Lade Inhalt...

Christines Ring

von Elimar Böttcher (Autor:in)
270 Seiten

Zusammenfassung

1937 ist das Leben in der UdSSR vor allem als Russlanddeutscher alles andere als einfach. Der Nachname reichte aus, um verfolgt zu werden. Richard Müller ist dreizehn Jahre alt, als seine Eltern verhaftet werden und er von da an auf sich allein gestellt ist. Zum Abschied schenkt ihm seine Mutter ihren Ring als Andenken an sie. Sein Leben entwickelt sich immer mehr zu einem scheinbar aussichtslosen Kampf gegen ein übermächtiges System. Doch wozu Richard fähig ist, weiß er selbst noch nicht … Christines Ring wird zum Zeitzeugen dieser ebenso spannenden wie bewegenden Geschichte nach wahren Begebenheiten über Mut, Hoffnung, Freundschaft und Liebe.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für alles gibt es eine Stunde.

 

Alles, was unter dem Himmel geschieht, hat seine Zeit:

Zeit zum Gebären und Zeit zum Sterben;

Zeit zum Töten und Zeit zum Heilen;

Zeit zum Weinen und Zeit zum Lachen;

Zeit, sich zu umarmen und Zeit, sich loszulassen;

Zeit zum Lieben und Zeit zum Hassen;

Zeit des Krieges und Zeit des Friedens.

 

Prediger 3

 

Für Anna, Tim, Raphael und Thea

Kapitel 1

Ukraine, August 1937

Christine

Ein schreckliches Monster verfolgt mich. Das Gemeine an ihm: es ist unsichtbar. Manchmal kann ich es hören, so wie jetzt; vielleicht holt es sich sein nächstes Opfer. Meistens kommt es nachts, weil es das Licht hasst, aber womöglich ist es gierig genug, um jetzt auch tagsüber zu erscheinen. Wir nennen es der »Schwarze Rabe«.

Ich bin auf der Hut, versuche angestrengt die Gefahr auszumachen, sie einzuschätzen, ohne den Zeitpunkt oder die Richtung zu kennen, aus der sie droht. Mit geschärften Sinnen beobachte ich die Dorfstraße, halte Ausschau, wobei ich hoffe, es wird mich niemals finden.

Hinter dem Haus bin ich ein wenig geschützt. Faszinierend, wie die Regentropfen an der Fensterscheibe runter laufen. Als würde jeder von ihnen einer eigenen Bahn folgen. In den größeren sehe ich, wie die Umgebung sich darin spiegelt. Die Welt in einem Tropfen – und sie steht Kopf! So wie meine. Der Regen lässt nach, die Wolken geben den Blick auf die untergehende Sonne frei, die alles in einem wunderschönen gelb-orange färbt. Ich atme die frische Luft langsam und tief ein. Es riecht nach Regen und nach nassem Holz von der Hauswand. Dabei stelle ich mir vor, wie die Tropfen, die auf meinen Kopf fallen, meine Gedanken sortieren. Die störenden löschen sie aus und schwemmen sie weg, die angenehmen lassen sie wachsen und stärker werden. Diese Vorstellung gefällt mir, sie beruhigt mich in meinem Gedankenstrudel. Es ist ein so schöner und friedlicher Moment, dass ich ihn am liebsten für immer festhalten möchte. Nachdem der Regen aufgehört hat, bleibe ich weiter an der Wand angelehnt regungslos stehen, schließe die Augen und genieße die Wärme.

 

Aus einiger Entfernung höre ich das Brummen eines Motors und bin sofort wieder im »Hab-Acht-Modus«. Es gibt nur wenige Autos hier im Dorf und die gehören der Miliz, dem Militär oder der Regierung, was im Grunde alles dasselbe ist. Vielleicht kündigt das Motorgeräusch den ›Schwarzen Raben‹, die nächste Verhaftung an. Bin ich es, holt es jetzt mich? Beinahe wünsche ich mir das. Dann hätte diese Ungewissheit endlich mal ein Ende. Kein angespanntes Lauschen mehr nachts, kein Zusammenzucken bei vorbei fahrenden Autos. Und auch kein Herumrätseln mehr, ob und wann und vor allem weshalb ich verhaftet werden könnte. Wann habe ich eigentlich das letze Mal nachts durchgeschlafen? Daran kann ich mich nicht erinnern, muss schon eine Weile her sein. In letzter Zeit läuft es relativ gleich ab. Meistens schwirren mir so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich irgendwann total erschöpft bin und mir die Augen zufallen. Dann, mitten in der Nacht, wache ich auf und glaube Schritte vor der Haustür zu hören, oder ein Auto, das sich dem Haus nähert. Manchmal, wenn ich ein Motorgeräusch höre, halte ich den Atem an und liege regungslos da, mit der Hoffnung, dass es leiser wird. Ich stelle mir vor, wenn ich leise bin, verschwindet es vielleicht wieder. Selten schlafe ich wieder ein, meistens jedoch nicht, und wälze mich grübelnd von einer Seite auf die andere bis zum Morgen. Das muss aufhören, lange halte ich das nicht mehr aus.

Was ist bloß los? Seit die Partei1 allen ein besseres Leben versprochen und die Regierung übernommen hat, spielt das ganze Land verrückt. Es ist das reinste Irrenhaus. Alle haben Angst, es werden täglich Leute verhaftet; niemand weiß, wer der Nächste ist. Ich vermute, diese Ungewissheit ist eine neue Taktik der Partei, ihre Übermacht zu demonstrieren und Angst zu verbreiten, damit das Volk lenkbar bleibt. Und sie funktioniert sehr gut. Ähnlich war es auch bei der Hungersnot2 vor vier Jahren; ich hörte, es kam sogar zu Kannibalismus. Überall habe ich hungernde Menschen gesehen, die für ein Stück Brot alles getan hätten. Vor allem Kinder und Ältere traf es hart. Sehr viele sind damals gestorben, darunter auch meine Großeltern. Von der fürsorglichen Regierung gab es keine Unterstützung. Im Gegenteil: die Steuern wurden erhöht! Immer wieder sah ich bewaffnete Lebensmitteltransporte, welche die Ernteabgaben in die Hauptstadt brachten unter Transparenten wie: »Zum Wohle des Volkes – es lebe die Partei!« Dabei fuhren sie auf Straßen, die mit Hungertoten gesäumt waren. Diese Zeit war sehr anstrengend, denn obwohl es uns finanziell schon immer sehr gut ging, konnten wir trotzdem kein Essen kaufen, weil einfach keins da war. Der Garten wurde überlebenswichtig. Reinhard und ich haben es mit unseren beiden Jungs und unserem Kindermädchen irgendwie geschafft. Nach und nach wurde es dann langsam immer besser.

Ich denke an den Regen – er ist gut für die Ernte in unserem Garten, doch der ist mir im Moment egal.

Seit Reinhard verhaftet wurde, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Erst einen Monat ist es her. Die haben irgendwas von Spionage gesagt, laut Befehl Nr. 4393 oder so, und ihn dann einfach mitgenommen. Spionage?! Das ist absurd. Er hat als Rektor der Schule gearbeitet, in der ich Lehrerin war. Nebenbei hat er mathematische Berechnungen gemacht und diese veröffentlicht. Er ist ganz sicher kein Spion. Ich habe mit anderen Frauen gesprochen, die das gleiche Schicksal haben. Denen geht’s genauso – niemand weiß etwas, es gibt nur Gerüchte. Und die sind alles andere als hoffnungsvoll. Die Verhafteten würden gezwungen werden, Geständnisse zu unterschreiben für Vergehen, die sie nie begangen hatten, um sie anschließend verurteilen zu können. Ich weigere mich das zu glauben, aber die Wahrheit kenne ich nicht.

Nun bin ich mit meinen Söhnen zu meiner Schwägerin Emma umgezogen. Bestimmt hat Reinhard geahnt, dass wir an unserem alten Wohnort nicht mehr sicher waren und hat den Umzug zu seinem Bruder Karl in dieses Dorf organisiert. Wir haben gehofft, hier ruhiger leben zu können, obwohl die Partei überall ihre Leute hat. Dass wir auch hier nicht sicher sind, wurde sehr bald bestätigt. Mein Schwager wurde ein paar Tage nach Reinhard verhaftet.

 

Ich teile mir das Haus mit Emma. Das klappt einigermaßen, weil wir uns nur selten sehen, da sie wegen ihrer Arbeit früh weggeht und spät heimkommt. Ich weiß auch nicht, worüber ich mit ihr sprechen soll. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, denke ich an die Brosche, die ich von Reinhard zum Hochzeitstag bekommen habe. Vor ein paar Jahren haben uns Karl und Emma besucht. Nachdem sie weg waren, habe ich gemerkt, dass meine Brosche fehlt. Zwei Monate später habe ich sie bei Emma gesehen, die sie bei meinem Anblick eilends abnahm. Ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt. Zu ihrem Geburtstag habe ich ihr dann eine andere Brosche geschenkt und als sie die auspackte, forderte ich meine zurück. Seitdem traue ich ihr nicht über den Weg.

Heute wurde der Schulrektor mitten im Unterricht festgenommen. Ich war gerade neue Kreide holen, als August von dem Milizchef in Begleitung von zwei anderen bewaffneten Männern ins Lehrerzimmer geführt wurde. Im Nebenraum konnten sie mich nicht sehen, so habe ich ihr Gespräch mitbekommen.

»August, es tut mir sehr leid, aber ich muss dich jetzt mitnehmen.«

»Nein, das musst du nicht, die Entscheidung liegt bei dir.«

»Im Sandkasten spielt die Herkunft keine Rolle, doch das ist schon lange her und die Dinge haben sich geändert. Die wissen über mich und meine Familie genau Bescheid und wenn ich dich nicht mitnehme, dann …«

»Tja Sergej, ich habe auch eine Familie.«

»Ich weiß.«

Dann gingen sie. Also wenn selbst Freunde einander verhaften, dann muss die Partei ja mächtig Druck machen.

Ich weiß nicht, wie das in der Schule und auch insgesamt weitergehen soll. Auf jeden Fall habe ich genug zu tun und das ist gut so. Es lenkt mich von allen diesen Gedanken ab.

»Christine, was machst du denn noch draußen?«, höre ich Emma fragen. »Willst du etwa mehr als nötig auffallen?« Ich habe gar nicht bemerkt, dass es fast dunkel geworden ist. Die frische Luft tut so gut, ich kann gar nicht genug bekommen.

»Ich denke noch über ein paar Dinge nach, war ein anstrengender Tag in der Schule«, sage ich gedankenversunken.

»Na dann … Aber pass auf, dass nicht die Handschellen eines Tages klicken.« Ich beachte ihre merkwürdige Aussage nicht weiter.

 

Heute ist Donnerstag, morgen kommen meine Jungs aus dem Internat zum Wochenende nach Hause. Darauf freue ich mich die ganze Woche. Bei gutem Wetter machen wir oft ausgedehnte Ausflüge zum See oder in den Wald. Dann nehmen wir etwas zu Essen mit und bleiben den ganzen Tag weg, umgeben von der Natur und ihren friedlichen Geräuschen um uns herum. Diesmal habe ich eine Überraschung für sie: Karamell-Bonbons! Die gibt’s sehr selten, und wenn, dann werden die meisten unter der Hand verkauft. Meine Bekannte im Laden hat sie für mich zurückgelegt, so wie auch die warme Jacke für Richard zum Geburtstag. Dunkelbraun, besonders selten und schick, solche sind schwer zu bekommen, robust und bis an das Kinn zum Zuknöpfen. Die wird ihm zu groß sein, aber dafür hat er länger was davon. Die Jungs werden sich freuen, besonders Richard.

Mittlerweile ist es ganz dunkel, ich gehe wohl lieber rein und leg mich hin. Mir ist kalt, obwohl es mitten im Sommer ist. Drin mache ich kein Licht an. Ich habe Angst.


1 Partei: Kommunistische Partei der Sowjetunion, gegründet 1918 nach der Oktoberrevolution.

2 Hungersnot: 1932-33 in der Ukraine, 7 Mio. Tote, war Stalins Werkzeug, um die Ukraine zu unterdrücken. Die Landesgrenzen wurden geschlossen, die Abgaben erhöht.

3 Befehl Nr. 00439: Befehl des sowjetischen Geheimdienstes. »Operation zur Ergreifung von Repressionsmaßnahmen an deutschen Staatsangehörigen, die der Spionage gegen die UdSSR verdächtig sind.«

Kapitel 2

Ukraine, November 1937

Richard

Ich mache die Augen auf und bin sofort hellwach. Keine Ahnung aus welchem Grund, alles ist leise, ich höre nur das gewöhnliche Atmen und Schnarchen aus den Betten. Hier im Internat gibt’s nachts ständig Geräusche, nichts Besonderes; normalerweise drehe ich mich um und schlafe einfach weiter, doch diesmal ist es anders. Ich muss mich jetzt anziehen und nach Hause gehen, nein, nicht gehen – laufen! Eilig suche ich in der Dunkelheit meine Klamotten zusammen, was nicht so einfach ist, denn nach der allabendlichen Kleiderschlacht ist es nicht sicher, dass ich tatsächlich meine finde. Egal, Hauptsache ich habe was an. Es scheint, als hätte ich sogar was Passendes gefunden. Bei alldem versuche ich gar nicht leise zu sein, auch wenn jemand merkt, dass ich jetzt abhaue, ist mir das egal. Kurz überlege ich noch, ob ich Albert wecke, aber dann lass ich es sein; Erklärungen halten mich nur auf. Als ich den Flur entlang gehe, bereite ich mich schon darauf vor loszulaufen, sobald ich draußen bin. Ich öffne die Tür, trete ins kalte Dunkel hinaus und beginne zu laufen.

 

Ich renne so schnell, wie die Dunkelheit und der gefrorene Schlamm auf der Straße es zulassen. Meine Lunge brennt von der kalten Luft, die ich tief und schnell einatme, und im Mund habe ich einen metallenen Geschmack, aber langsamer zu laufen fällt mir nicht ein, ich muss mich beeilen. Immer wieder lausche ich, ob ein Motorgeräusch zu hören ist. Nein, noch nichts, dann weiter! Den Weg über das zerklüftete Gelände kann ich nur ungefähr erahnen, immer wieder stolpere ich über Steine, Stöcke oder Erdklumpen und falle hin. Ein großer Ast, der aus dem Boden ragt, stoppt meine beiden Füße abrupt. Mir bleibt der Atem weg, als ich in voller Länge auf dem Boden aufschlage. Einen kurzen Moment bleibe ich liegen, stöhne laut in den Ärmel und stehe wieder auf, um meinen Sprint fortzusetzen. Keine Ahnung, ob ich mir was aufgeschlagen habe, ich spüre nichts. Die Häuser vom Dorf werden erst sehr spät sichtbar, denn in keinem von denen ist Licht zu sehen, um nicht aufzufallen, bis auf eines: in unserem, dem einzigen im ganzen Dorf.

 

Als ich mich der Eingangstür nähere, höre ich Gesang aus dem Haus. Ich erkenne das Lied, das ich zu Hause oft gehört habe und das in mir viele angenehme Erinnerungen aufruft. Ich drücke den Türgriff und tauche in die Wärme des geheizten Zimmers ein. Als meine Mutter mich bemerkt, geht sie freudig auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Eine ganze Weile stehen wir schweigend da, während ich wieder zu Atem komme, dann sieht sie mir in die Augen und sagt: »Hallo Richard, ich habe auf dich gewartet. Ich wusste, dass du kommst.«

Sie wusste es? Woher? Ich weiß ja selbst nicht, was das soll, warum ich hier bin, was mich her getrieben hat. Natürlich freue ich mich Mama zu sehen, ich bin immer gerne nach Hause gekommen, aber so mitten in der Woche, nachts, ist das alles sehr ungewöhnlich für mich. Ich weiß, dass sie mir meine Verwirrung ansieht.

