Lisa war nach dem Mittagessen zur Arbeit gefahren und würde erst gegen acht Uhr abends heimkommen. Zum ersten Mal seit Langem bedrückten Vincent die Stille und die Einsamkeit in seinen eigenen vier Wänden.
Nachdem er den Abwasch erledigt hatte, stellte er eine Waschmaschine an und hängte die gewaschene Kleidung an der Wäschespinne im Garten auf. Die Sonne brannte sengend heiß vom Himmel. Gegen vierzehn Uhr legte er sich mit seinem E-Reader auf die hölzerne Gartenliege unter einen der drei Bäume, die der Vorbesitzer gepflanzt hatte. Die Baumkronen spendeten im Sommer wertvollen Schatten. Dafür musste er im Herbst eine Menge Laub beseitigen. Nichts im Leben war umsonst.
Er begann in einem Thriller einer seiner Lieblingsautoren zu lesen. Doch er konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren. Nach wenigen Zeilen legte er den Reader auf den Gartentisch.
Ein totaler Gedächtnisverlust war die Hölle. In den ersten beiden Jahren danach hatte er darunter seelisch sehr stark gelitten und war fast in eine Depression geschlittert. Nur die Hilfe seines Psychologen Dr. Feist hatte ihn davor bewahrt. Eine tiefe Leere hatte damals Besitz von ihm ergriffen. Schlafstörungen und Albträume, in denen er auf unterschiedlichste Art und Weise aus dem Leben schied, waren seine stetigen Begleiter gewesen. Dr. Feist hatte ihm Tipps gegeben, was er gegen die Träume tun konnte. Vor allem sollte er aufhören, sich an sein altes, ihm nun unbekanntes Leben zu klammern und davon Abstand nehmen, sich mit Gewalt erinnern zu wollen. Es war ihm schwergefallen. Doch als er sich schließlich auf das Experiment einließ, hatten die Schlafstörungen tatsächlich allmählich nachgelassen.
Nun, über fünf Jahre danach, hatte er das Gefühl, dass eine Veränderung in seinem Gehirn stattfand, die ihm vielleicht Teile seiner Erinnerung zurückbrachte.
Seine innere Stimme drängte ihn, zu dem Rastplatz zu fahren, auf dem er bewusstlos vorgefunden worden war. Lisa war dagegen. Das hatte sie klar zum Ausdruck gebracht. Er hatte ihr von seinem Leiden in der Anfangszeit berichtet und sie wollte nicht, dass er das noch einmal durchmachen musste. Sie meinte es sicher nur gut mit ihm. Dennoch kam er nicht gegen den Drang an, sich zu dem Ort zu begeben, der das Ende seines früheren Lebens markierte.
Als er fünf Minuten später zu seinem Auto ging, um sich auf den Weg zu machen, läutete sein Handy. Es war Anton Heckmann. Vincent stand zwar nicht der Sinn nach einem Gespräch. Aber Toni war sein einziger Freund und die geborene Frohnatur. Ein Plausch mit ihm würde sicher guttun. Daher nahm er das Gespräch an. »Hallo Toni, wie geht’s?«
»Hervorragend, wenn mein Kühlschrank nicht so gähnend leer wäre.«
Toni hatte seinen Führerschein vor Jahren zum wiederholten Mal wegen Alkohol am Steuer abgeben müssen und ihn nicht wiederbekommen. Seine Wohnungsmiete war moderat, aber dafür lag kein Lebensmittel-Discounter oder Supermarkt in der Nähe. Hin und wieder bat er Vincent, ihn mit dem Auto zum Einkaufen zu chauffieren.
»Ich bin in zehn Minuten bei dir«, sagte Vincent. Zu dem Rastplatz konnte er später immer noch fahren. Zeit hatte er momentan zur Genüge.
»Super. Du bist ein wahrer Freund, das lobe ich mir«, freute sich Toni.
Zehn Minuten später hielt Vincent vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Toni wohnte. Sein Freund wartete auf einem der vor dem Haus gelegenen Parkplätze im Schatten der Hauswand. Vincent hielt neben ihm auf dem Parkplatz und beide hoben gleichzeitig die Hand zur Begrüßung.
»Bist du heute noch krankgeschrieben?«, fragte Toni, als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ und den Gurt umlegte.
»Ja, bin ich, woher weißt du davon?«, wunderte sich Vincent. Er sah sich nach allen Seiten um und ließ den Wagen zurück auf die Straße rollen.
