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Die Ersten

von Barry Stiller (Autor:in) Dana Stiller (Autor:in)
224 Seiten

Zusammenfassung

Es ist die Entdeckung ihres Lebens: 1988 findet ein internationales Forscherteam in der kanadischen Arktis eine Wikinger-Siedlung und gut erhaltene Eismumien. Doch zwei Wochen später stirbt der erste Mitarbeiter unter mysteriösen Umständen. Und das ist erst der Beginn einer Reihe unerklärlicher Ereignisse: Rätselhafte Zeichnungen und Funde tauchen auf, Wissenschaftler der Expedition verhalten sich eigenartig, und in den verschneiten Wäldern scheint etwas auf sie zu lauern. Haben die Forscher etwas Böses aus den finsteren Legenden der Eskimos wiedererweckt? Peter Conrad, gerade erst aus der DDR zurückgekehrt, weiß von alledem nichts. Als man ihm eine Stelle in Kanada anbietet, hat er keine Ahnung, dass er einen Toten ersetzen soll... und worauf er sich einlässt. Das Geheimnis der Wikinger könnte die Welt für immer verändern – und jemand wird um jeden Preis verhindern, dass es je gelüftet wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


01

Die Beweise waren eindeutig. Wenn er bei seiner Untersuchung keine groben Fehler gemacht hatte, dann würde sich die Welt für immer verändern. Die Bedeutung, vielleicht sogar die Existenz großer Kulturen würde infrage gestellt, die Grundfesten moderner Gesellschaften konnten ins Wanken geraten. Seine Entdeckung hatte das Potential, Kriege auszulösen. Mit einem Mal war ihm schwindelig, eine Sekunde später speiübel. Jean Scotte trat mit viel zu viel Kraft auf die Bremse, produzierte mit dem geländegängigen Isuzu eine veritable Straßensperre und würgte dann den Motor ab. Hektisch fingerte er am Zündschloss, brachte den Anlasser aber nicht dazu, den sonst so zuverlässigen Vierzylinder wieder zu starten. Er war schweißgebadet, und das lag nicht an der Heizung seines Troopers. Die Kiste musste schleunigst von der Straße, auch wenn mitten in der Nacht auf der eisigen Piste Richtung Quebec kaum jemand unterwegs war. Fluchend riss er den Klettverschluss des wattierten Handschuhs auf, warf ihn in den Fußraum und betätigte den Anlasser erneut — nichts. Er spürte, wie seine Wut in rasendem Tempo anschwoll, und trat die Kupplung ins Bodenblech. Ein letztes Mal drehte er den Zündschlüssel bis zum Anschlag. Als wäre es nie anders gewesen, erwachte der Motor zum Leben und brummte im höher eingestellten Leerlauf vor sich hin. Scotte bugsierte den Wagen so weit an den rechten Fahrbahnrand, wie es der Wall aus Schnee zuließ, den die Räumfahrzeuge in den letzten zwei Monaten angehäuft hatten. Er zog die Handbremse, brachte den Schaltknüppel des Vierganggetriebes in Leerlaufstellung, schaltete Warnblinker und Fernlicht ein und stieg aus.

Abkühlen, beruhigen, sich darauf konzentrieren, eine wohlproportionierte Zigarette mit Filterstück zu drehen und gründlich nachdenken. In einer Hinsicht hatte der Chef recht. Es galt, die Nerven zu behalten und das weitere Vorgehen zügig, doch mit aller Gelassenheit zu planen. Ein vorschnelles Bekanntgeben seiner Forschungsergebnisse würde unter Umständen mehr Schaden verursachen, als es die wissenschaftlichen Erkenntnisse wert waren. Da war etwas dran. Zu Scottes Verwunderung hatte der Chef aber die Tragweite der Untersuchung gegen Ende ihres kurzen Satellitentelefonats, das er von der Grabungsstelle aus geführt hatte, grundsätzlich heruntergespielt und ihm das Versprechen abgerungen, vorerst niemandem etwas von seiner Entdeckung zu erzählen. Gedankenverloren bewegte Scotte langsam den Kopf hin und her. Völlig unverständlich, der Chef hatte am Ende doch tatsächlich angedeutet, man könne die ganze Sache auch unter den Tisch fallen lassen. Das erspare eine Menge Ärger, Schreiberei und Rechtfertigungen — und außerdem solle er mit dem großen Wort vom 'unumstößlichen Beweis' doch etwas vorsichtiger hantieren. Scotte sah diesen Punkt ganz anders. Ja, man musste einen kühlen Kopf bewahren. Und ja, wenn sie die Ergebnisse veröffentlichten, dann musste alles hieb- und stichfest sein. Aber nein, er würde am Ende nichts zurückhalten oder auch nur abmildern, egal was der Chef davon hielt. Er war sich momentan nicht einmal sicher, ob er die Publikation nicht alleine durchziehen sollte. Einfach würde sich das nicht gestalten, aber warum sollte er die Lorbeeren mit jemandem teilen, der nicht an den Erfolg glaubte? Gäbe es einen Nobelpreis für Archäologie, käme man in diesem Jahr nicht an ihm vorbei, da war sich Jean Scotte sicher. Zudem hatte er die ganze Arbeit fast allein gemacht...

Ein stechender Schmerz machte ihn darauf aufmerksam, dass er seine Selbstgedrehte ungenutzt hatte herunterbrennen lassen. Verwundert stellte er fest, dass es trotz des hellen Schnees unter der winterlichen Wolkendecke des östlichen Kanada stockdunkel war. Er hatte sich weit von seinem Wagen entfernt. So weit, dass er die Scheinwerfer nur noch als einen einzigen Punkt ausmachen konnte. Wie hypnotisiert starrte er minutenlang in die winzige Lichtquelle. Er konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Alles war so kompliziert, was sollte er denn jetzt bloß machen? Der Chef! Wozu hat man schließlich einen Vorgesetzten, hatte der nicht davon gesprochen, die Angelegenheit zügig zu besprechen? Ja, er würde sofort mit ihm reden! Nachdem er sich eine weitere Zigarette, diesmal ohne Filter, gebaut hatte, stapfte er mit großen Schritten zurück zu seinem Trooper.

 

Normalerweise sah man in jedem kleineren Ort mindestens eine Telefonzelle. Heute schien es, als wolle irgendetwas seine Kontaktaufnahme mit dem Chef verhindern. Beinahe fünfundvierzig Kilometer war er auf der Route 132 nach Quebec unterwegs gewesen, bevor eine heruntergekommene Tankstelle auf der anderen Seite in Sicht kam.

Der zahnlose Alte hinter dem Tresen war unfreundlich, ließ sich aber für fünf Dollar überzeugen, Scotte einen Anruf in die Provinzhauptstadt zu gewähren. Der Pächter registrierte jeden Tastendruck, als zähle er die Ziffern, um ein Telefonat nach Übersee auszuschließen.

Nach dem achten Klingeln wurde abgehoben. »Scotte, wenn Sie es sind, hoffe ich, Sie haben einen guten Grund, zu nachtschlafender Zeit anzurufen, was gibt es?«

Der Alte hob neugierig die Augenbrauen und machte keinerlei Anstalten, sich zu entfernen.

»Ja, hier Scotte. Ich...« Er bedeutete dem Pächter, er solle verschwinden. Der blieb so unbewegt, wie seine Miene interessiert wirkte. »Ich... Es ist sehr wichtig... Moment, bitte.« Er legte die Hand über die Sprechmuschel. »Wenn Sie die Güte hätten, mich ungestört telefonieren zu lassen.« Nach einem kurzen Moment des Zögerns setzte sich der Tankstellenpächter begleitet von mürrischem Gemurmel in Bewegung.

»Was ist da los, Scotte? Wo sind Sie überhaupt? Rücken Sie schon raus mit der Sprache.«

»Ich muss dringend mit Ihnen reden.«

»Hat das nicht Zeit bis übermorgen? Dann bin ich wieder auf dem Gelände. Wir können uns irgendwo treffen und alles in Ruhe durchgehen.«

Scotte schüttelte heftig den Kopf. »Chef, ich fürchte, ich kann so lange nicht warten. Eigentlich hätte ich am Freitag schon alles katalogisieren und inventarisieren müssen. Wie soll ich der Grabungsleitung plausibel machen, dass ich mir fast eine Woche Zeit lasse, den wichtigsten Befund dieser Kampagne zu dokumentieren? Schlimmer noch–«, er stöhnte auf und fuhr mit gesenkter Stimme fort, »die Leitung ahnt ja noch nicht einmal etwas. Und wenn dann auch noch unsere Sponsoren von dieser Geheimniskrämerei Wind kriegen... Ich darf gar nicht daran denken.«

Das Schnaufen der Gegenstelle klang gereizt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie müssen Ruhe bewahren. Ich regele das alles. Behalten Sie die Nerven. Sie werden sehen, das wird sich auf ganz natürliche Weise erklären lassen. Vielleicht stellt sich das Ganze als großes Missverständnis heraus.«

Wieder fühlte Scotte Wut in sich aufsteigen. »Hören Sie, ich bin kein Idiot, ich habe nicht fehlerhaft gearbeitet. Ich brauche eine Entscheidung von Ihnen. Ich kann das auch alleine–«

»Beruhigen Sie sich, mein lieber Scotte. Vertrauen Sie mir. Wir werden die beste Lösung für alle finden.« Er machte eine Pause, aber Scotte blieb bis auf sein heftiges Atmen stumm. »Ich verstehe Sie, nur müssen Sie auch mich verstehen. Selbst wenn ich wollte, ohne die Funde und alle Unterlagen kann ich doch sowieso keine vernünftige Entscheidung–«

»Ich habe alles dabei«, unterbrach ihn der Archäologe.

»Sie haben...« Einige Sekunden schwiegen beide. »Das ändert die Lage natürlich, wenn das so ist...« Der Chef klang nachdenklich. Dann fuhr er in beinahe euphorischem Ton fort: »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, mein lieber Scotte? Das schafft doch alle unsere Probleme aus der Welt. Was halten Sie davon, auf einen Drink bei mir vorbeizukommen? Ich habe letzte Woche einen ganz hervorragenden Scotch geschenkt bekommen. Und wach bin ich jetzt ja sowieso — was halten Sie davon?«

Scotte war verdattert. »Gut... hervorragend, meine ich. Wenn ich Sie nicht störe, ich werde bei dem Wetter wohl eine gute Stunde brauchen.«

»Vorzüglich. Ich erwarte Sie. Sie wissen ja, wo ich wohne.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte der Chef auf.

 

Scotte verspürte eine leichte Müdigkeit. Kein Wunder, bald würde es hell werden, jedenfalls so hell, wie es die nördlichen Breitengrade und die prall gefüllten Wolken zuließen. Er hatte bis zum Ausgrabungsgelände noch etwa neunzig Kilometer vor sich, und ein leichter Schneefall hatte eingesetzt. Kurz zog er eine Rast in Betracht, wischte den Gedanken aber beiseite. Der Niederschlag würde erfahrungsgemäß kräftiger werden. Wenn er jetzt eine Ruhepause einlegte, würde er wahrscheinlich eingeschneit festsitzen — außerdem wollte er den verbleibenden Rest der Nacht möglichst in seiner Unterkunft schlafen. Er öffnete das Fenster einen Spalt in der Hoffnung, die kalte Frischluft würde die Konzentration fördern, und beschleunigte den Wagen, bis die Tachonadel achtzig Meilen anzeigte.

