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VERREGNET

Aus dem Regen zu neuen Kleidern - Mitgedacht in Europa

von Hans-Jürgen Louven (Autor:in) Viktoria Greuling (Illustrationen)
124 Seiten

Zusammenfassung

Nach „Hans-Jürgen, das Lamm ist da – als Gastarbeiter in der Türkei“ (Verlag Herder, 2011) zeigt Hans-Jürgen Louven in seinem neusten Werk als Heimkehrer nach Europa überraschende Entwicklungen in der Gesellschaft auf. Der Autor wird zuvor im August 2019, u. a. in Verbindung mit seiner Tätigkeit für ein europäisches Hilfswerk, von der türkischen Regierung ausgewiesen. „Verregnet“ beschreibt jetzt, was danach geschah … Biografisch werden wir zunächst in den nicht leichten Prozess der Rückkehr nach Europa hineingenommen. Doch bleibt das Buch hier nicht stehen: Offenlegende und manchmal überraschende Eindrücke eines „Zurückgekehrten“ zeigen auf, was viele unter uns heute denken, aber wenige aussprechen. Louven spricht dabei zeitweise als Lehrer, hin und wieder als Migrant und spontan auch einfach mal von Mensch zu Mensch ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


„Eingetaucht“ – geprüft und für Schrott befunden – …

 

„Dieses Fahrzeug ist technisch am Ende. Das taugt nur noch für den Schrott.“ Der technische Sachverständige sprach nach ungefähr zwei Stunden Untersuchung in der Prüfhalle dieses vernichtende Urteil über unseren VW-Oldtimer. Zusammen mit einer Mitarbeiterin hatte der Angestellte der Landesregierung unseren LT-28, liebevoll ausgebaut zum Wohnmobil und jetzt 32 Jahre alt, auf Herz und Nieren geprüft. „Aber wir sind mit diesem Wagen doch 2800 km von der Türkei bis nach Österreich gut gefahren …“ entgegneten wir später konsterniert ob dieser für uns unverständlichen Nachricht. „Sie können froh sein, wenn sie das Gelände mit diesem Fahrzeug überhaupt noch verlassen können“ hieß es jetzt noch eine Spur schärfer, und der Sachverständige wandte sich dem Büro zu. Hier sollte nun der Prüfbericht ausgearbeitet und Rücksprache mit dem Leiter der Prüfstelle gehalten werden. Verwirrt und aufgewühlt ging ich zu meiner Frau Renate, die sich unterdessen am Rand des Geländes mit einer fremdländischen Frau unterhielt. „Sie wollen unseren Wagen stilllegen“ sagte ich knapp auf den ihren fragenden Blick hin. „Wieso denn das? – und schon bewegte sich Renate entschlossen in Richtung der Mitarbeiterin des TÜV, die an der Untersuchung wesentlich beteiligt war. Nach kurzem Dialog der beiden Frauen fanden wir uns vor unserem Oldtimer wieder. Während ich noch einige Dinge in der Fahrerkabine sortierte, kam dann der Prüfer zu uns, diesmal in Begleitung des Leiters der Prüfhalle: „Wir müssen dieses Fahrzeug aus dem Verkehr nehmen. Es ist nicht für den Verkehr tauglich. Wir nehmen die Kennzeichen ab und diese in Verwahrung. Sie werden dann über die Bezirkshauptmannschaft zur türkischen Botschaft geschickt“. Argumentieren würde hier nichts nützen, merkte ich, und so enthielt ich mich weiterer Fragen und Kommentare. Dass unser Wagen ja noch bis zum Frühjahr nächsten Jahres gültigen TÜV in der Türkei hatte. Und dass ein Mitarbeiter, mit dem ich vor der Untersuchung sprach, mir noch während der Mittagspause erklärte, dass ja der türkische TÜV wesentlich unter Mitarbeit eines österreichischen TÜV-Vorstehers aufgebaut worden wäre. Und mein türkischer TÜV-Bericht sogar neben TÜV Türk mit TÜV Süd bezeichnet ist… Und jetzt erkennen sie diesen Bericht nicht an, nehmen sogar noch das erst vor fünf Monaten geprüfte Fahrzeug aus dem Verkehr! Auf dem mir dann ausgehändigten österreichischen Prüfbericht waren auf drei Din-A4-Seiten insgesamt 48 (!) Mängel verzeichnet. Unter diesen auch der schwere (!) Mangel, dass sich am Rande der Windschutzscheibe noch zwei nicht mehr gültige Vignetten befanden … 

Meine Frau und ich saßen wenig später im Nahverkehrszug nach Bludenz. Zuvor hatte Renate noch im Sekretariat der Prüfstelle vorgeschlagen, dass wir ja auch die Kennzeichen dorthin mitnehmen könnten, schließlich wohnen wir nur wenige Minuten von der Bezirkshauptmannschaft der „Alpenstadt“ entfernt. Aber auch das hatte man uns verwehrt, es sei schließlich eine Amtshandlung und die türkischen Kennzeichen müssten von ihnen selbst dem Amt zugestellt werden. Nun denn, wir kauften uns gleich eine Monatskarte für ganz Vorarlberg, unser Wagen würde wohl nach solchem Prozedere nicht sehr bald wieder in den hiesigen Straßenverkehr zugelassen werden. Die Stimmung war gedrückt und der Zug langsam; er hielt an allen Stationen im von den Einheimischen liebevoll genannten „Ländle“. Viele Gedanken gingen uns beiden durch den Kopf, eigentlich hätten wir am selben Tag noch einige Kleinmöbel mit unserem Oldtimer bei Freunden abholen wollen und auch noch in Feldkirch etwas für unsere Tochter Hanna. Nichts von dem konnten wir nun noch tun, unseren VW und die Kennzeichen hatten wir in Lauterach zurückgelassen. „Sağlık olsun“ sagt man in der Türkei in solchen Situationen: „Gesundheit möge sein“. (wörtlich, also im übertragenen Sinne etwa: „es gibt doch Wichtigeres im Leben“) … Gott sei Dank hatten wir diese noch, auch das in diesen Coronazeiten überhaupt nicht selbstverständlich.