»Mama, ich war plötzlich so beunruhigt«, beginne ich, »und musste sofort los, um dich zu sehen.« Ich versuche gefasst zu bleiben, aber es gelingt mir nicht. »Wieso hast du denn noch Licht an? Das fällt doch auf! Und warum schläfst du noch nicht? Woher wusstest du, dass ich komme?«, frage ich aufgeregt.

Meine Mutter lächelt. »Erst eins, dann das Nächste.« Das sagt sie, wenn sie den Überblick behalten will. Ich ziehe meine Jacke aus, die ich zu meinem 13. Geburtstag geschenkt bekommen habe, und stelle dabei fest, dass sie bei meinen Stürzen leider etwas dreckig geworden ist. Mama nimmt sie, hängt sie auf und sagt zu mir: »Komm, setz dich, ich habe etwas für dich, etwas das du gern magst!« Dann holt sie eine Tüte von diesen Karamell-Bonbons aus der Schublade, meine liebsten, die es äußerst selten, meist zu besonderen Anlässen gibt. Ich habe mir meinen Teil immer rationiert – einen pro Woche, damit ich möglichst lange was davon habe.

Wir setzen uns an den kleinen Tisch und sie legt die Tüte mit verlockendem Rascheln vor mich hin.

»Hier, für dich!«

»Die ganze Tüte?!«

Mama sieht mich liebevoll und zugleich traurig an. »Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist, Richard, so kann ich dich nochmal sehen. Außerdem muss ich mit dir reden.«

»Nochmal sehen? Bevor was …? Ich verstehe das nicht.«

»Ich weiß, vieles verstehe ich momentan auch nicht, aber darum geht es jetzt nicht.« Sie wechselt den Platz, um mir gegenüber zu sitzen, fasst meine Hände und schaut mich traurig an. »Mir ist schon seit Tagen so schwer ums Herz, ich spüre eine Unruhe, als ob etwas passieren wird, und weiß nicht, wie es weitergeht.« Sie macht eine längere Pause, dann sagt sie: »Ich werde abgeholt.«

Darauf bin ich nicht vorbereitet, ich finde keine Worte, um etwas zu sagen. Es fühlt sich an, als ob mir alles genommen wird und ich nichts dagegen tun kann, nur zusehen. Ich werde wütend, mein Herz rast. Nach ein paar hektischen Atemzügen platzt es aus mir heraus: »Das können die doch nicht machen, warum, was haben wir getan?! Was hast du getan?!«

»Richard …«

»Erst Vater, jetzt dich, was soll das? Sie dürfen dich nicht …«

»Richard …«

»Vielleicht ist es ja bloß eine Überprüfung? Nur eine Personenkontrolle? Die stellen nur ein paar Fragen und lassen dich wieder gehen.«

»Das hoffe ich wirklich sehr.«

»Weißt du denn wann?«

»Nicht genau, bald.«

Eine Weile ist es still, nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören. Meine Mutter seufzt tief. »Wir haben auf unseren Ausflügen manchmal darüber gesprochen und wussten, dass es geschehen kann«, sagt sie leise.

Ja, ich erinnere mich, ich habe immer gehofft, dass so etwas nie passiert.

»Den Grund kenne ich nicht, aber eins weiß ich: die Partei demonstriert ihre Macht, um allen zu zeigen: niemand hat auch nur die geringste Chance gegen sie. Denen geht es nicht um die Menschen im Land, sondern vor allem um sich selbst und um völlige Kontrolle. Mir haben viele Kollegen erzählt, sie wären beigetreten, weil sie selbst Angst haben und überleben wollen.«

»Und wenn du auch beitrittst? Vielleicht lassen sie dich dann in Ruhe?«

»Bei unserer Herkunft und meiner Ausbildung ist es nicht möglich, außerdem würde ich für sie arbeiten müssen und das kommt nicht in Frage. Bisher wurde ich noch geduldet, aber jetzt werde ich als Lehrerin wohl zu gefährlich – ich könnte die Schüler antiparteiisch beeinflussen.«

»Das ist doch Blödsinn! Jeder kann selbst entscheiden, was er glaubt.«

»Sollen die Leute aber nicht, das wäre zu gefährlich, zu unsicher, schlecht lenkbar. Sie wollen mit Gewalt ihren Willen durchsetzen, damit wir keine andere Wahl haben als das zu glauben und zu tun, was die Partei sagt. Und sie werden alles und jeden aus dem Weg räumen, der ihre Überzeugungen nicht teilt und anderer Meinung ist.«

Sie hört sich traurig und enttäuscht an, wie sie das sagt. Doch dann wird ihre Stimme entschlossener: »Aber das stimmt einfach nicht! Ich habe immer eine Wahl! Ich kann zwischen Treue und Verrat, Hass und Liebe entscheiden, zwischen Freude und Trauer, Aufgabe und Kampf, Wahrheit und Lüge. Niemand kann mir meinen Glauben nehmen. Richard, auch dir nicht, wenn sie es uns auch verbieten und uns ihre Überzeugungen lehren. Selbst wenn die mich ins Gefängnis stecken, meine Freiheit können sie mir nicht nehmen.«

Meine Mutter hat meine Hände losgelassen, um ihren Kopf zu stützen, indem sie die Hände vor das Gesicht nimmt und sich die Augen reibt. Ihre langen, gewellten, schwarzen Haare fallen ihr über die Schultern. Sie ist eine sehr schöne Frau mit weichen Gesichtszügen, dichten schwarzen Augenbrauen und braunen Augen, die bei Begeisterung funkeln. Ihre Nasenspitze bewegt sich zusammen mit der Oberlippe, besonders bei Worten mit »B, M und P«, und mir fallen ihre – auch ohne Lippenstift – roten Lippen auf. Wenn sie lacht, bilden sich kleine Falten an ihren Augen und die Zähne strahlen.

Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich jemals über etwas beklagte. Sie war immer lebensfroh und aktiv, doch jetzt sieht sie müde aus und ich glaube nicht, dass es an der Uhrzeit liegt.

»Ich habe noch etwas für dich!«, sagt sie plötzlich, steht auf und geht ins Schlafzimmer. Nach einem Augenblick kommt sie mit einer roten Lederschatulle zurück, auf deren Deckel eine goldene Krone eingeprägt ist. Diese Schatulle habe ich noch nie gesehen, was mag das sein? Sie setzt sich wieder an den Tisch, stellt die Schatulle vor sich hin und öffnet sie ganz sachte mit den Zeigefingern. Der Inhalt ist für sie offensichtlich sehr wertvoll, denn sie schaut ganz gebannt hinein. Nach einer Weile dreht sie die Schatulle um, damit auch ich sehen kann, was darin ist.

Es sind zwei goldene Ringe mit Edelsteinen, einer rot, der andere blau. Von innen ist die Schatulle mit schwarzem Samt ausgekleidet.

»Ich möchte dir den Ring mit dem Rubin schenken. Und den mit dem Saphir bekommt Albert, bitte nimm den für ihn mit. Ich möchte, dass die Ringe für euch eine Erinnerung an mich und an unser Zuhause sind.«

»Sprich nicht so, als wäre das ein Abschied, Mama! Du kommst bestimmt wieder nach Hause.«

»Ja, vielleicht, doch wenn sie kommen, gibt es garantiert eine Durchsuchung und dabei wird Schmuck grundsätzlich konfisziert. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass sie die Ringe finden. Außerdem hättet ihr beide die sowieso später bekommen.«

Wie immer hören sich die Argumente meiner Mutter sehr überlegt und vernünftig an, also versuche ich erst gar nicht sie umzustimmen. Sie hat Recht: wenn die Schatulle bei einer Durchsuchung gefunden wird, dann ist sie samt Inhalt für immer weg. Ich habe nicht vor, die Ringe diesen Dieben zu überlassen! Trotz des kostbaren Geschenks bringe ich nur ein heiseres »Danke« heraus, weil ich weiß, was der Grund dafür ist.

»Und noch was, Richard: diesmal haben wir für den Winter gut vorgesorgt«, erklärt Mama mir weiter, »wir haben genug Kartoffeln, Mehl, eingelegtes Gemüse, frische und getrocknete Äpfel, sogar Fleisch von unserem Schwein. Ich bin froh, dass wir dieses Jahr endlich wieder Vorräte haben, es war nicht immer so. Nur für den Fall, dass ich länger wegbleibe – Emma weiß drüber Bescheid, wir haben es zusammen vorbereitet und gerecht aufgeteilt. In der Abstellkammer links stehen ihre Sachen, rechts im Regal unsere.«

»Ich mag sie nicht«, sage ich leise.

»Ich weiß, ich auch nicht besonders. Aber sie hat uns in ihrem Haus eine Unterkunft geboten, und das hätten wenige gemacht.«

Das stimmt wohl, in letzter Zeit habe ich ganz viele Menschen umherstreifen sehen, mit einem Stock über der Schulter, an dem ein Bündel mit ihren Sachen hing. Das sind Enteignete oder Flüchtlinge, die auf der Suche nach einer Bleibe sind, hat mir Mutter mal erklärt. Die meisten Leute wollen solche Menschen nicht aufnehmen, weil sie Angst haben ausgeraubt, oder wegen Unterbringung Flüchtiger verhaftet zu werden. So richtig habe ich es nicht verstanden, was das für Leute sind, aber zwei Tatsachen sind klar. Erstens: sie haben alles verloren, was sie hatten, und zweitens: sie wissen nicht wohin. Was Tante Emma angeht, so hätte sie uns nach Papas Verhaftung nicht aufnehmen müssen, hat sie aber getan.

»Ich habe noch eine Schwester, Johanna, die mit ihrem Mann Martin etwa 120 km südlich von hier in einem Haus am Strand des Schwarzen Meeres in Mariupol wohnt. Falls du mal in die Lage kommst, ein Quartier zu brauchen, kannst du zu Johanna gehen, sie wird dich gerne aufnehmen.«

»Ich mag nirgendwo anders als hier und mit niemandem außer dir wohnen«, sage ich, auch wenn ich jetzt gerne meine Tante am Meer besuchen würde.

»Richard, komm, lass uns schlafen gehen. Ich finde, du brauchst bei dieser Dunkelheit nicht mehr zum Internat zurückgehen.«

»Mama, darf ich bei dir im Bett schlafen?«, frage ich etwas kleinlaut. Hätte Albert das gehört, er hätte mich ausgelacht, aber er ist nicht da und irgendwie brauche ich jetzt ganz dringend ihre Nähe.

»Aber natürlich«, antwortet meine Mutter erfreut und zwinkert mir zu: »Ich sage nichts.«

Sie macht das Licht aus und sofort kehrt eine angenehme, dunkle Stille ein, als würde eine unsichtbare Schutzglocke sich um uns legen. Am liebsten würde ich jetzt für immer hier bleiben, den Rest einfach da lassen, wo er grade ist. Genau hier und jetzt will ich sein.

 

Als wir im Bett liegen, malt Mama mit ihren Fingern Kreise in meinen Haaren, so wie früher, als ich noch kleiner war. Das tut unheimlich gut, es beruhigt mich, dann weiß ich: sie ist da. Der Sprint nach Hause und die Aufregung des Abends haben mich ganz schön müde gemacht und jetzt merke ich, wie mir die Augen zufallen und meine Gedanken sich in drehenden Kreisen verabschieden …

»Richard, Richard, steh auf! Du musst los!«, rüttelt meine Mutter mich wach. Ich höre sie wie durch einen Tunnel und denke: nein, ich will noch nicht aufstehen und zur Schule gehen, dabei drehe ich mich auf die andere Seite. Aber etwas lässt mich aufhorchen und wach werden. Ein Motorgeräusch! Sehr nah – in unserem Hof! Ich mache die Augen auf, aber sehe nur Umrisse in der Dunkelheit.

»Richard, du musst weg!«, wiederholt Mama und hält meine Jacke in ihrer Hand; ich höre etwas Rascheln. »Sie sind da, Richard, es ist so weit! Los, beeil dich!« Ich setze mich hin und meine Mutter legt mir die Jacke um die Schultern, wobei sie mich gleichzeitig vom Bett hochzieht. Das Motorgeräusch verstummt.

»Ich gehe nicht weg! Ich bleibe bei dir!«, sage ich.

»Hör zu!«, ihre Stimme klingt sehr ernst. »Wenn du hier bleibst, nimmt der ›Schwarze Rabe‹ dich auch mit. Und ich habe keine Ahnung, ob sie uns wieder gehen lassen. Du bist alt genug, um alleine zu überleben. Versuch zu meiner Schwester Johanna ans Meer zu kommen, sie ist nett und wird dir helfen. Wir haben keine Zeit mehr«, meine Mutter hält kurz inne. »Sei vorsichtig, vertraue niemandem.« Sie gibt mir einen Kuss. »Ich habe dich sehr, sehr lieb, Richard!« Ganz fest schließen sich ihre Arme um mich. »Los, geh jetzt durch den Hintereingang und lauf weg.« Sie schiebt mich zur Hintertür, die in den Garten führt.

Ich höre ein Klopfen an der Tür.

»Ich will aber nicht ohne dich weg! Komm, wir hauen zusammen ab!« Wieso bin ich nicht schon früher darauf gekommen?! »Los, hol deinen Mantel und komm!«

»Genossin Müller, öffnen Sie die Tür!«, dröhnt es von draußen.

»Ich kann nicht mit dir mitkommen, ich stehe auf ihrer Liste, sie werden mich überall finden. Außerdem bist …«

»Christine Müller, öffnen Sie sofort die Tür, das ist ein Befehl!«, unterbricht sie die Stimme von draußen.

»… bist du ohne mich schneller und sicherer. Du bist ein sehr kluger Junge, du wirst es schaffen. Ich verspreche dir, sobald die mich wieder gehen lassen, werde ich nachkommen.« Meine Mutter drängt mich weiter zur Tür, während sie spricht. Ich bin schon fast draußen, aber ich brauche noch eine letzte Umarmung.

Plötzlich wird die Eingangstür mit einem lauten Knall aufgeschlagen und ich werde sogleich vom Scheinwerferlicht geblendet.

»Niemand bewegt sich! Alle bleiben hier!«, schreit eine Stimme, dann geht das Licht an.

Kapitel 3

Ukraine, November 1937

Drei Männer in Uniformen stehen in unserem Haus und machen mir Angst. Sie tragen schwarze Lederstiefel, schwarze Hosen, olivbraune Jacken mit roten Abzeichen und braune Ledergürtel mit dünnen Schulterriemen. Auf dem Kopf schwarze Schirmmützen mit rotem Rand. Zwei von ihnen sind mit Maschinenpistolen bewaffnet, die sie im Anschlag halten. Als sie sehen, dass wir keine Gefahr darstellen, lassen sie ihre Waffen sinken. So sieht der gefürchtete ›Schwarze Rabe‹ also aus.

 

Ein unangenehmes Gefühl steigt in mir auf, als wäre ich ausgeliefert und kann nichts dagegen machen. Ich schaue zu meiner Mutter um ihre Reaktion zu sehen. Sie stellt sich beschützend vor mich, dabei fasst sie mich an der Hand und ich merke, dass diese kalt und feucht ist. Ich sehe es ihr zwar nicht an, aber sie wird auch Angst haben, so wie ich.

