet zu haben. Doch schon bald kann er nicht mehr ausschließen, dass diese Erinnerung trügt und nicht der dafür Verurteilte das schreckliche Verbrechen begangen hat, sondern er selbst. Ein weiterer Mord geschieht. Als die Polizei Vincent verdächtigt, ermittelt er auf eigene Faust. Dabei stößt er auf immer mehr Puzzleteile seines früheren Lebens und auf einmal wird die Wahrheit zur tödlichen Bedrohung für ihn und alle, die ihm nahestehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Ein verlorenes Gedächtnis. Eine schockierende Erinnerung. Eine grausame Wahrheit. Manchmal lässt man die Vergangenheit besser ruhen!

Vor Jahren verlor Vincent sein Gedächtnis. Plötzlich glaubt er, sich wieder daran zu erinnern, den Mord an einer jungen Frau beobachtet zu haben. Doch schon bald kann er nicht mehr ausschließen, dass diese Erinnerung trügt und nicht der dafür Verurteilte das schreckliche Verbrechen begangen hat, sondern er selbst. Ein weiterer Mord geschieht. Als die Polizei Vincent verdächtigt, ermittelt er auf eigene Faust. Dabei stößt er auf immer mehr Puzzleteile seines früheren Lebens und auf einmal wird die Wahrheit zur tödlichen Bedrohung für ihn und alle, die ihm nahestehen.

ÜBER DEN AUTOR

Chris Karlden, Jahrgang 1971, studierte Rechtswissenschaften. Mit seinem ersten Roman, dem als E-Book veröffentlichten Psychothriller »Monströs«, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller. Seitdem sind von ihm viele erfolgreiche Thriller erschienen. Der Autor lebt mit seiner Familie grenznah zu Frankreich und Luxemburg im Südwesten Deutschlands. Mehr Informationen unter https://chriskarlden.de

1

Dienstag

Die Bäume links und rechts des Weges bildeten ein grünes Blätterdach. Unzählige Vögel pfiffen in den Wipfeln. Wie oft im Sommer war die Luft schwülwarm. Doch am frühen Abend war es im Wald deutlich angenehmer als unten im Dorf.

Er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und schaute auf seine Armbanduhr. Ungläubig runzelte er die Stirn. Für die Strecke, auf deren Ende er zusteuerte, brauchte er ungefähr eine Dreiviertelstunde. Um halb sieben war er gestartet. Es hätte demnach kurz nach sieben sein müssen. Seine Uhr zeigte aber halb neun an. Sie musste während des Joggens kaputt gegangen sein. Anders konnte er sich den Zeitsprung nicht erklären.

Er konnte sich auch nicht daran erinnern, weiter als sonst gelaufen zu sein. Gleichzeitig wurde ihm mit einem Schreck bewusst, dass ihm vom Start an jegliche Erinnerung an den Lauf fehlte. Etwas Derartiges war ihm noch nie passiert, aber auch nicht völlig fremd. Es kam vor, dass er sich am Ende einer Autofahrt nicht mehr an Details erinnerte. Er wusste nicht mehr, ob er an Ampeln gehalten hatte, ob sie Grün gewesen waren oder er sie gar bei Rot überfahren hatte. Aber das hier fühlte sich anders an. Stärker, intensiver. Eine andere Beschreibung hatte er dafür nicht.

Einen Fuß vor den anderen, der darauf abgestimmte Atemrhythmus. Er liebte es zu laufen. Für ihn kam es einer Meditation gleich. Aber gerade war es eine Qual. Er keuchte und schleppte sich mühsam in einem langsamen Trab voran. Sein Kopf schmerzte und er fühlte sich schwach und ausgelaugt.

Endlich kam die letzte Weggabelung in Sicht. Er bog rechts ab. Vor ihm lag nun eine lange Gerade. An deren Ende befand sich der am Waldrand gelegene Parkplatz.

Kurze Zeit später war er an seinem Wagen. Er war froh, die Laufrunde hinter sich zu haben. Seine Kopfschmerzen hatten noch weiter zugenommen. Er fühlte sich kraftlos und ihm war übel. Nach Luft ringend beugte er seinen Oberkörper vor und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab. Auf die Dehnübungen, die er sonst nach dem Joggen absolvierte, verzichtete er.

Stattdessen holte er den Autoschlüssel aus der Tasche seiner Laufhose, stieg in den Wagen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Verblüfft starrte er auf die Cockpituhr. Es war zwanzig vor neun. Seine Armbanduhr funktionierte also doch.

Er hielt inne, überlegte, konnte sich aber die Zeit, die viel weiter vorangeschritten war, als er gedacht hatte, nicht erklären. Eine tiefe Unruhe überkam ihn.

Sicher fragte sich Hanna schon, wo er blieb. Er nahm sein Smartphone aus dem Handschuhfach. Die darauf eingeblendete Uhrzeit stimmte mit der auf dem Cockpitdisplay überein. Es waren keine eingegangenen Nachrichten oder Anrufe verzeichnet. Er runzelte die Stirn. Er hätte gewettet, dass seine Frau versucht hatte, ihn zu erreichen.

Er fuhr vom Parkplatz auf den angrenzenden Feldweg, der nach ein paar Hundert Metern in eine Dorfstraße mündete. Dabei blickte er auf die Sonne, die in Kürze hinter einer weit entfernten Hügelkette verschwinden würde.

Fünf Minuten später parkte er seinen Wagen in der Einfahrt seines Hauses. Er schloss kurz die Augen, atmete durch und stieg aus. Er würde eine Schmerztablette einnehmen, viel Wasser trinken und kalt duschen. Danach würde es ihm bestimmt besser gehen.

Er schritt über den von Lavendel gesäumten Vorgartenweg zur Eingangstür, steckte den Hausschlüssel ins Schloss und versuchte, ihn zu drehen. Es funktionierte nicht. Hektisch wischte er sich den noch immer rinnenden Schweiß von der Stirn. Er probierte nochmals, die Tür zu öffnen. Diesmal ging er brachialer vor. Es half nichts. Wenn er so weitermachte, würde er den Schlüssel im Schloss abbrechen.

Nervös betätigte er die Klingel. Gleichzeitig erblickte er rechts am Türrahmen das schwarze Band, welches die Sternsinger zum Segen des Hauses alljährlich Anfang Januar neu beschrifteten. Augenblicklich wurden seine Beine weich und er sackte in den Knien ein: Die Jahreszahl, die auf das Band gemalt war, lag fünf Jahre in der Zukunft.

Er schaffte es, den aufkommenden Brechreiz zu unterbinden. Die Tür wurde geöffnet. Er erstarrte. Die freundlich lächelnde Frau ihm gegenüber war nicht seine Ehefrau. Es war nicht Hanna. Er hatte diese Frau noch nie zuvor in seinem Leben gesehen.

Der Schwindel in seinem Kopf nahm zu. Er blickte auf die Jahreszahl am Türrahmen, den nicht passenden Hausschlüssel in seiner Hand, auf die Frau. Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb. »Wer sind Sie?«, fragte sie.

Sein Unterkiefer klappte nach unten. Er wischte einen Speichelfaden von seiner Unterlippe.

»Ich … Ich bin …« Er schluckte. »Mein Name ist Maik.« Er griff sich mit beiden Händen seitlich an den Kopf und presste die Lider zusammen. Sein Nachname wollte ihm nicht einfallen.

»Sie machen einen verwirrten Eindruck«, sagte die Frau.

Seine Verunsicherung wich allmählich Wut. Er funkelte sie an. »Was machen Sie hier? Das ist mein Haus.«

Die Fremde trat einen Schritt zurück. Ein Ausdruck von Panik legte sich auf ihr Gesicht.

Er versuchte, sich zusammenzureißen, und hob beschwichtigend die Hände. »Keine Angst, ich tue Ihnen nichts.«

Die Frau zog die Augenbrauen zusammen. »Sie liegen falsch. Ich und mein Mann haben dieses Haus vor drei Jahren gekauft. Es stand davor lange Zeit leer.«

»Das kann nicht sein. Ich war nur kurz im Wald joggen«, erwiderte Maik.

Sie musterte ihn. »Auf Ihrem Shirt sind Tannennadeln und dunkle Flecken. Die könnten vom Waldboden stammen. Vielleicht sind Sie gestürzt.«

Instinktiv fasste er sich an die linke Kopfseite und fühlte eine Beule. Sie tat weh, als er darauf drückte.

Die Frau deutete auf das Smartphone in seiner Hand. »Am besten rufen Sie jemanden an, den Sie kennen.«

Er starrte sie wie paralysiert an und versuchte, sich zu konzentrieren. Sein Gedächtnis war wie leer gefegt.

Mit zitternden Händen tippte er auf die Telefonfunktion seines Handys. Ganz oben erschien die Nummer, mit der er am meisten telefoniert hatte. Statt eines zugehörigen Namens war dort nur ein Herzsymbol abgebildet.

Er drückte das grüne Hörersymbol und hielt sich mit bebender Lippe das Gerät ans Ohr. Dabei ließ er die fremde Person vor sich, in deren Gesichtsausdruck sich nun Züge tiefen Mitleids mischten, nicht aus den Augen. Druck legte sich auf seine Ohren und sein Atem ging schnell und flach. Endlich ging Hanna ran. »Vincent, wo bist du? Gerade wollte ich dich auch anrufen. Ich hab mir Sorgen gemacht.«

Er war verdutzt und brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. »Vincent? Hier ist Maik«, antwortete er schließlich.

Schweigen war in der Leitung. Sein Blick verengte sich zu einem Tunnel, an dessen weit entferntem Ende sich das Gesicht der Frau vor ihm drehte wie ein Glücksrad.

»Vincent, das ist nicht lustig. Von wo aus rufst du an?« Hannas Stimme klang ganz anders als sonst. Er bezweifelte, dass das seine Frau am anderen Ende der Leitung war.

»Ich stehe vor unserem Haus. Eine fremde Frau hat mir geöffnet.« Er sprach betont langsam, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er im Begriff war, durchzudrehen.

»Vincent, das kann doch gar nicht sein.«

»Was? Warum denn nicht?« Seine Stimme zitterte.

»Weil ich daheim in unserem Haus bin. Ich habe, während ich mit dir spreche, vor unserer Haustür nachgesehen. Aber da bist du nicht. Was ist los mit dir? Ich bekomme langsam Angst.«

»Ich weiß es nicht«, stammelte er.

»Vincent, gib mir bitte mal die Frau, die bei dir ist.«

Er hörte die Stimme, die nicht Hannas Stimme war, wie weit entfernt. Statt ihrer Aufforderung nachzukommen, startete er einen weiteren Versuch. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Aber mein Name ist Maik und ich will jetzt sofort mit meiner Frau Hanna sprechen. Offensichtlich sind Sie im Besitz ihres Handys.«

Schluchzer drangen an sein Ohr. »Oh mein Gott«, wimmerte die Frau. »Du heißt nicht Maik. Du heißt Vincent. Ich bin deine Verlobte und mein Name ist nicht Hanna, sondern Lisa.«

Die Farben verblassten. Die Welt um ihn herum drehte sich immer schneller, bis alle Formen nur noch schemenhaft zu erkennen waren. Seine Beine gaben nach. Die Frau stützte ihn und er setzte sich auf den Treppenabsatz. Sein Rücken fand Halt an der Hauswand. Dunkelheit überkam ihn und er verlor das Bewusstsein.

