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Midlife

von Josephine Cunningham (Autor:in) Josephine E. Cunningham (Autor:in)
165 Seiten

Zusammenfassung

Johanna Brunner lebt in einem schönen kleinen Städtchen zusammen mit ihrem Mann Christoph und ihrer Tochter Sofia. Kurz vor Ostern überrascht Johanna ihren Mann in einer eindeutigen Zweideutigkeit und nicht nur das. Von einem Tag auf den anderen gestaltet sich ihr Leben um. Wie soll es nach einem solchen Vertrauensmissbrauch weitergehen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Midlife

 

Josephine E. Cunningham

 

 

Kapitel 1

Johanna besah sich den Bilderrahmen auf ihrem Schreibtisch. Da waren sie. Ihr Mann Christoph, ihre Tochter Sofia und sie bei ihren letzten gemeinsamen Ferien. Doch die Tage am maledivischen Sandstrand, mit Schnorchelausflügen und warmer Sonne hatten lange vorgehalten. Sie sehnte sich wieder nach ein paar Tagen ungestörter gemeinsamer Zeit. Christoph arbeitete so viel. Sie seufzte. Vor dem Fenster schien die Sonne und Ostern stand vor der Tür. So ein herrlicher Tag und sie starrte auf den Terminkalender und überflog die eingehenden Mails. Sie wollte weg, einfach fort, auf die Malediven oder ihretwegen auch zu ihren Eltern in die deutsche Kleinstadt, doch statt dessen hatten sie und Christoph die letzten Monate im Arbeitsrausch verbracht. Als Johanna und Christoph zusammen kamen, war das Geschäft, eine Fahrschule, noch klein. Ein Ein-Mann-Unternehmen, das gerade genug abwarf, um die laufenden Kosten zu decken. Nicht die Rede davon Urlaub machen zu können. Aber das hatte die beiden Frischverliebten nicht gestört und es wäre noch heute so. Nachdem Johanna aber das Büro übernommen hatte, schien es, als liefe es von selbst. Sie konnte sich auf die Aufträge und die Finanzen kümmern und Christoph war nur für die Fahrten und Schützlinge zuständig. Er brauchte sich nicht auch noch abends um die Abrechnung zu kümmern. Zusammen haben sie das Geschäft zum Laufen gebracht.

Erst an diesem Morgen hatte Christoph sie mit Küssen geweckt.

»Was würde ich ohne dich machen?«, brachte er zwischen zwei Küssen heraus.

»Einsam und verlassen eingehen«, gab Johanna kichernd zurück. Ein leidenschaftlich langer Kuss folgte.

»Hast du noch nicht genug? Es ist fünf Uhr morgens.«

»Von dir bekomme ich nie genug«, hauchte er auf ihr Schlüsselbein, was sofort eine Gänsehaut hervorrief.

Sie schmiegte sich enger an ihn. Nein, sie bekam auch nie genug von ihm. Vom ersten Tag an trug er sie auf Händen. Johanna fühlte sich immer wieder glücklich. Viele ihrer Freundinnen hatten bereits eine Scheidung hinter sich oder lebten in Trennung. Nach neunzehn Jahren hatte sie und Christoph es aber geschafft, die Flamme der Leidenschaft aufrecht zu erhalten. Wenn es der Terminplan hergab, kochten sie gemeinsam, hatten eine regelmäßige Datenight, zu der er sie regelmäßig ins Kino oder ins Restaurant ausführte.

Johannas Eltern konnten Christoph nicht leiden. Als Einzelkind hatten ihre Eltern andere Pläne mit ihr gehabt, als dass sie für einen simplen Fahrlehrer in einer Kleinstadt die Büroarbeit machte. Das Verhältnis war so angespannt, dass es nur maximal einmal im Jahr zu einem Besuch kam, wobei ihre Eltern es sich nehmen ließen nach der »Kugel« zu fragen, anspielend auf Christophs runden Kopf, wobei es eher ein leichter Eierkopf war, wie bei Hercule Poirot, dachte Johanna. Die Melchors mochten den Eierkopf nicht und nach einem großen Kracht als Sofia noch klein war, hatte sie das angespannte Verhältnis auf ein Mindesmaß abgekühlt. Sie hatten es Johanna nie verziehen wieder zurückgegangen zu sein.

Doch, vielleicht auch zum Trotz, schafften Christoph und Johanna den Spagat zwischen Ehe und gemeinsamer Firma hervorragend.

Jede freie Minute verbrachten sie zudem noch zusammen und mit ihrer Tochter. Immer wenn Freundinnen sich über ihren Mann beklagten, konnte Johanna nur staunen. Christoph half im Haushalt, zumindest bis die Aufträge zuviel wurden. Er half bei den Schularbeiten und immer wieder brachte er ihr einen Strauß Blumen. Einfach mal so, wie er sagte. Nie versäumte er es, ihr für die Arbeit zu danken, die sie leistete. Natürlich gab es auch angespannte Tage und auch Wochen in denen nicht immer alles eitel Sonnenschein war. Doch das waren Ausnahmen.

Die letzten Jahre waren anstrengender geworden und die Auftragslage war hervorragend.

Deswegen sahen sie sich weniger. Termine wurden bis in den Abend hinein vergeben. Nachtfahrten waren im Sommer natürlich recht spät, im Winter kam er daher früher heim und in diesem Jahr schienen Nachtfahrten sehr gefragt. Johanna wollte Christoph öfter wieder zuhause haben. Sie schaute in den Kalender. Heute würde er früher zuhause sein. Sie hatte gerade noch Zeit etwas Besonderes zu kochen. Sie suchte im Internet nach einem Rezept und beschloss, das Büro für heute zu schließen. Sie hing ein entsprechendes Schild an die Tür. Laufkundschaft war eher die Ausnahme und Termine im Büro waren wochenlang vorher geplant.

