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Hart Island Horror

von Uwe Siebert (Autor:in)
73 Seiten

Zusammenfassung

Nach seinem Abschluss von der Highschool führt Kevin Baker nur noch ein bescheidenes Leben. Damals beendete eine Knieverletzung seine Footballkarriere, seine große Liebe Stacey verließ ihn und heiratete einen anderen Mann. Auf sich allein gestellt lebt Kevin in der Bronx und versucht, sich mit einem Job als Nachtwächter im städtischen Krankenhaus über Wasser zu halten. Eines Nachts vergeht er sich in der Leichenhalle an einer toten Frau. Dadurch beschwört er einen Albtraum herauf, der nicht nur ihn selbst, sondern auch seine große Liebe in tödliche Gefahr bringt. Denn niemand anderes als der Teufel persönlich hat es auf Kevin abgesehen und spielt sein perfides Spiel mit ihm.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Teil 1: Kaltes Fleisch

„Hey, Ace“, rief Jimmy Mitchell über den Hof der Stuyvesant Highschool.

Ein kräftig gebauter junger Mann drehte sich zu seinem Mitschüler um. Kevin Baker runzelte die Stirn. Er hatte nie viel für Jimmy übrig gehabt, der Kerl war einer jener abgemagerten Streber, die es in jedem Jahrgang gab und die bei keinem Mädchen landen konnten. Außerdem redete er zu viel, wann immer man ihm begegnete. Doch besonders berüchtigt waren seine zahlreichen Späße auf Kosten anderer Mitschüler. Das Vertauschen der Beschriftung auf den Zucker- und Salzstreuern in der Kantine gehörte noch zu seinen harmlosesten Streichen. Seit einiger Zeit hatte er es auf Kevin abgesehen.

„Was willst du, Mitchell?“

„Nur ein kurzes Gespräch führen, sonst nichts. Stell dir einfach vor, ich wäre von der Times. Bist du noch der Quarterback, bist du noch unser Superstar?“

„Für Spinner wie dich habe ich keine Zeit. Also verpiss dich.“

„Na dann habe ich ja Glück, dass du mir nicht davonlaufen kannst. Wie geht’s deinem Knie?“

Kevin fühlte Wut in sich aufsteigen. Erst vor drei Tagen war er aus dem Krankenhaus entlassen worden und jede Bewegung seines linken Beins sandte einen stechenden Schmerz durch sein Kniegelenk.

„Football hat seinen Preis, nicht wahr?“ Grinsend zeigte Jimmy auf die Krücken, mit denen Kevin sich stützen musste. „Aber ich habe gehört, die Behindertenliga sucht immer noch Spieler. Vielleicht kauft dir Coach Higgins ja einen Rollstuhl.“

Einige Mitschüler kicherten, das große Tuscheln begann. Längst hatte sich ein Kreis von Schaulustigen um Kevin und Jimmy zusammengefunden. Jetzt war es wichtig die Beherrschung zu bewahren. Kevin holte tief Luft, bemühte sich, seinen verletzten Stolz zu ignorieren. Er wollte nur so schnell wie möglich den heutigen Tag hinter sich bringen und sich zu Hause auf der Couch ausruhen. Niemals hatte er sich vorstellen können, wie anstrengend und schmerzhaft jede Bewegung sein würde. Doch er befürchtete, Jimmy würde ihn nicht so schnell in Ruhe lassen.

„Suchst du echt Ärger, Mitchell?“

„Ob ich Ärger suche, Baker? Kommt ganz drauf an. Immerhin hast du unsere Schule um die Meisterschaft gebracht. Die Tigers haben dich und deine Warriors mit 32 zu 20 geschlagen. Und einige von uns haben ein paar Mäuse dabei verloren.“

Jimmys Augen leuchteten, als er in die Runde seiner Mitschüler sah. Der Clown der Jahrgangsstufe war ganz in seinem Element und hatte noch mehr Lacher auf seiner Seite. Was man ihm jedenfalls nicht vorwerfen konnte, war ein Mangel an Selbstbewusstsein. In diesem Moment war er zum größten Comedian im ganzen Bundesstaat mutiert. Und Kevin kochte innerlich vor Wut.

„Verpiss dich endlich, du kleiner Scheißkerl!“ brüllte er. Seine Stimme klang weit weniger bedrohlich als angestrebt. „Hörst du, Mitchell, du kannst nichts und du bist nichts.“

„Ich bin ein Mathematikgenie und ich weiß auch, was du bist. Du bist ein Versager.“

Augenblicklich ließ Kevin beide Krücken fallen, seine rechte Hand ballte sich zur Faust und traf Jimmys Gesicht. Noch nie zuvor hatte er erlebt, dass sich ein hämisches Grinsen derart schnell in eine Grimasse der Furcht verwandelte. Kevin rammte Jimmy mit dem ganzen Gewicht seines Körpers, beide gingen zu Boden. Der Schmerz in seinem Knie trieb ihm Tränen in die Augen, dennoch ließ er nicht von seinem Gegner ab. Es gab viele Mitschüler, die ihn plötzlich anfeuerten, fast glaubte er sich zurück auf dem Footballfeld. Andere versuchten ihn von Jimmy wegzuzerren, aber er war stärker als sie. Nach dem dritten Faustschlag drang nur noch die Stimme von Stacey Summers wie durch einen Schleier an seine Ohren: „Nein, Ace, hör auf … du bringst ihn ja um!“

Immer wieder hallten ihre Rufe in seiner Erinnerung nach, bis sie schließlich abrupt verstummten und die Gegenwart von Kevin Besitz ergriff.