Wir ließen uns einen trockenen Rotwein zum Abendessen nicht nehmen und stießen auf weitere Erfahrungen als „Heimkehrer“ nach Europa an. Und die ließen nicht lange auf sich warten … 

Übrigens: Die Episode mit unserem Oldie war damit noch LANGE nicht abgeschlossen; es folgten weitere, sehr bewegte Tage. Zunächst dauerte es unverhältnismäßig lange (und es brauchte zunächst einen weiteren Besuch per Zugfahrt zur Prüfstelle), bis die inzwischen wohl vergessenen Kennzeichen zur BH nach Bludenz geschickt wurden. Inzwischen hatte ich dort mehrmals den zuständigen Beamten über den Vorgang informiert. Der wiederum konnte nichts tun, bevor er die Nummerntafeln und Papiere des Fahrzeugs vorliegen hatte. Danach wurde dann entschieden, dass diese an die türkische Botschaft in Wien geschickt werden sollten. Zwar hatte ich dem Beamten in Kenntnis der Gegebenheiten zuvor erklärt, dass diese dann unter Umständen bei den türkischen Behörden verlorengehen könnten, aber auch dieses Wagnis wurde eingegangen. Ich bemühte mich in den nächsten Tagen, diesem für uns wichtigen Postgut nachzugehen (schließlich brauchten wir ja die Kennzeichen und Fahrzeugpapiere für die Abmeldung des Autos in der Türkei) und sprach mehrmals mit entsprechenden Stellen in Wien. Da sich die türkische Botschaft nicht zuständig sah (das Ganze war wohl auch für die türkischen Behörden ein wohl seltener, wenn nicht gar einzigartiger Vorgang), wurde unser Paket mich wichtigem Inhalt an das türkische Generalkonsulat, ebenfalls in Wien, weitergeleitet. Auch dort rief ich mehrmals an und gelangte letztlich wirklich zu der Person, die das weitere Vorgehen nun zu entscheiden und auch zu verantworten hatte. Nach kurzem Vorgespräch traute ich meinen Ohren dann kaum: „Ja, was machen wir denn nun damit? Sollen wir Ihnen die Nummerntafeln zurückschicken?“ – Ja, das war eines der Dinge, die ich an der Türkei so liebte und, zurück in Europa, nun vermisste: mal fünf gerade sein lassen, spontan und unkonventionell reagieren. Wir einigten uns letztlich darauf, dass die Schilder und der Fahrzeugschein zur Abmeldung durch das Konsulat in die Türkei geschickt wurden. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich mit diesen in der Hand beim Beamten der BH vorstellig geworden wäre … 

  

Einleitung: „Vom Regen in die Traufe …“ 

Unser Abenteuer mit unserem Oldtimer und dem österreichischen TÜV sollte bei weitem nicht die einzige Überraschung in unseren ersten Wochen als „Heimkehrer“ in Europa bleiben. Warum wir als deutsch-österreichisches Ehepaar nach so vielen Jahren im Orient überhaupt zurückgekehrt sind, unter welchen Umständen wir dann auf der in unseren Medien zuletzt so oft genannten „Balkanroute“ bis nach Kärnten/Österreich kamen und wie sich die Zeit danach in Europa gestaltete – all das erfahren Sie nun in diesem Buch. Dabei liegt mir im Gegensatz zu meinem ersten Buch („Hans-Jürgen, das Lamm ist da“ – als Gastarbeiter in der Türkei, Verlag Herder 2011) diesmal weniger daran, die Unterschiede der Kulturen herauszustellen, als aufzuzeigen, wie es jemandem gehen kann, der nach vielen Jahren in einem anderen Erdteil zurück nach Europa kommt und hier wahrnimmt, wie sich die Gegebenheiten verändert haben. Oft staunend, manchmal sogar ungläubig verwundert, haben Renate und ich solche Veränderungen wahrgenommen und anschließend unter uns oder auch mit einheimischen (und nicht ausgewanderten) Freunden diskutiert und reflektiert. Wir haben dabei nicht nur einmal bemerkt, dass uns Dinge als „schräg“ auffielen, die den unter uns lebenden Zeitgenossen zwar auch vielerorts bekannt waren, aber trotzdem nicht geäußert werden oder gar in der Öffentlichkeit genannt. Was die Zeitgenossen betrifft, gibt es aber durchaus Ausnahmen. So begegnete uns eine bereits ältere Frau aus einem Dorf im Montafon/Vorarlberg schon im August 2020 im Blick auf einige der später genannten Dinge mit der damals für mich noch überraschend gewagten Aussage: „Ja, da seid ihr wohl vom Regen in die Traufe gekommen!“ … Darum, und aus Liebe zu unseren Herkunftsländern und zu Europa, werde ich besonders im zweiten Teil des Buches in einigen Bereichen aufzeigen, was ich meine. Quellen und sich daraus ergebene Fakten werden belegen, dass unsere Gesellschaft krankt. Und diese Krankheiten sind nicht Schnupfen und Erkältung oder Corona, sondern solche, die Europa wie einen von Krebs Befallenen dahinsiechen lässt. Ja, wenn wir diese „neuen Kleider“ (ich werde gleich erklären, worum es geht) nicht bald ablegen und wie im Märchen von Hans Christian Andersen als völlig unpassend erkennen, wird unsere Gesellschaft unweigerlich in den Abgrund rutschen. Doch werden wir bei dieser erschreckenden Diagnose keinesfalls stehen bleiben. Es gibt eine überraschend einfache Lösung des Dilemmas: Kind sein! Wie dies gemeint ist und von jedem von uns praktiziert werden kann, erfahren Sie im dritten und abschließenden Kapitel des Buches.

Machen wir uns nun gemeinsam auf die Reise: vom Orient über den Balkan nach Österreich, hin zu fragwürdigen Sichtweisen und Praktiken im neuen Europa und einer überraschend einfachen Lösung des sich anbahnenden Desasters. Steigen Sie ein, wir beginnen unsere Reise in einer der schönsten Kleinstädte, die ich kenne: Kleinasien, Türkei, im Juli 2020 … 

  

Aufbruch rückwärts

  

„Ihr Gesuch wurde von der Direktion abgelehnt. Die Aufenthaltserlaubnis wird leider nicht verlängert. Sie haben zehn Tage, um das Land zu verlassen.“ Überrascht blicke ich auf die junge Frau im Büro der lokalen Stelle der Immigrationsbehörde. „Wir haben hier unser Haus und eine Farm, leben seit ca. 20 Jahren in der Stadt. – Was ist denn der Grund der Ablehnung?“ „Das wissen wir auch nicht, das Schreiben kam von der Direktion in Ankara.“ Die Dame legte mir das entsprechende Schreiben der Immigrationsbehörde in der Hauptstadt der Türkei vor. Viele mögliche Gründe einer Nicht-Erteilung der Aufenthaltserlaubnis waren hier aufgeführt. Keines dieser Felder war jedoch angekreuzt. Nur hinter dem letzten Punkt war ein Häkchen gesetzt: „ANDERE GRÜNDE“ …