Das Wetter war zu verlockend. Vielleicht könnten sie heute zusammen auf der Terasse grillen und den Abend so romantisch ausklingen lassen, wie er um fünf Uhr früh begonnen hatte. Bei der Erinnerung überzog eine leichte Röte ihre Wangen und sie lächelte seelig in sich hinein.

Es war sonnig und warm an diesem Frühlingstag. Johanna Brunner kam eben aus der Bäckerei mit den vollbepackten Einkaufstaschen. Es sollten ein paar schöne gemeinsame Tage während der Osterferien werden.

Endlich einmal etwas mehr Zeit nach den trüben Wochen, mit immerwährenden Aufträgen und kaum Familienleben.

Langsam lief sie die ansteigende Straße hinauf zum Wohnhaus. Eigentlich hätte sie erst um siebzehn Uhr zuhause sein sollen. Aber bei diesem bezaubernden, sonnigen Tag, an dem die Vögel sangen, unbekümmerte Kinder mit ihren Eltern aufgeregt zum Eiswagen an der Ecke der Brauereistraße liefen, um eine Portion Vanille- oder Schokoeis zu schlecken – da musste sie einfach früher nach Hause. Auf dem Heimweg erledigte sie gleich den ersten Teil der Wochenendeinkäufe. Dann hätte sie mehr Zeit mit der Familie und um ihre beiden Liebsten zu verwöhnen.

Die Sonnenstrahlen verwöhnten ihre Haut. Sie genoss diese wohltuende Wärme.

Seit neunzehn Jahren waren sie und Christoph ein Paar, lebten und arbeiteten zusammen. Seit Sofias Geburt war Johanna in der Firma ihres Mannes als Bürokraft angestellt. Anfangs war es sehr schwer gewesen. Zu Beginn waren es wenige Aufträge, aber in den letzten Jahren war die Firma immer erfolgreicher geworden und die Stunden im Büro immer länger. Die Angebote und Rechnungen zu schreiben und zu prüfen und die Bestellungen, das Catering und die Kundenbetreuung verschlangen immer mehr Zeit. Dazu kam, dass Christoph immerfort unterwegs war und meist spät abends heimkam.

Er hatte ein Händchen mit den jungen Leuten, die in die Fahrschule kamen. Er gefiel und er kam durch seinen jugendlichen Charme und seine lockere Art gut bei ihnen an. Es sprach sich herum und nun sah seine Familie ihn eigentlich nicht mehr wirklich viel. Vor einem Jahr hatten sie einen weiteren Fahrlehrer angestellt, der Christoph unterstützen sollte. Falk Budniok war elf Jahre jünger als Christoph. Er wirkte erwachsener und stiller als ihr Mann. Falk war ein angenehmer und umgänglicher Bursche mit einer Engelsgeduld. Mit seinen dunkelblonden Haaren und grauen Augen, der randlosen Brille und seiner korrekten, legeren Kleidung wirkte er vertrauenswürdig, zuverlässig und seriös. Er kam aber eher bei den reiferen Damen an, da er durch seine ausgeglichene Art die Ängste der meisten Kundinnen abnahm. Falk war der nette Junge, den die Erwachsenen mochten, aber auch der in der Klasse, mit dem niemand was zu tun haben wollte.

Sie war schon fast am Wohnhaus angekommen. Ein moderner Neubau, weißgetüncht, mit einer ausladenden Dachterrasse. Jeder Mieter hatte einen Balkon. Durch die gute Auftragslage hatten sie sich die Dachwohnung leisten können. Im Sommer saßen Johanna und Christoph gern mit einem Glas Wein am Abend zusammen, wenn er mal rechtzeitig zuhause war, und lauschten dem letzten Vogelgezwitscher. Auch wenn das Haus an einer gut frequentierten Straße lag, konnte man abends und an den Feiertagen eine gewisse Ruhe genießen. Im Augenwinkel nahm sie einen Gegenstand wahr, konnte ihn aber in ihrem Gehirn nicht weiterverarbeiten, da soeben Frau Krüger aus der Wohnung unter ihnen aus der Haustür kam. Deren Dackel Poldi sprang Johanna mit freudigem Schwanzwedeln entgegen.

«Ach Johanna, warum schleppen Sie denn den Einkauf, wo Sie doch ein Auto haben?»

Poldi schnupperte gierig an den Taschen.

«Guten Tag Frau Krüger. Wissen Sie, es ist doch so ein schöner Tag und da habe ich gedacht, ich mache mal früher Feierabend und da kommt man eben bei den Geschäften vorbei und lässt sich leicht verführen.» Johanna lächelte Frau Krüger mit ihrer offenen, freundlichen Art an.

«Aber Sie sollten Ihren Mann mehr mit einbinden.» Verschwörerisch neigte Frau Krüger den Kopf nach vorn und fuhr halb flüsternd fort. «Männer darf man nicht zu sehr verwöhnen. Das danken sie einem nämlich nicht. Ihr Mann ruht sich ganz schön auf Ihre Kosten aus!» Ein verächtliches Schnauben war zu hören.

«Danke Frau Krüger, Sie sind immer so freundlich, auf mich aufzupassen. Aber Christoph arbeitet eben sehr viel und da kann ich ihm doch nicht noch den Einkauf aufbürden!» Sie versuchte an der kleinen, neugierigen Nachbarin vorbeizukommen.