 

Der in der Mitte schaut meine Mutter misstrauisch an. »Sieht aus, als wolltet ihr gerade einen nächtlichen Spaziergang machen.«

»Nein, nein, mein Sohn wollte sich gerade auf den Weg machen«, erwidert meine Mutter. »Er hat noch einen weiten Weg bis zur Schule.«

»Ich weiß«, antwortet der Mann, »nach Bung ins Internat. Er braucht heute nicht hinzugehen, ist entschuldigt.«

Woher weiß er das denn? Macht ihn nicht gerade sympathischer. Am liebsten würde ich dem starken Drang in mir nachgeben und wegrennen.

»Wenn Sie Widerstand leisten, Genossin Müller, sehe ich mich gezwungen Gewalt anzuwenden«, warnt uns der Mann.

»Wir leisten bestimmt keinen Widerstand«, sagt meine Mutter ruhig.

»Ich bin der Milizchef Dobrenko«, sagt der Mann in der Mitte, wobei er seine Mütze abnimmt. »Genosse Lukenko«, er zeigt nach links, »und Genosse Palov«, rechts von ihm. Dobrenkos graue Haare an den Schläfen verleihen ihm Respekt und ohne Mütze sieht er schon freundlicher aus. Sein Aussehen erinnert mich an einen schwarz-weißen Hund. Palov trägt einen breiten Schnurrbart, der seine Oberlippe verdeckt. Er schaut müde drein, mit leicht geschlossenen Augen sieht er aus, als möchte er schnell nach Hause ins Bett. Der Kautz. Lukenko ist pummelig mit kleinen, schlitzförmigen Augen und einer spitzen Nase. Er sieht listig aus, wie ein fetter Fuchs, dem traue ich jetzt schon nicht. »Wir führen eine Routinekontrolle durch. Es gibt keinen Grund zu Beunruhigung«, sagt Dobrenko betont leise.

Diese Aussage macht mich noch unruhiger als ich ohnehin schon bin. Ich schaue auf die Wanduhr, die kurz nach drei zeigt. Na klar, Routinekontrolle. Was macht man denn auch sonst um diese Zeit?!

Dobrenko nickt Lukenko zu, der daraufhin seine Waffe schultert und einen Stift mit einem Block aus der Tasche holt. Die beiden fangen an, eine Liste mit unseren Gegenständen zu erstellen. Palov bleibt im Eingangsbereich stehen, als Aufpasser. Das Ganze wirkt eingeübt, so als hätten die drei das schon öfter gemacht. Ich beobachte Dobrenko und Lukenko, wie sie unsere Sachen durchsuchen. Sie machen Schubladen auf, öffnen Schranktüren und durchwühlen den Kleiderschrank. Immer wieder schauen sie auch hinter den Möbeln, untersuchen den Fußboden und begutachten die Wände – sie suchen nach Verstecken; wir haben keine, soweit ich weiß …

 

Lukenko schaut auch hinter den Teppich an der Wand, den Mama vor zwei Jahren selbst gemacht hat. Abend für Abend saß sie auf dem Sofa, hat diesen Teppich gestickt und dabei ein fröhliches Lied gesungen. Sie hat ohne Vorlage einen Hirsch gestickt, der an einem Bergbach Wasser trinkt. Jedes Mal, wenn ich diesen Teppich sehe, erinnere ich mich daran. Das Lied war das gleiche, welches ich vorhin von draußen gehört habe.

Mich macht es wütend zu sehen, wie wildfremde Männer unser Eigentum durchwühlen. Lukenko holt aus dem Schrank ein Fotoalbum heraus, blättert es schnell durch, wobei ein Foto heraus fällt, auf das er sogleich drauftritt. Er macht noch nicht mal die Schubladen und Schranktüren zu, in denen er nachgesehen hat, lässt sie halb offen. Aber ich sage nichts, weil ich nicht weiß, was dann passiert, stehe nur wie gelähmt da.

Meine Mutter sieht dem Geschehen ruhig und regungslos zu. Was soll sie auch unternehmen? Trotzdem bemerke ich auch bei ihr eine Anspannung im Gesicht, an den Augenbrauen. Sie ist bestimmt genau so wütend wie ich und versucht es zu verbergen, was ihr aber immer weniger gelingt. Entweder merken die Männer es nicht, oder es ist ihnen egal.

Lukenko öffnet eine Schublade in unserem Wandschrank, hebt etwas an und pfeift laut. »Sergej, komm her, schau dir das an!«

Dobrenko geht zu seinem Kollegen und schaut in die Schublade. »Na, das hat sich auf jeden Fall gelohnt«, sagt er zufrieden. Erst holt er unsere weiße Tischdecke heraus, wirft sie auf den Boden, danach drei Stapel Geldscheine, die er sorgfältig zurecht klopft und alle nebeneinander auf den Tisch legt. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viel Geld haben. Lukenko setzt sich an den Tisch und zählt die Scheine, das Ergebnis schreibt er auf die Liste, die er vom Block abtrennt und zusammen mit dem Geld in einen Beutel steckt. Die Durchschrift gibt er meiner Mutter.

 

Mama und ich sehen uns an. Sie lächelt kaum merklich und nickt mir mit einem langen Blinzeln zu, so als wollte sie mir sagen: es ist in Ordnung, mach dir keine Sorgen, das ist nur Geld. Ihre Reaktion beruhigt mich ein wenig. Jetzt hoffe ich, dass die Männer einfach gehen, nachdem sie das Geld gefunden haben.

 

Der Milizchef schaut meine Mutter an und sagt: »Genossin Müller, laut NKWD1-Befehl Nr. 439 sind wir dazu verpflichtet, das gefundene Geld zu konfiszieren. Verdächtige Personen sind vorerst zu verhaften, um genauere Hintergründe zu untersuchen oder Unklarheiten zu beseitigen. Wir werden Sie und ihren Sohn mitnehmen.«

»Nein! Nicht meinen Sohn!«, reagiert meine Mutter nervös und drückt ganz fest meine Hand, sie zittert. »Sie haben das Geld, nehmen Sie, was immer Sie sonst wollen, ich komme mit, aber bitte lassen Sie meinen Sohn gehen!« Ihr erschrockener Blick lässt auch mich nach Luft schnappen. So aufgeregt habe ich sie noch nie erlebt.

»Das kann ich nicht machen, ich werde euch beide mitnehmen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Genossin Müller, wir werden uns gut um ihn kümmern«, antwortet Dobrenko.

Wer soll sich um mich kümmern? Die? Was soll das heißen? Ein ungutes Gefühl beschleicht mich.

»Ich komme mit dir mit, Mama. Und ich bleibe bei dir, was auch immer passiert«, sage ich ängstlich. Sie dreht sich zu mir um, schaut mich traurig an und umarmt mich ganz fest.

»Ich rate Ihnen, eine Jacke anzuziehen, Sie werden sie brauchen, es ist kalt draußen«, sagt Dobrenko.

»Wo bringen Sie uns hin?«, fragt meine Mutter.

»Nach Jenakijewe.«

»Ich möchte, dass mein Sohn bei mir bleibt.«

»Sie sind nicht in der Position Forderungen zu stellen, Genossin Müller.«

»Ich weiß, es ist meine Bitte an Sie, von Mensch zu Mensch.«

»Ich verspreche nicht, dass es klappt.«

»Wenn Sie es versuchen, bin ich Ihnen dankbar.«

»Wir werden sehen. Los jetzt, steigt ein!«

Zusammen gehen wir nach draußen zum Auto. Es ist ein schwarzer, kleiner Lastwagen mit einem geschlossenen Aufbau, in dem Sitzbänke eingebaut sind. Unter Aufsicht steigen wir ein und einer von den dreien setzt sich mit seiner Waffe zu uns, ich glaube es ist Palov. Die Plane wird mit nur einer Schnalle festgemacht. Die anderen beiden steigen vorne ein und wir fahren los. Der ›Schwarze Rabe‹ bringt uns weg.

Während der Fahrt werden wir ganz schön durchgeschüttelt, weil der Fahrer manchen Schlaglöchern ausweicht und dabei in andere hineinfährt. Wir schweigen, halten uns an einander fest, damit wir nicht umfallen.

»Mama, was passiert jetzt mit uns?«, frage ich nach einer Weile.

»Ich weiß es nicht.«

Das klingt so gar nicht nach ihr. Und es ist nicht was sie sagt, sondern wie. Da ist keine Hoffnung in ihren Worten, kein Mut, keine Stärke. Ich bin verärgert und sauer: verärgert über die ausweglose und demütigende Situation und sauer auf meine Mutter. Sie versucht noch nicht einmal, etwas zu unternehmen. Sie tut so, als könnten die alles mit ihr machen. Dabei hat sie vor einigen Stunden vom freien Willen erzählt, von Freiheit! Jetzt sehe ich nichts davon!

 

Erst ist es nur ein Gedanke, doch dann entsteht immer deutlicher ein Bild in meinem Kopf. Ich ziehe meine Mutter am Ärmel und flüstere ihr zu: »Der Wagen fährt langsam, hier ist nur eine Wache und es ist stockdunkel. Die Plane ist in der Mitte nur mit einer Schnalle gesichert. Ich lenke ihn ab, du springst vom Wagen und ich hinterher. Weil es so schaukelt, wird der Typ nichts treffen, selbst wenn er schießt. Wir laufen weg und verstecken uns bis …«

»Nein!«, sagt sie kurz.

»Aber das ist unsere Möglichkeit, es könnte funktionieren und einen Versuch ist es wert.«

»Ich habe nein gesagt, sei still!«, zischt sie.

»Ich verstehe dich nicht! Du hast von Freiheit gesprochen und dass die uns keiner nehmen kann! Und jetzt willst du sie nicht?!«

Sie sagt nichts. Palov scheint unser Streitgespräch nicht zu interessieren, er ist damit beschäftigt sich festzuhalten, um nicht von der Bank geworfen zu werden.

»Alles hat seine Zeit, Richard. Und jetzt ist nicht die Zeit zum Abhauen. Wir können nirgendwo hin, niemand wird uns aufnehmen.« Sie legt ihren Arm um meine Schultern, aber ich stoße ihn wütend weg.

»Wir können versuchen, zu deiner Schwester ans Meer zu kommen! Irgendwie schaffen wir das schon!«

»Ich habe kein Geld, zu Emma kann ich auch nicht zurück. Und bei Johanna wird das so weiter gehen, es werden andere Leute kommen und dasselbe sagen. Es ist überall so, im ganzen Land. Richard, versteh doch, ich will nicht weglaufen. Denn wenn die uns dann kriegen, erschießen die uns einfach. Das werde ich dir nicht antun.«

 

Ich bin immer noch wütend und sage einfach gar nichts mehr.

 

Nach ungefähr einer halben Stunde Fahrt sind wir in Jenakijewe angekommen und halten an. Wir stehen vor einem alten schiefen Haus mit vergitterten Fenstern, das direkt an der Straße liegt. Der Hof ist von einem etwa fünf Meter hohen Eisentor versperrt, auf dessen Spitzen ein recht eindeutiger Schmuck thront: Stacheldraht. Nach links und rechts verläuft eine circa drei Meter hohe Mauer, ebenfalls mit Stacheldraht – ein Gefängnis.

Ich brauche einen Moment, um das zu begreifen: sie werden uns einsperren. Jetzt tut es mir noch mehr leid, dass wir die Möglichkeit zur Flucht nicht genutzt haben.

»Gehen wir«, sagt Dobrenko, und geht voran. Die anderen beiden folgen uns.

Als wir uns dem Tor nähern, lese ich ein Schild darauf: »Das Betreten des Geländes ohne Anmeldung ist strengstens untersagt. Bei Zuwiderhandlung wird ohne Vorwarnung geschossen«. Was für einen Sinn hat wohl dieses Schild, wenn bei verschlossenem Eingang niemand das Gelände ohne Anmeldung betreten kann? Die Stimme des Wachmanns lenkt mich von meinen Gedanken ab.

»Wer ist da?«

»Hier ist der Chef der Miliz Sergej Dobrenko aus Brunwald mit zwei Verdächtigen.«

»Ach, hallo Sergej, sag das doch gleich! Alles klar, ich mache auf.« Das Tor quietscht beim Öffnen, so wie Eisentore es tun.

»Na, wie sieht’s aus? Was machen Frau und Kinder?«, fragt er.

»Denen geht’s gut«, antwortet Sergej.

»Gut, sehr gut.« Der Wächter schließt hinter uns das Tor und geht voran zum Gebäude. Es kommt mir so vor, als ob ich mir von der Seite aus zuschaue. Mit jedem Schritt, den ich näher zum Gefängnis mache, klopft mein Herz lauter und der Wunsch wegzurennen wird immer stärker. Aber ich kann nichts machen, ich bin gefangen und habe keine andere Wahl, als mich dem zu ergeben, was mich erwartet.

Vor dem Eingang gehen wir zwei Stufen hoch, der Wachmann öffnet die Tür und wir treten in einen dunklen, schmalen und kalten Flur ein. Ein Gestank nach Zigaretten, alten feuchten Wänden, Schweiß, Urin und Blut schlägt mir entgegen.

»Also Sergej, grüß deine Frau. Ich muss wieder zurück, heute geht es hier zu wie auf einem Bahnhof«, verabschiedet sich der Wachmann. »Ach, Michail hat heute nicht die beste Laune … Also dann …«

»Ja, mach ich. Bis dann«, antwortet Sergej.

Er geht den Flur entlang bis zu der einzigen Tür an der linken Seite, öffnet sie und bedeutet uns hinein zu gehen.

Das kleine Zimmer mit den kahlen Wänden ist total zugeraucht. An der Seite stehen zwei Holzstühle, in der Mitte ein Schreibtisch mit einer Lampe darauf, die durch den Qualm einen hellen Kegel auf den Tisch wirft. Die glühende Zigarette im Aschenbecher verrät, dass jemand bald zurückkommt. Links an der Wand hängt ein allgegenwärtiges Portrait von Josef Stalin, dem obersten Führer der Partei. Darauf ist er in seiner Uniform zu sehen, wie er zielstrebig nach rechts oben ins vielsagende Nichts blickt, wie so oft dargestellt. In diesem Moment präge ich mir sein Bild tief ein.

»Setzt euch«, sagt Dobrenko zu uns, indem er auf die Stühle deutet. Gleich darauf kommt aus dem Nebenraum ein großer, dicker Mann mit Glatze und einem Schnurrbart herein, Mitte 50. Er sieht uns missmutig an und setzt sich mit lautem Seufzen an den Tisch. Wahrscheinlich der Gefängnisdirektor. Die Kröte.

»Grüß dich, Michail, ich habe hier zwei Verdächtige nach 439«, sagt Dobrenko.

Der Dicke schweigt, sieht erst uns an, dann Dobrenko und schnaubt dann mit tiefer, heiserer Stimme heraus: »Junge, Junge, Junge, was glaubt ihr eigentlich, was das hier ist, ein Hotel?!«

»Glaubst du etwa, ich suche nur aus Langeweile Leute zusammen? Ich tue auch nur meine Arbeit und führe Befehle aus«, rechtfertigt sich Sergej.

»Ach ja?! Na wunderbar! Dann lasst uns doch alle einfach nur unsere Arbeit machen!«, schreit Michail. »Aber erklär mir doch, wie ich in einem Gefängnis mit 150 Plätzen 350 Leute unterbringen soll? Meine Arbeit ist längst getan, was ich jetzt noch mache ist Zauberei!«

»Ich brauche es dir nicht zu erklären, das ist deine Aufgabe.«

»Wir sind überfüllt, verstehst du das?«, kontert Michail und hebt dabei seine Arme. »Ich habe keinen Platz mehr!«

»Na, das ist doch kein Problem, dann gehen wir wieder«, sage ich und wünsche mir sofort meine Worte zurück.