2

Mittwoch

Als er zu sich kam und die Augen öffnete, tat sein Kopf höllisch weh, seine Kehle war staubtrocken und die gleißenden Sonnenstrahlen, die durch das große seitliche Fenster in den Raum fielen, verursachten einen stechenden Schmerz auf seinen Netzhäuten. Er hielt sich den Handrücken vor die Augen und richtete den Oberkörper auf. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, nahm er die Hand weg und sah sich um.

Er lag in einem weiß bezogenen Bett, über ihm ein Triangelgriff an einem Galgen. In seinem linken Handrücken steckte eine Kanüle, die über einen Schlauch mit einem Infusionsbeutel verbunden war, der an einem Tropfständer hing. Die Wanduhr zeigte sieben Uhr fünfundzwanzig an.

Rechts neben ihm stand ein elektronisches Kontrollgerät, mit dem er verkabelt war. Links ein Beistelltisch mit einem Glas und einer Wasserflasche darauf. Daneben ein weiteres fahrbares Bett, das frisch bezogen und unbenutzt war. Er befand sich in einem Krankenhaus. Aber warum?

Er war mit seinem Wagen zum Waldparkplatz gefahren, um eine Runde zu laufen. Das war seine letzte Erinnerung.

In dem Zimmer gab es einen Tisch an der den Betten gegenüberliegenden Wand. Einer der beiden zugehörigen Stühle stand ihm zugewandt neben seinem Bett.

Die Tür wurde langsam geöffnet und eine junge Frau mit blonden langen Haaren trat zaghaft ein. Als sie ihn sah, verschüttete sie fast den Inhalt des Pappbechers in ihrer Hand.

»Du bist wach!«, rief sie freudestrahlend. »Ich war die ganze Zeit bei dir und nur kurz weg, um mir einen Kaffee zu besorgen.«

Er lächelte. Schnell kam sie mit einem breiten Lachen auf den Lippen näher. Gleichwohl stand ein Ausdruck von Unsicherheit in ihrem Gesicht. Hastig stellte sie den Becher auf dem Tisch ab, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

Sie löste sich und trat einen Schritt zurück. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Soll ich den Arzt rufen?« Ihre Fragen schienen ihm so schnell hintereinander wie die Kugeln eines Maschinengewehrs abgefeuert.

»Lisa, mein Schatz«, sagte er. »Es tut gut, dich zu sehen.«

Lisa atmete tief ein, hielt kurz die Luft an und blies sie in einem Schwall aus. Es schien, als würde eine tonnenschwere Last von ihr abfallen.

»Was ist denn los?«, wunderte er sich.

»Ich bin einfach nur froh. Du erkennst mich und weißt wieder meinen Namen.«

Vincent zog die Stirn kraus. »Warum sollte ich nicht wissen, wer du bist? Ich fühle mich ganz okay. Ich habe nur keine Ahnung, wie ich in dieses Krankenhaus gekommen bin.«

Sie sah ihn eindringlich an. »Wie ist dein Name?«

Er war verdutzt und zog die Augenbrauen zusammen. »Warum fragst du mich das?«

Lisa nahm seine Hand, drückte sie fest und sah ihn mit flehendem Blick an. Ihre Augen wurden feucht. »Sag mir bitte einfach, wie du heißt!«

Er atmete durch und sah sie eindringlich an. »Einverstanden. Aber dann sagst du mir, was los ist: Mein Name ist Vincent Herzog.«

Tränen kullerten aus Lisas Augen. »Gestern hast du behauptet, dass du Maik heißt.«

Er lachte auf. Aber Lisa hatte es ernst gemeint. Sie umarmte ihn abermals und legte ihren Kopf auf seine Brust.

»Daran erinnere ich mich nicht mehr«, sagte er und strich sanft über ihr nach Mango riechendes Haar.

Nach einer Weile richtete sich Lisa auf und setzte sich auf den Stuhl am Bett. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah ihn einen Moment schweigend an.

Vincent räusperte sich. »Ich weiß nur, dass ich zum Laufen in den Wald gefahren bin.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Beistelltischs. »Könntest du mir bitte ein Glas Wasser geben?«

»Selbstverständlich.« Lisa schenkte ihm ein Glas ein und reichte es ihm. Er richtete sich auf, trank es in einem Zug aus und gab ihr das Glas zurück. »Du bist zu einem fremden Haus gefahren und hast an der Tür geläutet. Als die Eigentümerin öffnete, hast du behauptet, es sei dein Haus und du würdest mit deiner Frau Hanna dort leben.«

Vincent hielt einen Moment die Luft an und schluckte. »Das kann ich nicht glauben.«

»Es ist aber so. Du hast mich von diesem Haus aus angerufen und nicht mehr gewusst, wer ich bin.«

»Wie bin ich ins Krankenhaus gekommen?«

»Du bist zusammengebrochen und warst nicht mehr ansprechbar. Die Hauseigentümerin hat den Rettungswagen alarmiert.«

Er senkte den Kopf und starrte die Bettdecke an.

»Der Notarzt hat eine Kopfverletzung bei dir festgestellt und hier im Krankenhaus wurde ein Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert«, fuhr Lisa fort. »Deine Sportsachen waren mit Erde beschmutzt, ebenso deine Haare. Die Ärzte gehen davon aus, dass du beim Laufen gestürzt bist. Das wäre ein Grund für dein merkwürdiges Verhalten.«

Vincent legte sich wieder zurück, sah zur Decke auf und versuchte, sich an den Waldlauf zu erinnern. Auf einmal schossen die passenden Bilder vor sein geistiges Auge. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und sah Lisa an. »Ich bin tatsächlich hingefallen. Auf dem unbefestigten Pfad, der zwei Hauptwege miteinander verbindet. Ich bin über eine Wurzel gestolpert. Danach weiß ich nichts mehr.«

»Immerhin«, sagte Lisa und lächelte. »Ich war die ganze Nacht bei dir. Du bist kein einziges Mal aufgewacht. Ich hatte Angst, dass du in ein Koma gefallen bist und nicht mehr zu Bewusstsein kommst. Vermutlich hast du den langen Schlaf gebraucht. Er scheint einiges in deinem Kopf wieder zurechtgerückt zu haben.«

Es klopfte an der Tür. Ein Mann mit Arztkittel kam ins Zimmer. Er hatte grau melierte Haare und trug eine rahmenlose Brille.

Er lachte breit, als er sah, dass Vincent nicht mehr schlief. »Ich bin Dr. Salomon. Ihr behandelnder Arzt.« Er stellte sich vor das Krankenbett. »Sie sind wach. Das ist wunderbar. Wie geht es Ihnen?«

»Eigentlich gut. Nur habe ich ein paar Gedächtnislücken. Allerdings erinnere ich mich wieder an meinen Waldlauf und an den Sturz. Auch sonst fühle ich mich ganz normal.«

»Das ist sehr gut. Als Sie gestern Abend zu uns gebracht wurden, haben wir Ihren Kopf untersucht. Äußerlich ist eine ausgeprägte Beule erkennbar. Das ist nicht schlimm. Aber bei einem Schädel-Hirn-Trauma besteht das Risiko innerer Blutungen. Das schauen wir uns heute nochmals an. Aber ich glaube, Sie sind glimpflich davongekommen.«

Vincent atmete erleichtert aus. »Meine Verlobte hat mir erzählt, dass ich zu einem fremden Haus gefahren bin und sie am Telefon nicht mehr erkannt habe. Das ist doch merkwürdig.«

Der Arzt nickte. »Das ist es und ich kann verstehen, dass Ihnen das Sorge bereitet. Aber so etwas kann vorkommen. Vermutlich waren Sie nach dem Sturz kurz bewusstlos. Der eingetretenen Hirnschwellung dürfte es zuzuschreiben sein, dass Sie sich nicht mehr erinnern, was Sie getan haben, nachdem Sie wieder zu sich gekommen sind.«

»Wie lange muss ich hierbleiben?«, fragte Vincent.

»Wir wollen in zwei Wochen heiraten und haben einiges vorzubereiten«, fügte Lisa hinzu.

Dr. Salomon rückte seine auf dem Nasenrücken nach vorn gerutschte Brille mit dem Zeigefinger zurück an die Stirn. »Auf jeden Fall sollte Herr Herzog zumindest eine weitere Nacht hierbleiben.«

Vincent seufzte. »Ich dachte, ich könnte jetzt gleich nach Hause.«

Lisa lächelte ihm zu. »Eine Nacht. Das ist zu verkraften.«

Dr. Salomon lächelte ebenfalls. »Einer Hochzeit steht danach nichts mehr im Wege.« Der Arzt machte eine Pause und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Er wirkte zögerlich.

»Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen möchten?«, fragte Vincent.

Dr. Salomon räusperte sich. »Ich war damals noch nicht in diesem Krankenhaus. Aber ich habe Ihren Unterlagen entnommen, dass Sie vor fünfeinhalb Jahren schon einmal mit einem Schädel-Hirn-Trauma eingeliefert wurden. Damals war die Angelegenheit deutlich ernster. Sie hatten eine offene Schädelfraktur. Es war lebensbedrohlich.«

Vincent nickte betrübt.

»In der Akte steht, dass Sie sich an Ihr Leben vor der Verletzung nicht mehr erinnern. Ist das noch immer so?«

»Ja«, sagte Vincent. Seit diesem Ereignis, wie er seinen damals erlittenen kompletten Gedächtnisverlust für sich bezeichnete, hatte sich nichts geändert.

Ein Autofahrer hatte ihn an einer Landstraßenraststätte am Rand eines bewaldeten Hügels bewusstlos auf dem Boden liegend gefunden. Seine Kleidung war übersät gewesen mit Erde und getrocknetem Blut. Er wusste bis heute nicht sicher, wie er sich die offene Kopfwunde zugezogen haben konnte und wie er dahin gekommen war. Sein Wagen hatte vor seinem Haus in seinem mehrere Kilometer entfernten Wohnort geparkt.

Die Polizei hatte wegen seiner Verletzung ermittelt, aber keine Beweise für Fremdeinwirkung gefunden. Da es an diesem Tag orkanartige Böen gegeben hatte, war man davon ausgegangen, dass ihm bei einem Waldspaziergang ein abgebrochener Ast auf den Kopf gefallen war.

Seine Erinnerungen an sein früheres Leben waren seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Welchen Beruf er erlernt hatte, welche Schule er besucht hatte, Erlebnisse, alles weg. Als er damals aus seiner Bewusstlosigkeit im Krankenhaus erwachte und in den Spiegel sah, kannte er den Mann, dem er ins Gesicht blickte, nicht. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Er hatte sein eigenes Ich verloren.