«Na ja, in letzter Zeit ist er doch öfter mal zwischendurch zu Hause gewesen, da hätte er doch den Einkauf mitnehmen können!» Ihre Abneigung gegen den Mann der jungen Nachbarin konnte die gute Seele des Hauses nicht länger zurückhalten.

Poldi zerrte an der Leine und Frau Krüger konnte sich nicht weiter mit Johanna unterhalten.

«Ach, Poldi. Zerr doch nicht so, ich komme ja schon. Immer diese Männer. Männliche Hunde sind da keine Ausnahme! Johanna, Sie sind einfach ein guter Mensch. Kommen Sie doch wieder einmal zum Kaffee herüber.»

Johanna versprach, bald wieder einen Nachmittag mit Frau Krüger zu verbringen, und nahm den Hausschlüssel aus ihrer Jackentasche und öffnete den Briefkasten. Die Post gab nicht viel her, nur ein paar Rechnungen und ein Brief ihrer Mutter.

Frau Krüger hatte die Tür offengelassen und Johanna löste den Haken, der die Tür offenhielt.

Krachend flog sie nach Johanna ins Schloss. Sie nahm den Fahrstuhl zur gemeinsamen Wohnung. Davor stellte sie die Einkaufstaschen ab und jonglierte mit dem Schlüssel, bis dieser die Tür öffnete. Seit zwei Jahren hatten sie die Wohnung in diesem Teil der Stadt, trotz der Nähe zum Stadtkern fühlte man sich fast aufs Dorf verschlagen. Die Wohnung war perfekt. Ihr schlauchartiger Grundriss hatte Johanna zu Beginn etwas abgeschreckt, aber mittlerweile konnte sie sich nicht vorstellen, woanders zuhause zu sein. Der Eingang war mittig dieses Schlauches angeordnet. Rechts davon ging es vorbei an der kleinen Abstellkammer, die hauptsächlich als Waschküche diente, zur offenen Küche und dem großzügigen Wohnbereich mit Kamin.

Links führte der Flur vorbei am Bad, dem Gäste- und Arbeitszimmer, Sofias Zimmer sowie zum Elternschlafzimmer mit eigenem Bad. Die komplette gegenüberliegende Seite hatte eine Fensterfront, die die Sicht zum See freigab. Vor der gläsernen Wand war die Terrasse fast über den ganzen Bereich verlaufend. Teilweise überdacht, hatte Johanna daraus eine grüne Oase gestalten können.

Johanna stellte die Einkäufe auf die Kücheninsel. Sie wollte nur schnell etwas Bequemeres anziehen.

Die Kirche in der Nähe schlug zur vollen Stunde.

Da öffnete sich die Schlafzimmertür und ein junges Mädchen betrat den Flur. Johanna kannte sie nicht und erschrak. Das junge Mädchen blieb ebenfalls wie angewurzelt stehen.

«Wer sind Sie und was machen Sie in meiner Wohnung?» Johanna hatte als Erste die Sprache wiedergefunden.

«Ach, Sie sind Johanna? Schön Sie kennenzulernen. Christoph hat schon so viel von Ihnen erzählt. Es tut mir leid, dass ihre Ehe kaputt ist.»

Johanna wusste im ersten Moment nicht, ob sie lachen sollte. Das musste ein Traum sein. Einatmen, ausatmen. Wovon sprach dieses Kind?

«Miriam, komm schon, ich hab nicht mehr so viel Zeit. Wir müssen gehen.» Christoph kam aus dem angrenzenden Bad. Er blieb stehen und starrte Johanna an.

«Hallo!»

«Ja, Hallo!» Johanna fühlte sich verwirrt.

«Ich musste nur schnell etwas holen und aufs WC und nun zischen wir wieder ab. Ruf dich nachher nochmal an. Hast du eher Feierabend gemacht?»

Offenkundig, oder?, dachte sich Johanna.

«Du gehst nirgendwo hin, ohne mir mal zu erklären, was das soll.»

«Das habe ich doch.» Christoph richtete sein Hemd und strich sich mit seinen Händen durch das lichter werdende Haar.

Früher war es einmal schön, stark und lockig gewesen, jetzt nahm es mit jedem Jahr ab und wurde grau.

«Was macht dieses Früchtchen in unserem Schlafzimmer?» Johannas Herz schlug wieder. Es hatte gefühlt eine Ewigkeit ausgesetzt.

«Wie? In unserem Schlafzimmer?» Christoph sah das junge Mädchen an, als wäre er schockiert. War er es vielleicht auch, oder spielte er eben Scharade?

«Ich habe nur schon einmal ein paar Sachen von Johanna gepackt. Wenn du ihr gesagt hast, was du sagen wolltest, kann sie gleich gehen.»

Du wirst gleich gehen, dachte Johanna.

«Was?» Die Frage ist doch unnütz, stellte Johanna fest, als sie diese in den Raum sprach.

«Na, Christoph liebt Sie nicht mehr und er will ja schon lange, dass Sie ausziehen. Nun habe ich schonmal angefangen. Wollen Sie mal sehen?»

Wie ein kleines Mädchen, das auf eine Belohnung hofft, stand dieses zarte, junge Wesen, Miriam, vor dem Schlafzimmer und tat einen Schritt zur Seite.

Es bot sich ein heilloses Durcheinander. Ein offener Koffer lag bereits auf dem Bett, gefüllt mit Sachen, denn gepackt konnte man das nicht nennen. Es war einfach alles aus dem Kleiderschrank gezogen worden und in den Koffer gestopft worden. Die Tür des Kleiderschranks stand noch weit offen.