Nach einer Viertelstunde hatte sich der Schneefall zu einer weißen Wand entwickelt, die das Licht der Scheinwerfer in alle Richtungen streute und weder Fahrbahn noch Geschwindigkeit erahnen ließ. Scottes Gedanken kreisten um das Treffen mit dem Chef, die Befunde und um die unglaublichen Schlussfolgerungen, die man ziehen musste. Wie würde die Menschheit damit umgehen? Vielleicht leben wir alle mit einer uralten Lüge, die wir Geschichte nennen. Auch, wenn er es ein wenig sonderbar fand, war er froh, dass der Chef am Ende doch so zugänglich gewesen war. Geduldig hatte der sich bei Scotch (der tatsächlich vorzüglich war) und englischem Teegebäck alles angehört. Zum Schluss war Scotte sicher, den Chef von seiner Theorie überzeugt zu haben. Überhaupt fühlte er sich von einer Last befreit. Der Chef wusste immer, was zu tun war. Er würde seine Befunde, die Untersuchungsergebnisse und alle Artefakte den richtigen Stellen übergeben und ihm eine Menge Ärger ersparen. Er hatte sogar zugesagt, ihm gegenüber der Grabungsleitung den Rücken freizuhalten. Und vielleicht würde er die Federführung bei den zahlreichen Publikationen, die garantiert folgen würden, übernehmen können. Alles würde gut werden.

Seine Erschöpfung wich langsam einer wohligen Stimmung. Das weiße Licht umströmte ihn gleichmäßig und beruhigend. Begleitet von einem leisen Brummeln glitt er durch die Nacht. Er meinte, jetzt viel klarer zu sehen, viel mehr zu erkennen. Alles war schärfer und deutlicher. Diese Wand aus Schnee war nur auf den ersten Blick eintönig. Wenn man genauer hinsah, erkannte man... das Wesen des Schnees. Sein Innerstes, seine Seele. Jede Schneeflocke war einzigartig, noch nie hatte man zwei identische Kristalle entdeckt. So etwas gab es nicht ohne Grund. Endlich glaubte er, diese Inuit besser zu verstehen. Er war überheblich und blind gewesen, hatte sich darüber lustig gemacht, dass dieses Jägervolk hunderte Worte für die Begriffe Eis und Schnee verwendete. Doch man musste nur richtig hinsehen, dann konnte man es erkennen. Dies hier war kein aggressiver Schneesturm. In dem weißen Wirbel, durch den er heute Nacht schwebte, gab es nichts Böses. Es war freundlich und sanft, der Bote einer guten Zukunft, angefüllt mit Lichtwesen, die ihm den Weg wiesen. Die Inuit hatten recht. Sie hatten immer recht gehabt. Auf einmal schien es ihm gar nicht mehr so abwegig, dass sich im dichten Schneetreiben uralte Kreaturen verbargen, die nur Eingeweihte, die Aufmerksamen, erkennen konnten. Diese neue Aufnahmefähigkeit fühlte sich gut an. Wenn es nicht so kitschig geklungen hätte, dann hätte er es Hellsichtigkeit oder Bewusstseinserweiterung genannt.

Scotte hatte keine Ahnung, wie lange er schon mit dem Licht flog oder wie weit er noch reisen sollte — er war sich noch nicht einmal sicher, wo sein Ziel lag — oder ob es überhaupt jemals eines gegeben hatte. Es war auch unwichtig. Alles, was zählte, war dieses sanfte, weiße Leuchten der Schneewesen. Sie waren überall; sie durchdrangen seinen Geist so mühelos wie Neutrinos die Materie. So musste es sein. Er schloss die Lider, und das wunderbare Licht blieb, es würde bis in alle Ewigkeit bei ihm bleiben. Als er die Augen nach einiger Zeit wieder öffnete, sah er in der Ferne zwei besonders helle Lichtwesen, umgeben von einer Korona aus warmem Gelb. Wunderschön. Sie kamen näher, aber sie schienen ihn nicht zu bemerken. Er bewegte sich in ihre Richtung, er musste sie erreichen. Als er auf die beiden Wesen zuschwebte, verstärkten sie ihr Licht in kurzen, unregelmäßigen Abständen. Es erschien ihm sonderbar unruhig, beinahe bedrohlich. Hatte er sie erschreckt? Oder versuchten sie, ihm etwas mitzuteilen? Dann kam ein schreckliches Geräusch dazu, ein tiefes Horn des Unfriedens. Wenn es die Lichtwesen gab, da gab es für ihn keine Zweifel mehr, dann gab es sicher auch die Eisdämonen. Kreaturen so groß wie Kodiakbären mit gelben Raubtieraugen, mächtigen Klauen und rasiermesserscharfen Zähnen, von denen die Inuit mit leisen Stimmen am Lagerfeuer erzählten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Hatte er die Regeln einer Welt gebrochen, die er gerade erst entdeckte? Hatte er womöglich einen Dämon der Inuit herausgefordert? Er sollte es niemals erfahren. Jean Scotte war tot, bevor der mit fünfhundert Schweinehälften beladene Mack-Truck zum Stehen kam.

02

Der Dezember begann in Berlin so regnerisch, wie der November ausgeklungen war. Als sie den Städteexpress aus Leipzig verlassen hatten, standen sie für einige Sekunden wie versteinert auf dem Bahnsteig, dann zogen die beiden Gestalten die Kapuzen ihrer Bundeswehrparkas beinahe synchron über die Köpfe und gingen langsam in Richtung Ausgang. Sie sahen sich weder an noch sprachen sie miteinander. Wären da nicht die olivgrünen Militärjacken gewesen, hätte ein Beobachter glauben können, die beiden seien einander unbekannt. Auch sonst hatte das sonderbare Pärchen wenige Gemeinsamkeiten. Der Mann war von durchschnittlicher Größe und durchschnittlicher Statur, vielleicht etwas schlaksig. Sein Gesicht war schmal, aber unauffällig, dominiert von einer eckigen Rentnerbrille. Er trug abgewetzte Blue Jeans, weiße Adidas Allround mit hohem Schaft und einen ebenfalls olivfarbenen Militärrucksack über der linken Schulter. Der hochgerutschte Anorakärmel ließ eine klobige, japanische Quarzuhr erkennen, die besonders unter Nachtschwärmern beliebt war, weil sie eine Displaybeleuchtung hatte — und natürlich, weil sie digital war. Die Frau war ein wenig kleiner, doch wesentlich auffälliger. Das lag vor allem an ihren Blessuren. Sie trug den linken Arm in einer Schlinge, wie der Beobachter aufgrund des ungefüllten Ärmels und der ausgedehnten Ausbeulung ihres Parkas vermuten musste. Auch ihr Gesicht sah mitgenommen aus. Neben einigen Kratzern und kleineren Hämatomen hatte sie ein blaues Auge mit zugehöriger Schwellung, das jedem Boxer zur Ehre gereicht hätte. Dunkles Haar lugte hier und da aus der teddygefütterten Kapuze und rahmte das ramponierte Gesicht ein. Ihr weniges Gepäck trug sie in einem blassroten Nylonnetz, eine der üblichen Einkaufstaschen in der Deutschen Demokratischen Republik. In Kombination mit ihrer dreckverkrusteten Kampfhose aus ausgemusterten Armeebeständen und schlampig geschnürten Kampfstiefeln wirkte die Frau abgerissen und ein wenig heruntergekommen, fast wie eine Obdachlose, während ihr Begleiter eher nach Demonstrant oder Hausbesetzer aus gutbürgerlichem Hause aussah.

Hier in Friedrichshain auf dem Bahnsteig des Ostberliner Hauptbahnhofes wirkten die beiden völlig deplatziert. Nicht, dass durch das Entfernen hoheitlicher Symbole entschärfte Militärkleidung aus der Bundesrepublik und besonders westliche Sportschuhe im Ost-Berlin dieser unruhigen Tage völlig undenkbar gewesen wären. Es war mehr die Unbekümmertheit und Beiläufigkeit ihres aufsehenerregenden Auftrittes, der die beiden als Westler entlarvte. Der Grenzübergang an der Oberbaumbrücke, den sie nach einem guten Kilometer Fußmarsch im Nieselregen benutzten, gab dem Beobachter den entscheidenden Hinweis. Denn dieser Sektoren-Übergang nach Kreuzberg war seit Anfang der siebziger Jahre nur für westdeutsche Fußgänger passierbar.

 

Erst als die S-Bahn anrollte, versuchte Peter Conrad, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Ich denke, wir sind uns einig, dass wir zuerst bei Marcos einkehren. Was meinst du?«

Die Antwort seiner Begleiterin bestand in einem missmutigen Murmeln. Lisa Franks hatte das letzte Mal gesprochen, bevor der Städteexpress der Deutschen Reichsbahn quietschend in den Ostberliner Hauptbahnhof eingefahren war.

»Keinen Hunger? Also ich brauche jetzt eine große Menge Kalorien aus dem Rezepteschatz des nicht-sozialistischen Auslands.« Conrad grinste breit.

Sie beobachtete weiter die Rinnsale, die der beständige Nieselregen auf den Scheiben des Großraumabteils hinterließ. »Ja, ist schon in Ordnung«, bemerkte sie mit teilnahmsloser Stimme. »Pizza ist schon okay. Meinetwegen auch bei Marcos.«

»Was ist denn nun mit Marcos nicht richtig? Du kannst doch auch Salat oder sowas bestellen.« Er klang gereizter als beabsichtigt. »Außerdem haben wir das auch gemacht, als wir aus Ägypten in die Heimat zurückgekommen sind. Das hat doch beinahe etwas von Tradition«, fügte er versöhnlicher hinzu.

»Ja, klasse.«

Damit war die erste Konversation nach ihrer Rückkehr in die Westsektoren von Berlin beendet. Es dauerte zwei Stationen und knapp vier Minuten, bis Conrad einen weiteren Versuch wagte.

»Ja, klasse. Was soll das heißen? War doch der Auftakt zu einer spannenden Zeit.«

Lisa Franks atmete hörbar aus. »Für dich vielleicht...«

Er wartete, denn es nahte die Auflösung. So gut kannte er die angehende Ägyptologin nach den intensiven Erfahrungen ihrer ersten gemeinsamen Grabungskampagne und ihrem Abenteuer um das Lager Informium mittlerweile.

»Es war eine beschissene Zeit, Peter! Erst haben sie mich gekidnappt und dann bin ich von esoterischen Nazi-Terroristen unter Drogen gesetzt worden. Als Nächstes haben sie mich ordentlich vertrimmt, und meine freie Zeit habe ich mit Halluzinieren, Frieren und Kotzen verbracht. Und als Sahnehäubchen bin ich eines Tages auf einem Stuhl mit einem Zentner Sprengstoff drunter aufgewacht. Echt spannend, ganz toll!«

Mit schlechtem Gewissen dachte er an ihr gebrochenes Schlüsselbein und betrachtete das beachtliche Veilchen.