Wenigstens sein prozedurales Gedächtnis, in dem sein Allgemeinwissen verankert war, war intakt geblieben. Rad- und Autofahren, Kampfsporttechniken und Lesen. Das alles funktionierte tadellos.

Die Ärzte waren anfangs zuversichtlich, dass er sich bald wieder an seine Biografie würde erinnern können. Aber Vincent Herzog stellte sich als einer jener extrem seltenen Fälle heraus, in denen es bei einer dauerhaften Amnesie blieb. Drei Wochen nach dem Ereignis wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. In vielen Sitzungen bei einem Psychologen lernte er zu akzeptieren, was geschehen war, und sein neues Leben anzunehmen.

Da er erst ein Jahr zuvor in das kleine saarländische Dorf gezogen war und allein in dem von ihm gekauften Haus lebte, gab es niemanden, der ihm erzählen konnte, wie sich sein Leben vor dem Umzug gestaltet hatte. In seinem neuen Heim befanden sich keine Fotos oder Unterlagen, mit deren Hilfe alte Freunde, Verwandte, soziale Kontakte oder frühere Arbeitskollegen zu ermitteln gewesen wären. Nicht einmal das Einwohnermeldeamt war in der Lage, seine frühere Wohnadresse ausfindig zu machen. Angeblich sei er vor seinem Umzug nirgendwo gemeldet gewesen. Nie hatte ihn ein alter Bekannter, dem er vielleicht die neue Adresse hinterlassen hatte, besucht und in seinem Handy gab es keine Telefonnummern von früheren Freunden, die er hätte anrufen können. Seinen Namen, sein Alter von damals dreiunddreißig Jahren und die Adresse des von ihm erworbenen Hauses hatten die Ärzte seinem Personalausweis entnehmen können, der sich in seiner Geldbörse befunden hatte.

Das eine Jahr seines Lebens in der neuen Heimat hatte Vincent im Laufe der folgenden Wochen mühsam rekonstruiert.

Er arbeitete in einer Security-Firma, bei der er sich ohne schriftliche Bewerbung vorgestellt hatte. Er war sportlich, beherrschte ein paar Selbstverteidigungsgriffe und hatte keine Vorstrafen. Das hatte Hubert Koller, dem Inhaber der Firma, gereicht, um ihn zunächst probeweise und anschließend als freien Mitarbeiter zu beschäftigen. Nach einem Jahr hatte Vincent einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten.

Sein einziger Freund hieß Anton Heckmann. Nach dem Ereignis hatte Anton ihm erzählt, dass sie sich in einer Kneipe kennengelernt hatten. Sie hatten dort neben vielen anderen ein Fußballspiel im Fernsehen angeschaut. Vincent hatte einen Streit zwischen Anton und einem Fan der gegnerischen Mannschaft geschlichtet. Anton hatte ihm daraufhin ein Bier ausgegeben. Bei dem einen Getränk war es nicht geblieben. Am Ende waren sie beide betrunken nach Hause gewankt. Sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht und ein paar Tage später hatte Anton angerufen, um Vincent zu fragen, ob er mit zum Bowling kommen würde. Vincent hatte zugesagt. Seitdem trafen sie sich regelmäßig zum Bowlen und Fußballschauen.

Anton war vierundfünfzig Jahre alt, hatte eine erwachsene Tochter und war seit acht Jahren geschieden.

Seinen Job als Kundenberater bei einer Bank hatte er vor einigen Jahren aufgrund seines Alkoholkonsums und seiner Verschrobenheit verloren. Anton hing so manchen Verschwörungstheorien nach und hatte sie an die Bankkunden verbreitet. Zu allem Übel glaubte er fest an das, was er von sich gab.

Die stattliche Abfindung, mit der man ihn als langjährigen Mitarbeiter aus der Bank komplimentierte, war längst für Spielautomaten und beim Pokern draufgegangen.

Anton fand es merkwürdig, dass Vincent nach dem Gedächtnisverlust nicht mehr so ausgiebig mit ihm trank, und war anfangs deswegen sogar beleidigt gewesen. Doch mit der Zeit hatte er sich damit abgefunden, dass Vincent lieber nüchtern blieb.

Manchmal hatte Vincent mit Tonis Art so seine Schwierigkeiten, aber sie lachten doch häufig gemeinsam über die allzu oft verrückte Welt und drückten bei Sportübertragungen den Underdogs die Daumen.

Nach seinem Umzug und der Amnesie war Vincent froh gewesen, überhaupt jemanden zu haben, dem er vertrauen konnte. Sie hatten sich verbunden gefühlt, weil sie beide einsame Seelen gewesen waren. Für Vincent hatte sich dieser Zustand geändert, nachdem er mit Lisa zusammengekommen war. In gewisser Weise tat es Vincent leid, dass Toni nicht ebenfalls das Glück gehabt hatte, eine neue Beziehung zu finden.

Für Vincent war Toni ein treuer Freund, der von der komplexen Welt überfordert dauernd Schiffbruch erlitt und dem, wenn er es nicht tat, niemand sonst einen Rettungsring zuwarf. Auch wenn es anders schien, so war Toni doch ein sehr liebenswerter Mensch, der bereit war, für jemanden, den er mochte, sein letztes Hemd zu geben. Er verhielt sich nur leider oft wie ein verspielter Elefant im Porzellanladen und gab äußerlich den harten Mann, während er innerlich sehr verletzlich war. Vincent war davon überzeugt, dass Toni so viel trank, weil er mithilfe des Alkohols versuchte, den Schmerz, den die Trennung von seiner Familie in ihm ausgelöst hatte, zu verdrängen.

Dr. Salomon sah seinen Patienten nun nachdenklich an.

Vincents Gesicht verfinsterte sich. Das tat es immer, wenn das damalige Trauma, mit dem sein zweites Leben begonnen hatte, zum Thema wurde. Er hatte Eltern, an die er sich nicht erinnerte. Lebten sie noch oder waren sie bereits gestorben? Hatte er Geschwister? Er wusste es nicht.

»Warum sprechen Sie mich darauf an?«, fragte Vincent.

Dr. Salomon schien zu bemerken, dass Vincent Herzog dieser Punkt äußerst unangenehm war. Kurz presste er die Lippen zusammen und machte eine entschuldigende Geste. »Vielleicht hätte ich das Thema nicht berühren sollen. Vermutlich haben beide Vorfälle nichts miteinander zu tun.«

»Gibt es denn trotzdem etwas, das wir noch wissen sollten?«, hakte Lisa nach.

»Nicht direkt. Es ist nur eine Idee, die mir in den Kopf kam, als ich Ihre Krankenakte las.«

Lisa wandte sich Vincent zu. »Ich würde gern hören, was der Doktor meint, wenn du nichts dagegen hast.«

Vincent behagte die Situation nicht. Dennoch nickte er zustimmend.

»Der Gedanke ist weit hergeholt und medizinisch nicht belegt«, begann Dr. Salomon. »Aber vielleicht sind Sie nicht zufällig zu diesem fremden Haus gefahren.«

Lisas Stirn legte sich in Falten. »Mein Verlobter war nie zuvor in dieser Straße. Sie liegt abgelegen am Waldrand. Wir kennen niemanden dort. Es gibt kein Geschäft oder sonst einen Grund, warum er jemals dort gewesen sein sollte.«

Dr. Salomon hob die Augenbrauen. »Das wiederum können Sie nicht mit Sicherheit wissen. Vielleicht ist dieses Haus Teil einer Vergangenheit, die aus seiner Erinnerung gelöscht ist.« Er sah zu Vincent. »Das erneute Schädeltrauma könnte einen verschütteten Teil Ihrer Erinnerung freigelegt haben.«

Lisa stützte ihre Hände in die Hüften und spreizte die Ellenbogen ab. »Das glaube ich nicht. Es ergibt keinen Sinn. Mein Verlobter meinte, dass er mit seiner Frau in diesem Haus leben würde. Aber als er vor fünfeinhalb Jahren den Unfall hatte, wohnte er bereits in seinem jetzigen Haus und verheiratet war Vincent auch nicht.«

3

Freitag

Die Laubbäume des Waldes waren kahl und es regnete. Seine Kleidung war durchnässt und schmutzig, als wäre er durch Schlamm gekrochen. Dunkle Wolken verdüsterten den Himmel. Vincent lag bäuchlings umgeben von Unterholz am Waldrand, zitterte vor Kälte und spähte aus leicht erhöhter Position auf die Rückseite seines Hauses. An den rückwärtigen Fenstern und der Terrassentür waren keine Gardinen angebracht.

Seine Frau Hanna hielt sich im nach hinten gelegenen hell erleuchteten Wohnzimmer auf. Es war später Vormittag. Aber draußen war es dunkel wie am frühen Abend. Er befand sich etwa hundert Meter entfernt. Zwischen ihm und dem Haus lag ein Feld, das bis zu dem mit Drahtzaun umgrenzten Garten reichte. Neben seinem Haus verlief ein Wirtschaftsweg, der aber kurz vor den Bäumen endete. Das Gebäude lag einsam. Die nächsten Nachbarn lebten gut hundert Meter entfernt.

Wie aus dem Nichts stand plötzlich jemand bei Hanna im Zimmer. Ein Mann mit einer schwarzen Sturmhaube. Vincents Herz schlug wie ein Hammer in seiner Brust, sein Hals war wie zugeschnürt und in seinem Magen wütete ein Brennen wie von einem glühenden Eisen. Er versuchte aufzustehen, aber er konnte sich nicht bewegen. Er wollte schreien. Doch seine Lippen klebten aneinander und er schaffte es nicht, den Mund zu öffnen. Trotz der Kälte schwitzte er. Er kämpfte gegen seine Starre an, wollte aufspringen und loslaufen. Stattdessen verharrte er wie festgetackert im Morast der nassen Walderde. Mit aufgerissenen Augen blickte er aus der Ferne in das Wohnzimmer seines Hauses.

Hanna wich mit angstverzerrtem Gesicht vor dem Eindringling zurück. Ihr Mund war weit geöffnet. Sie schrie vermutlich. Doch durch die Scheiben drang kaum ein Laut nach draußen und auf die Entfernung hörte Vincent sie nicht.

Sie stolperte rücklings über einen Sessel. Der Maskierte ließ sich Zeit, als er auf sie zuging. Sie kroch auf dem Rücken liegend weg von ihm, bis die Wand ihr Einhalt gebot. Der Mann mit der Sturmhaube blieb vor ihr stehen und sah auf sie hinab. Dann schnappte er zu, zog sie an den Haaren hoch, um sie erneut zu Boden zu schleudern. Er zog eine Pistole. Vincent stockte der Atem. Der Einbrecher zielte auf Hannas Kopf und schoss.

Vincent konnte noch immer den Mund nicht öffnen und seine Muskulatur blieb weiterhin gelähmt. Tränen rannen seine Wangen hinab.