»Halts Maul, Rotznase! Wer spricht denn mit dir?!«, schreit die Kröte mich an.

»Da hat er aber nicht ganz Unrecht«, sagt Dobrenko. »Wir können wieder gehen, aber dann erklärst du deinem Vorgesetzten, dass du zwei Verdächtige nach 439 nicht untergebracht hast.«

Michail sieht Dobrenko eine Weile böse an. »Alle sind hier nach 439. Welche Kategorie«, fragt er Lukenko forsch.

»Voraussichtlich Kategorie I, Genosse«, antwortet der Fuchs.

»Wie jetzt, beide?«, wundert sich die Kröte.

»Na ja, bei dem Jungen kann auch Kategorie II in Betracht gezogen werden«, erwidert Lukenko.

Ich habe keine Ahnung, was Kategorie I oder II bedeutet und welche schlimmer ist, aber beide hören sich für mich nicht gut an.

»Die Tatsache, dass beide aus demselben Grund verdächtig sind, erfordert, dass sie zusammen bleiben«, sagt Dobrenko. Er schaut kurz zu meiner Mutter herüber. Sie sitzt da und schaut auf den Boden direkt vor sich. Ihre schwarzen Haare fallen ihr seitlich vom Gesicht und bilden einen Sichtschutz, den sie jetzt bestimmt gern hat. Sie hält immer noch meine Hand. Jetzt schaut sie kurz auf, sieht ihn an, blickt zu mir herüber und gleichzeitig spüre ich ihren Händedruck.

»Einen Dreck erfordert das! Ich weiß, was zu tun ist, das muss mir niemand erklären!«, motzt der Direktor. »Junge, Junge, Junge. Wo findet ihr die nur alle?«, fragt er. Ohne eine Antwort abzuwarten, wendet er sich zu uns: »Eigentlich muss ich euch trennen, aber weil dieses Gefängnis überfüllt ist, werdet ihr erst einmal zusammenbleiben. Die Anhörung ist morgen, dann sehen wir weiter. Pawel!«, ruft er nach einem Wärter.

Ein Mann in einer olivbraunen Uniform und einer Pistole im Halfter taucht in der Tür auf.

»Genosse Direktor!«, meldet er sich bereitwillig.

»Einsperren«, knurrt Michail.

»Aber Genosse Direktor, wir haben absolut keinen …«

»Halt die Klappe, das weiß ich selbst! Was ist heute nur mit allen, dass die mich belehren?! Sperr die in die Kammer!«

»Aber … Genosse Direktor, da ist doch kein …«

»Schnauze, du Esel! Du bringst die jetzt in die Kammer verdammt noch mal, oder ich sperre dich dort mit ein! Klar?!« So langsam verliert die Kröte die Geduld. Vielleicht auch die Kontrolle.

Pawel wagt nicht mehr, etwas zu sagen. Er zeigt uns mit einem Kopfnicken, dass wir mitkommen sollen und bringt uns zu einem Raum, der wohl früher als Abstellkammer gedient hat. Wir gehen hinein und Pawel verschließt hinter uns die Tür.


1 NKWD: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten. Es war die Geheimpolizei und der Geheimdienst.

Kapitel 4

Ukraine, November 1937

Als erstes umarmen wir uns, halten uns fest und sagen gar nichts. Nach einer Weile haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Licht gibt es nicht. Es ist kalt, fast so wie draußen. An den Seiten stehen zwei Regale, die abgesägt wurden und jetzt als Schlafunterlage dienen sollen. Decken oder Kissen gibt es nicht, Waschbecken und Wasser auch nicht. In der Ecke steht ein Blecheimer, wurde hier wohl vergessen. Ganz oben gibt es ein schmales Fenster, das war’s.

Wir setzen uns auf ein Gestell, Mama legt ihren Mantel um meine Schultern. Ich ziehe meine Jacke aus und lege sie uns um die Beine. So ist es etwas wärmer.

»Mama, warum wolltest du nicht weglaufen? Was meintest du mit ›das werde ich dir nicht antun?‹«, bin ich neugierig.

Sie schweigt einen Moment, als ob sie überlegt, was sie sagen soll.

»Du bist wirklich mein Sohn, gibst keine Ruhe, was? Ich glaube nicht, dass ich hier lebend herauskomme. So etwas wie dieses Gefängnis habe ich geahnt und wollte dich auf keinen Fall hier mit reinziehen, deshalb wollte ich so gerne, dass du noch zu Hause weggelaufen wärst.«

»Na dann verstehe ich das überhaupt nicht, warum du während der Fahrt nicht mal versucht hast wegzulaufen.«

»Da waren wir nicht allein. Und selbst wenn der Wachmann nicht getroffen hätte, würden die sofort anhalten und Jagd auf uns machen. Vielleicht hätten sie dich dann erschossen, das wollte ich vermeiden. Und dann ist da noch Albert. Ihr seid beide noch keine 16 Jahre alt, also werden sie euch nicht verhaften, wenn ich ihnen keinen Grund dafür liefere.«

»Warum denkst du, wirst du hier nicht überleben?«

»Weiß ich nicht, ist nur so ein Gefühl … Es gibt Gerüchte, dass noch niemand nach seiner Verhaftung wieder gesehen wurde. Darauf gebe ich nichts, aber wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Außerdem wurde Juri, der Dieb, wieder im Dorf gesehen, nachdem er erst vor einer Woche zu zwei Jahren verurteilt worden ist. Das hat mir meine Schulkollegin erzählt. Sie haben ihn einfach freigelassen. Ich meine, selbst verurteilte Verbrecher sind besser dran als wir. Ich vermute, die haben Probleme, Platz für alle verhafteten Deutschen zu finden und lassen deshalb die anderen Gefangenen laufen. Wir haben Priorität. Wenn die Befehle von ganz oben kommen, dann ist es wohl schlimmer, uns nicht zu verhaften. Diesen Aufwand machen die nicht, um uns nur zur Überprüfung hier hin zu bringen.«

»Hast du Angst?«

»Ja Richard, habe ich.«

 

Am nächsten Morgen, zur Anhörung werden wir von einem anderen Wachmann abgeholt, der ein Gewehr auf dem Rücken trägt. Unterwegs kommt uns ein Mann mit einer Wache entgegen. Er blutet an seiner Unterlippe, weint und wiederholt immer wieder: »Ich habe doch gar nichts gemacht!«

Der Wachmann führt uns wieder in das Zimmer des Direktors, wo jetzt hinter dem Schreibtisch drei Männer in Uniformen sitzen. In der Mitte Lukenko, der selbstzufrieden grinst, die anderen beiden sind neu, sie stellen sich nicht einmal vor.

Wir setzen uns und Lukenko beginnt: »Ihr wurdet als Verdächtige der Spionage gegen die UdSSR laut NKWD Befehl 439 verhaftet. Christine Müller wird nach dem NKWD Befehl 447 in Kategorie I und Richard in Kategorie II1 eingeteilt. Dieser Beschluss ist mit heutigem Datum gültig. Die Hintergründe werden weiter untersucht. Sie bleiben beide in Haft, solange die Untersuchung dauert.«

»Bitte sagen Sie mir, wo kommt mein Sohn hin? Ich möchte ihn nur in Sicherheit wissen. Sie sagten, Sie werden sich gut um ihn kümmern«, bittet Mama.

»Das weiß ich erst nach der Untersuchung Ihres Falls. Und selbstverständlich kümmern wir uns um ihren Sohn«, sagt Lukenko zunehmend nervös.

»Entschuldigen Sie die Frage«, meldet sich meine Mutter wieder, »aber was genau wird uns zur Last gelegt?«

»Hören Sie nicht zu?! Habe ich doch eben vorgelesen!«, empört sich Lukenko.

»Sie haben einen Verdacht geäußert, das ist keine Straftat und einen Beweis dafür haben Sie auch nicht, Genosse Lukenko.«

Er läuft rot an, hält die Luft an und tippt mit seinem dicken Zeigefinger auf den Tisch. »Da die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, kann ich darauf keine Antwort geben, die Sie zufrieden stellt, aber in Kürze wird sich das bestimmt klären«, weicht Lukenko aufgeregt und recht ungeschickt aus. Er steht halb auf, knallt mit seiner Faust auf den Tisch und brüllt, dass sein Speichel spritzend auf uns trifft, meine Mutter an: »Und jetzt raus hier!!! Wache! Abführen!«

Wir werden verdächtigt, Spione zu sein– das ist doch Unfug. Ich könnte Lukenko ebenfalls verdächtigen einer zu sein, würde er etwa auch verhaftet? Reicht ein bloßer Verdacht aus, um jemanden zu verhaften? Was für ein Irrsinn!

Der Wachmann erscheint in der Tür und deutet mit einem Wink an, dass wir mitkommen sollen. Offenbar geht es ihm nicht schnell genug, oder er möchte Eindruck bei den wichtigen Herren hinterlassen, so tritt er an meine Mutter heran, fasst sie unter der Achsel und zieht sie unsanft hoch: »Los jetzt!«

Wir werden aus dem Büro geführt und wieder zur Abstellkammer gebracht. Auf dem Weg dorthin schreit der Wachmann uns immer wieder an, wir sollen schneller gehen, und selbst als wir schon beinahe laufen, reicht es ihm noch nicht.

»Ich habe gesagt, ihr sollt schneller gehen, Dreckspack! Und achte bloß auf deinen zarten Buben, sonst passiert ihm vielleicht noch was«, provoziert der Wachmann weiter.

 

Endlich stehen wir vor der Tür der Abstellkammer. Die Wache schubst uns auseinander, um aufzuschließen. Als er die Tür geöffnet hat, packt er mich am Kragen und schleudert mich so heftig in die kleine Kammer, dass ich fast ungebremst an der Wand lande. Im letzten Moment, vor dem Aufprall, entscheide ich mich für meine Schulter statt meines Gesichtes, um die Wucht abzufangen. Als ich wieder zur Tür blicke, sehe ich, wie der Wachmann versucht, trotz heftiger Abwehr meiner Mutter, ihr den Mantel zu öffnen. Ohne zu zögern nehme ich so schnell ich kann Anlauf und ramme den Wachmann, der mich nicht bemerkt, in die Seite. Fluchend und um sich schlagend stürzt er zu Boden und ich mit ihm. Ich versuche mich beim Sturz an etwas festzuhalten und bekomme sein Gewehr zu fassen. Beim Aufstehen gelingt es mir fast, es ihm abzunehmen, während er sich aufrappelt, doch der Riemen verhindert, dass ich es von seiner Schulter ziehen kann. Schon ist er wieder auf den Beinen und reißt das Gewehr an sich, indem er es mit der Linken packt und mit einer geschickten Bewegung auf mich richtet. Mir stockt der Atem.

Plötzlich taucht meine Mutter zwischen uns auf, sie schubst mich zur Seite und reißt gleichzeitig das Gewehr des Wachmanns nach oben. Mit seiner linken Hand schubst er sie weg und das Letzte, was ich sehe, ist der Gewehrkolben kurz vor meinem Gesicht. Dann wird alles still und dunkel.

Als ich die Augen aufmache, sehe ich den Blecheimer direkt vor mir. Ich liege auf dem Boden, es ist kalt an meiner rechten Wange und es stinkt nach Erbrochenem. Den Versuch aufzustehen bereue ich sofort, denn bei der ersten Bewegung schießt ein stechender Schmerz in meinen Kopf. Ich lege mich wieder hin, jetzt ist der kalte Boden angenehm. Nach ein paar langsamen Kopfbewegungen traue ich mich aufzustehen, mir ist schwindelig und ich werde diesen strengen, sauren Geruch nicht los. Ich muss nicht lange suchen. Direkt vor der Tür ist eine Lache mit Erbrochenem, jedoch nicht von mir, denn ich schmecke keine Säure in meinem Mund, es muss also von Mama kommen.

Sie liegt zusammengerollt auf der Unterlage. Als ich sie anspreche, kommt nur ein schweres Stöhnen von ihr. Sie hält sich am Bauch fest, sieht mich an und sagt: »Es geht schon.« Der Wachmann muss sie bei der Rangelei in den Bauch geschlagen haben, und am linken Wangenknochen hat sie eine Wunde. Ich setze mich zur ihr auf die Bretter.

»Wie geht es dir? Tut dir etwas weh?«, fragt sie mich. Ich habe immer noch Kopfschmerzen, aber die sind bestimmt nicht so schlimm wie die meiner Mutter.

»Ich wette, der hat damit nicht gerechnet. Ich hätte das Gewehr fast gehabt!«, antworte ich. »Wir werden verdächtigt, Spione zu sein? So wie Papa? Was ist das für eine dumme Lüge?«

»Die brauchen nur einen Grund.«

»Das ist kein Grund. Es ist einfach nicht wahr. Und was wollen die untersuchen? Da gibt es doch nichts«, sage ich aufgeregt.

»Die suchen auch gar nicht, denn sie wissen, sie werden nichts finden. Aber als Vorwand reicht es. Die Partei ist auf ihrer Seite.«

»Dann können wir doch auch jemanden verdächtigen, Lukenko zum Beispiel, wird er dann auch eingesperrt?«

»Nein, er sitzt auf der anderen Seite des Tisches«, antwortet Mama.

Ich halte die Hand meiner Mutter, fühle das Pochen in meinem Kopf und bin wütend. Auf den Wachmann, weil er uns zusammengeschlagen hat; auf Lukenko, der gestern unser Haus durchsucht, unser Geld mitgenommen hat und jetzt so tut, als wären wir die schlimmsten Verbrecher; auf die Führer der Partei, die uns das Ganze eingebrockt haben und auf Mama – ein wenig. Etwas muss sich ändern.

Während ich damit beschäftigt bin wütend zu sein, schaue ich mich in der kleinen Kammer um. Tür, kahle Wände, Schlafregale, Fenster, … Fenster! Erst jetzt fällt mir auf, dass es gar nicht vergittert ist, warum auch – es war früher ja nur ein Abstellraum. Allerdings ist es ziemlich klein, doch mit etwas Glück passen wir durch, und dann über die Mauer und weg! Das müssen wir einfach versuchen, denn hier drin wird es bestimmt nicht besser. Jetzt ist nur die Frage, wie bringe ich es meiner Mutter bei? Kann sie überhaupt in ihrem Zustand fliehen?

»Mama, hast du Schmerzen? Kannst du laufen?«, frage ich sie.

»Ich habe auch schon an das Fenster gedacht, es könnte klappen.«

Sie schafft es immer wieder, mich zu überraschen. »Gut, dann versuchen wir es heute Nacht.«

»Nicht wir, du«, sagt sie ruhig.

»Du kommst nicht mit? Ich dachte, du hast deine Meinung geändert?«, frage ich verwundert.

»Nein, habe ich nicht. Ich will es so.«

»Dann bleibe ich auch hier, ohne dich gehe ich nicht weg.«

»Richard, sie werden dich in ein Kinderheim bringen und die Zustände dort sind ähnlich wie im Gefängnis. Ich kenne einige Kinder aus dem Heim von der Schule und glaub mir, das willst du nicht. Du musst jetzt weg. Ich habe dir erzählt, was du tun kannst, wenn du draußen bist. Bleib zunächst bei Emma, dann siehst du weiter.«

Es beginnt bereits zu dämmern.

»So, jetzt besorge ich uns erstmal eine Decke«, sagt Mama etwas lebhafter und setzt sich langsam und vorsichtig auf den Brettern hin.

Sie klopft an die Tür, wartet ein wenig ab und klopft dann nochmal. Nach einer Weile kommt tatsächlich jemand und ich stelle mich darauf ein, erneut Ärger vom Wachmann zu bekommen. Doch es ist der andere von gestern Abend, Pawel.