Auch wenn ich im Anschluss an diese für uns als ganze Familie sehr ernüchternde Erklärung mit der Dame und anderen Mitarbeitern der Behörde zu diskutieren versuchte, danach einen Rechtsanwalt beauftragte und wir bis zum höchsten Gericht der Türkei zogen, war dieser Besuch auf der Immigrationsbehörde der Anfang unseres Aufbruchs als Ehepaar zurück vom Orient in die „heimischen Gefilde“ Europas. Ungefähr 20 Jahre hatten wir zuvor unseren Wohnsitz in Muğla, einer reizenden und vom Tourismus noch relativ unentdeckten türkischen Kleinstadt in der Südwest-Türkei. Nur ca. 25 Autominuten zu einer der schönsten Küsten des Landes und nicht weit weg von manchen biblischen Orten der neutestamentlichen Zeit sowie drei Weltwundern der Antike. Hatten wir in unseren ersten Jahren dort als Vertreter einer deutschen Reisegesellschaft gearbeitet, waren wir später Teilhaber einer türkischen GmbH mit der Verwaltung von zwei historischen Gästehäusern in der wunderschönen Altstadt unserer Wahlheimat. Seit 2015 vertraten wir dann eine österreichische Hilfsorganisation in der Türkei und bildeten eine Brücke zur Flüchtlingshilfe von christlich-türkischen Gemeinden in diesem großen Land mit vielen hilfsbedürftigen Asylbewerbern aus Syrien, dem Iran, Afghanistan und anderen Ländern.  

Die Vermutung, dass meine de-facto-Ausweisung aus der Türkei mit dieser letztgenannten Tätigkeit zu tun hatte, bestätigte sich später. Bis heute hat der türkische Staat zwar nie offen den eigentlichen Grund der Ausweisung klar genannt (er würde auch im Widerspruch zu den eigenen Gesetzen stehen), aber die Parallele zu inzwischen schon über 60 (!) ebenfalls ausgewiesenen christlichen Mitarbeitern aus den verschiedensten Ländern und der allgemeine politische Kurs der türkischen Regierung lässt auf ganz klare oberste Richtlinien schließen. So musste auch der von uns beauftragte Rechtsanwalt erkennen, dass es nicht nur in unserem Fall nicht mit rechten Dingen zuging. Er war zum Schluss fast verzweifelt über so offensichtlich ungerechte Entscheidungen der Behörden und befassten Gerichte. Die vielen ähnlichen Fälle von Ausweisungen werden zunehmend auch von der internationalen Presse, von Menschenrechtsorganisationen und politischen Gremien beobachtet und thematisiert. 

Um den Ausgang eines Gesuchs unseres Rechtsanwalts um Aussetzung des Verfahrens abzuwarten, überzog ich die mir gesetzte Ausreisefrist um einige Tage. Wenig später stand ein Polizeiwagen vor unserer Tür (nur unsere junge Tochter war aber gerade zu Hause), und als ich nach einigen weiteren Tage das Land immer noch nicht verlassen hatte, beobachteten Nachbarn zivile Polizei, die in der Nähe unseres Hauses Menschen nach meinem Verbleib und meinen derzeitigen Tätigkeiten befragten. Gott sei Dank lebten wir ja bereits seit ungefähr 20 Jahren mit einigen Unterbrechungen im gleichen kleinen Reihenhaus, so dass die Nachbarn uns recht gut kannten und uns von diesen Vorgängen berichteten. Manche waren sogar entrüstet über das Vorgehen der Behörden und der Polizei; etwa 1500 Menschen aus der Türkei unterschrieben später eine mit einem Video verbundene Petition mit dem bezeichnenden Titel „Hans soll bleiben“ (zu sehen unter https://youtu.be/cMHoww-n2Pg). 

Trotz all dem und einer zaghaften Intervention der deutschen Botschaft in Ankara (zu mehr sah man sich in Deutschland wohl nicht in der Lage; einer der anderen Ausgewiesenen hörte sogar in Berlin hinter vorgehaltener Hand die Aussage: „Wir können wegen einiger Einzelschicksale nicht die guten Beziehungen zur Türkei gefährden.“) machte die türkische Regierung keinen Rückzieher in ihrer wohl von ganz oben veranlassten Politik. Es kam der Tag des zumindest vorläufigen Abschieds von unserer langjährigen Heimat. Abschied nicht nur von einem uns lieb gewordenen Land und seiner Kultur, unserem Haus und der von uns im Sommer bewohnten Farm, unseren immer noch bestehenden Gästehäusern und der langjährigen Arbeit. Es bedeutete vor allem auch Abschied von vielen uns lieb gewordenen Menschen. Und von einigen solchen möchte ich Ihnen hier kurz erzählen …  

  

Letzte Begegnungen  

Von den vielen letzten Begegnungen möchte ich im Folgenden einige herausgreifen, von meinem langjährigen Friseur bis zu unserem eigenen Kind. Zu ihrer Sicherheit habe ich die Namen meiner türkischen Freunde geändert.

Berber Mahmut 

„Diesen Sommer brauchen wir nicht auf Touristen zu warten. Überhaupt geht das Geschäft gar nicht gut. Und dann kommt auch noch dieses Virus …“ Geschickt und routiniert wie immer ließ mein Friseur Mahmut seine Schere durch die Haarsträhnen tanzen, ich muss ihm auch gar nicht mehr sagen, wie er meine Haare schneiden soll. „Es wird nicht besser“, fügte er hinzu. „Wir sind so ein reiches Land, werden aber einfach schlecht geleitet.“ Dem ist nichts hinzufügen, es wird auch nicht von mir erwartet. Hier in unserer Region an der türkischen Ägäis wissen die allermeisten von der krummen Regierungspolitik und wählen auch dementsprechend. Die Regierungspartei AKP versucht zwar auch an der Ägäis, in die Gesellschaft hineinzuwirken und ihre Leute einzuführen, bekommt aber von den wenigsten Einheimischen eine Stimme, geschweige denn den in manch anderen Landesteilen verbreiteten Applaus. Nein, der Staatspräsident wird hier nicht als Prophet oder Messias gesehen … 

Oktay Farmer und seine Frau Hatice 

Unsere lieben und jetzt schon betagten Freunde hatten, wie auch wir, wieder ihren kleinen Sommersitz auf der „Yayla“ (der türkischen Alm) bezogen. Beide sind inzwischen über siebzig, aber noch recht fit und aktiv, so dass sie über den Sommer mit etwas Hilfe gute Erträge von Obst und Gemüse ernten konnten. Wie die allermeisten Yayla-Bewohner teilen sie auch gerne und füllten uns eine Tüte mit Paprika und Bohnen. Die beiden wissen, wie auch viele andere in der Stadt (Neuigkeiten macht hier schnell die Runde), von meiner Ausweisung und bedauern sie sehr. Oktay und Hatice gehörten zu den Ersten, die die Petition für meinen Verbleib im Land unterschrieben.  