»Ich hab deinen Chef in der Kneipe getroffen. Hubert spielt übrigens sehr passabel Darts. Ich hätte es mir leichter vorgestellt, gegen ihn zu gewinnen. Er hat mir von deinem Sturz beim Laufen erzählt und er war nicht gerade angetan davon, dass du ein paar Tage ausfällst.«
Typisch Hubert, dachte Vincent. Hubert Koller war ein glatzköpfiger und pockennarbiger Koloss, der kein Blatt vor den Mund nahm.
Früher hatte Hubert jahrelang als Türsteher in einer Disco gearbeitet. Als dem Laden nach einer Drogenrazzia die Konzession entzogen worden war, hatte Hubert einen Sicherheitsdienst gegründet, der anfangs nur aus ihm allein bestanden hatte. Mit der Zeit war die Nachfrage gestiegen und er hatte inzwischen drei fest angestellte Mitarbeiter. Einer davon war Vincent.
»Wie geht es dir?«, wollte Toni wissen, jetzt etwas ernster.
»Gut. Es ist nur …«
»Was denn?«
»Ich habe das Gefühl, dass ich beginne, mich an meine Vergangenheit zu erinnern.«
»Hey, das wäre ja der Wahnsinn, einfach sensationell.« Toni klopfte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Freust du dich denn nicht? Wenn du mich fragst, ist das ein Grund zum Feiern.«
»Das mit den zurückkehrenden Erinnerungen ist erst mal nur eine Vermutung.« Vincent erzählte Toni in knappen Worten von dem fremden Haus, zu dem er gefahren war, und dem Mord, der darin stattgefunden und von dem er geträumt hatte.
»Mysteriös«, raunte Toni. »Darf ich hier drin rauchen?«
»Das fragst du mich jedes Mal und die Antwort ist immer die gleiche. Nein.«
»Hätte ja sein können, dass du das nach deinem Sturz vergessen hast«, scherzte Toni.
»Ich weiß nicht, was ich von dem Traum halten soll.«
»Hast du dir schon mal die Frage gestellt, ob du etwas mit dem Mord zu tun haben könntest?«
Vincent warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Der Mörder sitzt im Knast.«
Toni hob die Hände und gab sich beleidigt. »Hätte doch sein können. Ich versuche nur, dir bei dem Rätsel zu helfen.«
Toni hatte unbedarft losgeredet und es nicht ernst gemeint. Doch in Vincent rumorte es, als ob Toni einen wunden Punkt berührt hätte. Eine Weile fuhren sie schweigend in Richtung des Lebensmittel-Discounters.
»Sag mal, kannst du mir ein bisschen Geld borgen?«, unterbrach Toni die Stille. »Ich bin total abgebrannt.«
Vincent warf ihm einen empörten Blick zu. Toni tat, als könnte er kein Wässerchen trüben. »Ich habe gezockt und leider verloren, okay. Beim nächsten Mal gewinne ich wieder. So ist das Leben. Auf und Ab. Yin und Yang.«
»Wie viel brauchst du?«, fragte Vincent leicht genervt.
»Hundert Euronen würden mir reichen, um über die Runden zu kommen.«
»So viel hab ich nicht bei mir.«
»Wozu gibt es Geldautomaten?«, feixte Toni. »Du bekommst es mit der nächsten Überweisung vom Jobcenter zurück.«
Toni bezog mittlerweile Arbeitslosengeld II. Ob er je wieder eine Anstellung finden würde, war fraglich.
»Vermutlich brauchst du die Kohle, um einzukaufen«, folgerte Vincent.
»So ist es.«
»Dann also zuerst zum Geldautomaten«, entschied Vincent. Der Automat der Sparkasse, bei dem er sein Konto hatte, befand sich im Nachbarort auf der anderen Seite der Saar.
Nachdem Vincent das Geld abgehoben und sich wieder hinter das Lenkrad seines Autos gesetzt hatte, gab er Toni die Scheine.
»Danke«, sagte Toni und klopfte ihm auf die Schulter.
»Kein Ding. Aber du solltest mit den Spielautomaten und dem Pokern aufhören.«
»Sobald ich mein Geld zurückgewonnen habe.« Tonis Kehle entwich ein raues, etwas verkommenes Lachen.
»Der Rastplatz, an dem ich damals bewusstlos gefunden wurde, ist ganz in der Nähe. Hättest du Lust, vor dem Einkauf mit mir dorthin zu fahren?«, fragte Vincent.