»Wirklich richtig toll! Und weil das nicht spannend genug ist, geht die Bombe natürlich hoch, kaum dass ich von dem verdammten Stuhl runter bin. Aber zum Glück werde ich ja verschüttet und bin nur halbtot. Spannung und Abenteuer, einfach spitzenmäßig.« Sie blitzte ihn böse an. »Und jetzt sag nichts Falsches, Peter Conrad.«

Er fingerte an den Verschlüssen seines Rucksacks herum. »Ist schon okay, du hast vollkommen recht. Ich hab gut reden. Dieser ganze Vril-Nazi-Verschwörungs-Quatsch... Es war eine beschissene Zeit.«

Mit einem erleichterten Blick registrierte sie, dass er endlich seine Hände ruhig hielt.

»Alles gut, Lisa. Mein Herz hängt nicht daran, dass wir in Marcos Pizzeria gehen. Lass uns eine Frittenbude auf dem Kudamm suchen. Eine ordentliche Currywurst mit einer Riesenportion Pommes tut es auch. Oder Reibekuchen. Auf jeden Fall habe ich einen Mordshunger.«

Er konnte ihren Blick nicht deuten, was auch an den geschwollenen Augenlidern lag. Jedenfalls schien der Zorn verflogen. War da ein mühsam unterdrücktes Lächeln?

Sie drehte ihren Kopf und schien wieder die Spuren des Wassers auf den Scheiben der Bahn zu beobachten. »Natürlich gehen wir zu Marcos, du Waschlappen.« Sie stand auf und drückte den Halteknopf. »Beweg dich, wir müssen die nächste aussteigen.«

 

Die Phase des Speisens brachten sie abgesehen von gelegentlichen Bemerkungen über das Essen und belanglosen Kommentaren zu den anderen Gästen kommunikationsfrei hinter sich. Conrad war mit seinem zukünftigen Werdegang beschäftigt. Schon morgen Vormittag hatte er einen Termin mit seinem Chef, Professor Memm, dem Leiter des Anthropologischen Instituts. Der wollte mit ihm über 'ernsthafte Dinge' sprechen. Das verhieß nichts Gutes. Für Lisa mochten die diplomatischen Verwicklungen, die ihre Flucht aus Ägypten nach sich gezogen hatte, keine weiteren Auswirkungen haben. Sie war nur eine grabungsunerfahrene Studentin, die ohne eigene Schuld in eine missliche Situation geraten war. Ihn würde man ganz anders behandeln, schließlich hatte er die Grabungsleitung innegehabt. Er war für das Verhalten der deutschen Studenten und das Auftreten der Berliner Universität gegenüber der ägyptischen Altertümerverwaltung mitverantwortlich. Jedenfalls würde Memm das so sehen. Conrad konnte sich nicht vorstellen, dass er in seiner Karriere (sofern es eine geben sollte) noch einmal ägyptische Mumien ausgraben würde; er rechnete eher damit, dass man ihm für alle Zeiten die Einreise nach Ägypten verweigern würde — selbst als einfacher Grabungsteilnehmer ohne irgendwelche Befugnisse.

»Der gute Luigi scheint die Bezugsquelle für seine Hausmarke gewechselt zu haben.« Mit verzogenem Gesicht setzte Lisa das Rotweinglas ab und machte eine wedelnde Handbewegung. »Egal. Was hältst du eigentlich von Kommissar Kellers Resümee? Ich meine, das Ganze am Ende als eine profane Mordserie eines politischen Fanatikers abzustempeln, ist doch wohl nicht angemessen.«

Conrad war verdutzt. »Ich dachte, du hättest die Nase voll von Abenteuern und Detektivspielen?«

»Ich habe die Nase voll davon, Schläge auf selbige zu bekommen, nicht vom Ermitteln. Ich bin schließlich Archäologin. Nein, im Ernst, Peter. Wieso legt der das so schnell zu den Akten? Einiges von Löfflers Bekenntnissen beruhte eindeutig auf realen Ereignissen — und eine gewisse Logik konnte man seinen Behauptungen auch nicht absprechen.« Sie schob ihren Teller beiseite und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Zumindest den Attentäter und diese mysteriöse VRIL-Tätowierung haben wir mit eigenen Augen gesehen. Genauso wie seinen Suizid mit einer Zyankalikapsel — ganz so, wie sich das für einen linientreuen Nazi gehört. Und behaupte nicht, das interessiert dich nicht. Deine unschönen Erlebnisse auf der Campuswiese und dem Alexanderplatz waren ja auch keine Einbildung.«

»Ebenso wenig wie unsere Flucht aus dem sagenhaften Hotel Jedermann... Du hast vollkommen recht. Dieser Keller ist ein schlauer Fuchs, der macht das nicht ohne Grund. Der Sarno hat da mal etwas angedeutet, ich hatte ja eine Menge Zeit für Unterhaltungen, als du... während deiner Geiselhaft.« Mit einem langen Zug leerte er sein Glas. »Weiß gar nicht, was du hast, der Wein ist doch nicht schlecht. Egal, zur Sache. Also, der Sarno erzählte mir, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass der Keller Anfang der Siebzigerjahre wohl einen ganz großen Fall bearbeitet hat. Jetzt frag mich nicht, worum es genau ging; irgendwas mit geheimen Rüstungsvorhaben, Landesverrat, was weiß ich. Auf jeden Fall ein ganz großes Ding. Angeblich waren sogar die Russen mit darin verwickelt, und die Staatssicherheit hatte wohl die Finger auch im Spiel.« Er nahm mit Luigi, dem Inhaber von Marcos Pizzeria, Blickkontakt auf. »Bringst du mir noch einen Rotwein? Danke.«

Lisa Franks verdrehte die Augen. »Für mich ein Bier, bitte.«

»Wie dem auch sei. Leutnant Sarno wusste nur so viel, dass Keller für sich und den Kollegen Kosminsky eine Lebensversicherung ausgehandelt hat. Seitdem halten wohl die Russen ihre Hand über ihn. Wenn ich das richtig deute, dann würde die Stasi unseren Kommissar Keller lieber heute als morgen von der Bildfläche verschwinden lassen.«

»Na ja, dann wundert es mich nicht, dass er keine weiteren Nachforschungen anstellt. Nazi-Löffler war ja offiziell auch ein hohes Stasi-Tier...« Sie schluckte schwer. »Ich wüsste gern, wie es Kosminsky geht.«

»Keller hat mir versichert, dass er uns benachrichtigt, wenn sich etwas ändert oder Kosminsky aus dem Koma aufwacht. Ach, Scheiße, Lisa... Ich fürchte, wir können nichts tun. Nur abwarten.«

Luigis Frau brachte die Getränke, und wieder herrschte für einige Minuten Schweigen an ihrem Tisch.

 

Conrad lehnte sich zurück. »Ich fürchte, der Memm wird mir morgen das Ende meiner Universitätskarriere nahelegen. Dann kann ich eigentlich nur noch bei einem privaten Grabungsunternehmen anheuern und im Akkord bei Notbergungen auf Autobahnbaustellen und in Baugruben für Hochhäuser mitbuddeln.« Er rutschte auf der erstaunlich bequemen Holzbank ein wenig tiefer und seufzte. »Und was sind die Pläne von Fräulein Franks?«

Sie hatte sich entschlossen, im laufenden Semester noch einige Vorlesungen zu besuchen und möglichst den einen oder anderen Schein zu machen. Lieber wäre ihr jedoch eine Anschlussgrabung gewesen, auch wenn sie auf solche Begleitumstände wie bei ihrem Ägyptenabenteuer gut verzichten konnte. Eigentlich gehörte eine solche Unternehmung außerhalb der Universitätsbibliothek überhaupt nicht zum Berufsbild ihres Hauptfaches. Als Ägyptologin würde sie, nach der obligatorischen Promotion, im glücklichsten Fall Frottagen oder Durchpausungen, die 'richtige' Archäologen von echten Stelen vor Ort abgenommen hatten, in ihrem Studierzimmer entziffern, sie vielleicht mit anderen Schriftgelehrten diskutieren und dann eine Publikation absetzen, die kaum jemanden interessierte und niemanden weiterbrachte. Aber das echte Ausgraben anfassbarer Funde, die Suche nach den Überresten vergangener Kulturen unter ihren Füßen, diese Spannung im ganzen Team, wenn jemand einen vielversprechenden Befund freilegte — das hatte sie in den Bann gezogen, dem letztlich alle grabenden Archäologen erlagen. Sie konnte sich nicht erklären, warum die Mehrheit ihrer zukünftigen Kollegen nicht einmal den Versuch machte, ihre Büroräume zu verlassen. An einer Ausgrenzung durch die Feldforschung konnte es nicht liegen, im Gegenteil. Mit Freude hatte sie festgestellt, dass die Ausgräber, die sie kennengelernt hatte, die Unterstützung einer fähigen Sprachwissenschaftlerin zu schätzen wussten. Die meisten freuten sich regelrecht, dass ein Bücherwurm aus seinem Elfenbeinturm herabstieg, sich in den Dreck setzte und die Grabungskelle in die Hand nahm. Zugegeben, nach Ägypten würde sie so schnell wahrscheinlich nicht mehr kommen, aber es gab ja noch andere Kulturen, deren Hinterlassenschaften nach Entzifferungsspezialisten verlangten. In Mesoamerika war eine Grabungskampagne ohne Wissenschaftler, die Maya-Glyphen oder Aztekisch lesen konnten, beinahe sinnlos. Ein Studium der Altamerikanistik erschien reizvoll. Man würde sehen...