Aber auch sie selbst haben eine große Not. Nicht die frühere Krebserkrankung von Hatice (nach der schweren Operation muss sie seit Jahren immer wieder zur Kontrolle nach Izmir) ist es, die unsere Freunde in diesen Tagen besonders beschäftigt, sondern die Situation um ihr Haus. Wie die meisten anderen Yayla-Besitzer dürfen sie ein einfaches, funktionelles Sommerhaus auf ihrem Gelände ihr Eigen nennen. Zwar ist dieses nicht gerade groß und kaum isoliert (die meisten Farmer ziehen ohnehin im Herbst wieder in die nahe Stadt), aber es erfüllt seinen Zweck und bietet hier und da sogar einem Besucher Platz. Wenige Wochen zuvor war nun eines der Nachbargrundstücke unserer Freunde verkauft und in dem Zusammenhang auch neu vermessen worden. So weit, so gut – der Käufer möchte ja wissen, was genau er sein Eigen nennen darf. Da die letzte Messung schon Jahrzehnte zurücklag, war es auch nicht verwunderlich, dass die Grundstücksgrenzen nicht ganz mit dem alten Plan übereinstimmten. Dass das kleine Häuschen von Oktay und Hatice nun allerdings zum Teil auf dem Grundstück ihres neuen Nachbarn steht, bereitet ihnen große Sorgen. Europäisches Denken würde jetzt davon ausgehen, dass dies ja wohl ein Fehler der früheren (von der Stadtverwaltung bestellten) Landvermesser gewesen sein muss. Doch nein, so geht es im Orient leider nicht. Diesen Schuh zieht sich die Stadtverwaltung nicht an. Für Bereinigung und Spesen hat jeder Landbesitzer selbst zu sorgen.  

So sitzen wir bei unserer vorerst letzten Begegnung etwas betrübt zusammen. Hier ein vermutlich nicht mehr abzuwendender und mitnichten selbst verschuldeter Hausabriss, dort eine gegen die geltenden Gesetze des Landes erzwungene und juristisch nicht haltbare Ausweisung. Sağlık olsun … „Gesundheit möge sein“!

VW-Uzbek 

Nicht nur über unseren Oldtimer-VW waren wir in Kontakt mit einer Gruppe meist junger Menschen unserer kleinen Stadt gekommen. Das Gemeinsame dieser ca. zehnköpfigen Gruppe (plus z.T. Familie mit kleinen Kindern) ist entweder ein mehr oder weniger gut erhaltener VW-Käfer oder auch ein in unseren Breitengraden sehr teuer gehandelter T2-Bus (auch Bulli genannt). Uzbek ist der inoffizielle Vorsitzende der kleinen Gruppe. Auch er hat Familie, verwendet aber einen beachtlichen Teil seiner Freizeit für ihren liebevoll gepflegten gelben Bulli. Schön, dass auch seine Frau Fatma das Hobby teilt und ihre fröhliche kleine Tochter Ayse gern bei Ausflügen dabei ist. Uzbek ist, wie die meisten der jüngeren Menschen unserer Stadt, sehr regierungskritisch eingestellt. Anders als bei vielen älteren Mitbürgern (z. B. meinem Friseur Mahmut) beruht dies nicht nur auf der traditionell kemalistischen Ausrichtung (Mustafa Kemal Atatürk hatte das Land um 1920 mit grandiosen militärischen Siegen zur Republik geführt und die Türkei in der Folge schrittweise Europa angenähert), sondern logischen Schlussfolgerungen von Studium und gesundem Menschenverstand. Diesen jungen Leuten kann man mit AKP und Staatspräsident nicht kommen, das ist hier „mega out“. 

So waren auch unsere VW-Freunde bei den ersten Unterzeichnern der Petition und taten sich in der Folge besonders dadurch hervor, diese über soziale Netzwerke weit im Land zu streuen. Eine meiner vorerst letzten Begegnungen mit Uzbek war vor seinem Haus, wo ich mit meinem Fahrrad für ein kurzes Gespräch anhielt. In den Tagen zuvor war die berühmte Hagia-Sofia-Kirche in Istanbul (früheres Konstantinopel; die Hagia Sofia war früher ein Zentrum der Ostkirche) zu einer Moschee umgewandelt worden. Uzbek meinte in diesem Zusammenhang, dass nun die Türkei wohl in den Augen vieler Europäer noch schlechter dastünde – und das zurecht, wie er nüchtern hinzufügte, um sich dann wieder seiner Arbeit zuzuwenden.  

Unser Dorfvorsteher Mustafa 

Als Muhtar bezeichnet man in der Türkei den Vorsteher eines Dorfes oder Stadtteils. Um ihn kreist ein Teil des sozialen Miteinanders dort lebender Menschen. In seinem meist kleinen Büro, sofern vorhanden, gibt der Vorsteher über Belange des Dorfes, nimmt Anträge entgegen oder vermittelt in Streitfällen etc. Manchmal findet diese Beratung auch im Friseursalon oder Lebensmittelgeschäft des Muhtars statt. 