»Bitte Pawel, sind Sie so nett und bringen mir eine Decke und einen Lappen, damit ich die Schweinerei hier aufwischen kann?«, fragt Mama.

Pawel schaut sich um, sieht die Lache und rümpft die Nase. »Ein Irrenhaus ist das hier« sagt er, schließt die Tür und geht weg.

Ich sehe Mama fragend an: »Du meinst, er bringt dir, worum du gebeten hast?«

»Abwarten, du kannst nicht erfahren ob es klappt oder nicht, wenn du es nicht versuchst.« Ja ja, das ist so ein typischer Erwachsenensatz, aber sie hat recht.

 

Mittlerweile ist es draußen schon fast dunkel geworden. Ich frage mich die ganze Zeit, was Mama wohl vorhat, aber auf meine Fragen antwortet sie nur mit »abwarten.« Niemand ist gekommen und hat uns etwas zu Essen oder zu Trinken gebracht, und auch keine Decke. Ich habe Hunger, aber vor allem Durst. Ich vermute Mama wird es ähnlich gehen, denn wir haben seit einem Tag nichts gegessen oder getrunken.

Plötzlich wird die Tür geöffnet und Pawel wirft einen Lappen auf den Boden. »Hier, zum Aufwischen.« Dann legt er zwei Decken auf die Pritsche mit den Worten: »Musste ich etwas länger suchen, im Lager gibt’s keine mehr. Und hier«, er hält einen halben Laib Brot in der Hand und eine Blechkanne mit Wasser. »Keine Ahnung, wann es wieder was zu essen gibt.«

»Sie sind sehr freundlich, vielen Dank«, antwortet meine Mutter und nimmt die Sachen entgegen.

»Hab selbst einen Jungen zu Hause, er ist jetzt acht.« Pawel sieht meine Mutter an. »Ihr gehört nicht hierher«, sagt er und geht.

Nachdem er weg ist, trinken wir die Kanne fast leer und essen das halbe Brot.

»Mit der Decke wird dir nicht mehr so kalt sein«, sage ich.

»Nimm eine mit, die brauchst du als Unterlage«, antwortet sie. Sie legt ihre Hände an meine Wangen, schaut mich an und sagt: »Los, jetzt! Ich helfe dir dabei, das Fenster zu öffnen und hoch zu kommen. Die Mauer draußen ist für dich kein Problem, die schaffst du locker.«

Tja, ich bin gut im Klettern – auf Bäume – , aber so eine Mauer … Doch Mama hat den Plan schon gründlich durchdacht.

Ich habe mich entschieden, nicht zu widersprechen, ich glaube, so helfe ich ihr am besten. Aber das Brot nehme ich auf keinen Fall mit. »Nein, das bleibt bei dir, ich will es so«, sage ich nachdrücklich.

Mama schließt mich fest in ihre Arme und sagt mir, dass sie mich liebt. Dann rollt sie die Decke fest zusammen, steht auf und geht etwas gebückt unter das Fenster, wobei sie sich am Bauch festhält. Sie geht leicht in die Hocke und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. »Los, komm!«

Indem ich auf ihre Beine steige, komme ich bequem an das Fenster. Nach einigem Ziehen und Wackeln gelingt es mir tatsächlich, den Verschluss zu lösen und das Fenster zu öffnen. Mama gibt mir die Decke.

»Und jetzt versuch durch das Fenster zu kommen, du schaffst es«, ermutigt sie mich. »Steck erst einen Arm, danach den Kopf durch. Der Rest klappt dann schon.«

Sie hat Recht, obwohl es recht eng ist, schaffe ich es nach draußen zu gelangen. Ich schaue mich kurz um, niemand zu sehen. Vom Eingangsbereich am Tor scheint etwas Licht um die Ecke, sonst gibt es keine Laternen.

»Ich denke das klappt«, sage ich.

»Ich werde für dich beten, Richard, jeden Tag. Sobald ich kann, werde ich dich finden. Sag Albert von mir, was immer er auch macht, ich glaube an ihn! Und jetzt los!« Sie steht auf, meine Beine hängen in der Luft. Ich drehe mich so, dass ich mich auf den Rahmen setzen und mich am Dach etwas hochziehen kann. Die Decke werfe ich auf den Rasen, klettere ganz aus dem Fenster und hänge jetzt mit meinen Händen am Dach. Bevor ich loslasse, sage ich zu Mama: »Ich werde auf dich warten«, dann lasse ich mich fallen.

Nach der Landung rappele ich mich schnell wieder auf, schnappe mir die Decke und renne auf die Mauer zu. Kurz vorher bleibe ich stehen, werfe die Decke hoch, gehe ein paar Schritte zurück und schaffe es mit Anlauf, mich an die Kante zu hängen. Die tiefen Fugen zwischen den Ziegeln helfen mir beim Klettern enorm. Nachdem ich mich hochgezogen habe, breite ich die Decke mit einer Hand über den Stacheldraht aus. Mit allen meinen Kräften schaffe ich es, auf die Mauer zu klettern. Die Decke war schon eine klasse Idee von Mama, sonst hätte ich mir jetzt schon meine Hände aufgerissen, denn der Draht ist über die Mauerbreite hinaus verlegt. Auf der anderen Seite der Mauer lasse ich mich erst hängen, damit ich nicht so tief springen muss, und versuche beim Absprung die Decke mitzureißen, um meine Spuren zu beseitigen, doch die ist hoffnungslos im Stacheldraht verfangen.

Darauf verschwende ich jetzt keine Zeit. Ich schaue mich um, ob jemand meine Aktion beobachtet hat, so mitten in der Stadt – niemand zu sehen. Sofort mache ich mich auf den Weg in Richtung Eingangstor. Etwas sagt mir, das wäre die unwahrscheinlichste Strategie nach einem Ausbruch und somit die sicherste. Wie es aussieht, legen die Wachen keinen großen Wert auf Patrouillen, was mir sehr recht ist. Wohin sollten die Gefangenen auch fliehen, denen geht es wie meiner Mutter: sie können nirgendwo hin. Ab und zu ist hier und da Hundegebell zu hören, bei dem ich jedes Mal zusammenzucke.

Je näher ich dem Tor komme, desto heftiger schlägt mein Herz. Hoffentlich bemerkt mich der Wachmann nicht. Bevor ich das Tor passiere, bleibe ich stehen und schaue mich um – niemand da. Ich schaue durch einen Schlitz an der Seite in den Innenhof des Gefängnisses. Der Wachmann ist nicht zu sehen, alles scheint ruhig zu sein. Ich atme tief durch und gehe, bewusst nicht zu schnell, am Tor vorbei.

 

Als ich mich ungefähr auf der Mitte befinde, höre ich den Wachmann schreien: »He, du da!« Ich zucke zusammen, gehe aber ohne mich umzusehen weiter. »Mach, dass du vom Tor weg kommst. Hast wohl nichts Besseres zu tun, als nachts hier rumzuschleichen! Verschwinde!« Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich laufe los. Erst als ich schon aus der Stadt raus bin, gönne ich mir unter einer großen Weide eine Pause, um zu überlegen, wo ich jetzt hin kann.

An den Stamm gelehnt, komme ich wieder zu Atem. Schon wieder renne ich mitten in der Nacht durch die Gegend, nur wohin? Jetzt holen mich die letzten Stunden ein. Tränen schießen mir in die Augen, ich kann nichts dagegen machen. Ich sacke unter dem Baum zusammen und lasse meinen Tränen freien Lauf, haue auf den Stamm ein, trete das mit Reif bedeckte Gras, schreie meine Wut heraus.

Irgendwann werde ich ruhiger und überlege: nach Hause traue ich mich nicht. Sobald die im Gefängnis sehen, dass ich weg bin, suchen die zu Hause bestimmt als Erstes. Zu Tante Johanna ans Meer ist eine gute Idee, aber ich habe kein Geld und zu Fuß ist es zu weit. Wahrscheinlich bin ich dafür noch nicht verzweifelt genug. Albert, mein Bruder, ist jetzt der einzige, den ich noch hier habe. Also beschließe ich, wieder ins Internat zu gehen, um mit Albert zu sprechen. Falls die Miliz dort meinetwegen auftaucht, werden die erst zu den Betreuern gehen, genug Zeit für mich, um wegzulaufen.


1 Befehl Nr. 00447: Unter der Leitung des NKWD-Chefs Nikolai Jeschow wurde im August 1937 ein Befehl erlassen, der bis 1992 geheim blieb. Darin hieß es, dass »diese ganze Bande antisowjetischer Elemente ohne die geringste Schonung zu zerschlagen« sei. Unter anderem: »Verräter und Sympathisanten des Deutschen Reichs«. Aufgrund dieses Befehls geschahen massenhaft Verhaftungen.

 

Die Verhafteten wurden in zwei Kategorien eingeteilt.

 

Kategorie 1: die am feindlichsten gesinnten: Kulaken (reiche Bauern), Kriminelle – erschießen.

 

Kategorie 2: weniger aktive aber trotzdem feindlich – verbannen.

Kapitel 5

Ukraine, November 1937

Das Internat liegt auf einer kleinen Anhöhe, die schon von weitem erkennbar ist. Im Mondlicht sehe ich die Umrisse der Gebäude, die mit der Umgebung beinahe verschmelzen. Es sind drei Häuser: Wohnhaus, Küche und Schule. Nirgendwo ist Licht an – nicht mal in der Küche, also bereiten sie das Frühstück noch nicht vor. Es muss vor 6 Uhr sein, denn zum Dienst in der Küche würde ich um 6:30 Uhr aufstehen. Frühstück gibt es um 7:30 Uhr, Unterricht beginnt um 8 Uhr. Immer wenn ich zum Küchendienst kam, klapperte der Koch schon mit den Töpfen.

 

Die Eingangstür zum Quartierhaus ist verschlossen. Soweit ich mich erinnern kann, war die noch nie zu, wahrscheinlich erst nach meinem nächtlichen Ausflug. Dann nehme ich eben meinen Geheimweg, den ich irgendwann entdeckte, als ich mit ein paar Kammeraden Verstecken spielte. Es ist ein Fenster an der Rückseite des Wohngebäudes, das sich mit einem bestimmten Griff auch von außen öffnen lässt.

 

Die hellblaue Farbe am Holzrahmen blättert schon ab und beim Berühren klappert der linke Fensterflügel leicht, bleibt aber verschlossen. Ich drücke am Rahmen etwas nach oben und gleichzeitig gegen die rechte obere Ecke und schon ist es offen. Als ich drin bin, schließe ich es wieder und reibe die trockenen Farbreste von meinen Händen.

 

Ich bin in einem Abstellraum mit Matratzen, Bettzeug und altem Gerümpel. Bevor ich zu Albert gehe, greife ich nach der Schatulle mit den Ringen in meiner Jackentasche, um den Ring für Albert raus zu holen. In meiner linken Tasche fühle ich die Tüte mit den Bonbons, die wird Mama mir eingesteckt haben und ich habe es nicht gemerkt in dem ganzen Durcheinander. Ich stecke mir eins in den Mund und genieße den süßen Karamell-Geschmack, der sich wie eine Wolke bis in die Hände und Füße ausbreitet. Besser, ich verstecke sie irgendwo, denn wenn jemand das spitz kriegt, habe ich nichts mehr davon.

 

Die Schatulle fällt enorm auf; falls jemand die sieht, wird er auf jeden Fall wissen wollen, was drin ist. Die Ringe müssen da raus. In der Dunkelheit kann ich nicht erkennen, welcher rot und welcher blau ist. Ich entschließe mich, kurz Licht anzumachen, drehe am Schalter und halte dabei die Schatulle geöffnet vor mich. Sobald das Licht an ist, schnappe ich mir den blauen Ring und drehe das Licht sofort wieder aus. Den Ring stecke ich mir in meine linke Hosentasche. Dann hole ich den roten Ring aus der Schatulle und stecke ihn in meine rechte Tasche. Am liebsten würde ich die Schatulle behalten, doch sie ist zu groß, um sie mit mir herumzutragen.

 

Ich schaue mich im dunklen Raum um. In der Ecke kann ich einen alten Schreibtisch erkennen. Bei näherem Untersuchen entdecke ich zwei Schubladen und verstaue meine Schatulle in eine davon. Gut, ich schätze, hier wird niemand kramen, jetzt möchte ich zu meinem Bruder.

 

Albert schläft im Zimmer für die größeren Jungs, am Ende des Flurs. Ich taste mich die Wand entlang bis zur Zimmertür, gehe hinein und werde von einem Schnarchkonzert empfangen.

Albert ist sofort wach, als ich ihn rüttele: »Albert, Albert, wach auf!«

»Mensch Richard, bist du das?«, fragt er mit verschlafener Stimme.

»Ja, ich bin’s. Los, steh auf und komm mit, wir müssen reden.«

Wir gehen auf den Flur hinaus.

»Hier wurde nach dir gesucht, nachdem du nachts so plötzlich verschwunden bist«, sagt Albert. »Was hast du angestellt? Warst du bei Mama? Ist alles in Ordnung?«

»Nichts ist in Ordnung, Albert. Sie ist im Gefängnis!«

Albert schweigt und ich spüre, wie er mich anstarrt. »Im Gefängnis?! Wieso denn das?«

»Sie wurde verhaftet, weil sie angeblich gegen die Regierung spioniert.«

»Was für ein Blödsinn!«, regt Albert sich auf.

»Psst, sei leise, du weckst gleich alle auf!« Ich erzähle ihm, was passiert ist und von der Unterhaltung mit Mama. Albert umarmt mich, so stehen wir einfach nur da und halten uns fest. Ich bin froh, dass es dunkel ist, so sieht er mein verweintes Gesicht nicht.

»Es ist so wie bei Papa. Werden die sie gehen lassen?«, fragt Albert.

»Mama sagte, sie glaubt nicht, dass sie dort lebend rauskommt. Jetzt haben wir keine Mutter mehr, wir sind nun ganz allein.« Mir kommen wieder Tränen in die Augen.

»Nein, nein, nein! Das will ich nicht hören!«, sagt Albert mit zitternder Stimme.

Da fällt mir ein, dass ich den Ring für Albert noch in meiner Hosentasche habe.

»Hier, für dich von Mama zur Erinnerung.« Ich lege ihm den Ring in seine Hand. »Und das hier,« eine Hand voll Bonbons in die andere. Er versucht den Ring zu begutachten, indem er ihn ganz nah an seine Augen hält und abtastet.

»Mama wollte die Ringe auf keinen Fall der Miliz überlassen. Du musst gut auf den aufpassen.«

»Das werde ich ganz sicher! Wie bist du rausgekommen?«

»Mama hat mir geholfen. Ich bin durch das Fenster, über die Mauer und dann hierher.«

»Was machen wir jetzt?«

»Mama hat mit Tante Emma geregelt, dass wir bei ihr wohnen können.«

»Niemals, zu ihr gehe ich nicht. Ich traue ihr nur, solange ich sie sehen kann.«

»Aber wo willst du dann bleiben?«

»Das halbe Jahr kriege ich schon irgendwie rum, und wenn ich danach eine Lehrstelle habe, wird es einfacher.«

Ja, ich glaube, große Betriebe bieten zusammen mit einer Lehre auch ein Zimmer im Wohnheim an. Albert wird schon wissen, was er macht.

»Ich soll dir von Mama noch ausrichten, was auch immer du machst, sie glaubt an dich«, sage ich.