»Lisa, alles in Ordnung?«

»Oh ja, alles okay. Ich habe nur gerade an deine Erfahrungen mit der Altamerikaforschung gedacht. Ich denke, ich werde mich in der mittelamerikanischen Archäologie umtun. Im Gegensatz zu dir komme ich mit diesen schwafelnden Ethnologen und Sozialromantikern ganz gut klar. Momentan bin ich aber auf etwas ganz anderes scharf. Die wollen in der Mongolei nach dem Grabmal von Dschingis Khan suchen und–«

»Ach, Unsinn, weiß doch keiner wo das ist. Die orakeln schon seit hundert Jahren mit dieser Geheimen Geschichte der Mongolen herum, ohne dass was dabei herausgekommen ist. Der wird in irgendeinem mittelgroßen Kurgan verbuddelt worden sein, den die Einheimischen ein paar Jahre nach der Beerdigung geplündert haben, weiter nichts.«

Sie lehnte sich weit über den Tisch. »Das, mein lieber Peter, glaube ich eben nicht! Die Lage von Dschingis Khans Grab wird angeblich in mündlicher Überlieferung von Generation zu Generation über einige wenige Sippen weitergegeben. Irgendein Ostberliner Wissenschaftler hat jahrelang dort geforscht und praktisch mit den Einheimischen ein Nomadenleben geführt. Eher zufällig hat er erfahren, dass seine Gastfamilie zu diesen Eingeweihten gehört. Und offensichtlich hat er so handfeste Hinweise gesammelt, dass da zur Zeit ein ganz großes Rad gedreht wird, um in Karakorum eine international besetzte Kampagne an den Start zu bringen.«

Conrad winkte ab. »Das mag ja alles sein. Und wenn es stimmt, dann ist das eine richtige Sensation. Aber davon haben wir nichts. Die Mongolei ist ein kommunistisches Land, praktisch der kleine Bruder der Russen. Wenn in Karakorum in Zukunft jemals Deutsche ausgraben sollten, dann kommen die aus dem Land unseres Freundes Josef Keller.«

Ein breites Grinsen machte sich auf Lisa Franks' geschundenem Gesicht breit. »Man hört aber läuten, dass der kleine Bruder das kommunistische Dogma des Antikapitalismus nicht zu streng interpretiert, wenn sich's lohnen könnte. Die Amerikaner machen gerade eine ansehnliche Menge Dollars locker, und es sieht so aus, als wenn sie nicht auf vollkommen taube Ohren stoßen. Egal, lange Geschichte. Ich hege jedenfalls die vage Hoffnung, dass ich mich und meine unentbehrlichen Kenntnisse über einen guten Bekannten ins Spiel bringen kann.«

»Deine runderen Gesichtszüge und die kleinen, schmalen Augen mit den Schlupflidern, das hat schon etwas leicht Asiatisches. Zumal dein Antlitz nach der violetten Phase einen wunderschönen gelb-oliven Ton entwickeln wird... Also, wenn du dich ein bisschen beeilst...«

Conrad reagierte zu langsam. Einem hellen Klatschen folgten augenblicklich ein Brennen auf seiner linken Wange und einige neugierige Blicke.

03

»Wenn Sie glauben, dass damit alles für Sie ausgestanden ist, Conrad, dann haben Sie sich geschnitten. Ganz gewaltig geschnitten.« Der Leiter des Anthropologischen Instituts der FU Berlin sprach sehr leise. Und Peter Conrad fühlte sich weitaus unwohler, als wenn der Mann seinem Ärger lautstark Luft gemacht hätte.

»Professor Memm–«

»Setzen Sie sich endlich hin.« Der Mann zeigte auf den gepolsterten Lederstuhl vor seinem massiven Schreibtisch. Conrad nahm Platz und seufzte unhörbar. Eigentlich war er mit Memm immer gut ausgekommen, und der Professor hatte sich lobend über seine Arbeiten geäußert. Besonders an seinem Promotionsprojekt zu ägyptischen Mumien hatte der Mann reges Interesse gezeigt.

»Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist, Conrad. Sie wollten mit einer fertigen Rohfassung Ihrer Dissertationsschrift von Bergens Grabung wiederkommen — und stattdessen treten Sie irgendeinen Skandal los, der die Universitätsleitung jetzt schon seit Wochen beschäftigt. Dekan Lempp ist verschnupft. Die Universität steht in den Augen der Öffentlichkeit unmöglich da, sogar die internationale Presse ist auf den Vorfall aufmerksam geworden, verdammt nochmal, Conrad!« Memm fegte ein Exemplar der Washington Post über den Tisch in Peter Conrads Richtung. »Und dann hat auch noch die Polizei Erkundigungen über Sie bei Lempp eingeholt. Verstehen Sie?«

Conrad wurde allmählich wütend. Das Gespräch verlief im Grunde, wie er es erwartet hatte, aber dass Memm tat, als wäre er der letztlich Verantwortliche, trieb seinen Blutdruck merklich in die Höhe. »Professor Memm. Ich versichere Ihnen, dass ich nur Professor Bergens–«

Er wurde erneut unterbrochen. »Sie brauchen hier keine Versicherungen abzugeben, Conrad. Sparen Sie sich das für eine Befragung durch das Dekanat oder den Universitätssenat, falls es so weit kommt.« Der Professor schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich finde es einfach persönlich enttäuschend. Sie haben sich an Lempp gewandt, und mich haben Sie im Dunkeln gelassen. Eine vertrauensvolle weitere Zusammenarbeit kann ich mir auf dieser Grundlage nur schwer vorstellen.«

Conrad schluckte. Memm wollte die Geschichte scheinbar unbedingt persönlich nehmen. Da brachte es jetzt auch nichts, die Flucht in die DDR ins Spiel zu bringen, um zu erklären, weshalb er keinen Kontakt aufgenommen hatte. »Es tut mir leid, dass Sie das so sehen.«

»Mir tut es auch leid, Conrad. Gehen Sie mir aus den Augen.« Memm machte eine wedelnde Handbewegung.

Peter Conrad biss die Zähne aufeinander und ging.

 

Lisa hatte recht gehabt. Die letzten Wochen waren einfach nur eine einzige Katastrophe gewesen, und wenn er nicht rasch wieder in Memms Ansehen stieg, würde er einen anderen Plan für seine Zukunft machen müssen. Am Ende blieb ihm vielleicht nichts anderes, als nach Köln zurückzugehen. Conrad stapfte wütend den langen Flur entlang. Mal sehen, wie lange er sein Doktorandenzimmer noch behalten würde, so geladen wie Memm im Augenblick war. Wahrscheinlich war ihm nur noch nicht in den Sinn gekommen, dieses Privileg zu streichen. Etwa auf halbem Weg hing ein altmodisches hölzernes Ablagesystem für die Post der Institutsangestellten an der Wand. Fast hätte Conrad den kleinen Zettel übersehen, den jemand weit hinten in sein Fach geworfen hatte. Und fast hätte er ihn einfach dort liegenlassen, denn er hatte genug schlechte Nachrichten für einen Tag gehört.

Etwa eine Minute blieb er einfach vor dem Postverteiler stehen. Beruhig dich, Mann. Der Memm war stinksauer, weil Lempp ihn hat auflaufen lassen. Und jeder wusste, dass Memm ein eitler Gockel war. Aber nicht ungerecht, normalerweise. Der kocht wieder runter, wenn du ihn in Ruhe lässt und gute Arbeit machst. Hoffentlich...

Das Anthropologische Institut der Freien Universität Berlin war in einem großzügigen historischen Backsteingebäude untergebracht. Da der Studiengang nicht eben überlaufen war, konnten sich Promovenden in der Regel über ein eigenes Arbeitszimmer in der Einrichtung freuen. Außerdem war im Kellergeschoss noch Platz für eine gut sortierte Präparate- und osteologische Sammlung, die den Studenten und Wissenschaftlern gleichermaßen zur Verfügung stand. Es wäre wirklich ein Jammer, hier weggehen zu müssen. Und überhaupt nicht einzusehen. Conrad langte nach dem bläulichen Papier einer Telefonnotiz, wie sie die Sekretärin hier im Institut verwendete. Überrascht stellte er fest, dass Paula Meier mehrmals versucht hatte, ihn zu erreichen.

 

Telefonate waren nicht seine liebste Methode der Kommunikation, so viel stand fest. Er hatte keine Durchwahl zu der Archivarin des Deutschen Archäologischen Instituts, und jetzt hing er gerade in einer Warteschleife. Wenn er wenigstens ein eigenes Telefon im Büro gehabt hätte... Aber so weit ging die Großzügigkeit dann auch nicht.

»Peter, wir haben uns solche Sorgen gemacht«, flötete Fräulein Meppen, die Institutssekretärin, zum wiederholten Mal. »Aber du siehst ja ganz rosig aus.«

Conrad erklärte der guten Seele nicht, dass seine gesunde Gesichtsfarbe am ehesten Zornesröte war. Als nach zwei Minuten noch immer das Gedudel aus der Leitung drang, legte er den Hörer auf dem Tisch ab und setzte sich schließlich doch. Fräulein Meppen servierte ihm ungefragt einen Kaffee. Wahrscheinlich würde er ihr Büro erst in Stunden wieder verlassen können. Andererseits, vielleicht war eine–

»Paula Meier am Apparat. Guten Tag.«

Conrad schnappte sich hektisch den Hörer. »Paula?«

»Ach, nein. Endlich!« Paula klang erleichtert. »Seit wann seid ihr wieder hier? Habt ihr diesen Löffler gefunden? Du hättest dich ruhig melden können. Ich dachte schon, man würde nie wieder etwas von dir und deiner seltsamen Begleiterin hören. Verschollen hinter dem Eisernen Vorhang oder so ähnlich...«

»So ähnlich.« Er hatte nicht wenig Lust, ihr von dem Ärger zu erzählen, in dem er steckte, aber Fräulein Meppens freundliches, neugieriges Gesicht keinen Meter entfernt bremste ihn beträchtlich.

»Wie? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Haben die euch irgendein Schweigegelübde da drüben abgenommen, oder was ist los?«

Conrad beschloss, dieses leidige Telefonat wieder auf Kurs zu bringen. »Paula, weshalb hast du versucht, mich zu erreichen?«

»Tja, wenn du das wissen möchtest, dann musst du mich schon persönlich besuchen kommen, mein Lieber. Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst«, sagte sie mit einem verheißungsvollen Unterton, der Conrad seltsam vorkam.

»Em, ich... aha. Also gut, ich denke, das wird sich irgendwie machen lassen.«

»Morgen um dreizehn Uhr bei mir im Büro. Und bring was Hübsches für mich mit.«

Peter Conrad blickte verdattert auf das Telefon, nachdem Paula das Gespräch kurzerhand beendet hatte.

04

Als die Strahlen der tiefstehenden Wintersonne sein Gesicht erreichten, wachte er auf. Ein Blick auf den Radiowecker sagte ihm, dass es schon fast zwölf war. Seit der Verwüstung seiner Wohnung durch die beiden Handlanger dieser ominösen VRIL-Gesellschaft spielte das Ding völlig verrückt. Manchmal schaltete sich der Radioteil mitten in der Nacht für einige Sekunden ein (genau so lange, bis er wach war), aber meistens verschlief der Wecker seine Aufgabe, ihn aus dem Bett zu holen. Es wurde Zeit für Ersatz. Wenn er gleich das offensichtlich nicht verhandelbare Mitbringsel für Paula besorgte, würde er im Saturn einen neuen Radiowecker mitnehmen. Vielleicht wäre ja schon eines von diesen Geräten mit CD erschwinglich, dann konnte es ihm endlich nicht mehr passieren, dass er am frühen Morgen von solchen Dingen wie »Live is life« oder, noch schlimmer, »Don't worry, be happy« aus dem Schlaf gerissen wurde. Diese debile Geträllerdudelflöterei zersetzte seine Gehirnzellen nun schon seit über zwei Monaten. Konnten die nervigen Jazzheinis nicht weiterhin Geheimtipps für den pseudointellektuellen Untergrund bleiben? Und warum nicht zwei Fliegen mit einer Klatsche erledigen. Das alte, aber optisch tadellose, Gerät würde immer noch ein feines Büroradio für Paula abgeben. Allerdings würde er damit die zweite Ohrfeige innerhalb von drei Tagen riskieren... 