»Klar, aber warum willst du an den Ort zurück, an dem du fast draufgegangen wärst?«
Vincent zuckte mit den Schultern. »Ich hab das Gefühl, es könnte beim Erinnern helfen. Dr. Feist, der Psychologe, bei dem ich nach dem Gedächtnisverlust in Therapie war, meinte, es könnte die Erinnerungen an die Ereignisse zurückbringen, wenn man sich an den Ort des Geschehens begibt. Ich war damals bereits an diesem Rastplatz. Es hat aber nichts bei mir ausgelöst.«
»Ich persönlich vermeide es lieber, mich an Scheißtage zu erinnern. Einen schlechten Film schaue ich mir ja auch nicht zweimal an. Aber du musst selbst wissen, was gut und was schlecht für dich ist.«
Vincent startete den Motor und schaltete das Radio an. Aus den Lautsprecherboxen erklang ein aktueller Popsong von Billie Eilish.
Der Rastplatz befand sich ungefähr in der Mitte eines vier Kilometer langen Landstraßenabschnitts, der zwei Dörfer miteinander verband. Links der Straße ragte ein bewaldeter Hügel auf. Rechts daneben erstreckten sich Felder bis zur Autobahn, die in etwa hundert Metern Entfernung parallel zur Landstraße verlief.
Als der an der Gegenfahrbahn gelegene Rastplatz in Sicht kam, setzte Vincent den linken Blinker und fuhr an die steinerne Sitzgruppe heran, neben der er mehr tot als lebendig gefunden worden war.
Sie stiegen aus und sahen sich um. Toni zündete sich eine Zigarette an. »Schön kühl hier«, sagte er.
Hin und wieder fuhren Autos an ihnen vorbei und übertönten das Vogelgezwitscher, das aus der Bewaldung am Rastplatz drang.
Die Bank und der Tisch waren von grünen Flechten überzogen. Zehn Meter weiter befand sich ein Kneippbecken, das einst von dem kalten Wasser einer Quelle gespeist wurde. Nun war das Becken trocken und allerhand Unrat lag darin. Darunter Zigarettenstummel, Papiertaschentücher und leere Getränkedosen. Im nahen Umkreis des Tisches und der Bank sah es ein wenig sauberer aus. Dies war vermutlich dem unmittelbar daneben an einer Stange befestigten Müllbehälter zuzuschreiben.
»Der Autofahrer, der mich damals entdeckt hat, hat angegeben, dass ich etwa zwei Meter hinter der linken Steinbank gelegen habe.«
Vincent zeigte auf die Stelle. Sie gingen näher heran.
»Klingelt da was bei dir?«, fragte Toni und zog an seiner Zigarette.
»Nein, nicht die Spur«, erwiderte Vincent.
Hinter der Sitzbank führte ein schmaler Trampelpfad am Fuß des bewaldeten Berghangs entlang.
Vincent ging darauf zu und schob mit dem Fuß die in den Wegeingang hineinragenden Sträucher beiseite.
»Meine Kleidung war mit Erde beschmutzt. Vielleicht bin ich über diesen Pfad aus dem Wald auf den Rastplatz gelangt«, sagte Vincent.
»Na dann los! Machen wir einen Spaziergang in der Natur«, sagte Toni und trat seine aufgerauchte Zigarette auf dem Boden aus.
Sie kamen anfangs wegen des in den Pfad wachsenden Gestrüpps nur schleppend voran. Nach fünfzig Metern wurde die Vegetation im Unterholz spärlicher. Die dichten Baumkronen befanden sich so nah beieinander, dass die Sonne kaum noch durchdrang. Vincent blieb des Öfteren stehen und sah sich um.
Damals im Januar hatte stürmisches, nasskaltes Wetter geherrscht. Es war gut möglich, dass ein abgebrochener Ast auf ihn herabgekracht war und ihm die schlimme Kopfverletzung zugefügt hatte. Aber aus welchem Grund mochte er während eines Sturms in diesem unwegsamen Gelände unterwegs gewesen sein? Er stellte sich vor, wie die Bäume laut ächzend im Wind wogten. Das musste beängstigend gewesen sein.
Jetzt im Sommer wirkte die Umgebung freundlich. Der Geruch des Waldes und die Geräusche waren nicht mit denen des Winters vergleichbar. Vielleicht lag es daran, dass die ersehnte Erinnerung an jenen schicksalhaften Tag ausblieb.
Je weiter sie gingen, desto mehr trübte sich Vincents Stimmung ein.
»Vielleicht war das hier eine deiner Laufstrecken«, meinte Toni.