Johanna traute ihren Augen nicht. Sie sah zu Christoph rüber, der noch immer vor der Badezimmertür stand. Entsetzen lag auf seinem Gesicht.

«Bitte was?»

«Christoph und ich sind doch jetzt schon eine Weile zusammen und ich finde, es ist an der Zeit zusammenzuziehen.» Miriam sah ebenfalls Christoph an, doch mit stolzer Haltung, wartend auf ein Lob.

«Verlassen Sie meine Wohnung!» Johanna brachte nur mit Mühe einen ruhigen Ton zustande, ihre Stimme zitterte.

«Nein, das haben Sie falsch verstanden, Sie müssen doch jetzt gehen!» Miriam sah sie irritiert an.

«Raus!» Johannas Gesicht hatte einen zartrosa Ton angenommen, nachdem zuvor alle Farbe entwichen war.

«Ich denk ja gar nicht daran. Christoph, nun sag doch auch mal was!» Empört schaute das junge Ding den in sich zusammengesackten Mann an.

Wie alt er aussah! Johanna sah eine kleine Tasche an der Türklinke hängen.

«Gehört die Ihnen?», wandte sie sich an Miriam.

«Oh ja, die ist neu. Hat Christoph mir geschenkt. Ist sie nicht toll?» Freudig und verliebt bedachte sie Christoph mit einem innigen Blick.

«Ja, deshalb sollten Sie die nicht auf dem Boden liegen lassen!» Johanna lief zur Wohnungstür und warf die Tasche im hohen Bogen aus der Tür, direkt vor Poldis Pfoten, der soeben mit Frau Krüger von seinem Spaziergang zurückkehrte. Für eine Millisekunde musste Johanna schmunzeln, da die Komik des Augenblicks nur in diesem Moment fassbar war. Der Hund, der sein Frauchen an der Leine führte und von der Tasche dieser kleinen dummen Miriam fast erschlagen wurde.

«Hey, was fällt Ihnen ein?» Miriam lief der Tasche nach und die Tür wurde nach ihr ins Schloss geworfen.

«So, und nun zu dir!» Johanna trat vor ihren Mann, der nur eben die Einssiebzig erreichte.

«Was soll der Quatsch von wegen ausziehen?»

«Ach, das hat das Kind völlig falsch verstanden. Du weißt doch, wie diese Teenager sind. Nichts verstehen sie. Ich hab mich doch vor einem Monat so geärgert, als wir Krach hatten, und hatte mich in der Stunde aufgeregt. Das muss sie missverstanden haben.» Er hatte sich wieder unter Kontrolle. Christoph trug sein charmantestes Lächeln auf den Lippen.

«Ach so, deswegen soll ich gleich ausziehen und ihr seid jetzt zusammen!» Eigentlich war Johanna nicht der sarkastische Typ, aber wie fast alle Frauen sprach sie es fließend.

«Hör jetzt auf, ich hab dir gesagt, dass die Miriam das nicht richtig mitbekommen hat. Teenager, die glauben doch sofort an die große Liebe, sowas hatten wir doch schon öfter. Erinnere dich. Wie oft klingelten Mädchen wie Miriam schon an unserer Tür?»

«Aber die waren nie in unserer Wohnung. Das ist unsere Privatsphäre. Was soll der Mist?»

«Ich sagte dir doch schon, ich musste was holen und aufs Klo. Ich kann doch nicht wissen, dass die so einen Scheiß macht.» Christoph wurde laut. Wie immer, wenn er im Unrecht war. Beim Streit wurde er immer laut. Johanna wusste das und ihr Bauchgefühl gefiel ihr nicht.

«Wie viele von denen waren denn auch schon in unserem Schlafzimmer?» Johannas eisige Stimme ließ Christoph aufhorchen.

«Keine, hör doch auf mit dem Kinderkram. Miriam hat noch eine Stunde zu bekommen. Ich bin im Verzug und hab keine Zeit für deine Vorwürfe. Ich muss arbeiten. Im Gegensatz zu dir muss ich ja was tun für mein Geld!»

Der Schlag in die Magengrube saß. Johanna versuchte Luft zu schnappen und Christoph drängte sich an ihr vorbei und öffnete grob die Tür, wobei er diese mit starker Wucht gegen Johanna schlug, die ihm gefolgt war.

Frau Krüger stand noch immer vor ihrer Tür und nestelte an ihrem Schlüsselbund. Miriam saß auf der Treppe wie ein braves Haustier und wartete. Er schnappte ihren Arm und beide gingen die Treppe hinunter. Jeder Versuch von Miriam, das Gespräch zu eröffnen, wurde jäh durch Christoph unterbrochen.

Johanna stand noch in der Tür und sah durch das Fenster eine halbe Treppe tiefer, wie beide den Weg zum Parkplatz einschlugen. Jetzt erst wurde es Johanna bewusst, dass sie den Wagen ihres Mannes im Augenwinkel wahrgenommen hatte, als sie mit den Einkaufstaschen den Weg entlang gegangen war.

«Ist alles in Ordnung, meine Liebe?» Frau Krügers Stimme brachte Johanna wieder dazu, in das Jetzt zurückzukehren.

«Ja, natürlich. Alles gut. Christoph hatte nur etwas vergessen!» Johanna lächelte ihre Nachbarin an. Doch nicht einmal sie selbst konnte sich überzeugen, dass es echt war.