»Danke.«

»Die werden bestimmt nach mir suchen, aber ich weiß nicht, wo ich sonst hin kann.«

»Es bleibt uns sowieso nichts anderes übrig, als abzuwarten. Wir werden sehen …«

Die erste Zeit habe ich ständig Angst, dass die Miliz auftaucht, um mich mitzunehmen. Doch nach einigen Wochen ist immer noch niemand wegen mir im Internat oder bei Tante Emma gewesen. Ich glaube, die haben genug mit anderen, ›gefährlicheren‹ Leuten zu tun, als eine Rotznase zu suchen.

Kapitel 6

Ukraine, April 1938

Tante Emma war zu Anfang schon recht kühl zu mir, aber in letzter Zeit wird sie frostig. Von wegen eingelegtem Gemüse, getrocknete Äpfel und Fleisch – nichts davon habe ich gesehen. Wenn ich am Wochenende da bin, dann gibt es meist gekochte Kartoffeln, selten mal mit einer Schmandsauce, sonst einfach nur pur. Manchmal gibt es zum Nachtisch Äpfel, wovon ich mir sofort welche schnappe und restlos aufesse.

 

Ich hatte irgendwann bemerkt, dass in der Vorratskammer im rechten Regal die Sachen immer weniger werden, während das linke unberührt blieb. Auch Fleisch- und Gemüsegläser, obwohl ich nie was davon gegessen hatte. Als ich Tante Emma darauf ansprach, meinte sie nur schnippisch, ob ich ihr etwa nicht trauen würde, ihre Güte, mich hier wohnen zu lassen, nicht schätzen und mir lieber woanders eine Bleibe suchen möchte. Seitdem hängt ein Schloss vor der Tür und den Schlüssel trägt sie immer bei sich.

Kurz vorher habe ich es aber doch noch geschafft, zwei Gläser Fleisch und Gemüse mitzunehmen. Die habe ich mir dann mit Albert in der Abstellkammer im Internat schmecken lassen.

 

Es sind schon sechs Monate vergangen, seit Mama weg ist, und ich habe noch nichts von ihr gehört. Albert hat sich bei Tante Emma kein einziges Mal blicken lassen und ich versuche auch, so oft es geht, irgendwo anders zu sein. Zum Glück ist jetzt der Frühling da, die Tage sind wärmer und es ist länger hell, so kann ich oft im Wald sein. Das erinnert mich an unsere Ausflüge mit Mama, Papa und Albert. Manchmal spreche ich sogar mit ihnen. Ich weiß, dass sie mich nicht hören können, aber es tröstet mich.

 

Heute ist ein warmer, sonniger Tag. Nach dem Unterricht bin ich sofort in den Wald verschwunden, um allein zu sein. Es erinnert mich an den Vorfall im Februar. Da bin ich auch gleich in den Wald gegangen, um möglichen Unterhaltungen aus dem Weg zu gehen, welche sich garantiert ergeben würden.

 

Es war gleich zu Beginn der ersten Stunde. Wir hatten Geschichte bei unserer Klassenlehrerin Elena Ivanovna. Eine kleine Frau mit kurzen dunklen Haaren, rundem Gesicht und einer runden Brille auf der Nase. Die Eule.

Das Licht fiel wieder mal aus, was keine Seltenheit ist. Ich habe schon seit einigen Tagen das Porträt unseres geliebten Anführers der Partei an der Wand links von mir angestarrt und ihm die Schuld dafür gegeben, dass meine Eltern beide nicht mehr da sind. In dem Moment, als es dunkel wurde, nahm ich mein Tintenfläschchen und warf es aus einem Impuls heraus voller Wut auf das Bild. Man hörte nur ein Klirren, worauf gleich neugierige Fragen folgten: »Was war das? Ist etwas zerbrochen?«

Als das Licht wieder anging, sahen alle einen riesigen Fleck an der Wand, direkt neben dem Porträt. Augenblicklich wurde es totenstill, niemand wagte etwas zu sagen. Die Eule schaute über ihre Brille böse in die Klasse und zischte: »Wer war das? Wer hat das getan?«

Ich überlegte kurz und schaute verstohlen zu Ruslan, der rechts hinter mir saß. Ein großer, kräftiger Junge mit einem auffällig nach vorne stehendem Kinn und strubbeligen, blonden Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Seine Augen waren immer leicht zugekniffen, was ihm ein listiges und gleichzeitig gefährliches Aussehen verlieh. Die Bulldogge.

Er hat mich genervt, seit ich im Internat war, und mich immer wieder als Faschisten und stinkenden Deutschen beschimpft. Ich wusste, dass er kein Tintenfläschchen hatte, weil er jedes Mal jemanden (außer mir) fragte. Vorher habe ich gar nicht dran gedacht, aber zum Glück fiel es mir noch schnell ein. Die Eule würde jetzt nicht eher Ruhe geben, bis sie den Übeltäter hatte und dafür die Tintenbehälter von jedem sehen wollen.

»He, Ruslan, wo ist denn dein Tintenbehälter?« fragte ich ihn.

Vor Schreck und Überraschung stammelte er nur: »Was …? ich, ich … habe keinen mit …«

»Warst du das?!«, schrie Elena Ivanovna. »Weißt du überhaupt, was dich dafür erwartet?!«

»Aber, aber … ich war das wirklich nicht«, beteuerte Ruslan. Er wurde puterrot und versuchte die Lehrerin von seiner Unschuld zu überzeugen.

»Ich habe deine dummen Streiche echt satt! Diesmal bist du zu weit gegangen, Bürschchen! Los, ins Büro des Direktors!«, kommandierte die Eule.

Als die beiden verschwunden waren, haben die Übrigen natürlich Vermutungen angestellt. Einige waren ebenfalls der Meinung, dass es Ruslan war, einige sagten, dass er es nicht gewesen sein kann, weil er sein Fläschchen die letzten Tage gar nicht mit hatte. Die meisten haben sich rausgehalten, ich auch. Zu meiner Erleichterung wurde ich auch gar nicht verdächtigt, bestimmt hat mir sowas niemand zugetraut.

 

Nach einer halben Stunde kam Elena Ivanovna zurück, holte die Tasche von Ruslan und ging wieder raus. Ich war neugierig zu erfahren, was mit ihm nun passiert, doch als die Eule kurz darauf wieder hereinkam, sagte sie nur: »Wir machen jetzt weiter, wo wir unterbrochen wurden«, als sei nichts gewesen.

 

Kaum hatten wir wieder mit dem Unterricht begonnen, erschien der Hausmeister mit Leiter, Farbeimer und Pinsel. Und merkwürdigerweise war es für alle selbstverständlich, dass er mitten drin den Tintenfleck beseitigte. Diese Schandtat duldete wohl keinen Aufschub und musste sofort ausgelöscht werden.

 

Die warmen Sonnenstrahlen tun mir gut, sie wärmen mein Gesicht und meine Hände. Ich habe mich auf meine Jacke gelegt und höre den Geräuschen der Natur zu. Es war gemein von mir, die Bulldogge vorzuschieben, aber im Grunde habe ich ihm nur eine Frage gestellt. Er kann nichts dafür, genauso wenig wie ich für meine Nationalität. Ich denke, wir sind quitt. Schade, dass ich das Bild nicht getroffen habe.

 

Ich spüre den leichten, frischen Wind, beobachte das Vorbeiziehen der Wolken und höre dem Vogelgezwitscher zu.

Seit einiger Zeit habe ich nachts immer wieder den gleichen Traum: Wir sind alle im Wald auf einer Wiese bei einem Picknick. Es ist ein warmer Sommertag. Alle sind fröhlich und glücklich. Wir haben feinstes Essen mit: Hähnchenschenkel mit frischem Brot von Mama, Eiscreme mit viel Erdbeeren und eine große Wassermelone. Albert und ich tragen kurze Hosen und leichte Sommerhemden, mein Vater trägt einen beigefarbenen Leinenanzug und dazu einen passenden Hut. Meine Mutter hat ein langes, weites Kleid an und trägt dazu einen breiten weißen Hut mit Blumenschmuck.

Plötzlich taucht aus dem Nichts ein riesiger Bär auf, der sich sofort auf Papa und Mama stürzt. Er packt sie mit seinen Pranken und schleppt sie in den Wald. Meine Eltern können sich trotz ihres Widerstands nicht befreien. Albert und ich laufen hinterher, aber der Bär ist so schnell, dass er schon im Wald verschwunden ist. Wir hören ihre Schreie, können sie aber nicht finden. Die Stimmen werden leiser, bis sie verstummen. In diesem Augenblick taucht die Bestie nochmal auf und stürzt sich auf Albert. Er versucht auszuweichen, aber der Bär erwischt ihn am Bein und schleppt ihn ebenso in den Wald. Ich springe hinterher und bekomme Alberts Hände zu fassen. Während wir über den Boden gezogen werden, versuche ich mit meinen Füßen irgendwo Halt zu finden, mich einzuhaken, ohne seine Hände loszulassen. Äste brechen weg, Wurzeln und Stöcke schürfen mir an Ellenbogen und Knien die Haut ab und hinterlassen tiefe, schmerzhafte Wunden. Irgendwann bleibe ich mit meiner Hose hängen und mein Bruder wird mir aus meinen Händen gerissen. Sofort stehe ich auf und laufe hinterher, schreie seinen Namen, höre, wo seine Schreie herkommen. Doch diese werden immer leiser und verstummen bald ganz.

Ich renne immer noch so schnell ich kann in die Richtung, in die ihn das Ungeheuer weggeschleppt hat, aber alles ist still und es gibt auch keine Spuren. Völlig außer Atem und schweißgebadet bleibe ich stehen – da wache ich auf, genauso außer Atem und schweißnass. Es dauert etwas, dann wird mir klar, dass es ein Traum ist. Am unheimlichsten ist das Aussehen des Bären: es sind die Gesichtszüge und Augen unseres großen Parteiführers vom Porträt …

 

Jetzt, wo ich hier so liege, stelle ich mir vor, es würde tatsächlich ein Bär aus dem Wald kommen, aber ich glaube, hier gibt es keine. Ich habe mal Albert davon erzählt. Er sagte bloß: »Na wie gut, dass es nur ein Traum war.«

 

Die Sonne verschwindet langsam, ich mache mich mal besser auf den Weg zum Wohnheim. Morgen, zum Wochenende, kann ich nach Hause.

 

Am nächsten Tag bleibe ich noch eine Weile im Internat zusammen mit Albert, während alle anderen schon weg sind. Wir laufen über den Flur und strolchen in verschiedenen Zimmern herum. Als wir in den Abstellraum kommen, kann ich es erst gar nicht glauben: der Schreibtisch, in dem die Schatulle versteckt war, ist weg.

»Mensch Albert, der Tisch ist weg!«

»Ja und?«, schaut Albert mich verwundert an.

»Da drin habe ich die Schatulle von den Ringen versteckt. Die hatte eine Prägung in Form einer Krone auf dem Deckel. Jetzt ist sie weg.«

»Na und wenn schon, Hauptsache, wir haben die Ringe«, tröstet mich Albert.

»Ja, aber ich wollte die Schachtel schon behalten, die ist auch unser Erbstück …«

»… das jetzt weg ist; und du brauchst dir darüber keine Gedanken mehr zu machen. Die würde nur blöde Fragen verursachen. Deswegen hast du sie doch versteckt, oder?«

»Ja, du hast Recht. Weg ist weg.«

 

Als ich nach Hause komme, ist es schon dunkel, also nehme ich die Hintertür vom Garten aus. Ganz leise, um nicht aufzufallen, schleiche ich mich in unser Schlafzimmer. Tante Emma ist nicht zu sehen, worüber ich sehr froh bin. Ich lasse meine Sachen auf dem Boden und lege mich auf das Bett, wobei ich den Duft der sauberen Bettwäsche tief einatme. Mama hat beim Waschen immer etwas getrockneten Lavendel in das Wasser getan, was dann diesen typischen Duft ergab. Beim letzten Waschen habe ich das auch probiert, hat geklappt. Alles erinnert mich hier an Mama: der Geruch von der Decke, die Möbel, das Zimmer. Ich will sie zurück! Jetzt! Hier!

Plötzlich höre ich ein Motorgeräusch im Hof und sofort danach ein Klopfen an der Tür. Kommen die etwa wegen mir?

Ohne lange nachzudenken, schnappe ich mir meine Jacke und bin schon am Fenster, um schnell abhauen zu können.

Erneut höre ich das Klopfen und eine Stimme fragt nach Emma Müller.

Tante Emma? Ich halte inne, schleiche zur Tür und höre konzentriert hin.

Ich höre das typische Quietschen der Eingangstür. »Gibt es ein Missverständnis?«, fragt eine Frauenstimme.

»Nein, gibt es nicht«, antwortet der Mann. »Ich möchte Sie bitten mitzukommen, Genossin Müller.«

Beruhigt, dass sie nicht mich suchen, atme ich auf. Hoffentlich machen die keine Durchsuchung.

 

»Aber Genosse Dobrenko hat mir versichert, es gibt keinen Besuch und keine Durchsuchung. Wir haben eine Vereinbarung mit ihm«, sagt Tante Emma.

»Das mag sein, dass Sie mit ihm eine hatten, aber nicht mit mir«, sagt der Mann. »Genosse Dobrenko ist nicht länger Chef der Miliz, er wurde von seinen Diensten freigestellt«, fährt er fort, »und unter meiner Leitung gibt es keine Privilegien für Leute, die Tipps geben. Ich werde Sie jetzt mitnehmen und ordnungsgemäß überprüfen, trotz Ihres Hinweises auf Christine Müller.«

Kapitel 7

Ukraine, Mai 1938

Selbst wenn ich jetzt plötzlich weglaufen müsste, könnte ich das gar nicht, so schockiert bin ich nach dem, was ich eben gehört habe. Tante Emma hat meine Mutter verraten!

 

Ich höre, wie die Haustür geschlossen wird und das Auto wegfährt, und lasse mich an der Wand auf den Holzboden gleiten.

 

Warum hat sie das getan? Sie sagte, es war abgemacht, dass es keinen Besuch und keine Durchsuchung gibt. Und als Gegenleistung hat sie Dobrenko einen Hinweis auf meine Mutter gegeben. Was kann es nur gewesen sein, dass Mama verhaftet und Tante Emma in Ruhe gelassen wurde?

 

Wie auch immer, was jetzt?

 

Albert hatte Recht, Tante Emma kann man nicht trauen. Ich werde nicht hier bleiben, nicht nach dem, was ich jetzt weiß. Wo kann ich hin? Das Internat hat über das Wochenende zu. Ich komme zwar rein, aber es gibt kein Essen. Seit Monaten bin ich ständig hungrig. Albert schlägt sich so durch, manchmal ist er bei Freunden, sonst weiß ich nicht, wie er über die Runden kommt. Tante Johanna ist zu weit weg.

Aber die Vorratskammer ist hier und jetzt ist es mir vollkommen egal, ob Tante Emma es merkt, dass ich drin war.

 

Das Schloss an der Tür ist recht groß, mit einem dicken Bügel. Das zu knacken, kann ich vergessen, aber die Blechlasche an der Tür sieht recht schwach aus. Ich brauche nur etwas, womit ich die aufhebeln kann. Aus dem Gartenschuppen hole ich eine Harke und eine Schaufel und mache mich sofort ans Werk. Die Harke klemme ich als Auflage in den Spalt zwischen Tür und Zarge und hebele mit der Schaufel die Lasche auf.

 

Sofort mache ich ein Glas mit eingelegtem Fleisch leer, was meinen Hunger nur noch mehr entfacht. Kurz überlege ich, ob ich nicht lieber verschwinden sollte, doch den Gedanken verwerfe ich gleich. Tante Emma kommt bestimmt nicht so schnell wieder.