„Vergangenheit“, seufzte er.

Wie lange war das alles her? Zwei, drei, vier Jahre? Schon seit Minuten blickte er auf die alte Narbe an seinem Handknöchel. Beim ersten Schlag in Jimmys Gesicht hatte er sich an den Schneidezähnen des Mitschülers die Haut aufgerissen. In all den Jahren, die folgten, hatte er gelernt, was für ein hinterlistiges Flittchen das Leben sein konnte. Mal gaukelte es ihm vor, für Großes bestimmt zu sein, nur um ihm im nächsten Moment ein Bein zu stellen und in den Armen eines anderen Kerls lachend davonzuziehen.

Für Kevin gab es als Nachtpförtner des Bellevue Hospitals nur wenig Arbeit zu verrichten, für gewöhnlich erfüllte sein Beruf ihn mit einer Langeweile, die er von früher nicht gewohnt war.

Obdachlose und Drogensüchtige klopften zuweilen an die Pforte in der Hoffnung auf eine Mahlzeit und ein warmes Bett. Und während sich das Fachpersonal auf die Notaufnahme konzentrierte, döste Kevin in seinem kleinen Büro vor sich hin oder sah sich die Wiederholungen von T.J. Hooker und Wheel of Fortune im Fernsehen an. Manchmal spazierte er auch durch die Korridore, so wie heute Nacht. Die Sohlen seiner Schuhe klackten auf dem Linoleumboden. Die weiß verputzten Wände reflektierten das Licht der Deckenbeleuchtung. Kevins Berufswelt war karg, und die Luft, die er darin atmete, war eine penetrante Mischung aus verschiedensten Desinfektionsmitteln, die von den Reinigungskräften beim Aufputzen der Korridore benutzt wurden.

Kevin war nicht überrascht, dass er der einzige Bewerber für diesen Job gewesen war. Die Bezahlung war nicht sonderlich gut und die nächtliche Tätigkeit wurde zunehmend zur Qual.

Nachdem er die Highschool verlassen hatte, war sein Leben nicht besonders gut verlaufen. Noch vor fünf Jahren hatte ihm sein Sportlehrer Mr. Higgins eine Zukunft in der Profiliga prophezeit. Ace of Spades, so hatten sie ihn genannt; er war das Pik-Ass seines Teams gewesen, der große Gewinner, den nichts und niemand stoppen konnte. Doch eine Knieverletzung hatte die aufstrebende Footballkarriere beendet. Kevins kleine heile Welt war wie seine Kniescheibe in Scherben zersprungen, und Ace of Spades verschwand in der Versenkung.

Die meisten seiner Mitschüler hatten nach dem Abschluss von der Stuyvesant Highschool einen mehr oder minder gut bezahlten Job gefunden, andere profitierten sogar von Stipendien für berühmte Universitäten. Aber Kevin war es weder gelungen einen anständigen Job zu finden, noch eine Familie zu gründen. Wenn große Träume zerplatzen, fühlt es sich zuweilen so an, als drohe die ganze Welt zu zerbrechen; und der Antrieb eines Mannes, der ihn normalerweise davon abhält, sich selbst und alle seine Hoffnungen aufzugeben, beginnt zu streiken.

Seine große Liebe, Stacey Summers, verließ ihn, während er verzweifelt versuchte, einen Job in der Werkstatt einer kleinen Tankstelle in der Nähe von Queens zu bekommen. Sie hatte den Immobilienmakler Anton Baxter geheiratet und lebte mit ihm irgendwo in New Jersey. Sie besaßen ein eigenes Haus, und vor einem Jahr hatte Stacey eine Tochter zur Welt gebracht.

In den letzten dreizehn Monaten hatte er nur noch eine Beziehung zu seiner rechten Hand gehabt. Es schien, als könnten die Frauen sein Versagen wittern, als wüssten sie, dass er ihnen nichts mehr bieten konnte.

Zu viel Alkohol und billiges Junkfood hatten ihn seine drahtige Statur gekostet, das straffe Sixpack war einem üppigen Bauchansatz gewichen und seine kantigen Gesichtszüge lagen unter Pausbacken und einem Doppelkinn begraben.

An vielen Tagen ging er seinem Spiegelbild aus dem Weg – solche Tage häuften sich, und es war an der Zeit, sich einzugestehen, dass Ace of Spades gestorben war. Aus dem ehemaligen Quarterback und Frauenschwarm war tatsächlich ein Versager geworden.

~

Kevins Schicht verlief spannender, seitdem er wusste, wie einfach es war, sich Zutritt zu allen Abteilungen des Hospitals zu verschaffen. Als Teil des Personals hatte er Zugriff auf den Schlüsselschrank.