'Du wirst es nicht bereuen.' Was sollte das heißen? Conrad hoffte, dass die Archivarin des DAI nicht plötzlich die Neigung verspürte, ihn mit sentimentalen Geständnissen zu konfrontieren. Nicht, dass er Paula unsympathisch fand, nur war sein angeschlagenes Nervenkostüm zur Zeit nicht in der Verfassung, eine Liebeskasperphase durchzustehen. Und seine physische Präsenz war nach einem langen Abend mit zu viel Bier des Grübelns auch nicht die überzeugendste. Er entschied, dass eine Packung Pralinen aus Metins Büdchen genügend Unverbindlichkeit ausstrahlte, aber alle diplomatischen Anforderungen für niederrangige Ereignisse erfüllte.

Außerdem war sein Timing gerade miserabel. Der neue Musikwecker musste warten, schließlich erwartete Paula ihn pünktlich um eins in ihrem Dienstzimmer. Ächzend hievte Conrad sich aus dem Bett und steuerte geradewegs auf die bereits am Vorabend geladene Kaffeemaschine zu. Er sollte die Ruhe bewahren. Memm hatte ihn zusammengefaltet — was hätte er vom Institutsleiter der Anthropologie sonst erwarten sollen, nachdem der selbst vom Dekan der Universität von höherer Stelle abgebürstet worden war? Doch Professor Memm würde sich erfahrungsgemäß auch wieder beruhigen, und die gute Paula wollte ganz sicher einfach nur nett sein. Vielleicht gab es im Deutschen Archäologischen Institut ja eine genau auf ihn zugeschnittene Stellenausschreibung, die sie ihm ans Herz legen wollte. Oder sie hatte weiter zu diesem mysteriösen Nazi-Lager Informium recherchiert. Wer wusste es schon?

 

Erleichtert realisierte Conrad, dass die für Paula Meier untypische Aufregung vornehmlich professioneller Natur war. Nach einer herzlichen Begrüßung, einem kurzen Gespräch über den Stand seines Ägyptenabenteuers und wohlwollender Registrierung der mitgebrachten Weinbrandkirschen kam sie auf den Grund ihrer beinahe überschwenglichen Stimmung zu sprechen. »Ich vermute, du bist durch deinen Auslandsaufenthalt und die ganze Aufregung in der Folgezeit momentan nicht ganz auf dem aktuellen Stand bezüglich der heißesten Kampagnen auf diesem Planeten.«

Schon wieder eine seltsame Formulierung. Conrad zuckte mit den Schultern und wartete ab.

»Du siehst übrigens furchtbar aus, ist wohl spät geworden. Na, egal. Wenn du gehört hast, was ich für dich an Land gezogen habe... kleines Momentchen, ich gebe noch schnell im Sekretariat Bescheid.« Ohne weitere Erklärung verließ sie ihr Dienstzimmer und kam nach fünf Minuten zurück. Conrads fragenden Gesichtsausdruck ignorierte sie.

»Also. Kennst du Bjarni Herjolfsson? Wahrscheinlich nicht. Ein Kollege hier aus dem DAI, ein Völkerkundler. Er repräsentiert sozusagen den deutschen Part einer Ausgrabungskampagne, um die schon im Vorfeld ein großes Geheimnis gemacht wurde.«

Conrads Miene erhellte sich. »Aha, und weil dadurch hier im Institut eine Stelle temporär unbesetzt ist, hast du netterweise an mich gedacht.«

»Ja. Das heißt, nein, Peter!« Sie gestikulierte. »Doch schon, aber völlig anders. Also noch einmal von Anfang an.«

Wie sich herausstellte, war Doktor Bjarni Herjolfsson ein Norweger mit deutscher Mutter und ebensolchem Pass, was ihm außer den sprachlichen Fähigkeiten vor dreizehn Jahren auch die späte Verbeamtung im Dienst des DAI eingebracht hatte. Sein Fachgebiet war die Völkerwanderungszeit und die anschließende Epoche der wikingischen Expansion auf das europäische Festland, sowie die Inseln im Nordatlantik. Im Laufe der Zeit wurde Herjolfsson einer der wichtigsten Ansprechpartner, was Fundplätze nordischer Kulturen um die Jahrtausendwende außerhalb Skandinaviens betraf. So kam es, dass er eines Tages die Hilfe einer jungen Archivarin in Anspruch nahm. Seit dieser Zeit verband den rothaarigen Herrn mit der Fliege ein freundschaftliches Verhältnis mit Paula Meier.

Conrad nahm gähnend den Faden auf. »Und deshalb hat er dir, unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich, auch verraten, was hinter der ultrageheimen Expedition steckt.«

»Du solltest dir deine ironischen Anspielungen verkneifen, mein Freund.«

Er hob entschuldigend die Hände und lehnte sich zurück.

»Ja, Doktor Herjolfsson hat mir erzählt, worum es geht. Das Grabungsgebiet liegt an der nord-westlichen Küste Kanadas. Dort wurden archäologische Hinweise auf Wikinger entdeckt. Wenn sich dieser Fundkomplex wirklich als der schon ewig gesuchte zweite Siedlungsplatz der Wikinger auf dem nordamerikanischen Kontinent herausstellt, wäre das eine Riesensensation. Deshalb haben die Kanadier von Anfang an auf eine multinationale Zusammenarbeit gesetzt. Neben Amerikanern und Skandinaviern sind sogar Vertreter indianischer Kulturorganisationen und eben unser Doktor Herjolfsson als Leiter des ethnologischen Bereiches mit von der Partie.«

»Das klingt alles sehr interessant, aber ich bin mir immer noch nicht ganz im Klaren, warum du ausgerechnet mir das erzählst.«

»Geduld, junger Conrad.« Sie stand auf, ging zur Pinwand hinter ihm und kehrte mit einem kleinen Zettel in der Hand an ihren Schreibtisch zurück. »Als mich Bjarni, Doktor Herjolfsson, vergangene Woche vormittags anrief, war ich überrascht, denn ich wähnte ihn ja in Kanada. Und da ist er auch. Nun ja, er fragte mich jedenfalls, ob ich nicht auf die Schnelle einen guten Ethnologen wüsste, und da habe ich gleich an dich gedacht. Du hast doch Völkerkunde studiert, in Bonn, oder?«

Conrad setzte sich abrupt in seinem Stuhl auf. »Momentchen mal. Erstens habe ich Ethnologie nicht fertigstudiert, wie du genau weißt, und zweitens bin ich Anthropologe. Drittens habe ich zwar Interesse an den Wikingern, aber keine belastbaren Kenntnisse. Ich wüsste beim besten Willen nicht, wie ich deinem Bjarni helfen könnte.«

»Du glaubst doch nicht, dass ich ungefragt herumposaunt habe, dass du die Ethnologie hingeschmissen hast.« Sie klimperte mit perfekt gestylten Wimpern. »Das wäre auch völlig unwichtig gewesen, denn als ich fallenließ, dass du einer unserer besten Anthropologen bist und zur Zeit in Ägypten Mumien untersuchst, war der gute Doktor Herjolfsson überhaupt nicht mehr zu bremsen.«

»Mein Gott, Paula. Du redest mich um Kopf und Kragen. Als wenn ich mir nicht selber schon genug Ärger eingehandelt hätte.« Conrad rieb sich die Schläfen. »Außerdem sind Ferndiagnosen — und dazu müsste ich, wie gesagt, wenigstens Ahnung von den Wikingern haben — nicht meine Sache. Du weißt doch genau, was ich von diesen Nachschlage-Wissenschaftlern halte, die einen Grabungsplan für den realen Fundplatz halten.«

»Vertrau mir. Es gibt überhaupt keine Gefahr irgendeines Ärgers, schließlich habe ich dich ja angepriesen. Wenn du das unsinnige Bedürfnis verspürst, dein Licht unter den Scheffel zu stellen und dein Gewissen zu erleichtern, kannst du das immer noch machen, wenn du da bist.«

Sein Stuhl geriet bedenklich ins Kippen, als Conrad aufsprang. »Wenn ich... Du hast was? Oh nein, nein, nein, Frau Meier. Ich werde in nächster Zukunft nirgendwo hinfahren! Mein Bedarf an Auslandsaufenthalten ist fürs Erste gedeckt, besonders wenn es sich um etwas anderes als Urlaub handelt.«

»Setz dich hin, Peter. Und mach nicht so einen Aufstand. Hör dir doch erst einmal in Ruhe an, was Doktor Herjolfsson zu sagen hat. Und reden wirst du mit ihm, das bist du mir schuldig. Du kannst ihm ja immer noch sagen, dass du im Moment so viel Arbeit hast, dass du unmöglich an einer der bedeutendsten Grabungskampagnen des Jahrhunderts teilnehmen kannst. Schieb doch deine Doktorarbeit vor, wenn es eng wird.«

Er stand noch immer und hatte die Türklinke bereits in der Hand. »Also gut, Paula. Unserer Freundschaft wegen werde ich diesen Doktor Her...dings anrufen, wenn ich noch vom Anthropologischen Institut aus telefonieren darf. Hinterlass einfach bei unserer Sekretärin die Nummer.« Er kam noch einmal an ihren Schreibtisch zurück und sprach nun versöhnlicher. »Ich weiß doch, dass du es gut meinst. Aber jetzt gerade fühle ich mich dieser Situation–« Ein lautes Schrillen unterbrach ihn.

Paula nahm den Hörer ab und bedeutete Conrad erneut, sich zu setzen, während sie sich meldete. »Oh, yes. This is Paula. Thank you very much for calling back. One moment, please.« Mit der Rechten hielt sie Conrad den Telefonhörer hin, mit der Linken schob sie den kleinen Zettel von der Pinnwand in sein Blickfeld und flüsterte: »Ich habe schon einmal ein paar Flüge für dich herausgesucht.«

05

Auf dem Felsplateau blies ein eisiger Wind aus Nordwesten. Der kanadische Winter hatte in diesem Jahr ungewöhnlich heftig bereits Anfang November eingesetzt. Vier Wochen lang hatte es beinahe ununterbrochen Niederschlag gegeben. Ab der Mitte des Monats nur noch in gefrorener Form. Die dicke Schneedecke würde hier oben mindestens bis in den April, eher bis Ende Mai überdauern. Die denkbar schlechtesten Bedingungen für eine archäologische Ausgrabungskampagne. Jeder vernünftige Planungsstab hätte den Beginn der Feldforschung in den Juni oder Juli, vielleicht sogar in den August gelegt, je nach der geplanten Kampagnendauer. Auf jeden Fall so spät im Jahr, dass gegen Ende der Unternehmung gerade noch angenehme Witterungsverhältnisse zu erwarten waren. Denn auch im Hochsommer bei Sonnenschein und teilweise über zwanzig Grad Lufttemperatur musste man sich schon in geringer Tiefe mit Permafrostboden auseinandersetzen. Dies galt besonders für den Mont Albert, der im Gegensatz zur restlichen Halbinsel Gaspésie eher spärlich bewaldet war. Als zusätzliche Unbequemlichkeit lag das Grabungsareal an der nördlichen Flanke des Bergs. So bekam man weder von der aufgehenden noch von der untergehenden Sonne viel Energie ab. Man konnte schon froh sein, wenn der tief stehende Stern nicht ganztägig von einer dichten Wolkendecke abgeschirmt wurde. Im Hochsommer wäre auf einer der malerischen Lichtungen der hauptsächlich aus Nadelbäumen bestehenden Wälder des Nationalparks sogar ein Zeltlager denkbar gewesen.