Mustafa ist der Muhtar des ehemaligen Dorfes (inzwischen ist es ein Stadtteil geworden), das zu unserem Yayla-Gebiet gehört. Er führt das zentrale Café im Dorf und kann auf diese Weise seinen beruflichen Alltag gut mit seinen Aufgaben als Muhtar verbinden. Mustafa ist ein recht gutmütiger Mensch und trotz stabiler Körperstatur emotional feinfühlig (wie übrigens erstaunlich viele türkische Männer). Wir hatten früher einige Male zusammengehockt, und unser vorerst letztes Gespräch war am Telefon. Eine Filmcrew sei angereist, so berichtet Mustafa, und möchte in „unserem Dorf“ einen Kinofilm drehen. Das ist nicht ungewöhnlich; sowohl die zum Teil malerische und komplett denkmalgeschützte Altstadt als auch das Yayla-Umfeld bieten eine wunderbare und äußerst natürliche Kulisse für Aufnahmen jeder Art. „Hans,“ (so nennen mich verkürzt die meisten der Einheimischen) „wir brauchen Deine BMW!“ Im Weiteren stellte sich heraus, dass das Filmteam für einige Außenaufnahmen meine alte BMW mit Seitenwagen gut hätte gebrauchen können. Vor einigen Jahren hatte ich zuerst die heute sechzig Jahre alte R50, dann wenig später den dazu passenden Steib-Seitenwagen in der Türkei gekauft. „Mustafa, es tut mir leid. Ich habe das Motorrad schon eingepackt und versorgt.“ Tatsächlich hatte ich einige Wochen zuvor das historische Gespann auf unbestimmte Zeit „eingewintert“, obwohl Hochsommer war. Ich musste ja damit rechnen, das Motorrad für längere Zeit nicht mehr fahren zu können. Der türkische Staat hatte mich nicht nur ausgewiesen, sondern auch noch mit meinen Personalien einen Code verbunden, der es mir unmöglich machen sollte, ins Land zurückzukommen, da ich als „Gefahr für die staatliche Sicherheit“ galt. (Und das aufgrund meiner christlichen Arbeit im Land! Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn in Europa mit gleichen Maßstäben gehandelt würde – aber dazu später mehr.) 

Jedenfalls musste ich unseren geschätzten Dorfvorsteher in dieser Sache enttäuschen. Wie ich hörte, hat er aber dann an anderer Stelle ein Fahrzeug gefunden. Was denn nun aus meiner alten BMW mit Seitenwagen geworden ist? Sie wartet noch auf der Yayla. Und ich auf den Zeitpunkt, sie dort wieder fahren zu können … 

Yasam Irmağı (Strom des Lebens) 

So heißt unsere kleine christliche Gemeinde in der Stadt. Von zarten Anfängen in den 1990-er Jahren hat sie sich zu einer wirklich lebendigen und stabilen Gemeinschaft entwickelt. Über lange Zeit in Hausversammlungen sich treffend, hat man jetzt sogar eine Lokalität in direkter Nähe zum Bürgermeisteramt und Stadtpark gemietet. Nicht alle im fast komplett (zumindest nominell) islamischen Umfeld sind darüber froh gewesen, aber im Wesentlichen wurde unsere christliche Gemeinde mit offiziellem Status eines Vereins zumindest angenommen bis geduldet. „Ich wollte immer schon mal sehen, wie ein christlicher Gottesdienst aussieht“, erklärte uns manch einer der zahlreichen Besucher in den letzten ca. 1 ½ Jahren seit Eröffnung dieser Gemeinderäumlichkeiten. Viele Türken kennen einen christlichen Gottesdienst ja bislang nur aus dem Fernsehen und haben ehrliches Interesse an diesem Thema. Es gibt aber leider auch viele Diffamierungen durch die Presse und andere Medien im Blick auf christliche Aktivitäten im Land. So rückt man schnell bis zum Landesverräter auf, wenn man im persönlichen Gespräch oder durch Weitergabe einer Schrift auf christliche Werte und Inhalte hinweist. Für einheimische Konvertiten ist dies noch viel schwieriger und gefährlich als für Menschen aus dem Westen, die landläufig ohnehin durch die Bank als Christen gesehen werden (– was leider dem christlichen Zeugnis oft überhaupt nicht zuträglich ist). 

Unsere Strom-des-Lebens-Gemeinde (ihren Namen hat sie aus den ersten Versen des letzten Kapitels der Offenbarung: „Und er zeigte mir einen Strom von Wasser des Lebens, glänzend wie Kristall …“) setzte sich aus der liebevollen Gemeinschaft von Menschen verschiedenster Nationen zusammen. Vertreten waren u. a. Korea, Kasachstan, Usbekistan, Amerika, Turkmenistan, Österreich und Deutschland sowie natürlich der Türkei. Was uns einte und eint, ist das Ausleben der Liebe nach Vorbild dessen, der uns auf dieser Erde einen so wundervollen Maßstab und neues Leben gegeben hat. Ich muss ehrlich zugeben, dass diese kleine Gemeinschaft mir mehr gute Impulse gegeben hat als so manche Versammlungen in größeren und stärker organisierten Kreisen. Und die Türkei war ja bereits in frühster Zeit Schauplatz großer Durchbrüche in der damals sehr bewegten Kirchengeschichte.  

Unsere vorerst letzten gemeinsamen Tage mit unseren Freunden fanden jedoch nicht in den offiziellen Gemeinderäumen statt, sondern auf unserer Yayla-Farm. Hier trafen wir uns noch mehrmals in herzlicher Verbundenheit und oft mit einer kleinen Mahlzeit. Auch Nachbarn und Freunde kamen manchmal hinzu, was unseren Abschiedskreis und -schmerz noch vergrößerte. Es flossen auch Tränen, und das nicht nur bei unseren Glaubensgeschwistern. Auch einige der muslimischen Nachbarn zeigten offen ihre Gefühle, was uns tief berührte. Aber ein noch schwierigerer Abschied stand uns wenig später bevor … 