Ich bin schuld, dachte er. Ich bin schuld. Immer wieder und wieder hallte dieser eine Satz in seinem Kopf. Der Maskierte übergoss Hannas Leichnam mit einer Flüssigkeit, zündete ein Streichholz an und warf es auf sie. Ihr Körper ging in Flammen auf. Der Fremde entfernte sich. Kurz darauf brannte das ganze Haus.

»Nein«, schrie Vincent. Er schreckte im Bett hoch und blieb aufrecht darin sitzen. Er war schweißgebadet und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren.

Die wie Teufelsaugen anmutenden roten Leuchtdioden seines Weckers spuckten ihm die Uhrzeit zwei Uhr einunddreißig entgegen.

Gestern Mittag war er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Vincent schaltete seine Nachttischlampe ein. Lisa stand der Schreck ins Gesicht geschrieben.

»Nur ein Albtraum«, sagte Vincent beschwichtigend und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. Er legte sich wieder hin und wandte sich Lisa zu, die ihn aus verängstigten Augen ansah. »Möchtest du mir erzählen, was du geträumt hast?«

Vincents Herz galoppierte wie ein Rennpferd auf der Zielgeraden und die durch den Albtraum ausgelöste Todesangst wollte nicht verebben. Es fiel ihm schwer, äußerlich Gelassenheit auszustrahlen. Doch auf keinen Fall wollte er Lisa mit dem noch präsenten und nachwirkenden Traum belasten. Das Geschehen darin hatte vollkommen real auf ihn gewirkt.

»Es war unsinniges Zeug. Nicht der Rede wert. Schlaf bitte weiter«, beschwichtigte er sie.

»Okay, ich versuch’s.« Sie lächelte und schloss die Augen.

Lisa war ein Engel. Sie hatten sich vor vier Jahren über ein Dating-Portal kennengelernt. Sie teilten ihre gemeinsame Leidenschaft für sportliche Betätigung. Lisa hatte von Kindesbeinen an Leichtathletik getrieben. Zudem war sie eine wundervolle Sängerin. Ihre Stimme hatte einen angenehmen und wohltemperierten Klang. Am liebsten sang Lisa Schlager. Sie wagte sich aber auch mal an die aktuellen englischsprachigen Popsongs. Vincent liebte es, wenn sie für ihn sang. Eine weitere Leidenschaft galt dem Tanzen. Dem hatte Vincent zunächst wenig abgewinnen können. Doch Lisa zuliebe hatte er schließlich gemeinsam mit ihr einen Salsa-Kurs belegt und irgendwann hatte es ihm sogar Spaß gemacht.

Nachdem sie ein Jahr liiert gewesen waren, hatten sie beschlossen, dass Lisa ihre Wohnung aufgeben und in sein Haus, das er vor sechseinhalb Jahren gekauft hatte, einziehen würde. Ihr Zusammenleben funktionierte harmonisch und hatte ihre Beziehung noch weiter intensiviert.

Er schaltete das Licht aus. Fünf Minuten später hörte er Lisas lang gezogenes Atmen. Vincent stieß einen leisen Seufzer aus. Er war froh, dass sie so schnell wieder eingeschlafen war.

Sein Herz schlug ihm noch immer bis zum Hals und er war hellwach. Im Dunkeln starrte er an die Zimmerdecke. Immer wieder musste er an den Traum denken. Um sich zu beruhigen, versuchte er, sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht ganz. Wieder und wieder lief der Albtraum wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab. Warum hatte er die Frau in dem Haus für seine Ehefrau gehalten? Und was hatte es mit diesem Haus auf sich? Lisa hatte ihm erzählt, er sei nach seinem Laufunfall zu einer fremden Adresse gefahren, von der er offenbar angenommen hatte, dass er dort mit seiner Frau wohnen würde. Zu diesen trüben Gedanken mischte sich sein seelischer Schmerz, den er wie einen Schatten mit sich trug und der daher rührte, dass er nicht wusste, wer er wirklich war.

Die ersten dreiunddreißig Jahre seines Lebens lagen nach seinem Gedächtnisverlust vor fünfeinhalb Jahren im Dunkeln. Nicht eine einzige Erinnerung daran war ihm geblieben. Wie war er zu dem Menschen geworden, der er heute war? Er fühlte eine tiefe Traurigkeit, die sich wie zähflüssiges schwarzes Öl in ihm ausbreitete.

Den Rest der Nacht verbrachte er in stetem Wechsel zwischen kurzzeitigem Einnicken und lang anhaltenden Wachphasen, in denen er sich im Bett herumwälzte.

Gegen sechs Uhr dreißig gab er schließlich auf und ging ins Bad. Er öffnete das Dachfenster, atmete die frische Luft ein und schaute hinaus in die Gärten der umliegenden Häuser. Die Sonne schien, der Himmel war nur leicht bewölkt und die Vögel zwitscherten wie in einem Wettstreit.

Sein Haus stand in einem Gebiet, das in den frühen Neunzigerjahren bebaut worden war. Es gab einige Bungalows. Aber die meisten der im Karree angeordneten Häuser hatten Satteldächer. Die dahinter gelegenen Gärten grenzten aneinander, sodass sich insgesamt eine Grünfläche von der ungefähren Größe eines Fußballfeldes ergab.

Er ließ das Fenster einen Spalt weit offen und nahm eine Dusche. Als er im Bad fertig war, zog er sich an, setzte eine Kanne Kaffee auf und bereitete für Lisa und sich eine Schale Müsli mit Joghurt, Früchten und Nüssen als Frühstück zu.

Er hatte bereits eine Tasse Kaffee getrunken, als Lisa um Viertel nach sieben noch im Schlafanzug zu ihm kam. Sie gab ihm einen Kuss und wünschte ihm einen guten Morgen. Lisa arbeitete als Verkäuferin in einem Modehaus und musste heute erst um dreizehn Uhr dreißig anfangen.

Da es draußen angenehm warm war, frühstückten sie auf der Terrasse.

»Wir haben um elf Uhr einen Termin in Helgas Scheune

»Ich weiß«, sagte Vincent und schaufelte einen Löffel Müsli in den Mund.

Die Scheune war ein Lokal mit einem schönen Festsaal. Sie würden ihre Hochzeit dort feiern und heute wollten sie die Details wie den Saal- und den Tischschmuck festlegen.

»Ich würde gern davor ins Fitnessstudio. Der neue Spinning-Kurs fängt heute an. Wäre das für dich in Ordnung?«, fragte Lisa.

»Ja, natürlich. Nur weil der Arzt mir Ruhe verordnet hat, brauchst du nicht auf deinen Sport zu verzichten.«

Lisa strahlte. »Schließlich soll das Hochzeitskleid in zwei Wochen auch noch passen.«

»Diesbezüglich habe ich keine Sorge.«

»Treffen wir uns um elf vor der Scheune?«

Das Lokal lag ungefähr in der Mitte zwischen dem Fitnessstudio und Vincents Haus. Es bot sich also an, dass jeder mit seinem eigenen Auto dorthin fuhr.

»Geht klar.«

»Was machst du in der Zwischenzeit?«

Vincent streckte sich und gähnte ausgiebig. »Schätze, ich lege mich auf die faule Haut.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

Er lachte. »Vielleicht gehe ich eine Runde spazieren.«

»Das wird dir sicher guttun«, stimmte Lisa zu.

»Ab morgen ist aber Schluss mit dem Schonprogramm. Ich sehe keinen Grund, warum ich nicht wieder arbeiten sollte.«

Seine Freundin zog missbilligend die rechte Augenbraue hoch und machte einen Schmollmund.

»Was?«

»Mir wäre es lieber, wenn du ein paar Tage länger zu Hause bleiben würdest.«

Er wusste, dass Lisa sehr um seine Gesundheit besorgt war, und lächelte. »Hier ist mir jetzt schon langweilig, und ich fühle mich bei dem Wetter wie eingesperrt. Das drückt auf meine Stimmung. Schließlich fühle ich mich fit.«

Lisa erwiderte sein Lächeln und winkte ab. »Von mir aus. Du machst ohnehin, was du willst.«

Um kurz nach halb neun verließ sie das Haus. Vincent tauschte eine kaputte Glühbirne im Esszimmer aus. Anschließend mähte er den Rasen. Um Viertel nach neun war er damit fertig und überlegte bei einer weiteren Tasse Kaffee auf der Terrasse, ob er mit dem Wagen zum Waldparkplatz fahren oder von hier aus zu einem Spaziergang durch das Dorf aufbrechen sollte.

Plötzlich kam ihm in den Sinn, was Dr. Salomon gesagt hatte. War es womöglich gar kein Zufall, dass er nach seinem Laufunfall zu dem fremden Haus gefahren war? Sein Unterbewusstsein könnte ihn automatisch dorthin gelotst haben, weil er schon einmal dort gewesen war, hatte der Arzt gesagt. Das ergab eigentlich keinen Sinn. Von Lisa hatte er die Adresse des Hauses erfahren. Es stand etwa einen Kilometer entfernt in einer Seitenstraße. Er trank den letzten Schluck Kaffee aus, steckte sich einen Kaugummi in den Mund und marschierte los.

Die Villa im Stil eines Herrenhauses von Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stand abseits der übrigen Häuser am Scheitelpunkt einer u-förmigen Straße. Als er das Gebäude von Weitem sah, stockte ihm der Atem. Es sah genauso aus wie in seinem Albtraum von letzter Nacht. Ebenso die Umgebung. Auf der Rückseite schloss sich der Garten an und am Ende des Feldes dahinter befand sich der Wald.

Vermutlich hatte sein Unterbewusstsein das Haus und die Umgebung abgespeichert, als er vor zwei Tagen nach dem Laufunfall hierhergefahren war, und die entsprechenden Bilder in seinem Albtraum reproduziert. Sein Herz schlug schneller, je näher er der Villa kam.

Kurz darauf stand er vor der Eingangstür. Auf dem Klingelschild stand der Name Schiffer. Nach kurzem Zögern läutete er. Eine Frau, die er auf Anfang dreißig schätzte, öffnete ihm. Sie hatte ein Baby auf dem Arm. Als sie ihn sah, schrak sie sichtlich zusammen. Aus ihrer Reaktion musste er schließen, dass sie es war, vor der er zusammengebrochen war und die den Rettungswagen gerufen hatte.

»Verzeihen Sie die Störung«, sagte er. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Außerdem entschuldige ich mich für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereitet habe. Ich war stark verwirrt, offenbar, weil ich beim Laufen auf den Kopf gestürzt bin. Tut mir wirklich sehr leid.«

Frau Schiffer schien nun entspannter und nahm eine lockerere Haltung an. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich habe gern Hilfe geholt. Das ist in so einer Situation doch selbstverständlich.«

Ihr Baby sah Vincent mit großen Augen an und saugte an seinem Schnuller.

»Ein hübsches Baby haben Sie.«

»Ja, das sagen alle.« Sie strahlte.

»Ist es ein Mädchen?«

Sie nickte. »Ihr Name ist Paula. Geht es Ihnen wieder besser?«

»Es ist alles in Ordnung.«

»Das freut mich für Sie.«

»Ich heiße übrigens Vincent Herzog und wohne mit meiner Verlobten gar nicht weit von hier.« Er nannte ihr den Straßennamen und beschrieb, wo sich die Straße im Ort befand.