Sie ging zurück in ihre Wohnung und verstaute die Einkäufe in der Küche. Nachdem sie alles verräumt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und räumte ihre Kleider wieder in den Schrank.

Dann zog sie das Bettzeug ab. Sie konnte noch die Wärme fühlen. Nein, diesmal war kein Zweifel möglich. Christoph hatte etwas mit diesem Kind angefangen. Sie stopfte gerade alles in den Wäschekorb, als Sofia, ihre gemeinsame Tochter, nach Hause kam.

«Hey Mama, du bist schon da?»

«Ja, der Tag war so schön, da wollte ich auch mal den Nachmittag genießen.»

«Und deshalb wäschst du jetzt Bettzeug?»

«Na ja, du warst ja noch nicht da. Was meinst du, hast du Zeit für einen Mädelsabend?» Johanna nahm ihre Tochter in die Arme und sog den Duft ihrer Haare fest ein. Ihr Herz raste und sie begann leicht zu zittern.

«Ist was mit dir?» Sofia spürte, dass etwas nicht stimmte.

«Ach, ich hab dich nur so lieb. So unendlich lieb!» Johanna hoffte, dass ihre Tochter es ihr abnehmen würde, da sie öfter solche Anwandlungen hatte. Diesmal schien sie aber zu spüren, dass es anders war. Sie drückte ihre Mutter fester an sich und so standen beide eine Weile. Johanna versuchte, sich ihrer Tränen zu erwehren.

«Lass uns zu Enrique gehen. Ich hab Lust auf Pasta. Wieso kommt ein Kubaner auf die Idee ein italienisches Restaurant aufzumachen?»

Beide lösten sich und schauten einander an. Jede versuchte im Gesicht der anderen zu lesen.

«Warten wir auf Papa?»

Johanna schaute mit einem Mal ihre Tochter anders an. Sie war fast so alt wie das Mädchen, das Johanna vor nicht mal einer Stunde aus der Wohnung geworfen hatte.

«Nein, ich denke, er kommt heute spät. Endlich haben wir mal wieder Zeit nur für uns!»

Johanna nahm ihre Tasche und eine leichte Jacke und wartete, bis Sofia ihre Sachen in ihrem Zimmer verstaut hatte. Dann gingen beide zu ihrem Lieblingsitaliener.

 

 

 

 

 

Kapitel 2

Es sollte wohl einfach nicht sein mit ihren Eltern. Sofia sah ihrer Mutter an, dass etwas vorgefallen war und da sie nicht so naiv war, wie man bei einer Siebzehnjährigen annehmen konnte, ahnte sie, worum es sich handelte.

Nach dem Abendessen und nachdem sie zuhause angekommen waren, war ihre Mutter sehr still gewesen, aber dennoch versucht, einen netten Abend zusammen zu verbringen. Sie hatten über dieses und jenes aus dem Alltag gesprochen. Sie war auch nicht überrascht von Miriam zu hören. Ihre Mutter hatte versucht, den Vorfall abzumildern. Sofia hatte aber gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.

Bei einigen Anekdoten aus dem Schulalltag hatte Johanna sehr gelacht und es schien, als habe sie für einen kleinen Augenblick den Krach mit Christoph vergessen. Sofia machte sich aber nichts vor. Sie wusste schon seit circa einem Jahr, dass ihr Vater nicht treu war.

Damals hatte ihre Klassenkameradin Susann Fahrstunden bei ihrem Vater genommen. Sie wiederholte die Klasse und war daher schon etwas älter, aber nicht klüger. Sie war die Klassenprimadonna. Bildhübsch und hatte üppig verdienende Eltern, doch einfältig und ihr Horizont endete mit Casting Shows im Fernsehen. Alle anderen Aktivitäten überforderten sie. Theater, Kunstausstellungen oder einfach nur Unterricht waren ihr ein Graus. Susann war beliebt, zumindest bei denen, die beachtet werden wollen und gern jemanden anhimmeln, um sich wichtig zu fühlen. Denjenigen, die Bewunderung für Oberflächlichkeit, Aufgeblasenheit und finanziellen Hintergrund empfinden.

Sofia hatte soweit nichts dagegen einzuwenden. Doch in einer Freistunde, die sie mit anderen in der Stadt verbracht hatte, hatte sie ihren Vater mit ebendieser Susann angetroffen. Soweit nichts Ungewöhnliches. Oft änderte er kurzfristig Termine, wenn es die Zeit erlaubte, auch deswegen war er massiv beliebt bei den Schülern. Jeder wusste, wenn eine Stunde frei wurde, konnte man Herrn Brunner anrufen und wenn es möglich war, zog er die Unterrichtseinheit vor, selbst wenn er auf seine eigene Mittagspause verzichten musste.

Ja, diese spontane und oberflächlich selbstlose Art machte ihn beliebt bei den Jugendlichen der Stadt. Daher hatte sie sich auch nicht allzu sehr gewundert, Susann mit ihrem Vater anzutreffen. Auch nicht, als sie sah, dass beide in einem Eiskaffee Platz nahmen, auch das kam schon vor, dass Christoph Brunner bei warmem Wetter seine Schützlinge zu einem Eis einlud.

Doch als er über Susanns Gesicht streichelte, sie seine Hände fest umschlungen hielt, nachdem die Kellnerin die Bestellung aufgenommen hatte, fand Sofia es nicht mehr normal.

Ihr Vater hatte sie nicht bemerkt und so konnte sie ihn weiter beobachten. Sie aßen ihr Eis, himmelten sich an, wobei ihr Vater eher belustigt aussah. Es schien ihn zu schmeicheln und zu amüsieren, dass so ein junges Mädchen ihn attraktiv fand. Vielleicht machte er auch nur gute Miene zu ihren blödsinnigen, oberflächlichen Äußerungen, überlegte Sofia.