Nach Mitternacht war er die einzige Person, die das Untergeschoss des Gebäudes betrat. Sein Blick war stets auf die blanke Metalltür der Leichenhalle gerichtet. Die angrenzenden Abteilungen der Gerichtsmedizin und der Pathologie waren seit Stunden verlassen. Das Personal hatte die letzte Schicht um neun Uhr beendet.

Die Stille, die in diesem Teil des Gebäudes herrschte, hätte Kevin unter anderen Umständen beunruhigt. Es war zu still.

Die meisten Menschen beschäftigten sich nur flüchtig damit, dass irgendwann ganz unweigerlich jedes Herz aufhörte zu schlagen, doch zumeist verdrängten sie den Gedanken daran wieder. Der Tod war ein ungebetener Gast in ihrem Leben, sie versuchten ihn auszusperren, solange es möglich war.

Die Tür zur Leichenhalle war verschlossen. Kevin zog den großen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Es dauerte nicht lange, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte.

Er öffnete die Tür. Schon häufig hatte er die Halle betreten. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Die Kälte hier unten konnte den Verfall der Körper zwar verlangsamen, aber nicht aufhalten. Sieben Leichname lagen nebeneinander auf Metalltischen, die Körper waren mit Laken abgedeckt. Sie waren erst am späten Nachmittag gebracht worden, und da die Mehrheit der Angestellten auf einen mehr oder minder pünktlichen Feierabend Wert legte, verzögerten sich die Arbeiten erheblich.

Er betrachtete die Zettel an den großen Zehen der Toten – an einem Ort wie diesem waren sie die einzige Erinnerung daran, dass diese Menschen einmal einen Namen gehabt hatten. Sechs von ihnen waren Männer, nur unter dem letzten Laken zeichnete sich deutlich die Wölbung weiblicher Brüste ab. Natürlich war er sich darüber im Klaren, dass seine Neugierde längst mit einem sexuellen Motiv einherging. Schon letztes Mal hatte allein die Vorstellung, den Leichnam einer zwanzigjährigen Drogensüchtigen anzusehen, bei ihm eine Erektion verursacht. Er war vor sich selbst erschrocken, davor wie sehr er sich gewünscht hatte, die Haut der Toten zu berühren. Damals hatte er die Leichenhalle fluchtartig verlassen, ehe er sein Verlangen in die Tat umsetzen konnte. Doch heute Nacht würde er die Berührung wagen.

Seine Hände zitterten, als er das Laken anhob. Die Frau darunter war Anfang dreißig, das braune Haar hüftlang und strähnig. Ihre spröde Gesichtshaut verriet, dass sie weder Make-up noch Lippenstift oder Peeling-Cremes benutzt hatte. Wahrscheinlich war sie eine Obdachlose gewesen. Mit ein bisschen Pflege, kürzeren Haaren und gesunder Ernährung hätte sie Stacey verblüffend ähnlich gesehen. Ihre Augenlider waren geschlossen, als würde sie schlafen. Der Oberkörper der Toten wies mehrere starke Blutergüsse auf. Kevin sah an ihr hinab. Es war der Blick eines Voyeurs, der schon bald vom Betrachter zum Täter werden würde. Heute Nacht würde es soweit sein, dessen war er sich sicher. Er sprach den Namen der Toten laut aus: „Mary Sampson.“ Es glich einem Ritual, dessen Reihenfolge genau eingehalten werden musste, um zu einem krönenden Abschluss zu führen. Dabei grenzte es an Ironie, dass sie die einzige Frau war, die er in den letzten Monaten unbekleidet gesehen hatte. Kevin genoss jeden Zentimeter ihrer Nacktheit, ergötzte sich an den Rundungen ihres Körpers, während er sich darüber wunderte, dass er nicht den geringsten Ekel vor ihrem Leichnam verspürte.

Langsam und mit einer für ihn untypischen Zaghaftigkeit legte er seine Hand auf ihren Körper. Die Kälte ihrer Haut ließ ihn zusammenzucken, doch als er sich daran gewöhnt hatte, genoss er die Berührung. Er streichelte ihre Brüste. Früher hatten die Frauen in seinen Armen bei einer solchen Liebkosung ihrer Brustwarzen geseufzt, nur Mary schwieg. Seine Hand wanderte tiefer, mit jedem weiteren Zentimeter stieg sein Puls an. Eine Handbreit unterhalb von Marys Bauchnabel begann ein Saum dunkler Haare, der Kevin wie ein Wegweiser zwischen ihre Beine führte.

Hart drückte seine Erektion gegen das Innere seiner Jeans. Obwohl er wusste, dass er ganz allein in der Leichenhalle war, blickte er sich um. Er kämpfte gegen seinen Trieb an und verfluchte seinen Körper und die Geilheit, die langsam aber sicher seinen Verstand auszuschalten drohte.

Was um alles in der Welt tat er hier eigentlich? Er stand bei dem Leichnam einer Frau, seine rechte Hand lag zwischen ihren Schenkeln und zwei seiner Finger drangen in ihr kaltes Fleisch ein.