Hanna  

Es war bereits fast alles drin. Unser Oldtimer-Wohnmobil war gut ausgefüllt. Bananenkisten bis unters Dach, in der Küche einige Lebensmittel und unser Solarkocher (ob wir den in Europa überhaupt würden brauchen können?) füllten den verfügbaren Platz sehr gut aus. Für die verstorbene Frau eines englischen Freundes nahmen wir sogar noch einen bereits im Industriegebiet beschrifteten Grabstein mit, denn diese sind in der Türkei ungleich günstiger. Das Wohnmobil passte nicht in unsere Einfahrt, deshalb hatten wir es für die letzte Nacht vor der Abreise auf einem ca. 500 Meter entfernten größeren Parkplatz abgestellt. Am frühen Morgen wollten wir dann die letzten Dinge einladen und die lange Reise über die Balkanroute nach Österreich antreten. Unsere 23-jährige Tochter Hanna würde uns dabei helfen und sich danach von uns auf unbestimmte Zeit verabschieden. Warum sie nicht mitkam? Hanna ist, wie anfangs kurz erwähnt, als einjähriges Kind mit uns in die Türkei eingewandert und hat ihre gesamte Kindheit und die meisten Lebensjahre dort in unserer kleinen Stadt und auf dem Sommer-Landsitz verbracht. Sie liebt das Land, die orientalische und für sie heimische Kultur, die ihr vertrauten Menschen einschließlich ihrer Kindheits- und Jugendfreunde. Sie kennt so viele Ecken und Winkel der Umgebung, spricht fließend die Sprache und versteht sogar recht gut den Dialekt der Region. Und – sie studierte in unserer Stadt und stand zum Zeitpunkt meiner Ausweisung vor dem letzten Jahr ihrer Ausbildung! Dass die türkische Regierung mich im Wissen um all dieses ausweist (Renate und Hanna durften ihre Aufenthaltserlaubnis behalten) und unausgesprochen einbezieht, dass meine Frau und unser einziges Kind ja auch ohne mich in der Türkei leben könnten, spricht zusätzlich Bände. Ich kenne keinen türkischen Familienvater, der seine Tochter allein und ohne Begleitung auch nur in eine andere Stadt des Landes gehen ließe! 

Und doch stand nun der schmerzlichste Abschied vor uns. Hanna half uns, in Begleitung ihres Mischlinghundes Müjde (gute Nachricht), die letzten Dinge zum bereitstehenden Wagen zu bringen. Wir machten es kurz – aber keinesfalls schmerzlos! Bei unserer Abfahrt an diesem noch frühen Morgen winkte Hanna uns ein vorerst letztes Mal zu. Können Sie sich vorstellen, was im Herz von Eltern in einem solchen Moment vorgeht? Ungefähr 3000 Streckenkilometer und sehr viel dazwischenliegende Kultur würden uns nun bald trennen. Und das ist auch im Zeitalter sozialer Netzwerke eine Menge Tränen wert … 

  

 

Balkan – und doch kein Asylant 

Es war Dienstag, der 28. Juli 2020 um ca. 9 Uhr morgens, als wir unsere kleine Stadt Richtung Norden verließen. Wie auch sonst hatte ich am früheren Morgen die beiden Losungsverse der Herrnhuter Brüdergemeine gelesen. Der erste stand in 1. Samuel 7,12: „Bis hierher hat uns der HERR geholfen.“. Auch der zweite Vers (aus dem Neuen Testament) passte gut: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.“ (2. Korinther 4,8). Seltsam war es, an unserer Siedlung und vielen bekannten Häusern mit uns ebenfalls bekannten Menschen ein letztes Mal vorbeizufahren. Interessant und wichtig war für uns, dass wir zuvor eine sehr eindeutige Bestätigung für unseren Abfahrtstermin bekommen hatten. Wir schwankten nämlich einige Zeit zwischen zwei möglichen Terminen und hatten auch zuvor schon einmal unsere bereits festgelegte Abfahrt verschoben. Zu ungewiss war die Lage an den verschiedenen Grenzen. Stunden hatte ich im Internet damit verbracht, die jeweiligen Covid-Bestimmungen zur Ein- oder Durchreise für die einzelnen Länder herauszubekommen. Es war manchmal fast zum Verzweifeln, es gab auch durchaus schwer verständliche und sogar widersprüchliche Informationen. Da kam eine Whatsapp-Nachricht einer guten Freundin aus Österreich genau zum richtigen Zeitpunkt! Sie habe mehrere Tage für uns gebetet, sagte Bernadetta, und fügte in ruhigem Ton hinzu: „Ich denke, ihr solltet am 28. Juli abreisen. Ihr werdet gut und wohlbehalten in Österreich ankommen und auf dem Weg nur kleinere Hindernisse haben, die ihr aber bewältigen könnt.“ Wow, das war eindeutig. Der 28. Juli war einer der Tage, die wir auch selbst ins Auge gefasst hatten. Wir könnten dann zum Opferfest die türkisch-bulgarische Grenze erreicht haben und dort würde wahrscheinlich wegen der Feiertage (Kurban Bayram, das Opferfest, ist das für viele Türken wichtigste Fest im Jahr) weniger Betrieb sein als sonst. Über Griechenland (wir bevorzugten zuvor immer diese Route incl. Fähre nach Italien) konnten wir diesmal nicht fahren, da die Grenze von der Türkei dorthin für normale Durchreisende geschlossen war. Offiziell wegen Covid-19, aber die erneuten Asylantenströme Richtung Europa können da sehr wohl auch eine Rolle gespielt haben. Zudem gab es erneut politische Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Griechenland … 

Eine weitere große Ermutigung im Blick auf unsere lange Reise und die vielen möglichen Probleme und Gefahren war mir ein Vers aus der Bibel, der mir in den Wochen zuvor begegnet war und den ich mir als Verheißung herausgeschrieben hatte: „Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, damit er dich auf dem Weg bewahrt und dich an den Ort bringt, den ich für dich bereitet habe.“ (2. Buch Mose 23,20). Diese Zusage Gottes und auch die Nachricht von Bernadetta begleiteten uns dann auf der Reise. In einigen Situationen sollte es dann tatsächlich für uns wichtig werden, dies zu wissen! 

Unser Oldtimer mit viel Zusatzlast nahm zügig Fahrt auf Richtung Norden des Landes. Vorbei an der Riesenstadt Izmir (dem früheren Smyrna) kamen wir in mehreren Etappen gut bis nach Çanakkale. Hier setzten wir mit einer kleinen Fähre über den Bosporus und waren damit auf den viel kleineren, europäischen Teil der Türkei gelangt. Immer noch ging es aber recht orientalisch zu, was wir u. a. an einem Campingplatz in der Nähe von Gelibolu merkten. Trotz der nun auch in der Türkei geltenden Vorsichtsmaßnahmen im Blick auf Covid gesellten sich einige Musiker ohne jeden Abstand zu einem feucht-fröhlichen Miteinander zusammen. 