Im Flur hinter Frau Schiffer sah Vincent Kinderschuhe in zwei verschiedenen Größen vor einer Garderobe. Sie hatte augenscheinlich neben dem Baby zwei weitere Kinder, die jetzt, da es im Haus still war, vermutlich im Kindergarten waren oder in der Schule.

»Ich freue mich, dass es Ihnen wieder besser geht. Nun müsste ich allerdings …« Frau Schiffer trat einen Schritt zurück und legte eine Hand an den Türrahmen.

»Wenn Sie gestatten, da wäre noch etwas, das ich Sie gern fragen würde«, bat Vincent.

Frau Schiffer hielt inne. »Ja?«, entgegnete sie nach einem kurzen Moment.

»Haben Sie eine Erklärung dafür, warum ich ausgerechnet an Ihrer Tür geklingelt habe?«

Frau Schiffers Baby wurde unruhig und fing an zu quengeln.

»Das war vermutlich ein Zufall«, sagte sie.

»Kann sein. Aber vielleicht auch nicht«, entgegnete er. Die Worte kamen ihm nun spürbar schwerer über die Lippen.

»Wie meinen Sie das?«

Vincent atmete durch. »Vor fünfeinhalb Jahren, es war im Januar, habe ich aufgrund eines Unfalls mein Gedächtnis verloren. Seitdem erinnere ich mich an rein gar nichts mehr aus der Zeit davor. Der Arzt im Krankenhaus deutete an, dass ich aufgrund der neuerlichen Kopfverletzung zu Ihrem Haus gefahren sein könnte, weil es etwas mit meiner Vergangenheit zu tun haben könnte.«

Frau Schiffer sah ihn mit einem Blick an, der verriet, dass sie nun doch ein wenig an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifelte.

»Ich weiß, wie das klingt«, räumte Vincent ein.

»Ziemlich verrückt.«

Vincent nickte und lächelte zustimmend. »So ist es.«

»Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, bedauerte Frau Schiffer. Ihr Baby hatte aufgehört zu jammern. Sie schien nun wieder entspannter zu sein.

»Wenn Sie mir ein paar weitere Fragen beantworten würden, könnte das vielleicht Licht ins Dunkel bringen«, beharrte Vincent.

Frau Schiffer hob die Augenbrauen und verzog verdrießlich den Mund. »Aber nur, wenn es schnell geht.«

»Das wird es. Dies ist ein wunderschönes Objekt in einer hervorragenden Lage. Wer hat vor Ihnen hier gewohnt?«

Das Gesicht von Frau Schiffer verfinsterte sich schlagartig.

»Darüber rede ich nicht gern.«

Vincent war verdutzt. Für einen Moment herrschte Schweigen. Paula quengelte erneut und diesmal stärker. Frau Schiffer wiegte ihr Baby, aber es wurde nur noch schlimmer.

»Sie sehen ja, die Kleine hat Hunger. Bitte entschuldigen Sie mich.« Sie machte Anstalten, die Tür zu schließen. Vincent hob die Hände. »Bitte, nur die eine Frage noch. Wer waren die Vorbesitzer?«

Frau Schiffer zögerte. »Also gut«, sagte sie schließlich sichtlich genervt. »Aber dann muss ich Paula wirklich ihr Fläschchen geben und mit meiner Hausarbeit weitermachen. Wir haben es erst erfahren, nachdem wir den Kaufvertrag unterschrieben hatten. Deshalb wollte keiner aus der Gegend das Objekt haben und deshalb war es auch so günstig. Die Frau, die hier früher mit ihrem Mann lebte, wurde in diesem Haus ermordet.«

4

Eine Frau war in dem Haus ermordet worden, genau wie in seinem Traum die Frau, die Hanna hieß und von der er meinte, sie sei seine Ehefrau. Der Boden schien sich unter Vincents Füßen zu drehen. Ihm wurde schwindlig. Seine Beine gaben leicht nach. Er musste sich am Türrahmen festhalten.

»Wenn ich wieder den Notarzt rufen muss, bin ich böse mit Ihnen«, sagte Frau Schiffer. Ihre Stimme war mit jedem Wort energischer geworden. Paula hörte schlagartig auf zu jammern und starrte ihre Mutter an.

»Das müssen Sie nicht. Mir geht es gut«, entgegnete Vincent schnell. Er drückte sein Kreuz durch. »Nach meinem Unfall habe ich manchmal noch Kreislaufprobleme. Wie lange ist der Mord her?«

Frau Schiffer schien froh zu sein, dass er diesmal nicht vor ihrer Tür zusammengebrochen war, und gab ihm nun anstandslos weiter Auskunft.

»Das muss so vor etwa fünf Jahren passiert sein«, erinnerte sie sich. »So genau habe ich mich nicht damit befasst. Sie wissen schon …«

»… schlechtes Karma.«

»Genau.«

»Wie hieß denn die Frau?«

»Den Vornamen kenne ich nicht. Mit Nachnamen vermutlich Faber, wie Ihr Ehemann, von dem wir das Objekt gekauft haben.«

Vincent hatte sein eigenes Haus bereits vor über sechs Jahren bezogen. In seinem Albtraum hielt er das der Schiffers für seines. Das konnte also nicht stimmen. Und die Ermordete war ebenso wenig seine Frau gewesen. Sie war mit einem Mann namens Faber verheiratet gewesen. Andererseits hatte er von einem Mord geträumt, der wirklich geschehen war.

»Haben Sie vielleicht rein zufällig Fotos, auf denen die Fabers zu sehen sind?« Frau Schiffer zog genervt die Augenbrauen hoch.

»Ich habe heute jede Menge Wäsche zu waschen und zu bügeln«, sagte sie.

Er nickte verständnisvoll. Seine Fragen mussten seltsam und verstörend auf die Frau wirken.

»Wenn das alles ist, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt gehen würden. Alles Gute«, wünschte sie ihm noch und war bereits im Begriff, die Tür vor seiner Nase zuzudrücken.

»Kennen Sie die neue Adresse des ehemaligen Eigentümers?«, fragte Vincent noch schnell.

»Auf Wiedersehen.« Mit diesen Worten schloss Frau Schiffer die Tür.

Vincent wandte sich um und ging wie in Trance die Treppe hinab. Auf dem Gehweg wandte er sich zu dem Haus um. Er spürte, dass es etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hatte. Er musste herausfinden, ob die Ermordete Hanna hieß und vielleicht der Frau in seinem Traum ähnelte. Sicher würde er im Internet etwas über das Verbrechen von damals finden.

Als er zu dem nächstgelegenen Nachbarhaus kam, blieb er stehen. Nach kurzer Überlegung fasste er sich ein Herz und läutete an der Tür. Ein Mann öffnete. Er hatte einen Schnauzbart und war ungefähr sechzig Jahre alt. Mit seinen eng stehenden Augen sah er Vincent argwöhnisch an.

»Entschuldigen Sie die Störung«, begann Vincent.

Der Mann hob den Arm und hielt ihm seine Handfläche vor die Nase. »Stopp. Sparen Sie sich Ihre Worte. Ich kaufe nichts, ich unterschreibe nichts.«

Er setzte an, die Tür zu schließen.

»Ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich wohne ein paar Straßen entfernt und möchte Sie etwas fragen.«

Der Mann runzelte die Stirn und zog die Tür ein Stück weit wieder auf.

»Na gut, aber fassen Sie sich kurz. Ich muss gleich zur Arbeit und habe davor noch etwas zu erledigen.«

Vincent nickte. »In dem Haus am Ende der Straße wurde vor ungefähr fünf Jahren eine Frau ermordet. Kennen Sie zufällig ihren Namen?«

Der Mann zog die buschigen Augenbrauen zusammen und streifte sich über seinen Oberlippenbart. »Sind Sie von der Presse oder warum wollen Sie das wissen?«

»Das hat rein private Gründe. Sie würden mir sehr helfen.«

»Wir hatten keinen Kontakt zu den Fabers. Die lebten sehr zurückgezogen. Den Vornamen der Frau weiß ich ehrlich gesagt gar nicht.«

»Haben Sie zufällig ein Foto, auf dem Frau Faber zu sehen ist?«, fragte Vincent.

Der Blick des Schnauzbärtigen verfinsterte sich. Offenbar hatte Vincent seine Geduld überstrapaziert.

»Ich kenne Sie nicht«, murrte der Mann. »Ihre Frage ist mehr als merkwürdig und ich rede nicht gerne über Verstorbene.«

»Das verstehe ich. Aber ich …«

»Ich habe jetzt keine Zeit mehr.«

Die Tür fiel ins Schloss. Vincent seufzte und machte sich auf den Heimweg. Er musste so schnell wie möglich an seinen Computer, um im Internet zu recherchieren.

Nach etwa hundert Metern kam eine ältere Dame aus einem der Häuser. Sie führte einen Mischlingshund an der Leine und lächelte ihm freundlich zu. Als sie auf den Gehweg trat, wünschte Vincent ihr einen guten Morgen und sie erwiderte den Gruß.

»Einen schönen Hund haben Sie da«, sagte Vincent. Der Mischling wedelte mit dem Schwanz, sah ihn mit treuen Augen an und beschnupperte ihn. Vincent beugte sich hinunter und streichelte ihm über den Rücken.

»Danke. Sie können sich geehrt fühlen. Normalerweise mag er keine Männer.«

Vincent lächelte. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Nur zu junger Mann.«

»Es hört sich für Sie bestimmt seltsam an. Ich habe mir vor Jahren eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Seitdem fehlen mir die Erinnerungen an die Zeit davor. Das Haus dahinten am Ende der Straße scheint mit meiner Vergangenheit etwas zu tun zu haben. Ich weiß, dass dort eine Familie Faber lebte und die Frau tragischerweise ermordet wurde. Können Sie mir ihren Vornamen sagen? Ich habe das Gefühl, sie gekannt zu haben.«

Mit jedem seiner Worte war ein wenig mehr Fröhlichkeit aus dem Gesicht der Hundebesitzerin gewichen. Das in ihrer Nähe geschehene Verbrechen nahm sie sichtlich auch nach all den Jahren noch mit. »Das war schlimm damals. Sie war sehr nett und hat sich immer Zeit genommen, um mit mir zu reden, wenn sie draußen vor dem Haus war und ich Mickie zum Wald hinauf Gassi geführt habe.«

»Erinnern Sie sich an ihren Vornamen?«

»Ja natürlich. Sie hieß Viola.«

»Viola«, wiederholte Vincent geistesabwesend. »Und haben Sie zufällig ein Foto von ihr oder wissen Sie, wohin ihr Mann gezogen ist?«

Die ältere Dame schüttelte den Kopf. »Nein, bedaure. Herr Faber war die meiste Zeit auf der Arbeit. Viola hat mir mal erzählt, dass er bei einer Versicherung als Sachbearbeiter angestellt ist. Er hat mich immer nett gegrüßt, wenn er mit seinem Wagen an mir vorbeigefahren ist. Aber mit ihm unterhalten habe ich mich nie.«

»Wurde der Mörder gefasst?«

»Ja, es war Violas Ex-Mann. Die Zeitungen haben damals ausgiebig darüber berichtet. Sie hat ihn in ganz jungen Jahren geheiratet. Er hat sie geschlagen. Sie hatte ihn deshalb verlassen.«

Viola, nicht Hanna, dachte Vincent erleichtert, nachdem er sich von der Dame verabschiedet und seinen Nachhauseweg fortgesetzt hatte.