Nachdem er bezahlt hatte, waren sie aufgestanden und zum Auto gegangen, das um die Ecke parkte. Sofia folgte beiden. Da das Fahrschulauto in einer Seitenstraße stand, konnte sie nicht so nah aufschließen. Sie befürchtete, entdeckt zu werden und hielt sich in einem Abstand zu beiden. Doch konnte sie sehen, wie sich beiden eng umschlungen an den Wagen lehnten und sich widerlich heftig die Zungen in den Mund des anderen stießen und sich küssten, falls man dieses Mandelabschlecken als Küssen bezeichnen konnte. Sofia starrte wie benommen zu den beiden hinüber und wäre beinahe mit einer Radfahrerin zusammengestoßen, da sie auf dem Radfahrstreifen stehen geblieben war. Nur ein Schritt weiter und dann nach rechts und schon konnte sie sich hinter dem Schaufenster von Albertis verstecken. Die Schaufensterpuppen boten eine gute Tarnung und doch konnte sie alles weiterhin beobachten, da das Schaufenster um die Ecke lief, wie es früher öfter üblich war. Ihr Vater hatte Susann noch immer im Arm und presste sie gegen den Wagen und sie genoss es, das konnte Sofia sehen.

Die Hände ihres Vaters schienen überall zu sein, wie ein Krake, er berührte ihre Klassenkameradin und sie ihn, wie man es nur in Filmen sah.

Sofias ganzes Weltbild schien in sich aufzulösen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ ihr Vater von Susann ab und sie kicherte niveaulos und setzte einen schmachtenden, enttäuscht sexy Blick auf, wie bei den Lehrern an der Schule, wenn sie trotz nicht erbrachter Leistung versuchte eine bessere Note zu bekommen.
Ausgerechnet die, dachte sich Sofia. Gerade diese dumme Kuh. Mehl hat einen höheren IQ als die, und mit sowas sabbert er rum.

Angewidert drehte sie sich weg und betrat den Laden, damit ihr Vater sie nicht doch noch sah, wenn er mit dem Wagen um die Ecke bog.

Seit diesem Tag betrachtete Sofia sich selbst, ihren Vater, ihre Mutter und ihr Familienleben mit ganz anderen Augen. Am Abend hatte sie sich im Spiegel betrachtet und überlegt, was ihr Vater an Mädchen in ihrem Alter fand. Sie war fast so alt wie Susann. War das ein Ausrutscher? Vielleicht hatte Susann ihn verführt? Er konnte doch nicht auf sowas anspringen! Sie hatte ihre Eltern beim Abendessen beobachtet. Hatte gesehen, wie ihr Vater ihre Mum ansah, wie immer. Er hatte ihre Mutter angesehen, als gäbe es keine andere Frau auf der Welt. Er hatte diese Liebe in den Augen. Nein, daran hatte sich nichts geändert. Zumindest bemerkte Sofia nichts, und wenn es ihr nicht auffiel, dann würde ihre Mutter komplett im Dunkeln tappen. Das Bild der sich küssenden Susann und ihres Vaters kam immer wieder hoch und sie suchte nach etwas, was ihn verraten musste. Nichts. Es war nichts erkennbar. Mama und Papa sahen sich noch immer am Tisch innig an, lachten und teilten ihre Witze, die Sofia manchmal nicht nachvollziehen konnte, aber die so eigen für ihre Eltern waren. Sie sahen sich manchmal nur an und wussten, was der andere dachte, und lachten los.

Sofia hatte nach diesem Abend, nachdem sie vor dem Spiegel stand, sich versucht vorzustellen, wie sie mit einem Mann im Alter ihres Vaters zusammenkam. Igitt, nein, das wollte sie sich nicht vorstellen. Sie suchte im Bekanntenkreis ihrer Eltern nach jemanden, der, wenn überhaupt, in Frage käme. Falk, ja, der war nett, klug und sehr vertrauenswürdig. Nicht gutaussehend mit seinem leichten Schielen, aber er hatte was. Nicht so, dass Sofia Falk tatsächlich in Betracht gezogen hätte, aber bei dem hätte sie es irgendwie verstehen können. Aber sie, Sofia, wollte keinen alten Mann. Sie freute sich auf das Studium. Sobald die Matura fertig war, wollte sie weg, in eine große Stadt. Weg von dem eingeengten Kleinstadtleben mit seinen vorgefertigten Meinungen, weg von dieser bürgerlichen Spießigkeit. Sie wollte endlich leben. Noch wartete sie darauf, endlich mal allein am Abend in der Stadt unterwegs sein zu können. Ihre Eltern waren zu überfürsorglich. Immerwährend machte ihre Mutter sich Sorgen, aber immer wieder ermutigte sie Sofia auch, dass sie ihr Leben leben sollte. Beides schien unvereinbar, aber so war ihre Mutter eben. Hinausgehen und die Stadt und die Menschen entdecken, so wie sie selbst es getan hatte, bevor sie ihren Mann kennengelernt und sich das Leben einer arbeitenden Mutter übergestreift hatte.

Sofia hatte zwar einen ausgeprägten Verstand, aber körperlich wirkte sie jünger, zarter, zerbrechlicher. Kein Wunder, dass ihre Mutter ständig zwischen Angst und Motivation gefangen war. Bald würde sie allein wohnen können, dann müsste sie sich nicht rechtfertigen, wenn sie mal eine Stunde länger ausblieb. Und vielleicht würde sie endlich den einen, den richtigen Menschen finden, der an ihre Seite gehörte. Was auch immer da vor ihr lag, es gehörte ihr und sie würde ihr Leben erobern und es richtig leben.