Unsere letzte Nacht vor dem für den nächsten Morgen geplanten Grenzübertritt verbrachten wir am Rande eines Stadtparks in der Grenzstadt Edirne. Ein türkischer Pastor einer kleinen evangelischen Gemeinde hatte uns mit seiner Frau zuvor einige Sehenswürdigkeiten der früheren Hauptstadt der osmanischen Türkei gezeigt. Unter anderem sahen wir die größte Synagoge Europas und den damals für die Ost-West-Verbindung sehr wichtigen alten Bahnhof. Doch am Abend im Stadtpark begegneten wir dem ersten kleinen Hindernis (Bernadetta hatte ja auch davon gesprochen). Ich bemerkte beim Rundgang um unseren alten VW, dass das Rad hinten rechts Luft verloren hatte. Mit der mitgebrachten Fahrrad-Fußpumpe (ich hatte diese mitgenommen, weil die Pumpen an türkischen Tankstellen oft nicht funktionieren) glich ich den Druckverlust aus. Mir selbst und auch Renate sagte ich aber, dass wir bleiben müssten, wenn der Reifen morgen früh wieder Luft verloren haben sollte. Hatte er dann aber nicht – und so machten wir uns auf den Weg zur nahen Grenze. Wieder ein merkwürdiges Gefühl. Schließlich reiste ich als jemand aus, der „für den Staat gefährlich ist“ und – die Türkei machte ja in diesen Tagen nicht gerade wegen übergroßer Gerechtigkeit ihrer Exekutive Schlagzeilen ... 

Vor der Grenze wollte ich noch einen Covid-Test für uns beide machen lassen, auch als Beleg für die vielen nun vor uns liegenden Grenzen. Gerade als ich die Gebühr dafür bezahlen wollte, kam jedoch Renate herzu und zeigte mir auf ihrem Handy eine neue Nachricht, dass man nun in Deutschland auf Autobahnen nach Grenzübertritt kostenfreie Teststationen eingerichtet hätte. Sogar der türkische Beamte am Schalter sagte, dass das wohl besser sei, und ich willigte ein. Wir kamen gut über diesen ersten Teil der Grenze, kauften noch etwas ein und steuerten dann auf die bulgarische Seite und damit die EU zu. Und was war wohl das Erste, was uns empfing? Noch vor der Passkontrolle musste unser Oldtimer durch eine Desinfektions-Sprühanlage (ich bezweifle sehr, dass diese Prozedur etwas genutzt hat) und dahinter dieser saß ein recht mürrischer, bulgarischer Mann und bedeutete uns, ca. 5 Euro für dieses Schauspiel zu bezahlen. Was muss wohl ein türkischer Autofahrer denken, der vielleicht zum ersten Mal in die EU reist, wenn er SO empfangen wird! Die Passkontrolle ging dann für uns mit deutschem und österreichischem Pass recht gut, allerdings wunderte man sich über unsere türkischen Kennzeichen. Das blieb auch an den weiteren Grenzen so. Die zu Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich lagen ja noch vor uns … 

Nach einer ersten Nacht innerhalb der EU (wir stellten uns mit unserem alten Wohnmobil an den Rand eines Maisfeldes) begegneten wir dann unserem zweiten kleinen Hindernis: Als wir nämlich nach dieser Nacht unsere Fahrt wieder aufgenommen hatten, bemerkte ich auf der Autobahn, dass eigentlich fast alle der uns entgegenkommenden Fahrzeuge trotz gutem Tageslicht ihre Scheinwerfer anhatten. „Man muss hier wohl auch am Tag mit Licht fahren“, bemerkte ich zu Renate hin und legte den alten Kippschalter für das Licht unseres VW um. Nur – danach konnte ich den Schalter nicht mehr richtig betätigen, der Mechanismus schien beschädigt! Was tun? Der Batterie würde dieser Dauerbetrieb beim Stillstand des Fahrzeuges in der Nacht sicher nicht guttun. Etwas beklommen fuhren wir weiter. Nach weiteren Kilometern fiel mir eine größere Raststätte ins Auge, die auch mit türkischer Schrift um Kunden warb. „Hier können wir uns verständigen und vielleicht Hilfe bekommen“ bedeutete ich Renate und fuhr ab. Unweit der zugehörigen Tankstelle bemerkten wir einen Mann, der, wie es sich später herausstellte, etwas Türkisch sprach und kleine Naturprodukte zu verkaufen suchte. Ich zog ihn zu unserem VW, zeigte ihm unser Missgeschick und fragte mit Worten und Gesten nach einem Mechaniker. Zwar kam er nicht mit einem solchen zurück, aber mit dem Zieh- Verschluss einer Cola- oder Limonadendose. Fragend blickte ich zunächst in seine Augen, verstand aber dann recht bald: Wir klemmten gemeinsam den Verschluss in den Spalt neben dem Kippschalter und – siehe da – das Licht war aus! Bis zum Ende unserer langen Fahrt war dies die Lösung unseres kleinen Problems, das sonst zu einem großen hätte werden können. Auch unser erstes Hindernis meldete sich im Verlauf unserer Reise immer wieder: Aus irgendeinem Grunde verlor unser Reifen hinten links immer wieder mal Luft. Mal mehr, mal weniger – manchmal auch gar nicht. Der Grund dafür blieb mir schleierhaft. Erst eine Reifen- Fachwerkstatt später in Österreich fand etliche Zeit danach den Fehler: Die alte Felge hatte eine Unwucht, die den Reifen bei weniger Luftdruck nicht ganz dicht schließen ließ. Bei hohem Luftdruck verlor der Reifen ganz wenig Luft, bei weniger Druck aber immer mehr. Bis dahin tat mir aber meine mitgenommene Fahrradpumpe gute Dienste. Wenn Sie sich also je im Sommer 2020 über einen merkwürdigen Mann gewundert haben, der sein großes Wohnmobil auf dem Rastplatz mit einer Fahrradpumpe aufpumpte, so wissen Sie jetzt, warum.

Übrigens begegneten uns während der langen Reise auf der zuletzt ja in den Medien vielzitierten „Balkanroute“ so gut wie keine Asylanten. Nur vor einer Landesgrenze kamen uns manche fremdländisch anmutenden junge Männer zu Fuß auf der Autobahn entgegen. Sie schienen eher auf dem Weg zurück. Sollte dies ein Wegzeichen für die nächste Zeit gewesen sein? Überhaupt hört man seit Covid nicht mehr viel von Asylantenströmen und -problemen. So ändern sich die Zeiten und die Medien. 

Nachdem wir auch die Grenzen nach Kroatien und Slowenien relativ gut passieren konnten (und Gott sei Dank niemand uns je aufforderte, die ganzen Kartons doch mal auszupacken!), blieb nun nur noch die in unser vorläufiges Zielland übrig: Österreich. Zuvor verständigten wir noch gute deutsche Freunde, die sich vor einiger Zeit ein Haus in Kärnten gekauft hatten und jetzt dort lebten. Wie würde wohl der Einzug „nach Hause“ für uns gelingen?  