 

Ich schlage mir den Bauch mit Leckereien voll, die ich schon sehr lange nicht mehr gegessen habe. Immer noch ist unsere Hälfte der Vorräte stärker aufgebraucht als die von Tante Emma, deshalb bediene ich mich von ihrer Seite.

Als ich satt bin, hole ich meine Tasche und packe diese so voll, dass sie kaum zugeht, die Zwischenräume fülle ich mit Wechselkleidung. Dann stecke ich mir noch was in die Jackentaschen und lege meine Sachen auf die eine Seite des Bettes hin. In der Dunkelheit gehe ich nicht zum Internat zurück, ich warte bis morgen und schlafe hier.

 

Ich muss sofort eingeschlafen sein, als ich das Kopfkissen berührt habe, denn meine Hose und mein Hemd habe ich noch an, als ich aufwache. Mittlerweile ist es heller Tag draußen.

Ich höre konzentriert, ob es Geräusche aus dem Haus gibt, ist jemand da? Zu meiner Beruhigung ist alles still, ich habe – aus mehreren Gründen – keine Lust, Tante Emma zu begegnen. Also nehme ich meine Sachen und mache mich auf den Weg.

 

Im Internat ist keine Menschenseele. Ich setze mich draußen in die Sonne und genieße die Wärme, während ich mir mein weiteres Vorgehen überlege.

 

Wenn ich meine Vorräte gut einteile, reichen sie für vier bis sechs Wochen. An den Schultagen gibt es im Internat Essen, nur die Wochenenden muss ich überbrücken. Ich bin jetzt in der achten, Albert hört dieses Jahr auf und versucht eine Ausbildungsstelle zu finden. Auch ich beende die Schule und gehe arbeiten, damit ich von hier zu Tante Johanna kommen kann. Das ist mein Ziel: weg von hier. Mama wollte schließlich auch zu ihr nachkommen. Wenn das klappt, dann fehlen mir nur ein paar Wochen, in denen ich Verpflegung brauche, und bis dahin fällt mir schon was ein.

 

Es fühlt sich nach einem Plan an, ein Ziel, das ich erreichen will. Ich freue mich sogar auf die Herausforderung, bin gespannt, ob es klappt. Das gibt mir neue Energie und Hoffnung.

 

Den Rest des Wochenendes verbringe ich im Internat. Die Vorräte habe ich sicher in der Abstellkammer untergebracht, in einem Regal mit alten Schüsseln und Töpfen, die will bestimmt niemand haben.

 

Um mich zu waschen, gehe ich zum nahe gelegenen Bach. Diese Idee ist an sich gut, nur das Wasser ist noch unheimlich kalt. Ich ziehe mich schnell an und wärme mich mit einem Sprint zurück zum Internat auf. Mein Plan gefällt mir immer besser und ich freue mich, meinem Ziel jeden Tag ein Stückchen näher zu kommen.

 

Nach gut vier Wochen habe ich etwas mehr als die Hälfte meiner Vorräte aufgebraucht, meine Einschätzung geht also auf. Das einzige Problem stellt im Moment die Arbeit dar, ich habe immer noch keine gefunden. Die Alternative wäre, weiter zur Schule zu gehen und bei Tante Emma zu wohnen, aber daran will ich nicht denken.

 

Die Zeit hier im Internat ist richtig schön. Ich bin mein eigener Herr, niemand sagt mir, was zu tun ist. Ich passe auf, dass niemand von meinem Versteck erfährt, nur Albert weiß noch davon.

Zusammen haben wir eine Menge Spaß. Manchmal übernachtet er auch hier. Dann liegen wir lange wach und erzählen uns unsere Pläne, Träume, Ideen, Ängste …

 

Ich habe ihm von dem Erlebnis bei Tante Emma erzählt und musste ihn sogleich festhalten, damit er nicht losrennt und sie zur Rede stellt.

 

»Ich hab’s doch gewusst!«, schrie er. »Ich habe es dir gesagt, dass man ihr nicht trauen kann, habe ich es dir nicht gesagt?«

»Ja, Albert, hast du«, beruhigte ich ihn.

»Genau, habe ich! Und ich sage dir noch was: Sie wird uns immer wieder reinlegen, solange wir ihr die Chance geben.«

»Wir wissen jetzt etwas, was wir auch gegen sie einsetzen können, vielleicht nützt es uns mal.«

»Richard, ich gebe dir einen guten Rat: Bleib von ihr fern, das nützt am meisten! Aber gut, dass du die Kammer geplündert hast!«

 

Nach der Porträt-Geschichte wollten alle wissen, wo Ruslan abgeblieben war. Ich habe ihn nicht vermisst, obwohl ich schon neugierig war, was mit ihm passiert ist. Nach zwei Wochen war er wieder da, allerdings nicht wiederzuerkennen. Er hat kaum mit anderen gesprochen, war sehr ruhig, in sich gekehrt und sogar zu mir völlig gleichgültig.

 

Diese Veränderung hat mir wohl mehr Angst gemacht als wäre er mit Fäusten auf mich losgegangen, wie ich es erwartet habe. Irgendetwas Heftiges muss sich in diesen zwei Wochen abgespielt haben, so unheimlich, dass einer wie Ruslan verängstigt und ohne Rachegedanken wiederkam. Er erinnerte mich eher an einen Straßenhund, der total eingeschüchtert wurde, als an die kampflustige Bulldogge von früher.

 

Weitere zwei Wochen sind vergangen, ich habe immer noch keine Arbeit in Sicht. In einer Woche beginnen die Ferien und dann brauche ich Verpflegung und Unterkunft. Ich hätte noch eine Möglichkeit, falls mein Plan nicht funktioniert: Ich könnte mich einfach so auf den Weg zu Tante Johanna machen. Die genaue Adresse in Mariupol habe ich zwar nicht, aber die bekomme ich schon noch raus, wenn ich da bin. Vielleicht nimmt mich jemand ein Stück des Weges mit?

 

Während ich gedankenversunken über den Hof schlendere, ruft mich meine Klassenlehrerin Elena Ivanovna. »Richard, komm her, du hast Besuch!«

Was? Ich, Besuch? Von wem? Ist es etwa …

Blitzschnell renne ich zum Küchenhaus, wo die Besucher empfangen werden. Als ich sehe, wer da ist, bin ich enttäuscht und gleichzeitig verwundert. Es ist Tante Emma.

 

Was macht sie denn hier? Ich stelle mich auf Streit und Ärger ein und beschließe, dem wie ein Mann gegenüber zu treten. Was kann sie schon tun?

 

Sie sitzt an einem Tisch und schaut erfreut in meine Richtung, als sie mich reinkommen sieht. Ich gehe langsam auf sie zu und setze mich ihr gegenüber hin. Ob sie von dem Einbruch in die Vorratskammer weiß?

 

»Hallo Richard«, sagt sie in einem netten Ton, wie ich ihn selten von ihr gehört habe, und lächelt mich an. »Wie geht es dir?«

Ich antworte nicht, sitze nur da und starre sie an, in Erwartung eines plötzlichen Umschwungs. Warum ist sie so nett zu mir? Ich beobachte sie genau.

Sie hat ein fülliges, rundes Gesicht mit verhältnismäßig kleinen grauen Augen und blassen Augenbrauen. Ihre hellbraunen Haare trägt sie immer streng nach hinten gekämmt in einem Dutt. Mit ihrer kleinen Stupsnase und den schmalen Lippen hat sie etwas von einem Hamster.

»Richard, geht es dir gut?«

»Ja, alles in Ordnung.«

»Du bist schon lange nicht mehr nach Hause gekommen, ich habe mir Sorgen gemacht und gedacht, ich besuche dich mal. Wie geht es Albert, den habe ich noch länger nicht mehr gesehen.«

Das wird auch so bleiben. »Ich komme hier gut zurecht«, sage ich nur.

»Freut mich zu hören, aber hast du hier auch genug Essen?«

Ist das eine versteckte Anspielung auf die Vorratskammer? »Ja, es reicht so.«

»Bei uns hat vor zwei Monaten jemand eingebrochen. Es ist nichts gestohlen worden bis auf ein paar Vorräte aus der Kammer. Wahrscheinlich ein ausgehungerter Landstreicher. Da habe ich mir überlegt, wie gut wir es haben. Essen und ein Dach über dem Kopf, ich habe Arbeit – das ist mehr, als die meisten zurzeit haben.«

Diese Erkenntnis ist zwar rührend, aber ich traue ihr immer noch nicht. Wie kommt es, dass sie nach dem Verhör so schnell wieder da war? Was hat sie diesmal versprochen, mich auszuliefern? Und Tatsache ist, dass sie meine Mutter verraten hat.

»Also Richard, ich weiß einen Job für dich.«

Einen Job?! Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich werde neugierig, was auch Tante Emma bemerkt.

»Interessiert? Das dachte ich mir. Also mein Bekannter arbeitet auf einem Gestüt und die brauchen einen Stallburschen, der auch andere notwendige Arbeiten erledigt. Und da schon bald Ferien sind, kannst du dir in der Zeit ein paar Rubel verdienen. Na, wie ist das?«

Das Angebot ist zu verlockend, um es aus Misstrauen auszuschlagen. Außerdem habe ich nicht viel Auswahl.

»Wann kann es losgehen?«, frage ich.

»Dimitri, so heißt mein Bekannter, sagte, du kannst in einer Woche anfangen. Bitte stell dich dem Direktor vor und sage ihm, dass du Dimitris neuer Helfer bist. Beginn ist um 7 Uhr«, erklärt Tante Emma.

»Wie viel verdiene ich dort?«

»Dimitri sagte mir was von 30 Rubel im Monat, das ist recht gut, wenn du mich fragst.«

»Gut, ich fange da an.«

»Schön, dann sage ich Dimitri, dass du in einer Woche da bist.« Sie schaut mich freundlich an, »Ich hoffe, du kommst wieder nach Hause zum Übernachten«.

Tante Emma ist schlau, es wäre ein Fehler, sie zu unterschätzen. Trotzdem glaube ich an ihrer Reaktion erkannt zu haben, dass sie den Einbruch nicht mit mir in Verbindung bringt. Und das mit dem Wohnen überlege ich mir nochmal, hier kann ich auch nicht bleiben.

 

Wir verabschieden uns und ich hoffe, dass ab jetzt alles besser werden wird. Ich freue mich, mein eigenes Geld zu verdienen – endlich geht es vorwärts. Und auch wenn ich noch eine Weile bei dem Hamster wohnen werde, das halte ich schon durch und spare mir das Geld für die Fahrt zu Tante Johanna.

 

Die letzte Woche vor den Ferien vergeht wie im Flug, ich freue mich auf meine Arbeit und auf das Ende der Übernachtungen im Internat. Es war eine gute Erfahrung, aber jetzt ist es genug.

 

Am letzten Tag in der Schule packe ich meine Sachen zusammen und mache mich mit Albert auf den Weg ins Leben der Erwachsenen. Noch einmal schaue ich zum Internat zurück und erinnere mich an einige schöne Erlebnisse und auch an weniger schöne. Das war’s, ich komme nicht mehr her, die beiden letzten Klassen werde ich bei Tante Johanna in Mariupol beenden.

 

Wir gehen einen Abschnitt des Weges zusammen, bis zur Gabelung, wo unsere Wege sich trennen.

»Also, du weißt, wo du mich findest«, sage ich zu ihm.

»Ja, obwohl ich das nicht verstehen kann, wie du nach alldem wieder zu ihr zurück kannst.«

»Ich bleibe nur so lange wie nötig«, antworte ich. »Wir sehen uns.«

»Das werden wir«, sagt Albert.

Wir umarmen und verabschieden uns, dann geht jeder seiner Wege.

 

Tante Emma freut sich mich zu sehen, zumindest äußerlich, und zum Essen gibt es sogar eingelegtes Gemüse. Ich verbringe das Wochenende zu Hause, das heißt ich schlafe da, sonst bin ich in der Umgebung und im Wald unterwegs. Wir sprechen nicht viel, was mir sehr passt.

 

Seit ich den Ring von Mama bekommen habe, trage ich ihn immer bei mir. Auch jetzt, wo meine Sachen hier im Haus bleiben werden, nehme ich den Ring auf jeden Fall mit. Oft trage ich ihn an einer Schnur, die ich mir um den Hals hänge.

Für Gelegenheiten, bei denen mehr Aufmerksamkeit gefragt ist, habe ich in an der Innenseite meiner Unterhosen kurz unter dem Bund kleine Taschen mit Knopf angenäht, in die ich den Ring stecke. Bisher hat das gut funktioniert, wie beim Sportunterricht oder ins Bett gehen im Internat – es hat niemand bemerkt. Ich denke morgen reicht die Halsschnur.

Kapitel 8

Ukraine, Juni 1938

Am Montagmorgen um kurz vor 7 Uhr stehe ich vor dem Tor der Kolchose1 Neu Orlovka, über dem ein Banner mit dem Motto ›Arbeit für das Vaterland‹ hängt. Diese hohlen Phrasen … Also ich bin wegen des Geldes hier, damit ich von hier verschwinden und woanders leben kann. Ich denke, das hat mit dem Vaterland nichts zu tun.

»He du da, am Tor, was willst du hier?«, höre ich eine hohe, heisere Stimme.

»Ich bin der neue Stallbursche«, sage ich. »Ich werde heute hier erwartet und soll mich beim Direktor melden.«

»Ach, du kommst von Emma, richtig?«, fragt der schmächtige Mann, zu dem die Stimme gehört.

»Ja.«

»Ich bin Dimitri, sie hat mir quasi von dir erzählt. Na ja, ich habe mir dich größer und stärker vorgestellt, hier muss man nämlich gut anpacken, verstehst du?«

Das sagt einer, der sich hinter einem Besenstiel verstecken könnte. »Ich verstehe, das klappt schon«, antworte ich.

 

»Ach ja? Na dann bringe ich dich mal zum Direktor«, sagt Dimitri und geht voraus. Er sieht aus wie ein Seepferdchen, denke ich. Schmales Gesicht mit eingefallenen Wangen, lange Nase, Glupschaugen und nach hinten gekämmte Haare, die vorn etwas hochstehen. Wenn er spricht, tanzt das abgekaute Streichholz in seinem Mund auf und ab.

 

Er trägt Gummistiefel, eine dunkle weite Hose und ein kariertes Hemd. Seine hohe, krächzende Stimme vervollständigt die ulkige Erscheinung.

 

Das Büro des Direktors ist direkt am Eingang im Hauptgebäude. Bevor Dimitri anklopft, dreht er sich zu mir um, schaut mich ernst an und bedeutet mir mit einem Handzeichen, dass ich warten soll. Gerade noch rechtzeitig, denn ich wäre sonst bestimmt an ihm vorbei ins Büro gestürmt. Er macht sich eben wichtig.

 

Aus dem Büro ertönt eine Stimme, dass wir eintreten dürfen, worauf Dimitri vorsichtig die Tür öffnet und auf Zehenspitzen hineingeht. Ich folge.

»Boris Ivanovitsch, hier ist der neue Stallbursche«, sagt Dimitri.

»Sehr gut, sehr gut. Der kommt gerade richtig.« Er schaut mich an und lächelt. »Du bist also Richard, stimmt’s?«

»Ja, stimmt, Genosse …« vielleicht verrät er mir seinen Nachnamen.

»Lass den ›Genossen‹ weg, ich heiße Boris Ivanovitsch«. Er steht auf, geht auf mich zu und reicht mir seine Hand.

»Sehr erfreut«, antworte ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Er hat einen kräftigen Händedruck, den ich erwidere.