Ja, Mama und Papa liebten sich, aber nach dem Tag, als sie ihren Vater mit Susann erwischte, war das alles nicht mehr so richtig echt.

Sollte sie es ihrer Mutter erzählen? Hätte sie das Recht ihre Mutter unglücklich zu machen?

Papa war immer der Strengere, der Kontrollierende, und nun war er auch noch der Betrügende.

Sie erinnerte sich noch gut, als Papa alle ihre Spielsachen auf dem Boden in eine Mülltüte gesteckt hatte, sie hatte geweint und geschrien. Er hatte die Mülltüten aus dem Zimmer genommen und weggebracht. Alle Spielsachen, alle Bücher, einfach alles.

Als Mama nachhause kam und sie so verängstigt und verzweifelt gefunden hatte, gab es einen Riesenkrach. Sie hatten sich ewig gestritten. Türen flogen, Mama packte Sachen ein und wollte gehen.

Papa sagte immer, dass er auch das Recht habe seine Tochter zu erziehen, denn offensichtlich wäre Mama ja nicht in der Lage dazu, daraufhin knallte wieder eine Tür.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Papa mit der ersten Mülltüte wieder. Er setzte sich auf den Kinderstuhl vor Sofia und sagte, dass er jetzt mit ihr alles wieder aufräumen würde. Immer wieder musste sie ein Spielzeug herausnehmen und es einsortieren. Die Puppen und Bücher ins Regal, die Bausteine in die gelbe Kiste, die Stifte und die Malblöcke in die blaue Kiste. Sofia erinnerte sich, dass sie immerzu geschluchzt hatte. Sie konnte sich nicht auf die Aufgabe konzentrieren. Die Mischung aus Freude über ihre Spielsachen und den Hass, den sie ihrem Vater entgegenbrachte, ließ sie immer wieder neu weinen. Mama kam irgendwann zur Tür herein und nahm sie mit. Sie hielt sie ganz lange fest. Dann fuhren sie lange durch die Nacht, bis Sofia eingeschlafen war. Als sie erwachte, waren sie bei Oma und Opa. Papa war nicht dabei.

Ja, mittlerweile wusste sie, dass es eine Erziehungsmaßnahme war, aber für sie sollte es immer der Tag sein, als Papa ihr Zimmer entweihte und es zu seinem Zimmer machte. Er hatte die Kontrolle übernommen. Sie hatte nie mehr was herumliegen gelassen, aber sie hatte sich auch nie wieder so gefühlt wie vorher. Vorher war es ihr Zimmer gewesen.

Papa hatte noch manches Mal von diesem Erziehungserfolg gesprochen. Sofia hatte es ihm immer übelgenommen. Mama war auch streng, aber eben anders. Sie hatten es zusammen aufgeräumt und nicht wie er zugeschaut, wie Sofia jedes Teil an seinem Ort verstaut hatte. Erst danach gab es Abendessen und Kuschelzeit.
Ihr Vater war schon immer der Macher. Zumindest theoretisch. Theoretisch wusste er immer, wie es zu sein hatte. Praktisch überließ er es meistens Mama, die Sachen umzusetzen. Und sie tat es. Mama war immer da. Immer bemüht zu erklären, zu reden und sich verständlich zu machen. Das nervte auch, vor allem wenn man seine Ruhe wollte, aber im Großen und Ganzen war es okay.

Wenn sie jetzt auch mit so einem alten Mann ankäme, was würden die beiden machen?

Papa würde rasen und schreien und ihr verbieten, dass sie sich weiterhin mit dem Mann traf. Mama würde geschockt sein und dann würde sie sich hinsetzen und mit ihr reden. Sie würde wissen wollen, ob sie sich wohl damit fühle oder ob er sie bedrängt hätte. Wahrscheinlich würde sie denken, der Typ wäre ein Pädophiler.

Also Papa konnte kein Pädo sein, dazu war er zu ... korrekt ist falsch, aber auch richtig irgendwie ... Papa halt. Er würde doch keine Kinder verführen. Oh je, jetzt sah sie sich selber schon als Kind. Nein, das war auch nicht richtig.

Ach, Mist. Warum Susann? Warum nicht irgendeine andere Frau?

Susann war keine Frau, die war weicher als eine matschige Birne ... igitt ... Papa und Susann.

Nach dem Erlebnis war Sofia aufmerksamer. Irgendetwas stimmte in der Beziehung ihrer Eltern nicht. Etwas war anders. Was konnte es nur sein?

Jedenfalls hatte sie danach öfter die Gelegenheit genutzt, ihrem Vater hinterherzuspionieren. Und sie tat es. Und es war kein einmaliger Ausrutscher gewesen. Immer wieder hatte sie sein Auto zuhause gesehen, wenn er doch eigentlich arbeiten sollte. Oder wenn er arbeiten war, traf er sich heimlich mit anderen Fahrschülerinnen.

Nach der vierten Frau hatte sie schließlich akzeptiert, dass ihr Vater ein mieser Lügner, Verräter und Schürzenjäger war.

Er kam nach Hause, scherzte mit Mama, als sei alles in Ordnung, kuschelte mit ihr auf dem Sofa und dann küsste er doch wahllos in der Gegend herum. Es passt nicht zusammen. Nichts passte zusammen. Merkte Mama denn nichts?