Als hätte diese Penetration eine Pforte in die Welt des Todes geöffnet, stieg ein unangenehmer Gestank aus Marys Schoß empor, der spitz wie ein Messer in Kevins Atemwege stach. Er musste würgen, dennoch ließ er nicht von der Toten ab. Er atmete hastiger, sein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer, drohte den Brustkorb zu sprengen. Seine rechte Hand öffnete den Reißverschluss seiner Jeans, verschaffte seinem Penis den nötigen Platz. Kevin konnte nicht anders, er spreizte die Beine der Toten. Der Metalltisch knarrte unter seinem Gewicht, als er sich auf den Leichnam legte.

„Mary Sampson“, abermals wiederholte er ihren Namen. Der süßlich herbe Geruch ihrer blassen Haut war nun ganz nahe und hüllte ihn ein wie ein betörendes Parfüm. Eine Handvoll Speichel genügte, um sein Glied und die Vagina der Toten geschmeidig zu machen. Dann drang er in sie ein. Die Kälte in ihrem Inneren umschloss seinen Penis. Ihn fröstelte, ein Schauer jagte den nächsten. Kevins Stöße waren heftig, schon bald war Mary wieder so trocken wie eine gedörrte Apfelschale. Als er sich in sie ergoss und der Orgasmus wie eine gewaltige Welle durch jeden Winkel seines Körpers brandete, schrie er auf. Dieser Moment, den er mit allen Sinnen festzuhalten versuchte, war für ihn der Höhepunkt dieser Nacht. Es war der bisher beste Sex seines Lebens gewesen. Er sank auf den Leichnam herab. Sabber rann zwischen seinen Mundwinkeln hervor. Kevin war sich des erbärmlichen wie obszönen Anblicks, den er abgab, vollkommen bewusst. Scham überkam ihn. Hastig zog er seinen mittlerweile erschlafften Penis aus der Vagina und ließ ihn in seiner Hose verschwinden.

Erst jetzt wurde Kevin richtig klar, was er soeben getan hatte. Mehrere Schritte wich er vor dem Leichnam zurück. Übelkeit stieg in ihm hoch – der Ekel vor dem verwesenden Fleisch, dem Gestank erkalteter Genitalien und der Endgültigkeit des Todes. Sterne tanzten vor seinen Augen und er übergab sich auf den Boden.

„Gott, vergib mir!“ Seine Stimme wurde zu einem Winseln.

Mittlerweile gab es so viele verräterische Spuren in diesem Raum, die auf einen Leichenschänder hindeuteten, dass Kevin sich auszumalen begann, welche Strafe er zu erwarten hatte.

Wenn auch nur einer der Pathologen Verdacht schöpfte, würden sie ohne zu zögern die Polizei rufen und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Kevin verhaftet würde. Schon die Vorstellung, all den anklagenden Blicken der anderen Angestellten und der Polizisten ausgeliefert zu sein, war schrecklich. Er würde in einer Psychiatrie enden, vielleicht sogar in der psychiatrischen Einrichtung des Hospitals, an der Seite von Vergewaltigern, Kinderschändern und anderen gestörten Sexualstraftätern. Das traurige Ende von Ace of Spades.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Spuren zu verwischen und zu hoffen, dass keiner der Angestellten früher als erwartet seinen Dienst begann.

Er verbrauchte Unmengen an Papiertüchern und musste stark dagegen ankämpfen, dass ihm nicht wieder übel wurde.

~

Kevin war heilfroh, als seine Schicht um sechs Uhr endete. Während er auf dem Weg nach draußen Dr. Meyers begegnete, fiel es ihm schwer, dem Chefpathologen in die Augen zu sehen.

„Da ist ja der junge Mr. Baker. Guten Morgen.“

„Guten Morgen, Sir.“ Kevin hielt noch immer den Blick gesenkt.

„Sie sehen aus, als hätten Sie eine anstrengende Nacht hinter sich. Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind so blass.“

„Ich habe nur was Falsches gegessen.“ Eine bessere Erklärung fiel ihm nicht ein.

„Finger weg von Burger und Fritten, das Zeug ist nicht gut und geht auf die Hüften.“ Der Chefpathologe entblößte beim Grinsen seine von Nikotin vergilbten Zähne.

Mit schnellen Schritten ging Kevin über den Parkplatz, zu schnell für sein linkes Knie. Der Schmerz in dem lädierten Gelenk wurde pochend, und er begann wieder zu hinken.

Die Sonne ging auf, die ersten Strahlen blendeten seine mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Kaum saß er hinter dem Steuer seines Chevys, atmete er erleichtert auf und ließ sich in den Ledersitz zurücksinken. Erst als er den Gurt anlegte, bemerkte er die Spermaflecken auf seiner Jeans. Er war so darauf versessen gewesen, alle Spuren in der Leichenhalle zu beseitigen, dass er völlig vergessen hatte, auf seine Kleidung zu achten. Hoffentlich hatte Dr. Meyers nichts bemerkt.

Als Kevin vom Parkplatz fuhr, streifte er beinahe einen Lastwagen der Müllabfuhr.

„Reiß dich zusammen, Ace“, flüsterte er.

Auf der First Avenue herrschte um diese Uhrzeit verhältnismäßig wenig Verkehr. Noch immer kreisten Kevins Gedanken um die letzte Nacht, noch immer hatte er Angst davor, dass man ihm seine Tat nachweisen könnte. In der Enge des Wagens bemerkte er den Gestank, der ihn wie eine verräterische Aura umwehte – es roch nach Mary Sampson, nach Tod und Verwesung.