»Wenn mein Auto auf dem Rastplatz geparkt hätte, würde ich das in Betracht ziehen. Aber mein Wagen stand zu Hause.«
»Bis hierher sind es von deinem Haus vier, vielleicht fünf Kilometer. Du warst damals wie heute ein trainierter Läufer. Die Distanz hättest du locker geschafft.«
»Mag sein«, überlegte Vincent. Tatsächlich war er sportlich bekleidet gewesen, als man ihn gefunden hatte.
Nach etwa zwanzig Minuten gelangten sie auf eine große mit Gras bewachsene Lichtung. Es war wunderbar still. Der Berg und die Vegetation hatten das sonst allgegenwärtige Autobahnrauschen verschluckt. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckten sie einen Jagdhochsitz zwischen den Bäumen am Waldrand.
»Auf so einen Turm wollte ich schon immer mal rauf«, sagte Toni und marschierte darauf zu. Vincent folgte ihm kopfschüttelnd. Dass Toni auf diesen Hochsitz klettern wollte, passte zu ihm. Toni war über fünfzig Jahre alt, aber im Inneren keineswegs erwachsen. Er spielte leidenschaftlich gern Karten, Darts und Bowling. Leider ging es Toni dabei nicht wie einem Kind um die Ehre des Gewinnens. Den richtigen Kick verschaffte ihm das Spielen nur, wenn es um Geld ging.
Toni war kein Freund von Spaziergängen und bewegte sich auch sonst nicht gern zu Fuß fort. Vincent rechnete es ihm hoch an, dass er ihn, ohne zu murren, durch das Dickicht des Waldes begleitet hatte. Daher widersprach er nicht, als Toni die morschen Sprossen der Holzleiter hinauf in den Hochsitz krabbelte. Oben angekommen verschwand sein Kumpel in dem Häuschen und winkte Vincent kurz darauf durch die zum Feld weisende Sichtaussparung zu.
»Was für ein Blick«, begeisterte er sich. »Willst du nicht auch raufkommen?«
Vincent verspürte keine sonderliche Lust dazu.
Kritisch betrachtete er die Konstruktion, an der der Zahn der Zeit seine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte. Die Stelzen, auf denen der Hochsitz ruhte, bewegten sich unter Tonis Gewicht bedenklich hin und her.
»Mir reicht die Aussicht von hier unten«, sagte er und ließ den Blick schweifen.
Er hätte schwören können, zum ersten Mal diesen Teil des Waldes durchschritten zu haben und auf diese Lichtung zu schauen. Genauso wie damals vor fünf Jahren, als er nach dem Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal sein Haus betreten hatte. Es war ihm vollkommen fremd erschienen. Er wusste nicht, wo das Bad oder die Küche waren. Hinter jeder Tür, in jedem Schrank und in jeder Schublade hatten neue Überraschungen auf ihn gewartet. Der Hochsitz und die Umgebung waren ihm ebenso unbekannt. Doch das schloss nicht aus, dass er schon mal hier gewesen war.
Tonis Kopf verschwand und lugte kurz darauf wieder aus der Öffnung. »Sieh mal, was hier versteckt war!« Er hielt freudestrahlend ein Fernglas in der Hand und führte es vor die Augen. »Echt klasse!«
Als er wieder herunterkam, brachte er seinen Fund mit.
»Was willst du damit?«, fragte Vincent.
»So eins wollte ich immer schon. Es hat sogar eine Nachtsichtfunktion.«
»Das hat garantiert jemand da oben vergessen. Derjenige wird es beim nächsten Besuch mitnehmen wollen.«
»Ich leihe es mir nur aus«, sagte Toni. »In ein paar Tagen bringe ich es zurück. Okay?«
Vincent schüttelte den Kopf, ließ es aber dabei bewenden.
Auf dem Rückweg schaute Toni immer wieder mit einer Freude durch das Fernglas, als ob es ein Geschenk wäre, das ihm das Christkind unter den Baum gelegt hatte.
»Schade, dass dir die Tour nichts gebracht hat«, sagte er, als sie wieder im Wagen saßen. »Vielleicht ist es dir ein Trost, dass ich unseren Ausflug genossen habe und er sich zumindest für mich gelohnt hat.« Er deutete auf das Fernglas.
Vincent überkam eine tiefe Traurigkeit. Er lächelte trotzdem. Nicht den Funken einer Erinnerung hatten der Rastplatz und der Waldspaziergang in ihm ausgelöst. Enttäuscht startete er den Motor und fuhr in Richtung des Lebensmittel-Discounters.