 

Servus!

Langsam fuhr ich mit unserem Oldie auf die Staatsgrenze zu. Slowenien hatte uns zügig durch- und rausgelassen; vor uns lag nun der Schlagbaum nach Österreich. Das rot-weiße Wappen war bereits deutlich am Grenzposten zu sehen, auch die eher gelangweilt wirkenden Beamten auf der hier nun breiten Straße. Das mit der Langeweile änderte sich aber schlagartig, als einer der Beamten unsere türkischen Kennzeichen erblickte! Sofort zog er sich den Mund-Nasenschutz über, der zuvor wohl in der Tasche ruhte. Der noch junge Mann bedeutete uns links heran auf die Seite zu fahren. „Woher kommen Sie denn“ fragte er uns ohne große Umschweife und blickte auf die bereitgehaltenen Pässe. Österreichisch und deutsch, aber türkische Kennzeichen. Wohin wir denn fahren möchten war die nächste, natürlich berechtigte Frage. Unsere Antworten und EU-Pässe schienen ihn nur bedingt zufriedenzustellen, jedoch meinte er zum Abschied noch mit Nachdruck: „Fahren sie aber schnell und ohne Pause nach Hause“. „Das geht leider mit diesem Fahrzeug nicht“, entgegnete ich. Aber der junge Mann war wohl froh, uns los zu sein. Ich denke, er nahm dann auch bald wieder seine Maske ab … 

Unsere erste Nacht in neuem Gefilde verbrachten wir dann nach einer Fahrt über verregnete Landstraßen vor dem Haus unserer besagten Freunde in Kärnten. Sie hatten schon andere Gäste und wir ja mit unserem Wohnmobil eine gute und bereits sehr bewährte Bleibe für die Nacht. Ja, wir hatten uns richtig an unseren kleinen Lebens- und Schlafraum im Oldie-VW gewöhnt! Trotzdem waren wir froh und dankbar für eine geräumige Dusche und ein gutes Abendessen im Haus. Die anderen Gäste stellten sich zusätzlich noch als alte Bekannte aus früheren Zeiten heraus. Für das Aufhängen unserer Wäsche spannten wir am nächsten Morgen unsere mitgeführte Wäscheleine vom Oldtimer schräg zum Zaun unserer Freunde. Die Nachbarn werden sich vielleicht gewundert haben, welche Art Besucher unsere Freunde denn da wohl hätten. Dies blieb dann bei weitem nicht das einzige Mal, dass wir durch ein etwas anderes und eher untypisches Verhalten dem einheimischen Österreicher auffallen sollten… 

Nach einer weiteren Nacht in Kärnten (diesmal am Rande eines kleinen Sees) statteten wir vor der Weiterfahrt dann noch dem Zoll einen Besuch ab. Schließlich hatten wir einiges an Umzugsgut mit, und das musste ordnungsgemäß deklariert werden. Während wir auf den Bescheid warteten, pflückten wir auf dem Parkplatz fast überreife Pflaumen, die sonst wohl einfach hängen geblieben wären. Die Zollbeamten an den Fenstern waren wohl die nächsten, die sich über die ungewöhnlichen „Heimkehrer“ mit türkischen Kennzeichen wunderten.

Zügig ging es dann weiter Richtung Salzburg und einer erneuten Landesgrenze zu Deutschland. Ein Stück weit führt ja die Autobahn durch deutsches Territorium und da kam dann auch die im Internet angekündigte Covid-19-Teststation. Wir fuhren ab und ich meldete mich zum Test, wurde jedoch abgewiesen. Ich sei ja nicht in Deutschland, sondern in Österreich gemeldet, hieß es. Ganz froh war ich darüber nicht. Doch letztlich war es wohl auch eine Bewahrung; wir lasen später in der Zeitung, dass die Testergebnisse dieser Tage in Bayern nicht zugestellt worden seien, auch nicht die positiven… 

Bevor es zu unserem Ziel in Bludenz/Vorarlberg ging (dort hatte eine gute Freundin eine kleine Wohnung für uns vorbereitet), wollten wir noch eine letzte Nacht im Wohnmobil verbringen. Dazu fuhren wir kurz entschlossen in Kufstein ab (schon der Name gibt ja etwas her) und fragten an einer Tankstelle nach einem lohnenden Ziel. „Ein schöner See ist ganz in der Nähe, nur wenige Minuten von hier“ sagte uns ein Mann mit holländischen Kennzeichen. „Ich komme schon seit vielen Jahren hierher und dieser See ist mit das Schönste in der Gegend“. Durch diese Aussage stark ermutigt steuerten wir den Thiersee an. Was unsere holländischen Freunde jedoch nicht bedacht hatten: für ihren Pkw waren es wahrscheinlich wirklich nur wenige Minuten Fahrt, aber zwischen Tankstelle und dem See waren etliche Höhenmeter zu überwinden. So kletterten wir also mit unserem ohnehin stark beladenen Oldie inklusive mitgeführtem Grabstein am Rande der Alpen herum und waren froh, dann am Thiersee einen kleinen Campingplatz zu finden. Dass wir auch dort, nicht nur wegen unseres auffälligen Oldtimers, wieder nicht ganz ins Bild passten, muss ich wahrscheinlich jetzt nicht mehr erklären. Schon die Frage an der Rezeption, ob wir denn eine Reservierung vorzuweisen hätten, passte nicht ganz zu unserem ja immer noch recht orientalischen Denken. Was mochte da noch alles auf uns zukommen in nächster Zeit? 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135879
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Kultur Orientierung Sterbehilfe Lebenshilfe Migration Neubeginn Abtreibung Gender Liebe Wahrheit

Autoren

  • Hans-Jürgen Louven (Autor:in)

  • Viktoria Greuling (Illustrationen)

Hans-Jürgen Louven, geb. 1961 in Uerdingen/Rhein Lehrer für Sport+Biologie, Türkisch und evangelische Religion Mitglied im Netzwerk der Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte NRW Wohnsitze seit 1992 in der Schweiz, England, Österreich und der Türkei Seit August 2020 wieder in Vorarlberg/Österreich Hans-Jürgen ist verheiratet mit Renate, sie haben ein Kind Für Lesungen und Vorträge: verregnet@gmx.net
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Titel: VERREGNET