Kevin fuhr so unaufmerksam, dass er zwei rote Ampeln übersah und beinahe einen weiteren Zusammenstoß mit einem Kombi verursacht hätte. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis er die neun Meilen zu seiner Wohnung zurückgelegt hatte.

~

„Baker, du bist zwei Mieten im Rückstand!“ Die Stimme von Harold Bukowski drang an sein Ohr, noch ehe er die Schwelle zum Hausflur überquert hatte. Der alte Mann trug denselben Jogginganzug wie vor zwei Tagen, als er das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Bereits am Montag hatte Bukowski auf Kevin gewartet, um ihn an seine Mietschulden zu erinnern.

„Verkauf deinen Wagen, Söhnchen, dann hast du genug Geld.“

„Ich bekomme mein Geld Ende der Woche, dann bezahle ich, Mr. Bukowski, versprochen!“

„Das hier ist nicht die Wohlfahrt. Du sitzt schneller vor der Tür, als du denkst. Hörst du, was ich sage?“ Der alte Mann beging den Fehler, Kevin am Arm zu packen und festzuhalten.

Blitzartig fuhr Kevin zu ihm herum und presste ihn an die Wand. Der ehemalige Footballspieler war fast einen Kopf größer als der Hauseigentümer und weitaus massiger. Er sah Bukowski in die Augen.

„Fassen Sie mich nie wieder an. Haben Sie mich verstanden?“

Bukowski nickte. Der Ausdruck in seinem faltigen Gesicht verriet, dass er Kevin unterschätzt hatte.

„Ende der Woche, hab ich gesagt, und keinen Tag früher. Kapiert?“

„Klar. Ich nehme Sie beim Wort, Baker. Hab keinen Grund, daran zu zweifeln.“

Kevin ließ ihn los. Noch während er die Treppe hinauf in den zweiten Stock ging, hörte er Mr. Bukowski in der Erdgeschosswohnung schimpfen. Decken und Wände des vierstöckigen Hauses waren dünn. Manchmal konnte Kevin auch hören, wenn sich sein Nachbar die Spiele der Giants im Fernsehen anschaute oder wenn die Frau in der Wohnung gegenüber Besuch von ihrem Liebhaber hatte.

Kaum hatte er seine Wohnung betreten, entledigte er sich seiner Kleidung, in der Hoffnung den Verwesungsgestank endlich loszuwerden; doch zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass er unterhalb der Gürtellinie genauso roch.

Erst eine ausgiebige Dusche, die er am liebsten gar nicht mehr beendet hätte, konnte den Gestank fortspülen.

~

Kevins Wohnung war klein, sein Gehalt reichte gerade einmal aus, die monatliche Miete zu bezahlen. Sobald unerwartete Kosten auf ihn zukamen, wie die Reparatur seines Wagens vor zwei Monaten, geriet er in eine finanzielle Krise. Es wäre natürlich das Vernünftigste gewesen den Chevy zu verkaufen und wie die meisten New Yorker die Bus- und U-Bahn-Verbindungen zu nutzen, aber Kevin konnte sich nicht von dem Wagen trennen. Der schwarz lackierte Chevrolet Caprice Classic war ein Geschenk seines Dads gewesen. Kevin hatte zwar immer den Impala bevorzugt, aber er wusste Geschenke zu schätzen. Um nichts in der Welt würde er den Wagen verkaufen, nur um dem alten Bukowski die Miete für eine heruntergekommene Wohnung zu zahlen.

Bisher hatte er es strikt vermieden, seine Eltern in Brooklyn anzurufen und sich Geld zu leihen. Zweifellos hätten sie ihm ausgeholfen. Aber er war immer stolz darauf gewesen, nach der Highschool und trotz vieler Misserfolge auf eigenen Beinen zu stehen – obwohl sein Stand im Leben äußerst wackelig war.

Er war sich sicher, dass sein Leben anders verlaufen wäre, wenn Stacey ihn nicht verlassen hätte. Sie hatte ihn im Stich gelassen, als er ihre Unterstützung am dringendsten gebraucht hatte. Insgeheim gab er ihr sogar die Schuld an seiner derzeitigen Lage, doch er konnte nicht leugnen, dass er sie nach wie vor liebte. Und an Tagen wie diesen flammte seine Sehnsucht nach Stacey auf wie ein Feuer, in das Öl gegossen wurde.

Gelegentlich rief er bei ihr zu Hause an, er wusste mittlerweile genau, zu welchen Tageszeiten sie allein war. Wenn sie den Hörer abnahm, sprach er kein Wort, sondern lauschte nur den Klängen ihrer Stimme. Bereits zweimal hatte ihr Mann deswegen die Telefonnummer ändern lassen, aber Kevin hatte einen guten Freund bei der Telefongesellschaft.

Er kannte Staceys neue Telefonnummer längst auswendig. Schon nach wenigen Sekunden hörte er sie sprechen: „Stacey Baxter … Hallo?“ Im Hintergrund schrie ein Baby, und Kevin lächelte. Es hätte sein Kind sein können. Er wollte Stacey zu gern sagen, wie sehr er sie noch immer liebte und dass sie zu ihm zurückkommen sollte, auch wenn er ihr nicht mehr viel bieten konnte. Er wollte ihr das Versprechen geben, dass es dennoch irgendwie und irgendwo ein Happy End für sie beide gab, aber er schwieg. Auch sein Mut hatte ihn verlassen …

Stacey legte auf.