Seine Fantasie hatte ihm im Traum einen Streich gespielt und den Namen Hanna erfunden, ebenso wie die Tatsache, dass sie seine Frau sein sollte.

Allerdings war in dem Haus tatsächlich ein Mord geschehen. Warum er dies in seinem Traum gewusst hatte, konnte er sich nicht erklären. Er hoffte, bald eine Antwort auf diese Frage zu finden.

5

Vincent schloss die Haustür auf und setzte sich am Esszimmertisch vor seinen Laptop.

Ungeduldig wartete er, bis der in die Jahre gekommene Rechner hochgefahren war. Als endlich das weiße Eingabefeld der Internetsuchmaschine auf dem Display erschien, tippte er ein paar Stichworte ein, die ihm geeignet dazu erschienen, damals veröffentlichte Artikel zu dem Mord an Viola Faber zu finden. Auf Anhieb landete er mehrere Treffer.

Gespannt überflog er die Berichte, die im Grunde genommen alle den gleichen Inhalt mit anderen Worten hatten.

Viola Faber war vormittags, während ihr Mann im Büro bei der Arbeit gewesen war, durch mehrere Messerstiche in ihrem Haus getötet worden.

Anfangs vermutete die Polizei einen Einbrecher als Täter, da die Terrassentür aufgehebelt worden war. Möglicherweise habe dieser irrtümlich angenommen, dass niemand im Haus wäre, und sei durch die Anwesenheit des Opfers überrascht worden. Nach dem ungeplanten Mord sei der Täter in Panik geraten und habe den Tatort ohne Diebesgut verlassen. Zwei Tage nach dem Mord wurde der Täter überführt und der Öffentlichkeit präsentiert. Es handelte sich um Viola Fabers Ex-Mann Luis S., der wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft war und deshalb mehrfach im Gefängnis gesessen hatte.

Vincent lehnte sich in seinen Stuhl zurück und ließ die Informationen auf sich wirken. Er hatte geträumt, die Frau sei erschossen und anschließend angezündet worden. In der Realität hingegen hatte der Täter sie erstochen. Nirgendwo war ein Foto des Opfers abgebildet.

Das Klingeln seines Handys riss Vincent aus seinen Gedanken. Es war Lisa. Schlagartig fiel ihm ihre Verabredung mit der Wirtin der Scheune ein. Das hatte er völlig vergessen. Hektisch sah er auf die Uhr. Es war bereits zehn nach elf. Er schloss die Augen, klopfte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und fluchte in sich hinein.

»Wo bleibst du denn?«, fragte Lisa grußlos, als er abhob. »Es ist hoffentlich nichts passiert?«

»Nein, alles in Ordnung.«

»Und wo bist du dann? Was glaubst du, wie peinlich es mir vor Helga war, dass du nicht gekommen bist? Sie meinte, ich soll mir keine Sorgen machen. Hauptsache, du würdest am Traualtar pünktlich erscheinen.«

Vincent wusste nicht gleich, was er sagen sollte. Lügen wollte er nicht. »Es tut mir leid. Ich habe mich bei der Frau, vor deren Haustür ich zusammengebrochen bin, entschuldigt und bedankt, dass sie den Notarzt gerufen hat.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur weiß ich immer noch nicht, warum du unseren Termin verpasst hast.«

»Ich habe vor Ort ein paar Dinge in Erfahrung gebracht, über die ich nachdenken musste. Dabei habe ich den Termin vergessen. Es tut mir wirklich sehr leid.«

Eine kurze Pause trat ein.

»Du warst also bei diesem Haus, von dem du nach deinem Sturz im Wald gedacht hast, es wäre deins und du würdest mit deiner Frau darin wohnen, und hast Dinge erfahren?« Mit jedem Wort wurde Lisas Tonfall schriller. »Was denn für Dinge?«

Vincent wurde bewusst, dass jetzt kein guter Zeitpunkt war, um mit Lisa darüber zu reden. »Das ist zu kompliziert und würde zu lange dauern, um es am Telefon zu erklären.«

»Deine Entschuldigung kannst du dir sparen. Ich hatte gehofft, unsere Hochzeit wäre dir genauso wichtig wie mir.«

Der Artikel, den Vincent zuletzt gelesen hatte, war noch auf dem Bildschirm seines Laptops geöffnet. Während Lisa schimpfte, fiel Vincents Blick auf ein Detail, dem er bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Jetzt traf es ihn wie ein Faustschlag ins Gesicht.

»Bist du noch dran?«, fragte Lisa. Sie klang gereizt, was er ihr nicht verdenken konnte.

»Ich…«, er konnte nicht weiterreden. Seine Konzentration war nun vollständig auf die ersten Zeilen des Artikels gerichtet. Dort war das Datum vermerkt, an dem der Mord an Viola Faber geschehen war. Es war derselbe Tag, an dem er schwer verletzt und bewusstlos fünf Kilometer entfernt am Straßenrand gefunden worden war. Es war der Tag im Januar vor fünfeinhalb Jahren, an dem er sein Gedächtnis verloren hatte.

»Es scheint dich überhaupt nicht zu interessieren, wie es mir geht«, zeterte Lisa, die sein Schweigen falsch deutete. »Du hast mich versetzt. Außerdem habe ich mir Sorgen gemacht, dass dir etwas passiert sein könnte. Wo du sonst immer pünktlich bist.« Er merkte ihrem Tonfall an, dass sie mit den Tränen kämpfte.

»Es tut mir unendlich leid. Ich steige ins Auto und bin in ein paar Minuten bei dir.«

»Dafür reicht meine Zeit nicht mehr. Wie du weißt, muss ich nachher zur Arbeit. Und Helga will ich auch nicht länger warten lassen. Ich muss jetzt wohl einfach alles allein mit ihr abstimmen.«

»Lisa …«

Sie legte auf.

Verdammt, dachte er. Er wusste, wie wichtig Lisa die Hochzeitsvorbereitungen waren. Dass er sie enttäuscht hatte, tat ihm unendlich leid. Lisa war freundlich, hilfsbereit und zuverlässig. Er liebte sie über alles. Aber wenn sie sich wie jetzt durch sein Verhalten verletzt fühlte, konnte sie auch nachtragend sein und manchmal recht aufbrausend oder schnippisch reagieren. Es würde ihn einige Mühe kosten, ihr Wohlwollen zurückzugewinnen.

Vincent atmete tief durch. Er gab den Namen Viola Faber und den Wohnort bei Google ein. Die gefundenen Fotos konnten allein vom Alter der abgebildeten Personen her nicht passen. Es gab nur einen schriftlichen Eintrag. Ein kurzer Zeitungsbericht. Danach hatte die Damenmannschaft des örtlichen Tennisvereins bei einem Turnier im benachbarten Luxemburg den Sieg davongetragen. Eine der Spielerinnen hieß Viola Faber. Vincent musste eine Zeit lang suchen, bis er auf der Homepage des Tennisvereins ein Archiv fand, in dem die Vereinsnachrichten der vergangenen Jahre gesammelt waren. Nach ein paar Klicks stieß er auf einen Bericht über die Vereinsmeisterschaften vor sechs Jahren. Unter dem Artikel war ein Gruppenfoto der drei Gewinnerinnen in der Damenkonkurrenz abgebildet. Die Zweitplatzierte hieß Viola Faber.

Vincent rückte näher an den Bildschirm heran. Die Frau trug ein Stirnband und einen weißen Tennisrock. Ihre Arme waren nach oben gereckt. In einer Hand hielt sie einen Tennisschläger, in der anderen einen Pokal. Ihre blauen Augen strahlten vor Freude, ihr braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein breites Lachen zierte ihr anmutiges Gesicht. Es gab keinen Zweifel. Viola Faber war die Frau, die er in seinem Albtraum hatte sterben sehen. Sein Blick klebte an ihr. Sein Inneres geriet in Aufruhr. Er schnappte nach Luft. Es gab eine Verbindung zwischen ihr und ihm. Er war sich auf einmal sicher.

Die Haustür wurde aufgesperrt und fiel kurz darauf krachend ins Schloss. Vincent schreckte von seinem Stuhl hoch. Ihm war das Zeitgefühl abhandengekommen. Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihm, dass er ungefähr zehn Minuten in Gedanken versunken auf den Bildschirm gestarrt haben musste.

Lisa kam wie ein Sturmwind ins Zimmer gefegt. Sie schmiss ihre Handtasche achtlos auf den Sessel. Ihre Augen funkelten ihn an. Dennoch beherrschte sie sich und sprach, ohne laut zu werden, auf eine um Verständnis bemühte Art mit ihm. »Bitte erklär’s mir, was war so wichtig, dass du darüber unseren Termin vergessen hast?«

Vincent senkte schuldbewusst den Kopf. »Du weißt, dass du dich normalerweise auf mich verlassen kannst.«

Sie nickte, nun schon etwas versöhnlicher.

»Mein Albtraum vergangene Nacht. Ich habe darin beobachtet, wie in dem Haus, zu dem ich vorgestern nach meinem Laufunfall gefahren bin, eine Frau ermordet wurde.«

Lisas Gesicht nahm einen bestürzten Ausdruck an. Vincent musste schlucken. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Lisas Blick forderte ihn auf, weiterzureden.

»Gerade habe ich herausgefunden, dass vor fünfeinhalb Jahren tatsächlich eine Frau in diesem Haus ermordet wurde. Sie wurde erstochen. Ich habe im Internet ein Foto von ihr gefunden. Es war die Frau aus meinem Traum, die ich zudem für meine Ehefrau hielt. In meinem Albtraum wurde sie aber nicht erstochen, sondern erschossen und anschließend in Brand gesetzt.«

Lisa setzte sich wie in Zeitlupe auf einen Stuhl. »Das ist gruselig«, sagte sie.

»Das ist noch nicht alles. Sie starb an dem Tag, an dem ich meine Erinnerung an mein früheres Leben verlor.«

Lisa sah ihn nun fassungslos an, dann strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Was willst du jetzt machen?«

»Dr. Salomon meinte, die neuerliche Kopfverletzung könnte verschüttete Erinnerungen freigelegt haben. Ich glaube, das Haus und die Frau haben etwas mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich muss herausfinden, was.«

Lisas Gesicht war aschfahl geworden.