Der Direktor nickt anerkennend: »Gute Manieren hat der Junge, das gefällt mir.« Er setzt sich wieder und sagt zufrieden: »Dich können wir hier gut brauchen. Du bekommst 30 Rubel im Monat. Wir fangen um 7 Uhr an und so gegen 17 Uhr ist dann Schluss, aber das lässt sich nicht immer so einrichten, manchmal dauert es auch etwas länger, je nach dem, was zu tun ist. Was sagst du? Einverstanden?«

»Ja, ich bin einverstanden Boris Ivanovitsch«, sage ich froh, im Bewusstsein meinen ersten Job bekommen zu haben.

»Sehr gut, sehr gut!«, sagt er sofort, als ob er nur darauf gewartet hat, bis ich es ausspreche. »Na dann willkommen in der Kolchose Neu Orlovka. Du kannst gleich mit Dimitri mitgehen, er zeigt dir alles.«

Er wendet sich zu Dimitri: »Für den Anfang kann er in den Ställen die Pferde mit Futter und Wasser versorgen.«

»Klar, Boris Ivanovitsch, ich weise ihn ein«, antwortet Dimitri.

»Wenn du Fragen hast oder sonst irgendein Anliegen, komm zu mir, ich werde tun, was ich kann«, ermutigt mich der Direktor. Er macht einen netten Eindruck.

 

Kaum sind wir aus dem Büro raus, konfrontiert Dimitri mich mit der harten Realität: »Tja, du vornehmer Junge, wir sind hier quasi nicht in der feinen Gesellschaft, hier ist harte Arbeit angesagt, quasi keine Wettbewerbe in Teetassen heben.« Ich weiß nicht, ob er die feine Gesellschaft nur als Begriff oder aus Erfahrung kennt, ich glaube Ersteres, aber darauf sage ich nichts, gehe ihm nur schweigend hinterher.

 

Er zeigt mir die Gebäude auf dem Hof, immer wieder gewürzt mit seinen schrägen, spitzen Bemerkungen. Dabei sagt er in jedem zweiten Satz ›quasi‹, ob es passt oder nicht. Wir treffen ein paar Arbeiter, die Dimitri mit »Hallo Quasi« begrüßen – da lag ich also schon ganz richtig. Das Seepferdchen Quasi.

In den Ställen angekommen, stimmt Quasi sogleich den Befehlston an.

»Um das Futter und Wasser kümmere ich mich, du mistest aus«, ordnet er an.

»Boris Ivanovitsch hat mir aufgetragen, die Pferde zu füttern«, bemerke ich mit der Vorahnung, in ein Wespennest zu stechen.

»Ach schau an, dann bist du wohl quasi zu fein und vornehm, um Mist zu schaufeln, was?«, springt Dimitri an.

»Du hast es auch gehört«, sage ich ruhig.

»Jetzt sag ich dir mal was, Lehrersöhnchen.« Dimitri stemmt sich die Hände auf die Hüften. Woher weiß er, dass meine Eltern Lehrer sind? Das kann er nur von Tante Emma haben. »Vielleicht kannst du die Lehrer und den Chef um den Finger wickeln, aber mich nicht. Ich merke sofort, was passiert. Du hältst dich quasi für was Besseres als wir. Deswegen darfst du jetzt kosten, wie das richtige Leben ist. Ich bin quasi seit 7 Jahren hier und bin mir für diese Arbeit nicht zu schade.«

»Das ist eindeutig zu lange.« Ich schaue Dimitri an und warte auf den nächsten Angriff. Und da kommt der auch schon.

»Was soll das denn heißen?« Quasi verschränkt die Arme vor der Brust.

»Nichts, lass uns einfach arbeiten.«

»Das will ich dir auch raten! Und damit du es weißt, Lehrersöhnchen, ich behalte dich quasi im Auge«, fuchtelt Dimitri mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase.

»Oh gut, dann passt du ja auf mich auf, damit mir nichts passiert. Da bin ich aber beruhigt«, sage ich.

Quasi weiß nicht, was er darauf antworten soll, und geht.

Ich schaue mich um, finde die notwendigen Gerätschaften und beginne auszumisten.

Nach einer Weile habe ich mich sogar an den Gestank gewöhnt und finde es gar nicht mehr so schlimm.

 

Das Seepferdchen hat hier wohl seine Bestimmung gefunden und obwohl ich mich gerne mit ihm angelegt hätte, habe ich für mich beschlossen, unauffällig zu bleiben. Was soll es mich stören, wenn ich nach ein paar Monaten sowieso von hier weg bin?

 

Die erste Woche vergeht recht schnell. Ich habe die Arbeiter auf dem Hof kennengelernt. Die meisten scheinen ganz in Ordnung zu sein, nur mit Quasi werde ich nicht warm. Er stichelt, wo er nur kann. »Na, Lehrersöhnchen, wie ist das Mistschaufeln so? Halten deine feinen Hände es auch aus?« Es scheint, als wäre das seine einzige Freude, die er hat.

 

Ich bin gern bei den Pferden, die haben keine Vorurteile und denen muss ich nichts erklären oder beweisen. Die akzeptieren mich so wie ich bin und wissen genau, wer gut zu ihnen ist.

 

Nach weiteren drei Wochen ruft Boris Ivanovitsch mich in sein Büro und gibt mir einen Umschlag.

»So Richard, wie ich höre, hast du dich hier gut eingearbeitet.«

»Ja, das klappt ganz gut«, antworte ich.

»Sehr gut, sehr gut. Hier ist dein Monatslohn, ich freue mich, ihn dir zu überreichen.«

»Danke, ich freue mich auch.«

»Das denke ich mir!«, lacht Boris Ivanovitsch.

Als ich nach Hause komme, begegnet Tante Emma mir am Eingang.

»Hallo Richard. Na, deinen ersten Lohn bekommen?«, fragt sie bestimmt nicht ohne Hintergedanken, wie ich sie kenne.

»Ja, habe ich«, antworte ich und gehe schnell ins Schlafzimmer.

Jetzt brauche ich noch ein gutes Versteck für mein Geld. Ich schaue mich im Zimmer um: Bett, Schrank, Kommode, nein – alles zu gewöhnlich. Da würde es schnell gefunden werden, ich brauche etwas Untypisches. Meine Suche wird durch den Ruf zum Essen unterbrochen.

 

Es gibt Kartoffeln mit frischem Salat und sogar Kuchen zum Nachtisch. So ganz ohne Anlass? Ein solches Essen gab es schon lange nicht mehr, genau das Richtige für meinen Hunger, also lange ich kräftig zu.

 

Während des Essens erzählt Tante Emma über die schlimme Hungerszeit vor fünf Jahren und wie gut es uns jetzt geht. »Doch das Essen kostet natürlich auch Geld und da du jetzt dein eigenes verdienst, finde ich es fair, wenn du zum Beispiel die Hälfte dazugibst«, beendet sie ihren Vortrag.

Das ist also der Grund für die üppige Mahlzeit, mich freigiebig zu stimmen. Aber die Hälfte ist unmöglich, das kann ich nicht machen.

Andererseits hat sie Recht, ich wohne und esse hier. Ich könnte mir auch was Eigenes suchen, was recht schwierig ist heutzutage. Da wären die Kosten mit Sicherheit höher. Trotzdem, die Hälfte ist zu viel.

»Das verstehe ich«, sage ich »Bist du mit zehn Rubel einverstanden?«

»Richard, du bist mein Neffe, glaubst du, ich werde mit dir über dein Geld verhandeln? Gib dazu, was du glaubst für angebracht zu halten.«

Das ist Tante Emma, sie versteht, einen Trumpf auszuspielen zu einem Zeitpunkt, wenn man am wenigsten damit rechnet.

Tja, keine Ahnung, was ich für angebracht halte. Am liebsten würde ich alles behalten, aber das kann ich nicht mit einem ruhigen Gewissen. Also wird Tante Emma ihren Anteil bekommen, zehn Rubel reichen. Dann dauert es eben ein paar Monate länger mit dem Ansparen.

 

In der darauf folgenden Zeit verbessert sich unser Verhältnis nicht wirklich, aber wir akzeptieren einander.

 

Albert hat eine Ausbildungsstelle zum Radiotechniker gefunden – eine völlig neue Richtung, mit der die meisten nichts anzufangen wissen. Aber er sagt, das ist die Zukunft; typisch Albert. In der Nähe gibt es auch ein Wohnheim, in dem er sich eine Wohnung mit zwei anderen Mitbewohnern teilt.

 

Ich habe ihn bloß noch einmal gesehen. Es war bereits Dezember und bitterkalt draußen. Albert klopfte an mein Fenster, um sicher zu gehen, dass er Tante Emma nicht begegnet.

»Hallo Albert, komm rein«, lud ich ihn ein.

»Nein danke, ich bleibe lieber hier«, entgegnete er.

Seine Erscheinung verwunderte mich: Albert hatte einen hellen Pelzmantel an, eine teure, feine Stoffhose und ebenso teure Schuhe. Allerdings waren seine Ohren blau vor Kälte und es sah für mich so aus, als wäre er zu Fuß unterwegs.

»Wärme dich doch für eine Weile auf«, schlug ich ihm vor. Doch er wollte nicht.

»Geht nicht, Bruder, ich werde erwartet. Ich bin nur vorbeigekommen, um Auf Wiedersehen zu sagen, bin unterwegs in den Süden«, sagte Albert, während er sich seine Hände rieb.

»Und wohin? Zu Tante Johanna?«, wollte ich wissen.

»Weiß ich noch nicht. Wenn ich da bin, werde ich es dich wissen lassen.« Er umarmte mich und sagte: »Bleib hier, bei Tante Emma. Hier bist du in Sicherheit. Ich muss jetzt los, Richard, wir sehen uns.«

Wir verabschiedeten uns mit dieser Hoffnung, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.

 

Gut zwei Jahre später stehe ich wieder mal im Büro des Direktors und freue mich auf meinen Monatslohn. Vor einem Jahr hat er mir angeboten, für ihn als Kutscher zu arbeiten. Das ist viel interessanter und bringt außerdem auch mehr Geld, wovon der Hamster nichts weiß. So wandern jeden Monat fünf Rubel mehr in mein Versteck.

»Sag mal, Richard, wofür sparst du dein Geld, hast du etwas geplant?«, fragt Boris Ivanovitsch mich.

»Für eine Reise.« Ich möchte so wenig wie möglich sagen.

»Wo soll es denn hingehen?«

»In den Süden.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, sagt er und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Ich kann dich sehr gut verstehen, aber es ist zurzeit schwer aus dem Land raus zu kommen, besonders mit so einem auffälligen Namen. Viele versuchen auf ein Schiff zu gelangen, deshalb sind die Kontrollen dort auch sehr gründlich.«

»Vielleicht will ich ja gar nicht aus dem Land raus«, wende ich ein.

»Dann ist es dort wie hier, kein Unterschied.« Er presst die Lippen zusammen und macht die Augen weit auf.

Ich wirke wohl etwas ratlos, weshalb Boris Ivanovitsch beschließt, mich auf andere Gedanken zu bringen.

»Jetzt machen wir Feierabend und morgen sehen wir weiter. Ich kenne jemanden im Ausbildungszentrum, mal sehen, ob wir für dich was organisieren können.«

Den Rest des Abends gehen mir Gedanken durch den Kopf. Ich sitze draußen und genieße den warmen Spätsommerabend. Eine Ausbildung wäre klasse, es gibt ein Wohnheim und Essen, nach der Lehre gibt es dann auch mehr Geld. Der Chef hat gar nicht gesagt, um welche Ausbildung es sich handelt, aber das ist mir erstmal egal, ich will bloß weg von hier. Weg aus dieser unheilbringenden Umgebung.

 

Zumindest dachte ich das die ganze Zeit, das war mein Ziel, darauf habe ich hingearbeitet. Doch jetzt kreist der Satz im Kopf: »Dort ist es wie hier, kein Unterschied.« Das hat auch Mama gesagt: »Es ist überall so, im ganzen Land.« Der Gedanke ist ernüchternd, aber es stimmt. Bei Tante Johanna brauche ich auch Schule, Arbeit oder Ausbildung. Und auffallen werde ich da so wie hier auch. Es ist, als wäre ich vor eine unsichtbare Wand gelaufen, durch die ich jetzt einen Ausgang finden muss.

 

Mama wollte zu Tante Johanna nachkommen, sobald sie raus ist, so war es verabredet.

Aber selbst wenn ich nicht da bin, wird sie wissen, wie sie mich finden kann. Außerdem hätte sie sich dann nicht erst hier gemeldet? Lohnt es sich tatsächlich, nach Mariupol zu gehen?

 

Ich bin müde vom Grübeln, also gehe ich ins Haus und falle ins Bett.


1 Kolchose: landwirtschaftlicher Betrieb.

Kapitel 9

Ukraine, April 1941

»Richard, Richard, wach auf! Wir müssen los!«

»Mama?!« – Nein, nur das verwunderte Gesicht von Heinrich blickt mich an.

»Sehe ich etwa so aus?«

»Nein, du bist hässlich. Wie spät ist es?«

»Fünf nach beweg deinen Hintern aus dem Bett!«

»Ich bin total müde und noch überhaupt nicht wach, heute kommt ihr ohne mich aus.«

»Spinnst du? Wir brauchen dich, heute ist die Entscheidung. Ich schwöre, ich hol dich gleich mit einem Eimer Wasser aus dem Bett!«

»Los, Richard, komm schon«, sagt Willi.

»Ist ja gut, ich komme.«

 

Ich ziehe mich, so schnell, wie es in meinem müden Zustand geht, an und wir gehen los.

 

Draußen am Eingang bleibe ich kurz stehen und atme die frische Luft tief ein, lasse mich von der Sonne so lange wärmen, bis Heinrich mich am Arm packt und hinter sich herzieht. Heute ist ein herrlich schöner, sonniger, warmer Tag mit leichtem Wind, der die wenigen kleinen Wolken wie Schafe über den Himmel treibt.

»Richard, komm! Du träumst wohl noch«, bemerkt Willi.

»Ich hoffe, ich werde bis dahin wach«, sage ich.

»Das wirst du beim Anstoß schon«, beruhigt er mich.

»Vielleicht treffe ich Tanja, dann hat sich das Aufstehen auf jeden Fall gelohnt«, überlege ich laut.

»Ach, du und Tanja könntet Zwillinge sein, so wie ihr zusammenpasst«, sagt Willi.

»Wenn du mit ihr sprichst, dann sind wir für dich Luft, als wären wir gar nicht da«, ergänzt Heinrich.

 

Ich habe sie vorher schon ein paar Mal im Dorf bemerkt. Sie sah jedes Mal irgendwie unnahbar und auch wunderschön aus, etwa sechzehn, siebzehn, mit wunderschönen langen dunklen Haaren und faszinierenden braunen, traurigen Augen. Ihr aufrechter Gang und ihre Haltung hatten etwas Edles, Majestätisches. Als wir uns einmal auf der Straße begegneten, wirkte sie wie ein Magnet auf mich, ich konnte nicht anders, als sie anzusprechen.

»Hallo, du siehst wunderschön aus!«, sagte ich, in dem Moment ist mir nichts anderes eingefallen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783946914099
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Russlanddeutsche Ukraine Verfolgung UdSSR

Autor

  • Elimar Böttcher (Autor:in)

Elimar Böttcher, geboren 1976, lebt mit seiner Frau, drei Kindern und dem Familienhund in Porta Westfalica. Auf seinen Reisen trifft er viele Menschen, deren Geschichten es wert sind erzählt zu werden, um Hoffnung, Mut und Glauben weiterzugeben. Christines Ringist sein Debütroman.Die Geschichte basiert auf wahren Erlebnissen seines Vaters, der unter dem harten Militärregime in der UdSSR ums Überleben kämpfen musste.
Zurück

Titel: Christines Ring