Aber dies war keine gewöhnliche Grabungskampagne. Schon als in der Universität Quebec die ersten Gerüchte über einen Fundplatz im Parc national de la Gaspésie die Runde machten, zeigten die Frühgeschichtler ein beinahe hysterisches Verhalten. Keiner wollte bis in den Sommer warten und riskieren, dass die allgegenwärtigen US-amerikanischen Fernseh-Archäologen mit multimillionenschweren Sponsoren, BBC und National Geographic im Rücken womöglich alles an sich rissen. Erfahrungsgemäß war externen Wissenschaftlern dann der Zugang zur Grabung und den Forschungsergebnissen für lange Zeit komplett verwehrt. Auch wenn dies hier ein besonders französischer Teil von Kanada war, schafften es die Amerikaner fast immer, den zuständigen Provinzgouverneur — nicht zuletzt durch geeignete Zuwendungen — von ihren Absichten zu überzeugen. In Mittel- und Südamerika war es mittlerweile fest etabliert, dass die Wissenschaftsgemeinde der Vereinigten Staaten die Forschungs- und Deutungshoheit hatte. Und in Ägypten hatte es sogar Jahre gegeben, in denen ausschließlich US-Unternehmungen eine Grabungserlaubnis von der Altertümerverwaltung ausgestellt wurde. Zusätzlich machte die Lage des Fundplatzes es praktisch unmöglich, ihn vor Raubgräbern und Amateurarchäologen zu schützen. Zu nahe lag das Areal an der Route 299, die als einzige Straße quer durch den Nationalpark führte. Und so wurde in der Universität der rund vierhundert Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Quebec, in der die Mühlen der Bürokratie für gewöhnlich genauso langsam arbeiteten wie in allen akademischen Institutionen der Welt, innerhalb von zwei Monaten eine Kampagne organisiert. Die Ausstattung mit Personal, Gerätschaften und finanziellen Mitteln ließ fast keine Wünsche offen. Wenn es etwas gab, das sich die Grabungsteilnehmer wünschten, dann waren es mehr Fachleute für wikingische Siedlungsplätze. Aber dieser Bereich ließ sich kaum erweitern. Bis auf wenige Ausnahmen waren alle Wunschkandidaten der Expeditionsleitung dem Ruf auf die Halbinsel Gaspésie gefolgt. Das Team bestand neben Kanadiern, amerikanischen Wissenschaftlern, einigen Festlandeuropäern (vornehmlich Franzosen) und zwei Japanern vor allem aus Skandinaviern. Deshalb war es kaum verwunderlich, dass der Däne Stefan Madsen zum Chefarchäologen berufen worden und nun für Aufteilung und Auswahl der Grabungsflächen verantwortlich war.

Eine kräftige Böe veranlasste ihn dazu, den pelzgefassten Kragen enger zu ziehen, um wenigstens die Ohren besser zu schützen. Madsen hasste es, mit aufgesetzter Kapuze zu arbeiten. Wenn sie zugeschnürt war, kam man sich vor wie ein Astronaut, der akustisch von der Außenwelt isoliert war, und musste den Kopf wie eine Eule drehen. Setzte man sie locker auf, musste man den ganzen Körper wenden, wollte man nicht den Anorak von innen betrachten, sobald man die Blickrichtung änderte. Selbst wenn die gesamte Grabungsmannschaft komplett vermummt arbeitete, konnte man den bärtigen Mann an einer roten Wollmütze erkennen, wie sie bei Seeleuten und Hafenarbeitern beliebt war. Im Laufe seiner nun schon fast dreißigjährigen Archäologenkarriere war sie so etwas wie sein Markenzeichen geworden. Und er hegte nicht die Absicht, dies auf seiner ungemütlichsten, aber wichtigsten Kampagne zu ändern. Obwohl Eitelkeit kaum zu seinen Schwächen zählte, schmeichelte es ihm, wenn die Expeditionsteilnehmer den Boss auf der Grabungsfläche sofort identifizieren konnten.

Gut dreißig Kilometer in nördlicher Richtung lag die Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms. Sie war an dieser Stelle bereits über fünfzig Kilometer breit. Man konnte die Bucht, eigentlich die größte Flussmündung der Welt, von hier oben nicht sehen. Doch Madsen wusste, dass sie schon jetzt im Dezember fast vollständig von gräulich aussehendem Treibeis bedeckt war. In seinem Rücken befand sich eine schroffe Felswand von der Höhe eines vier- oder fünfstöckigen Hauses, die den topfebenen Fundplatz halbkreisförmig einfasste. Die Formation war eindeutig auf natürlichem Wege entstanden, das hatten die Geologen versichert. Trotzdem fühlte man sich an einen aufgelassenen Steinbruch von etwa hundert Metern Breite erinnert — und so hatten die einheimischen Studenten und Grabungshelfer die Fundstelle schon früh Carrière genannt. Die Bezeichnung hatte sich schnell durchgesetzt. Madsen gefiel daran, dass man damit nicht auf ihre Lage, die Ausdehnung oder die zeitliche Einordnung schließen konnte. Eine Art Codename, der schließlich auch in den ersten Berichten und Korrespondenzen gebraucht wurde.

Es musste fast acht sein, denn die ersten Studenten — er erkannte die 'norwegische Gruppe' — erreichten nun die Grabungsfläche. Die Unterkünfte und die wissenschaftlichen Einrichtungen lagen rund fünfhundert Meter entfernt, nur erreichbar über einen steinigen Pfad an der Bergflanke entlang. Anfangs hatte es Pläne gegeben, diesen Weg zu befestigen und zu verbreitern. Da es unmöglich war, mit Fahrzeugen direkt bis zur Fläche zu gelangen, und die Grabungsleitung den Ausbau für verschwendete Zeit hielt, hatten sich in den vergangenen Wochen alle mit dem Provisorium arrangiert. Sollten Befunde auftauchen, die man in Gänze bergen wollte, beispielsweise ein Schiffsgrab in ungestörtem Zusammenhang, würde sowieso ein Transporthubschrauber angefordert. Überhaupt wurden ihre Versorgung sowie die An- und Abreise von Mitarbeitern oder Besuchern mit einem Helikopter sichergestellt. Weil die Route du Parc, die 299, in nur gut zwei Kilometern Luftlinie vorbeiführte, wirkte dieses Konstrukt auf den ersten Blick etwas seltsam, aber es gab keine Straße hinauf zum Areal der Kampagne, nicht einmal eine Schotterpiste. Die Alternative wäre eine mindestens vierzigminütige Wanderung durch unwegsames Gelände gewesen. Und damit gelangte man ja nur zu besagter Landstraße, an der man dann Fahrzeuge hätte bereitstellen müssen. Madsen war mit dem Status Quo zufrieden, schließlich schützte die schlechte Erreichbarkeit auch vor neugierigen Blicken und ungebetenen Besuchern.

Wie jeden Morgen war er die Fundstelle abgegangen, peinlich darauf bedacht, keinen Schaden anzurichten und die Augen nach Funden, die das Eis an die Oberfläche getrieben hatte, offenzuhalten. Die Ausgrabungsmannschaft und auch die meisten anderen Wissenschaftler hatten diese Freiheit nicht. Sie durften nur die Wege benutzen, die er abgesteckt hatte und die zu den Quadranten führte, auf denen die Ausgräber, von einer Mittagspause abgesehen, ihrer Leidenschaft nachgingen. Üblich waren vier Stunden am Vormittag und vier nach der Pause. Wegen der anstrengenden Arbeit in den stickigen Zelten über den jeweiligen Grabungsflächen hatte sich der Arbeitstag jedoch bei fünf bis sechs Stunden eingependelt.

Heute ließ er eine neue Fläche aufmachen, näher an der Felswand im westlichen Bereich, der praktisch den ganzen Tag im Schatten lag — sofern die Sonne sich überhaupt blicken ließ. Diese Entscheidung beruhte nicht auf irgendwelchen belastbaren Indizien, doch sein Instinkt sagte ihm, dass man dort am ehesten die Reste einer Ansiedlung finden konnte, wenn es eine gegeben hatte. Jedenfalls hätte er sich an dieser Stelle niedergelassen, wo die westliche Felswand nicht mehr so hoch war, aber immer noch Schutz vor der Witterung bot... wenn es denn schon hier oben sein musste. Er wurde aus diesem Fundplatz nicht schlau. Und aus den Befunden ebenso wenig. Wenn es ein Dorf gegeben hatte, wieso fanden sie nicht die üblichen Hinterlassenschaften menschlicher Zivilisation? Wieso keine Knochen von Opfertieren, Werkzeuge oder Keramikscherben? Wenn es eine Begräbnisstelle war, warum fand man kein typisches Inventar? Nur eines schien gesichert: Die Wikinger waren hier gewesen und hatten diesen Platz über einen Zeitraum von mehreren Jahren häufig aufgesucht. Dass es unten in der Nähe der Bucht oder unter der Kleinstadt Sainte-Anne-des-Monts eine Siedlung der Wikinger geben musste, war Konsens unter den meisten Gelehrten, auch wenn es kaum eindeutige Funde oder andere konkrete Hinweise gab. Aber dort unten gab es einen Fluss mit dem notwendigen Süßwasser und eine Geographie, die den Bau eines kleinen Hafens ermöglichte. Ihr Fundplatz am Mont Albert erzwang praktisch eine Siedlung an der Küste, denn die Wikinger lebten vom Meer und vom Ackerbau, den man hier oben auch vor tausend Jahren nicht hätte betreiben können. Was war nur so besonders an der Carrière?

»Doktor Madsen!« Eine junge Frau mit den charakteristischen Gesichtszügen der Inuit rannte zwischen den Flatterbändern des abgesteckten Zugangswegs auf ihn zu. »Doktor Madsen! Herjolfsson bittet darum, dass Sie schnellstmöglich zu ihm kommen. Er hat eine Satellitenverbindung nach Deutschland zu seiner Universität, und er sagt, es wäre sehr wichtig für uns.«

 

Drei Minuten später erreichte Madsen den kleinen Buckel in der Landschaft, von dem er das Lager mit den beeindruckenden Wohn- und Laborcontainern sehen konnte. Gerade verließen drei Franzosen in dicken Daunenjacken die provisorischen Unterkünfte. In ihren weißen Anoraks sahen sie wie Michelin-Männchen aus — und sollte einer von ihnen in einem Schneesturm verlorengehen, dann würde er für immer verschwunden bleiben. Madsen war die Farbwahl absolut schleierhaft. Andererseits würde er keinem dieser drei besonders nachtrauern... Als einer aus der Gruppe, Maurice Perrichon, ihn erspähte, kam er schnurstracks auf ihn zu, doch Madsen zeigte mit einer unmissverständlichen Handbewegung, dass er keine Zeit hatte. Er hastete zwei Treppen hinauf und öffnete die Tür zu dem blaulackierten Container, in dem die Grabungsleitung untergebracht war. Stickige Hitze schlug ihm entgegen.