~

Mittlerweile war es zehn Uhr. Die Straßen hatten sich belebt. Kevin nahm das Geräusch der vorbeifahrenden Autos und ferner Polizeisirenen kaum wahr. Sein nächtlicher Job forderte den üblichen Tribut, nicht mehr lange würde er sich noch auf den Beinen halten können. Er hatte die Vorhänge des Schlafzimmers zugezogen und ließ sich endlich auf das Bett fallen. Die Matratze war durchgelegen, durch sein hohes Gewicht sank er viel zu tief ein.

Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Bourbon. Längst war es für ihn zur Gewohnheit geworden vor dem Schlafengehen einen Schluck nach dem anderen zu nehmen. Er genoss die Wärme, die seine Kehle hinabrann und sich in seinem Bauch ausbreitete. Wie viel einfacher war das Leben im Rausch zu ertragen, die Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten schwand, ebenso wie die Schmerzen in seinem Knie.

„Stacey“, flüsterte er. Für seine Ohren klang es beinahe wie Mary, und er musste für einen Moment tatsächlich überlegen ob er den richtigen Namen ausgesprochen hatte. Zweifellos dachte er an seine große Liebe, doch vor seinem geistigen Auge sah er Mary Sampson. Das ausdruckslose Gesicht mit der bleichen Haut und den eingefallenen Wangen glänzte in der Dunkelheit seines Schlafzimmers auf wie der Mond am Nachthimmel. Er hatte sie gefickt, hatte wahrhaftig ihre stinkende Leiche gefickt, und dieses Erlebnis suchte ihn sogar im Traum heim.

~

Kevin ist nackt, wie bei seiner Geburt, und von Kälte umgeben, er schlottert so heftig, dass ihm die Zähne klappern. Der Gestank von Fäulnis sticht so schmerzhaft in seine Atemwege, dass sein Brustkorb zu bersten droht.

Seine Augen sind weit aufgerissen, panisch sieht er sich um, doch überall sind nur Leichen und ihre ausdruckslosen Gesichter. Er liegt zwischen ihnen, spürt ihre Haut auf seiner Haut. Da ist auch Mary Sampson, ihre Beine sind in einem unnatürlichen Winkel von ihrem Becken abgespreizt. Ihre Vagina ist nicht mehr als eine Ansammlung grauen Fleisches, in dem sich tausende Maden tummeln.

Irgendwo aus den Tiefen dieser Leichengrube erklingt eine Stimme, zischend wie ein Windstoß auf weiter Flur: „Das Leben ist nichts als ein Spiel, Ace. Manchmal spielst du für eine Mannschaft, aber meistens spielst du für dich allein. Und egal was du tust, jede Bewegung, jeder Pass, jeder Wurf, alles hat Konsequenzen. Sogar der Tod hat Konsequenzen.“

~

Stacey Baxter betrachtete die kleine Sarah-Lynn in ihrer Wiege. Das Kind schlief seit etwa fünf Minuten. Die junge Mutter lächelte zufrieden, so wie sie immer lächelte, wenn sie ihre Tochter in den Schlaf gesungen hatte.

Ihr Blick schweifte durch den Raum zum Telefon und Unruhe überkam sie. Sie hatte einen vagen Verdacht, wer sie angerufen hatte. Obwohl der Anrufer nie ein Wort sprach und sie ihn nur atmen hörte, tippte sie auf Kevin. Als sie noch mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie ihn vor vielen seiner Einsätze als Quarterback außerordentlich nervös erlebt. Dann begannen seine Hände zu zittern, und sein Atmen verwandelte sich in ein Schnaufen. Großer Gott, am Telefon hatte sie dasselbe Schnaufen gehört.

Sie hatte Anton nicht viel über Kevin erzählt, frühere Beziehungen hatten in einer Ehe nichts zu suchen. Obwohl es ihr damals schwer gefallen war, sich von Kevin zu trennen, wusste sie doch, dass sie sich richtig entschieden hatte.

Kevins ganzes Leben war auf eine Karriere als Quarterback ausgerichtet gewesen, und geprägt von der Hoffnung, irgendwann für die Giants spielen zu dürfen. Es hatte nichts anderes für ihn gegeben. Als umso schlimmer hatte er es empfunden, nicht mehr spielen zu können. Nach seiner Verletzung hatte er sich verändert; Stacey und die meisten seiner damaligen Freunde empfanden ihn plötzlich als unangenehm. Er wurde schnell aufbrausend, und einmal hatte er sogar einen Mitschüler nach dem Unterricht bewusstlos geschlagen. Nach diesem Wutausbruch hatte er begonnen, sich von den meisten Leuten zurückzuziehen. Er nahm eine ganze Weile starke Schmerzmittel, trank zuviel Alkohol und war fast jeden Abend betrunken.