»Du hast dir bei dem Sturz im Wald eine Gehirnerschütterung zugezogen. Dein Kopf spielt verrückt.«

»Und warum habe ich von einem Mord geträumt, von dem ich nichts wusste, der aber tatsächlich geschehen ist?«

»Das ist so lange her. Du könntest damals in der Zeitung davon gelesen haben. Sicher war das Verbrechen Gegenstand ausgiebiger Berichterstattung. Ein Mord auf dem Dorf. Wann passiert so etwas schon mal. Für die ortsansässige Presse war das sicher ein Highlight. Außerdem hast du vermutlich nach deinem Unfall damals viel Zeitung gelesen, um deine Erinnerungen anzuregen, aber das Gelesene wieder vergessen.«

Vincent setzte sich ebenfalls. Er senkte den Blick und dachte darüber nach, was Lisa gesagt hatte. Auszuschließen war es nicht, dass er damals etwas von dem Mord mitbekommen hatte. Er sah sie an.

»Ich habe die Artikel im Internet dazu gelesen. In keinem stand die Adresse des Tatorts. Woher hätte ich wissen sollen, in welchem Haus der Mord begangen wurde? Auch war nirgends ein Foto der ermordeten Frau abgebildet.«

Lisa erhob sich ruckartig von ihrem Stuhl. »Keine Ahnung. Aber es gibt dafür sicher eine harmlose und logische Erklärung.«

»Ich möchte zu dem Rastplatz fahren, an dem ich damals bewusstlos aufgefunden wurde.«

»Was soll das denn bitte bringen?«

»Vielleicht bin ich den Erinnerungen meiner Vergangenheit ganz nah. Vielleicht braucht es nur noch einen kleinen Stoß in die richtige Richtung, um sie zutage zu fördern.«

Lisa ging vor ihm in die Knie und nahm seine beiden Hände.

»Ich halte das für keine gute Idee. Dein Leben findet jetzt in diesem Moment statt. Wir wollen heiraten und wir sind glücklich. Alles ist gut. Was, wenn deine Vergangenheit nicht schön war? Vergessen kann manchmal eine Gnade sein.«

Lisas Worte hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn. Vielleicht sollte er wirklich seinen Traum nicht überbewerten. »Ist gut. Gib mir ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken«, lenkte er ein und lächelte ihr zu.

»Wenn deine Erinnerungen zurückkehren wollen, tun sie das, aber du kannst es nicht erzwingen«, sagte Lisa. Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund und erhob sich. »Ich muss mich für die Arbeit fertigmachen.«

Vincent sah ihr hinterher, als sie zur Tür hinausging, und hörte ihre Schritte auf der Holztreppe im Flur nach oben wandern.

Er ging in die Küche und begann, ein Mittagessen für Lisa und sich zuzubereiten. Der Rastplatz, auf dem er fast gestorben wäre, wollte ihm währenddessen nicht mehr aus dem Kopf gehen.

6

Lisa war nach dem Mittagessen zur Arbeit gefahren und würde erst gegen acht Uhr abends heimkommen. Zum ersten Mal seit Langem bedrückten Vincent die Stille und die Einsamkeit in seinen eigenen vier Wänden.

Nachdem er den Abwasch erledigt hatte, stellte er eine Waschmaschine an und hängte die gewaschene Kleidung an der Wäschespinne im Garten auf. Die Sonne brannte sengend heiß vom Himmel. Gegen vierzehn Uhr legte er sich mit seinem E-Reader auf die hölzerne Gartenliege unter einen der drei Bäume, die der Vorbesitzer gepflanzt hatte. Die Baumkronen spendeten im Sommer wertvollen Schatten. Dafür musste er im Herbst eine Menge Laub beseitigen. Nichts im Leben war umsonst.

Er begann in einem Thriller einer seiner Lieblingsautoren zu lesen. Doch er konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren. Nach wenigen Zeilen legte er den Reader auf den Gartentisch.

Ein totaler Gedächtnisverlust war die Hölle. In den ersten beiden Jahren danach hatte er darunter seelisch sehr stark gelitten und war fast in eine Depression geschlittert. Nur die Hilfe seines Psychologen Dr. Feist hatte ihn davor bewahrt. Eine tiefe Leere hatte damals Besitz von ihm ergriffen. Schlafstörungen und Albträume, in denen er auf unterschiedlichste Art und Weise aus dem Leben schied, waren seine stetigen Begleiter gewesen. Dr. Feist hatte ihm Tipps gegeben, was er gegen die Träume tun konnte. Vor allem sollte er aufhören, sich an sein altes, ihm nun unbekanntes Leben zu klammern und davon Abstand nehmen, sich mit Gewalt erinnern zu wollen. Es war ihm schwergefallen. Doch als er sich schließlich auf das Experiment einließ, hatten die Schlafstörungen tatsächlich allmählich nachgelassen.

Nun, über fünf Jahre danach, hatte er das Gefühl, dass eine Veränderung in seinem Gehirn stattfand, die ihm vielleicht Teile seiner Erinnerung zurückbrachte.

Seine innere Stimme drängte ihn, zu dem Rastplatz zu fahren, auf dem er bewusstlos vorgefunden worden war. Lisa war dagegen. Das hatte sie klar zum Ausdruck gebracht. Er hatte ihr von seinem Leiden in der Anfangszeit berichtet und sie wollte nicht, dass er das noch einmal durchmachen musste. Sie meinte es sicher nur gut mit ihm. Dennoch kam er nicht gegen den Drang an, sich zu dem Ort zu begeben, der das Ende seines früheren Lebens markierte.

Als er fünf Minuten später zu seinem Auto ging, um sich auf den Weg zu machen, läutete sein Handy. Es war Anton Heckmann. Vincent stand zwar nicht der Sinn nach einem Gespräch. Aber Toni war sein einziger Freund und die geborene Frohnatur. Ein Plausch mit ihm würde sicher guttun. Daher nahm er das Gespräch an. »Hallo Toni, wie geht’s?«

»Hervorragend, wenn mein Kühlschrank nicht so gähnend leer wäre.«

Toni hatte seinen Führerschein vor Jahren zum wiederholten Mal wegen Alkohol am Steuer abgeben müssen und ihn nicht wiederbekommen. Seine Wohnungsmiete war moderat, aber dafür lag kein Lebensmittel-Discounter oder Supermarkt in der Nähe. Hin und wieder bat er Vincent, ihn mit dem Auto zum Einkaufen zu chauffieren.

»Ich bin in zehn Minuten bei dir«, sagte Vincent. Zu dem Rastplatz konnte er später immer noch fahren. Zeit hatte er momentan zur Genüge.

»Super. Du bist ein wahrer Freund, das lobe ich mir«, freute sich Toni.

Zehn Minuten später hielt Vincent vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Toni wohnte. Sein Freund wartete auf einem der vor dem Haus gelegenen Parkplätze im Schatten der Hauswand. Vincent hielt neben ihm auf dem Parkplatz und beide hoben gleichzeitig die Hand zur Begrüßung.

»Bist du heute noch krankgeschrieben?«, fragte Toni, als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ und den Gurt umlegte.

»Ja, bin ich, woher weißt du davon?«, wunderte sich Vincent. Er sah sich nach allen Seiten um und ließ den Wagen zurück auf die Straße rollen.

»Ich hab deinen Chef in der Kneipe getroffen. Hubert spielt übrigens sehr passabel Darts. Ich hätte es mir leichter vorgestellt, gegen ihn zu gewinnen. Er hat mir von deinem Sturz beim Laufen erzählt und er war nicht gerade angetan davon, dass du ein paar Tage ausfällst.«

Typisch Hubert, dachte Vincent. Hubert Koller war ein glatzköpfiger und pockennarbiger Koloss, der kein Blatt vor den Mund nahm.

Früher hatte Hubert jahrelang als Türsteher in einer Disco gearbeitet. Als dem Laden nach einer Drogenrazzia die Konzession entzogen worden war, hatte Hubert einen Sicherheitsdienst gegründet, der anfangs nur aus ihm allein bestanden hatte. Mit der Zeit war die Nachfrage gestiegen und er hatte inzwischen drei fest angestellte Mitarbeiter. Einer davon war Vincent.

»Wie geht es dir?«, wollte Toni wissen, jetzt etwas ernster.

»Gut. Es ist nur …«

»Was denn?«

»Ich habe das Gefühl, dass ich beginne, mich an meine Vergangenheit zu erinnern.«

»Hey, das wäre ja der Wahnsinn, einfach sensationell.« Toni klopfte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Freust du dich denn nicht? Wenn du mich fragst, ist das ein Grund zum Feiern.«

»Das mit den zurückkehrenden Erinnerungen ist erst mal nur eine Vermutung.« Vincent erzählte Toni in knappen Worten von dem fremden Haus, zu dem er gefahren war, und dem Mord, der darin stattgefunden und von dem er geträumt hatte.

»Mysteriös«, raunte Toni. »Darf ich hier drin rauchen?«

»Das fragst du mich jedes Mal und die Antwort ist immer die gleiche. Nein.«

»Hätte ja sein können, dass du das nach deinem Sturz vergessen hast«, scherzte Toni.

»Ich weiß nicht, was ich von dem Traum halten soll.«

»Hast du dir schon mal die Frage gestellt, ob du etwas mit dem Mord zu tun haben könntest?«

Vincent warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Der Mörder sitzt im Knast.«

Toni hob die Hände und gab sich beleidigt. »Hätte doch sein können. Ich versuche nur, dir bei dem Rätsel zu helfen.«

Toni hatte unbedarft losgeredet und es nicht ernst gemeint. Doch in Vincent rumorte es, als ob Toni einen wunden Punkt berührt hätte. Eine Weile fuhren sie schweigend in Richtung des Lebensmittel-Discounters.

»Sag mal, kannst du mir ein bisschen Geld borgen?«, unterbrach Toni die Stille. »Ich bin total abgebrannt.«

Vincent warf ihm einen empörten Blick zu. Toni tat, als könnte er kein Wässerchen trüben. »Ich habe gezockt und leider verloren, okay. Beim nächsten Mal gewinne ich wieder. So ist das Leben. Auf und Ab. Yin und Yang.«

»Wie viel brauchst du?«, fragte Vincent leicht genervt.

»Hundert Euronen würden mir reichen, um über die Runden zu kommen.«

»So viel hab ich nicht bei mir.«

»Wozu gibt es Geldautomaten?«, feixte Toni. »Du bekommst es mit der nächsten Überweisung vom Jobcenter zurück.«

Toni bezog mittlerweile Arbeitslosengeld II. Ob er je wieder eine Anstellung finden würde, war fraglich.

»Vermutlich brauchst du die Kohle, um einzukaufen«, folgerte Vincent.

»So ist es.«

»Dann also zuerst zum Geldautomaten«, entschied Vincent. Der Automat der Sparkasse, bei dem er sein Konto hatte, befand sich im Nachbarort auf der anderen Seite der Saar.

Nachdem Vincent das Geld abgehoben und sich wieder hinter das Lenkrad seines Autos gesetzt hatte, gab er Toni die Scheine.

»Danke«, sagte Toni und klopfte ihm auf die Schulter.