»Oh, da kommt er«, hörte er Bjarni Herjolfsson auf Deutsch sagen. »Ich reiche Sie jetzt weiter an Professor Madsen.«

Madsen und Herjolfsson kannten sich schon viele Jahre, beruflich und privat. Stefan Madsen reichte der Tonfall des Freundes schon aus, um zu wissen, dass es sich lohnen würde, dieses Gespräch zu führen. Herjolfsson war sehr speziell im Umgang mit anderen Menschen. Niemand hätte ihn sozialkompatibel genannt, denn er heuchelte nie. Die einzigen, denen er ausgesucht höflich gegenübertrat, waren Menschen, mit denen er tiefgründige Gespräche zu Themen führen konnte, die ihn wirklich interessierten. Das waren durchaus einige, aber wer sich für keines seiner Steckenpferde begeisterte, der war praktisch nicht existent. Und die Person am anderen Ende dieser Satellitenverbindung hatte eindeutig Herjolfssons Interesse geweckt.

»Madsen.« Er rechnete damit, dass wer auch immer in der Leitung war auf Deutsch antworten würde, das er sehr wohl verstand und flüssig, jedoch ungern sprach.

»Professor Madsen?« Ein relativ junger Mann der Stimme nach, dachte er. Sicher noch keine vierzig. »This is Conrad. Peter Conrad. Doktor Herjolfsson just told me–«

»Wir können gern Deutsch sprechen.« Madsen verdrehte die Augen, Conrads Akzent war verheerend.

Der Mann am anderen Ende räusperte sich und klang verlegen. Im Laufe des Gesprächs wurde Madsen deutlich, dass dieser Conrad kein Experte für wikingerzeitliche Siedlungsarchäologie oder die Ethnologie arktischer Nomadenvölker war, dass er aber beträchtliche und vielfältige Grabungserfahrung mitbrachte — und dass sich der Mann keineswegs darum riss, zu ihrer Expedition zu stoßen. Das war schon einmal eine angenehme Abwechslung von den Bettelgesuchen, die er in letzter Zeit gehört hatte. Außerdem ahnte Madsen, dass er diesen Conrad gut gebrauchen konnte, denn die sachliche und betont nüchterne Art gefiel ihm. Wenn er begeisterte Dilettanten haben wollte, hätte er nur einen Aufruf zur nächsten Highschool absetzen müssen. Alle wussten, dass nicht wenige unterfinanzierte Expeditionen zu solchen Mitteln griffen. Immer unter dem Deckmäntelchen, die Jugend für das Forschungsgebiet zu begeistern. An einigen namhaften Fundplätzen bezahlten Schüler, Rentner und unterbeschäftigte Hausfrauen mittlerweile sogar dafür, die langweiligsten und anstrengendsten Arbeiten zu übernehmen. Er verabscheute diese unverschämte Praktik ebenso wie die unterwürfige Anbiederung der zahlenden Teilnehmer.

Conrad hatte noch keineswegs angebissen, aber er wusste, wie er ihn überzeugen konnte. »Bjarni Herjolfsson hat mir gesagt, dass Sie neben Ethnologie auch Anthropologie studiert haben.«

»Das ist korrekt, Doktor Madsen. Wie ich bereits erwähnt hatte, bin ich gerade von einer Kampagne der Freien Universität Berlin in Ägypten zurückgekehrt. Dort konnte ich etwa zwanzig natürlich mumifizierte Körper untersuchen.«

Madsen grinste Herjolfsson an. »Ich sehe, Sie werden immer interessanter für unsere Forschungsarbeit auf der Ausgrabung.«

»Zur Zeit promoviere ich in der Anthropologie zu einem protohistorischen Thema bei–«

»Wann können sie abreisen, Herr Conrad?«

»Also, Herr Doktor Madsen, das ist so eine Sache. Ich sagte ja, dass ich mitten in meiner Doktorarbeit stecke...«

»Wir erwarten, jederzeit entscheidende Hinweise zur wikingischen Besiedlung des amerikanischen Kontinents zu finden. Jahrhundertfunde, Herr Conrad.« Herjolfsson bedeutete seinem Freund hektisch, weniger dick aufzutragen. Madsen winkte ab. »Ich bin mir sicher, dass wir sehr bald menschliche Überreste finden werden. Das wird Ihrer Promotion sicher dienen. Ganz zu schweigen von Ihrer Reputation. Was sagen Sie?«

Madsen hörte einige Sekunden lang nur dumpf aufgeregte Stimmen. Offensichtlich hielt Conrad das Mikrofon zu. Dann meldete er sich wieder.

»Ich meine... Also das hört sich nach einer spannenden Aufgabe... Ausgrabung an. Ich hätte gerne noch etwas–«

»Hervorragend, Herr Conrad. Ich hätte mir auch kaum vorstellen können, dass Sie diesen Karriereschub auslassen würden.«

Man hörte Conrad ausatmen. »Ja, Doktor Madsen. Das scheint mir eine gute Karrieremöglichkeit zu sein.«

»Gut, Herr Conrad. Ich freue mich, Sie im Team begrüßen zu können. Miss Lucy Galore, unsere Koordinatorin im Institut in Quebec wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, um die Details zu klären. Ich bedanke mich. Bis bald.« Er wartete Conrads Verabschiedung ab, dann beendete er die Satellitenverbindung ohne ein weiteres Wort. Mit einem zufriedenen Lächeln rieb er sich die Hände und wandte sich zu Herjolfsson. »Wir haben Ersatz, mein lieber Bjarni. Gott sei Dank.«

 

»'Ich bin gerade von einer Kampagne des Deutschen Archäologischen Instituts in Ägypten zurückgekehrt. Dort konnte ich etwa zwanzig mumifizierte Körper untersuchen.' Du kannst ja ganz schön auf den Putz hauen, Peter. Dafür, dass deine Miene äußerst düster aussah, als du angekommen bist...«

»Du hast doch deinen Willen. Ich fahre nach Kanada. Was willst du noch?«

»Oh, mein Freund. Ich will nicht, dass es nachher heißt, ich hätte dich gezwungen.«

Conrad entschuldigte sich wortreich und erzählte von den Ereignissen nach seiner und Lisa Franks' Flucht in die DDR. Bevor er schließlich auf den Grund für seine niedergeschlagene Stimmung zu sprechen kommen konnte, klingelte das Telefon erneut.

Paula Meier sprach Englisch, offenbar war dies der angekündigte Anruf aus Quebec. Nach wenigen Minuten, in denen sie nur ein paar mal »Yes« und »Thank you« sagte, war das Gespräch beendet. »Du fliegst morgen Abend um zweiundzwanzig Uhr siebzehn, mein Lieber. Die sind fix, diese Kanadier. Visum und die ganzen anderen Formalitäten scheinen überhaupt kein Problem für die darzustellen.« Sie schob ihm eine Karteikarte zu, auf der sie sich während des Telefonats Notizen gemacht hatte. »Das sind deine Flugdaten. Das Ticket ist an diesem Schalter hinterlegt.« Sie tippte mit einem Kugelschreiber auf die letzten beiden Zeilen. »Und das ist die Telefonnummer von Miss Galore, falls es irgendwelche Schwierigkeiten gibt. Sie hat gesagt, dass sie auf jeden Fall noch in ihrem Büro erreichbar ist, wenn du ins Flugzeug steigst.«

06

Conrad war hundemüde. Er hatte versucht zu schlafen, bevor er gegen achtzehn Uhr Richtung Flughafen Tegel aufgebrochen war. Aber das hatte erwartungsgemäß nicht funktioniert. Hinzu kam, dass er das Kofferpacken erst am Abflugtag erledigte. Eigentlich hätte er damit anfangen sollen, als er von seinem Termin im DAI zurückgekommen war. Aber er hatte es vor sich hergeschoben, weil er keine Reiselust verspürte. Und da ein Nickerchen in der Abflughalle wegen der Sorge, den Flug zu verpassen, nicht infrage gekommen und Schlafen im Flugzeug aufgrund der ungemütlichen Position unmöglich gewesen war, war er jetzt seit über vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Natürlich hatte es auf die Schnelle keinen Direktflug nach Quebec gegeben. Die Reise ging zuerst nach Paris, wo die Air France-Maschine sich bis zum letzten Platz füllte, dann folgten gut acht Stunden Atlantik. Er hatte einen Fensterplatz ergattert, was in Punkto Aussicht wenig Sinn hatte. Schließlich hatte die Boeing 747 um ein Uhr fünfzehn vom Charles-de-Gaulle abgehoben und flog nun gewissermaßen in der Zeit zurück. Obwohl der letzte Teil des Fluges über Land führte, würde er deswegen keinen nennenswerten Eindruck seiner zukünftigen Arbeitsregion bekommen.

Erst als der Jumbo Jet im Landeanflug die Wolkendecke (die auch bei Tag jede Bodensicht verhindert hätte) über sich gelassen hatte, wurde Conrad klar, wie dünn besiedelt Kanada war — zumindest in dieser Region. Keine Aneinanderreihung von beleuchteten Städten und Schnellstraßen, wie sie außer bei Alpenüberquerungen in Europa selbstverständlich waren. Da sich der Air France-Flug aus östlicher Richtung näherte, sah man in den letzten Minuten immerhin die Lichter der Provinzhauptstadt Quebec. Conrad hatte gehofft, einen Blick auf den vereisten Sankt-Lorenz-Strom zu erhaschen, der an dieser Stelle schon ein bis zwei Kilometer breit sein sollte, aber der Fluss ließ sich nur als rabenschwarzes Band erahnen, das die Stadt teilte.

Um kurz nach vier Uhr morgens Ortszeit nahm er endlich sein Gepäck entgegen und fand sich am etwas abgelegenen Check-In der MapleHoppers-Fluggesellschaft ein. Die freundliche Dame am einzigen Schalter übergab ihm nach wenigen geschäftigen Minuten einen Flugschein. Sie sprach Englisch mit einem solchen Akzent, dass Conrad am Ende nur sicher war, dass er zum Terminal zwei musste — und dass irgendein »Ottäär« eine entscheidende Rolle spielte.

Letzterer entpuppte sich als eine De Havilland Canada vom Typ sechs, ein zweipropelleriges Passagierflugzeug für neunzehn Reisende. Der Flug, der um kurz nach sechs ging, würde Richtung Nordosten entlang des Sankt-Lorenz-Stroms in das rund vierhundert Kilometer entfernte Sainte-Anne-des-Monts gehen und etwa eineinhalb Stunden dauern. Von dort, hatte man ihm versichert, würde er abgeholt und zur Ausgrabungsstelle gebracht. Trotz Herjolfssons Versicherung war ihm ein wenig mulmig zu Mute; für einen Moment sah er sich — ohne Mittel für eine Rückreise, ein Hotel oder irgendwelche Ausrüstung — allein in einem von der Außenwelt abgeschnitten Kaff in der kanadischen Arktis festsitzen. Wenn die dortigen Einheimischen überhaupt sprachen, dann ausschließlich Französisch mit starkem Akzent und auch nur, um ihm klar zu machen, dass es keine Archäologen und keine Ausgrabung gab... Noch bevor die DHC-6 Twin Otter ihre Reiseflughöhe erreicht hatte, war er eingeschlafen.