Es war nicht unbedingt mangelnde Liebe gewesen, die Stacey dazu bewogen hatte, ihren eigenen Weg im Leben zu gehen, vielmehr hatte sie Kevins selbstzerstörerische Phase nicht länger ertragen können.

Zuweilen fragte sie sich, wie es ihm jetzt wohl ging, ob er eine andere Frau kennengelernt und vielleicht sogar eine Familie gegründet hatte. Wenn er seine Selbstbeherrschung zurückgefunden hatte, es ein neues Ziel in seinem Leben gab, dann würde Kevin sogar ein guter Vater sein, dessen war sich Stacey sicher. Im Stillen wünschte sie Kevin von ganzem Herzen alles Glück dieser Welt.

Sobald Anton von der Arbeit zurückkam, würde sie ihn bitten, die Telefonnummer ein weiteres Mal ändern zu lassen.

~

Als der Wecker am späten Nachmittag klingelte, erwachte Kevin mit einer Erektion. Das Gefühl von Scham war noch immer da und ließ sich weder mit einer weiteren Dusche noch mit Bourbon wegspülen.

Die Gewissheit, auch heute Abend wieder seine Schicht im Hospital anzutreten, erfüllte ihn mit Angst. Dennoch musste er an diesen Ort zurückkehren; wie sonst sollte er erfahren, ob Dr. Meyers oder die anderen Angestellten irgendetwas von der Leichenschändung bemerkt hatten.

An der frischen Kleidung, die er anzog, haftete der Geruch des Waschmittels – eine willkommene Abwechslung zu dem Verwesungsgestank der letzten Nachtschicht.

Als Kevin in den Chevy stieg, dachte er kurz daran, hinüber nach New Jersey zu fahren und Stacey zu besuchen. Er kannte die Adresse der Baxters, aber er war noch nie in der Gegend gewesen. Letzten Endes verwarf er den Gedanken wieder, denn wahrscheinlich würde er die kleine Familie nur belästigen.

Am Abend verzögerte sich sein Fahrweg um eine gute Viertelstunde. Der Feierabendverkehr verstopfte die Straßen. Die Sonne ging bereits unter, die Skyline von Manhattan war in tausend Lichter getaucht.

Als er endlich den Gebäudekomplex des Hospitals sah, wurde seine Atmung lauter, er schnaufte, beide Hände legten sich fester um das Lenkrad.

„Ganz ruhig, Ace“, murmelte er. Er fühlte sich, als stünde ein wichtiges Spiel bevor, als würde er in wenigen Minuten wieder den Rasen des Stadions betreten und das Jubeln der Zuschauer hören.

Ace of Spades! Ace of Spades! Ace of Spades!

Als Kevin aus dem Wagen stieg, fuhr ein scharfer Schmerz durch sein linkes Knie und holte ihn zurück in die Realität, noch ehe er sich den Erinnerungen an seine Siege hingeben konnte. Er hatte völlig vergessen, wie vorsichtig er mit dem Gelenk sein musste. Jede zu schnelle Bewegung verursachte Schmerzen, davor hatten die Ärzte ihn damals immer wieder gewarnt.

Vor dem Eingang des Gebäudes stand der Chefpathologe. Er drückte einen Zigarettenstummel in einem überfüllten Standaschenbecher aus, während er sich flüchtig mit einer Kollegin unterhielt. Die beiden verabschiedeten sich voneinander, die Frau ging an Kevin vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Nur wenige Sekunden später zündete sich Dr. Meyers eine weitere Zigarette an. Mit einem kurzen Winken deutete der Pathologe an, dass er Kevin gesehen hatte.

„Da sind Sie ja wieder, Mr. Baker.“ Auch diesmal entblößte der Doktor beim Grinsen sein gelbliches Gebiss. Kaum wollte Kevin an ihm vorbeigehen, hielt ihn der Pathologe an der Schulter fest. „Ich muss mit Ihnen reden.“

Unter anderen Umständen hätte eine solche Berührung Kevin zu einer gewaltsamen Reaktion provoziert, aber jetzt erstarrte er. Er konnte nicht verhindern, dass sich trotz des kühlen Wetters Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten.

„Was kann ich für Sie tun?“ Seine Stimme klang viel zu leise, und er hasste sich dafür, weder seine Nervosität noch die damit einhergehende Angst zumindest einigermaßen kontrollieren zu können.

„Mir ist heute früh aufgefallen, dass die Tür zur Leichenhalle nicht verschlossen war. War noch irgendjemand vom Personal anwesend, als Sie gestern Abend ihren Dienst begonnen haben? Die Gerichtsmediziner sind manchmal noch bis Mitternacht dort.“

„Nein Sir, nicht dass ich wüsste.“

„Seltsam, ich hätte schwören können, dass die Tür abgeschlossen wurde. Naja, der gestrige Tag war lang, viel zu lang. Stellen Sie sich vor, wir haben mal wieder eine Ladung Obdachloser bekommen. Es ist ein Jammer, dass in unserer Gesellschaft immer noch so viele Leute auf der Straße leben müssen. Sie werden alle drüben auf Hart Island landen, ohne Totenmesse, ohne Grabstein.“

„Wirklich traurig.“

„Ja, ist es. Aber ich will Sie nicht aufhalten, Ihre Schicht beginnt gleich.“

~

Empathie und Menschenkenntnis sind mehr wert als alles Gold in Fort Knox, behauptete Dr. Erwin Meyers seit seiner Studienzeit. Und obgleich er überwiegend mit Toten zu tun hatte, bemerkte er überaus schnell, wenn sich die Lebenden in seinem Umfeld anders als gewohnt verhielten. So war es auch in seiner Ehe gewesen. Als er eines Abends vom Hospital zurückkehrte, hatte er Heather nur in die Augen gesehen und im selben Moment gewusst, dass sie eine Affäre hatte. Manche Menschen trugen ihre Schuld offen in den Augen zur Schau, es schien fast, als spiegelten sich darin ihre schlechten Taten wider.