»Kein Ding. Aber du solltest mit den Spielautomaten und dem Pokern aufhören.«

»Sobald ich mein Geld zurückgewonnen habe.« Tonis Kehle entwich ein raues, etwas verkommenes Lachen.

»Der Rastplatz, an dem ich damals bewusstlos gefunden wurde, ist ganz in der Nähe. Hättest du Lust, vor dem Einkauf mit mir dorthin zu fahren?«, fragte Vincent.

»Klar, aber warum willst du an den Ort zurück, an dem du fast draufgegangen wärst?«

Vincent zuckte mit den Schultern. »Ich hab das Gefühl, es könnte beim Erinnern helfen. Dr. Feist, der Psychologe, bei dem ich nach dem Gedächtnisverlust in Therapie war, meinte, es könnte die Erinnerungen an die Ereignisse zurückbringen, wenn man sich an den Ort des Geschehens begibt. Ich war damals bereits an diesem Rastplatz. Es hat aber nichts bei mir ausgelöst.«

»Ich persönlich vermeide es lieber, mich an Scheißtage zu erinnern. Einen schlechten Film schaue ich mir ja auch nicht zweimal an. Aber du musst selbst wissen, was gut und was schlecht für dich ist.«

Vincent startete den Motor und schaltete das Radio an. Aus den Lautsprecherboxen erklang ein aktueller Popsong von Billie Eilish.

Der Rastplatz befand sich ungefähr in der Mitte eines vier Kilometer langen Landstraßenabschnitts, der zwei Dörfer miteinander verband. Links der Straße ragte ein bewaldeter Hügel auf. Rechts daneben erstreckten sich Felder bis zur Autobahn, die in etwa hundert Metern Entfernung parallel zur Landstraße verlief.

Als der an der Gegenfahrbahn gelegene Rastplatz in Sicht kam, setzte Vincent den linken Blinker und fuhr an die steinerne Sitzgruppe heran, neben der er mehr tot als lebendig gefunden worden war.

Sie stiegen aus und sahen sich um. Toni zündete sich eine Zigarette an. »Schön kühl hier«, sagte er.

Hin und wieder fuhren Autos an ihnen vorbei und übertönten das Vogelgezwitscher, das aus der Bewaldung am Rastplatz drang.

Die Bank und der Tisch waren von grünen Flechten überzogen. Zehn Meter weiter befand sich ein Kneippbecken, das einst von dem kalten Wasser einer Quelle gespeist wurde. Nun war das Becken trocken und allerhand Unrat lag darin. Darunter Zigarettenstummel, Papiertaschentücher und leere Getränkedosen. Im nahen Umkreis des Tisches und der Bank sah es ein wenig sauberer aus. Dies war vermutlich dem unmittelbar daneben an einer Stange befestigten Müllbehälter zuzuschreiben.

»Der Autofahrer, der mich damals entdeckt hat, hat angegeben, dass ich etwa zwei Meter hinter der linken Steinbank gelegen habe.«

Vincent zeigte auf die Stelle. Sie gingen näher heran.

»Klingelt da was bei dir?«, fragte Toni und zog an seiner Zigarette.

»Nein, nicht die Spur«, erwiderte Vincent.

Hinter der Sitzbank führte ein schmaler Trampelpfad am Fuß des bewaldeten Berghangs entlang.

Vincent ging darauf zu und schob mit dem Fuß die in den Wegeingang hineinragenden Sträucher beiseite.

»Meine Kleidung war mit Erde beschmutzt. Vielleicht bin ich über diesen Pfad aus dem Wald auf den Rastplatz gelangt«, sagte Vincent.

»Na dann los! Machen wir einen Spaziergang in der Natur«, sagte Toni und trat seine aufgerauchte Zigarette auf dem Boden aus.

Sie kamen anfangs wegen des in den Pfad wachsenden Gestrüpps nur schleppend voran. Nach fünfzig Metern wurde die Vegetation im Unterholz spärlicher. Die dichten Baumkronen befanden sich so nah beieinander, dass die Sonne kaum noch durchdrang. Vincent blieb des Öfteren stehen und sah sich um.

Damals im Januar hatte stürmisches, nasskaltes Wetter geherrscht. Es war gut möglich, dass ein abgebrochener Ast auf ihn herabgekracht war und ihm die schlimme Kopfverletzung zugefügt hatte. Aber aus welchem Grund mochte er während eines Sturms in diesem unwegsamen Gelände unterwegs gewesen sein? Er stellte sich vor, wie die Bäume laut ächzend im Wind wogten. Das musste beängstigend gewesen sein.

Jetzt im Sommer wirkte die Umgebung freundlich. Der Geruch des Waldes und die Geräusche waren nicht mit denen des Winters vergleichbar. Vielleicht lag es daran, dass die ersehnte Erinnerung an jenen schicksalhaften Tag ausblieb.

Je weiter sie gingen, desto mehr trübte sich Vincents Stimmung ein.

»Vielleicht war das hier eine deiner Laufstrecken«, meinte Toni.

»Wenn mein Auto auf dem Rastplatz geparkt hätte, würde ich das in Betracht ziehen. Aber mein Wagen stand zu Hause.«

»Bis hierher sind es von deinem Haus vier, vielleicht fünf Kilometer. Du warst damals wie heute ein trainierter Läufer. Die Distanz hättest du locker geschafft.«

»Mag sein«, überlegte Vincent. Tatsächlich war er sportlich bekleidet gewesen, als man ihn gefunden hatte.

Nach etwa zwanzig Minuten gelangten sie auf eine große mit Gras bewachsene Lichtung. Es war wunderbar still. Der Berg und die Vegetation hatten das sonst allgegenwärtige Autobahnrauschen verschluckt. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckten sie einen Jagdhochsitz zwischen den Bäumen am Waldrand.

»Auf so einen Turm wollte ich schon immer mal rauf«, sagte Toni und marschierte darauf zu. Vincent folgte ihm kopfschüttelnd. Dass Toni auf diesen Hochsitz klettern wollte, passte zu ihm. Toni war über fünfzig Jahre alt, aber im Inneren keineswegs erwachsen. Er spielte leidenschaftlich gern Karten, Darts und Bowling. Leider ging es Toni dabei nicht wie einem Kind um die Ehre des Gewinnens. Den richtigen Kick verschaffte ihm das Spielen nur, wenn es um Geld ging.

Toni war kein Freund von Spaziergängen und bewegte sich auch sonst nicht gern zu Fuß fort. Vincent rechnete es ihm hoch an, dass er ihn, ohne zu murren, durch das Dickicht des Waldes begleitet hatte. Daher widersprach er nicht, als Toni die morschen Sprossen der Holzleiter hinauf in den Hochsitz krabbelte. Oben angekommen verschwand sein Kumpel in dem Häuschen und winkte Vincent kurz darauf durch die zum Feld weisende Sichtaussparung zu.

»Was für ein Blick«, begeisterte er sich. »Willst du nicht auch raufkommen?«

Vincent verspürte keine sonderliche Lust dazu.

Kritisch betrachtete er die Konstruktion, an der der Zahn der Zeit seine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte. Die Stelzen, auf denen der Hochsitz ruhte, bewegten sich unter Tonis Gewicht bedenklich hin und her.

»Mir reicht die Aussicht von hier unten«, sagte er und ließ den Blick schweifen.

Er hätte schwören können, zum ersten Mal diesen Teil des Waldes durchschritten zu haben und auf diese Lichtung zu schauen. Genauso wie damals vor fünf Jahren, als er nach dem Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal sein Haus betreten hatte. Es war ihm vollkommen fremd erschienen. Er wusste nicht, wo das Bad oder die Küche waren. Hinter jeder Tür, in jedem Schrank und in jeder Schublade hatten neue Überraschungen auf ihn gewartet. Der Hochsitz und die Umgebung waren ihm ebenso unbekannt. Doch das schloss nicht aus, dass er schon mal hier gewesen war.

Tonis Kopf verschwand und lugte kurz darauf wieder aus der Öffnung. »Sieh mal, was hier versteckt war!« Er hielt freudestrahlend ein Fernglas in der Hand und führte es vor die Augen. »Echt klasse!«

Als er wieder herunterkam, brachte er seinen Fund mit.

»Was willst du damit?«, fragte Vincent.

»So eins wollte ich immer schon. Es hat sogar eine Nachtsichtfunktion.«

»Das hat garantiert jemand da oben vergessen. Derjenige wird es beim nächsten Besuch mitnehmen wollen.«

»Ich leihe es mir nur aus«, sagte Toni. »In ein paar Tagen bringe ich es zurück. Okay?«

Vincent schüttelte den Kopf, ließ es aber dabei bewenden.

Auf dem Rückweg schaute Toni immer wieder mit einer Freude durch das Fernglas, als ob es ein Geschenk wäre, das ihm das Christkind unter den Baum gelegt hatte.

»Schade, dass dir die Tour nichts gebracht hat«, sagte er, als sie wieder im Wagen saßen. »Vielleicht ist es dir ein Trost, dass ich unseren Ausflug genossen habe und er sich zumindest für mich gelohnt hat.« Er deutete auf das Fernglas.

Vincent überkam eine tiefe Traurigkeit. Er lächelte trotzdem. Nicht den Funken einer Erinnerung hatten der Rastplatz und der Waldspaziergang in ihm ausgelöst. Enttäuscht startete er den Motor und fuhr in Richtung des Lebensmittel-Discounters.

7

Während Toni im Supermarkt seine Einkäufe erledigte, wartete Vincent im Wagen und beobachtete die Menschen, die aus dem Geschäft kamen und ihre vollen Einkaufswagen vor sich herschoben. Sie alle hatten eine Vergangenheit. Die schlechten Erinnerungen würden die meisten von ihnen gern für immer hinter sich lassen. Doch wenn der Preis dafür wäre, künftig auch auf die guten verzichten zu müssen, würde sich niemand freiwillig dazu bereit erklären.

Vincents Handy klingelte. Der Name Hubert Koller erschien auf dem Display. Nach kurzem Zögern drückte Vincent auf das grüne Hörersymbol. »Hallo Hubert.«

»Aloha Vincent, wie geht es meinem Mitarbeiter? Bist du wieder fit und einsatzbereit?«

»Danke der Nachfrage. Alles im grünen Bereich. Ich kann ab morgen wieder arbeiten.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752115215
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
falscher Verdacht Gedächtnisverlust rätselhaft mord Spannung Verfolgung Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Chris Karlden (Autor:in)

Chris Karlden, geb. 1971, studierte Rechtswissenschaften. Seine Bücher steigen regelmäßig auf Spitzenpositionen in den Bestsellerlisten und begeistern Hundertausende LeserInnen. Insbesondere seine Thrillerreihe um die Kommissare Adrian Speer und Robert Bogner erfreut sich einer immer größer werdenden Anhängerschaft. Chris Karlden widmet sich beruflich mittlerweile ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen. Seine LeserInnen hält er auf Facebook und mit seinem Newsletter auf dem Laufenden.
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Titel: Vertrau dir (nicht): Psychothriller