 

Er wachte von der etwas holprigen Landung mit einem Schrecken auf, der ihn augenblicklich in Schweiß badete. Die einzige Flugbegleiterin und der Mann gegenüber am Gang warfen sich einen belustigten Blick zu, der Conrads Gesicht rot anlaufen ließ. Er hatte keine Flugangst, aber er flog auch nicht gern mit Passagierflugzeugen. Was er regelrecht hasste, war Kurzschlaf, der ihn immer irgendwie auslaugte. Als er fünfzehn Minuten nach dem unsanften Erwachen aus der DHC-6 auf das Rollfeld trat, fühlte er sich vollkommen gerädert. Er stapfte hinter einem Mann in grauem Anzug und langem Wollmantel durch den eisigen Wind. Die Sonne ging gerade über dem östlichen Horizont auf und überstrahlte die Flutlichtanlage des Rollfeldes. Und viel mehr war da auch nicht. Ihre Landebahn war offenbar auch die einzige Startbahn dieses winzigen Flughafens. Conrad blinzelte in das orangerote Gleißen und wurde endlich ein wenig wacher. Er fror bereits nach dem kurzen Marsch zu dem Flughafengebäude, das die Größe eines Einfamilienhauses hatte. Natürlich besaß er keine Kleidung, die für die hiesigen Wetterverhältnisse angemessen war. Seine letzten Grabungen hatten ihn nach Ägypten geführt, davor war er einmal in Mexiko und Guatemala unterwegs gewesen, und in einem Spätsommer hatte es ihn tatsächlich nach Dänemark verschlagen. Kurz, er besaß überhaupt keine daunengefütterte Winterausrüstung.

»Doktor Conrad?«

Er brauchte einige Sekunden, um zu reagieren und den Kopf zu heben. Ein rotwangiger, rothaariger Riese erhob sich von einem der gepolsterten Stühle und trat auf ihn zu.

»Nur Conrad. Oder Peter, wenn Ihnen das lieber ist. Doktor Herjolfsson?« Er reichte dem Mann die Hand. Eigentlich war Herjolfsson nicht so groß, wie er auf den ersten Blick wirkte. Er war nur sehr schmal und ein Stück größer als Conrad selbst mit seinen Standard-Einsachtzig.

»Bjarni.« Der Wissenschaftler taxierte ihn kurz. »Jacques und der Heli warten leider schon auf uns, sonst würde ich ja vorschlagen, dass wir noch Besorgungen in Sainte-Anne machen. Vor allem, weil es heute zum ersten Mal seit langer Zeit nach einem sonnigen Tag aussieht. Morgen soll es wieder bedeckt sein, zum Abend hin sogar schneien, also das Übliche. Tja, ich fürchte, unser Einkaufsbummel wird warten müssen.«

Conrad zuckte mit den Schultern, als wäre das kein großes Problem. In Wahrheit graute ihm bei der Vorstellung, ab morgen wochenlang frierend zu arbeiten, womöglich klamm von der ständigen Feuchtigkeit in den Grabungszelten.

»Der Chef kann es nicht erwarten, Sie an der Carrière zu begrüßen, Peter.«

»An der Carrière?«

Herjolfsson lächelte nur verschmitzt. »Ah. Da kommen die Koffer. Dann wollen wir mal.«

Conrad folgte Herjolfsson wieder hinaus, wo gerade eine Art Golfcaddy mit einem Hänger vorfuhr. Die Gepäckstücke der nur zehn Reisenden waren schnell verteilt, darunter auch Conrads zerbeulter Reisekoffer und die große Nike-Sporttasche, die vorwiegend mit Büchern, Schreibzeug und Kopien seiner Doktorarbeit gefüllt war.

Er hatte den Helikopter vorhin auf dem Weg zu dem Flughafenhäuschen nicht wahrgenommen, dabei stand er nur ein kleines Stück abseits der parkenden De Havilland, deren Motoren mittlerweile verstummt waren. Die Sonne war nun vollständig über den Horizont geklettert und Morgenlicht, so klar wie die arktische Luft, ließ Conrad jedes Detail der Bo 105 erkennen. So wenig ihn große Passagierjets interessierten, die sich gleichmäßig wie ein Schnellzug durch die Luft bewegten, Hubschrauber mochte er, seit er bei der Bundeswehr mit einem großen Sikorsky geflogen war. Diese Kombination aus Fahrstuhl, Schweben und Flugphysik hatte ihn sofort in den Bann gezogen.

»So läuft hier der Transport zur Grabung?«

Herjolfsson nickte und schaute eher gequält. »Es hat immerhin den Vorteil, dass Sie gleich etwas von der Landschaft sehen und einen allgemeinen Eindruck von der Lage des Fundplatzes bekommen werden.«

Das stimmte sicherlich. Die ganze Nummer mit dem Hubschrauber bewies aber vor allen Dingen, dass an dem Brimborium, das Paula angedeutet hatte, wirklich etwas dran war. Regelmäßig so einen Helikopter einzusetzen und samt Pilot bereitzuhalten, kostete schon mehr, als in Europa für manche Expeditionen insgesamt an finanziellen Mitteln bereitgestellt wurde. Bemerkenswert war auch, dass die Bölkow rot lackiert war und neben dem Schriftzug 'Garde Côtière Canadienne' und einem Emblem mit Krone und Ahornblatt nebst zwei Fischen eine weiße Bauchbinde aufwies. Zu Hause wäre es undenkbar, dass Küstenwache oder Grenzschutz die Kurierdienste für eine wissenschaftliche Expedition leisteten.

»Wer ist eigentlich federführend? Das Nationalmuseum oder die Universität von Quebec?«, erkundigte Conrad sich, während er den Sicherheitsgurt schloss. Verrückt, dass er hier war und nicht einmal mit Gewissheit wusste, für wen er arbeiten sollte.

»Das Museum of Civilization in Gatineau. Natürlich in direkter Kooperation mit einer ganzen Reihe anderer Institutionen«, gab Herjolfsson Auskunft, dann wandte er sich dem Piloten zu und reichte Conrad einen klobigen Kopfhörer mit Sprechgarnitur. Als der Helikopter etwa fünfzig Meter Höhe erreicht hatte, flog er bereits über bebautem Gebiet. Herjolfsson fasste ihn an der Schulter. »Das dort unten ist Sainte-Anne-des-Monts, unsere Verbindung zur Außenwelt«, dröhnte es in dem laut eingestellten Kopfhörer. »Nettes Städtchen, wenn man mal Zeit hat.« Herjolfsson grinste. »Wir vermuten hier eine wikingische Siedlung, die allerdings durch die Überbauung fast vollständig zerstört sein dürfte.«

Conrad nickte heftig, blieb aber stumm.

»Wir werden keine zehn Minuten brauchen. Die Carrière liegt etwa vierzig Kilometer von der Küste entfernt.« Er sah einige Augenblicke aus dem Fenster, dann teilte er dem Piloten irgendetwas auf Französisch mit und wandte sich an Conrad. »Sie sprechen kein Französisch?«

»Nein, ich kann mir das meiste zusammenreimen, wenn ich es lese. Aber verstehen oder gar sprechen ist nicht drin.« Es war ihm peinlich, zugeben zu müssen, dass er die wichtigste Sprache in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie überhaupt nicht beherrschte.

Der Ethnologe fasste erneut seine Schulter, als habe Conrad ihm die Aufmerksamkeit entzogen. »Macht nichts, Peter, Sie werden das Nötigste schnell drauf haben, glauben Sie mir.«

Toll, was glauben die, wie lange ich hierbleibe...

»Ist wirklich nicht weiter schlimm. Es sind recht viele skandinavische Teilnehmer an Bord, von denen zumindest die Wichtigen ganz ordentlich auch in Ihrer Sprache kommunizieren können, Peter.«

Conrad lächelte gequält. Englisch traute man ihm seit seinem Telefonat also auch nicht zu.

»Und Norwegisch ist vom Deutschen ebenfalls nicht so weit entfernt.« Herjolfsson zwinkerte ihm zu. »So wie hier unten sieht es fast überall aus«, wechselte er das Thema. »Kanada ist entweder bewaldet oder verschneit.«

Zwei Minuten lang starrte Conrad aus dem Fenster und ließ sich von dem gleichmäßigen Rotorengeräusch berieseln, das trotz des geschlossenen Kopfhörers intensiv zu vernehmen war.

»Ich habe Jacques gebeten, etwas langsamer zu fliegen und eine Schleife zu drehen, wenn wir in die Nähe des Fundplatzes kommen. Sie werden später kaum wieder Gelegenheit haben, die Topographie und die Umgegend der Carrière so anschaulich und übersichtlich zu sehen.«

»Danke, Doktor Herjolfsson.« Er drückte dem Ethnologen den Arm, was der mit einem Nicken und Lächeln quittierte. Aha, anscheinend macht man das so im Helikopter, dachte Conrad amüsiert.

»Der Mont Albert.«

Conrad fühlte sich beim Anblick des bewaldeten Bergs zuerst an Schwarzwald oder Taunus erinnert. Die riesige, ebene Fläche aber, die der Berg anstelle eines Gipfels besaß, sah einfach nur fremdartig aus. Mit unberührtem Tiefschnee so weit das Auge reichte wirkte das Plateau wie ein Tisch, über den jemand eine blütenreine Tischdecke gebreitet hatte.

»Sehen sie diese graue Steilwand? Gleich müsste man die Zelte auf der Fläche erkennen können. Links davon, etwa auf gleicher Höhe liegt das Lager mit den Containern für Unterkünfte und Labors.«

Conrad nickte zustimmend. Mit einem Mal wurde ihm klar, warum Herjolfsson vom Fundplatz immer als der Carrière, dem Steinbruch, sprach.

07

Spätsommer

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739464152
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Wikinger Morde Legenden Entdeckung Kanada Geheimnis Eskimos Monster Krimi Archäologie Historisch Abenteuer Reise

Autoren

  • Barry Stiller (Autor:in)

  • Dana Stiller (Autor:in)

Dana Stiller studierte Ägyptologie und Frühgeschichte, sowie die Archäologie Mesoamerikas und Keltische Sprachen. Es folgte ein Mathematik- und Anglistikstudium. Barry Stiller ist Journalist und arbeitete nach der Zeit bei einem privaten TV-Sender als Redakteur für Publikumszeitschriften in München. Danach schrieb er für ein Musikermagazin in Köln. Ende der 90er Jahre studierte er Ur- und Frühgeschichte und mesoamerikanische Archäologie.
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Titel: Die Ersten