Und ein Blick in Kevin Bakers Augen genügte, um ihn davon zu überzeugen, dass der junge Mann eine Tat begangen hatte, die er lieber hätte lassen sollen.

Auch Dr. Meyers hatte vor Jahren von dem aufstrebenden Star der Stuyvesant Highschool gehört, wie beinahe jeder in der Gegend. Und er wusste von der Verletzung des Mannes und dass die damit einhergehenden Schmerzen nicht einfach so zu ignorieren waren, ja geradezu zum Drogenkonsum verleiten konnten. Doch bei aller Sympathie, die er für Kevins Leistungen in der Vergangenheit empfand, wollte er dieses unangenehme Gefühl in der Magengrube nicht einfach so ignorieren.

Am Abend zuvor hatte er eine Obduktion an einem kürzlich Verstorbenen durchgeführt, anschließend hatte er den Toten in die Kühlkammer bringen lassen. Er war persönlich zugegen gewesen, als die Tür abgeschlossen wurde. Und auch Dr. Ingrams hatte ihm bestätigt, dass nach neun Uhr niemand aus der Gerichtsmedizin noch gearbeitet hatte.

Als Nachtpförtner hatte Kevin Zugriff auf den Schlüsselschrank. Aber was um alles in der Welt könnte einen jungen Mann dazu bewegen, sich bei Nacht in die Leichenhalle zu schleichen?

Möglicherweise war es nur Neugierde gewesen oder eine persönliche Mutprobe? Im schlimmsten Falle steckte ein ganz anderer Grund dahinter.

Dr. Meyers zündete sich eine weitere Zigarette an – die fünfte nach Dienstschluss. Doch heute würde er nicht wie sonst nach Hause fahren. Er wollte warten und beobachten, wie sich Kevin Baker in der Nacht die Zeit vertrieb.

~

Anton Baxter hatte kaum das Haus betreten, als Stacey ihm – ehrlich wie immer – von dem unbekannten Anrufer berichtete und darum bat, die Telefonnummer ein weiteres Mal ändern zu lassen.

„Geht das schon wieder los?“ Anton machte keine Anstalten seine Verärgerung zu unterdrücken. „Ich habe es endgültig satt, du kannst mich nicht länger für dumm verkaufen.“

„Schatz, beruhige dich. Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Du weißt es sehr wohl. Du kennst diesen Anrufer, das ahne ich bereits, seitdem er uns das erste Mal belästigt hat. Es ist Kevin Baker, oder Ace, wie du ihn früher genannt hast.“

Stacey wusste nicht, wodurch sie sich verraten hatte. Sie hatte Anton noch nie so wütend erlebt wie in diesem Augenblick. Auf seiner Stirn trat eine Zornesader hervor, während er sich mit beiden Händen durch die schwarzen Haare fuhr.

„Beruhige dich, Schatz“, seufzte Stacey. Ehe sie sich versah, ohrfeigte er sie. Es war nicht das erste Mal.

„Mich beruhigen? Dieser Kerl belästigt dich jetzt schon seit Jahren! Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir die Polizei rufen.“

„Anton, ich weiß noch nicht mal mit Sicherheit ob er es wirklich war. Ich habe immer nur jemanden atmen hören, der Anrufer hat nie etwas gesagt.“

Anton hängte seinen Mantel an den Garderobenständer und lockerte seine Krawatte. Kopfschüttelnd ging er an Stacey vorbei. Sarah-Lynn kicherte in ihrer Wiege, als sie zu ihrem Vater aufsah. Antons Gesicht wurde sofort wieder ernst, während er zu Stacey sagte: „Sollte dieser Ace jemals in die Nähe von dir und unserer Tochter kommen, dann vergesse ich meine guten Manieren.“

„Er wird nicht hierherkommen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739464022
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Tales from the Crypt New York Teufel Bestie Grusel Monster Sex Gore Splatter Satan Fantasy Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Uwe Siebert (Autor:in)

Seit Kindheitstagen begeistert sich Uwe Siebert für Literatur. Im Verlauf seines Lebens entwickelte er ein großes Interesse für archaische Mythen und Sagen, die er in das Konzept seiner Romane einfließen ließ. Zwischenzeitlich betrieb er diverse berufliche Tätigkeiten, so führte er u. a. einen Mailorder für Rock- und Heavymetal Bands. Er lebt im Landkreis Kassel. Jedes Jahr verbringt er einige Zeit in Norwegen, erfreut sich an der dortigen Landschaft und an Wandertouren durch das Hochgebirge.
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Titel: Hart Island Horror