Nein, sie bemerkte nichts. Sie ging in die Firma, koordinierte seine Termine, kontrollierte die Bücher, zahlte Rechnungen, machte Werbung, bearbeitete die Webseite, kam nachhause und machte den Haushalt, kochte, wusch die Wäsche, räumte alles auf. Sie war manchmal so müde, dass sie zwar zustimmende Geräusche von sich gab, aber eigentlich nicht zuhörte. Sofia war manchmal traurig darüber, manchmal wütend, manchmal resigniert. Aber grundsätzlich wollte sie ihrer Mutter helfen, so viel wie möglich. Daher hatte sie den Hausputz übernommen, so oft es ihre Zeit zuließ.

Mama hatte ja gar keine Zeit sich darüber im Klaren zu werden, was da gerade vor ihrer Nase passierte. Gewissensbisse quälten Sofia. Sollte sie es ihrer Mutter sagen?

Und nun just heute an diesem Abend hatte Sofia plötzlich das Gefühl, dass die Katze aus dem Sack war und ihre Mutter davon wusste.

Immerzu fragte sich Sofia, wie ihre Mutter es aufnehmen würde. Nun wusste sie es. Ihre Mutter wollte niemanden einweihen und wissen lassen.

Sofia ging in ihrem Zimmer auf und ab. Setzte sich an ihren Schreibtisch, zog die Schublade auf und nahm ihr Tagebuch zur Hand. Mit geschmeidigen Bewegungen schrieb sie Wort für Wort nieder, von all dem, was sie bewegte. Seit einem Jahr tat sie das schon, seit dem Tag, als sie ihren Vater mit Susann erwischte. Gott sei Dank hatte Susann nichts in der Schule herumerzählt. Das wäre noch furchtbarer gewesen als es eh schon war. Wieder liefen vor Sofia die Bilder des Kusses zwischen Susann und ihrem Vater ab. Wie konnte er sowas tun? Mama war nun auch schon vierzig, aber sie sah noch verdammt gut aus. Männer sahen ihr schon noch nach, wenn sie mit Sofia einen Einkaufsbummel machte, oder wenn sie am Badesee waren.

Mama mit ihren schönen, langen braunen Haaren, den haselnussbraunen Augen und einer Figur, wie Sofia sie sich heimlich wünschte.

Mama lachte viel und man konnte grundsätzlich viel Spaß haben, egal ob man einfach nur quatschen wollte oder ob man sich albern benehmen wollte. Manchmal machten sie eine Pyjamaparty, wenn Papa mal unterwegs war. Dann wurden Masken aufgelegt oder sie massierten sich gegenseitig, während sie zusammen Filme anschauten. Manchmal gingen sie zu Konzerten und mitunter drehten sie die Musik laut auf und sprangen im Wohnzimmer herum. Wie konnte Papa das aufs Spiel setzen?

Papa sah ja auch nicht schlecht aus. In letzter Zeit ist er etwas pummeliger geworden, aber sonst war er ja noch ganz okay. Er sah auch nicht wie zweiundfünfzig aus. Er wirkte sehr locker und ihre Mitschüler mochten ihn. Bei den Schulfeiern, bei denen er dabei war, fanden die Jungs ihn cool und die Mädels himmelten ihn schon irgendwie an. Bis zu dem Tag mit Susann hatte Sofia immer nur den Kopf schütteln können. Die Vorstellung war einfach absurd.

Kapitel 3

Es war spät, fast Mitternacht, als Johanna die Schlüssel klappern hörte. Sie hatte nicht schlafen können. Immer wieder waren ihre Gedanken durch die Jahre gerast.

Sie war während des letztes Sommers ihres Studiums Kellnerin in einem der verschiedenen Restaurants am Hafen gewesen. Jedes Jahr war sie wiedergekommen. Sie hatte gut verdient, das Trinkgeld wurde meist nicht knapp bemessen damals. Sie hatte ihn gesehen. In dem Sommer hatte sie den Jackpot, eine Anstellung in der Pizzeria mit angeschlossener Bar. Sie hatte an einem Abend so viel Trinkgeld erhalten, wie in einer ganzen Woche während des Winters in ihrer Heimat- und Studienstadt. Hier hatte sie die Sonne, den See und zahlungskräftige Kunden. Manchmal waren diese auch anzüglich, aber meist konnte sie die zudringlichen Typen gut abwehren.

Als er ihr zuerst auffiel, bestellte er eine Pizza und war mit einer Frau ungefähr in Johannas Alter da. Er trug keinen Ehering. Sein Hemd war weit aufgeknöpft und seine Brustbehaarung war zu sehen und damals fand Johanna das unglaublich sexy. Er hatte sie angelächelt und ein außergewöhnlich hohes Trinkgeld gegeben. Seine dunklen Haare waren kurz geschnitten und lockig. Seine blauen Augen hatten die Farbe des Himmels an einem Sommermorgen über dem See. Sie war hingerissen. Johanna schätzte ihn auf dreißig. Aber er war ein Gast und wurde von ihr nicht anders behandelt als alle anderen. Nur wenn sie an der Essensausgabe stand, um die Bestellungen entgegenzunehmen, versuchte sie einen Blick auf ihn zu erhaschen. Er saß und unterhielt sich blendend mit der Blonden, die an seinen Lippen hing.

Johanna erinnerte sich daran, dass sie gern gewusst hätte, was er der Frau sagte, dass diese ihm so verfallen war. Sie war damals einundzwanzig. Und es hatte sie voll erwischt. Das merkte sie, denn sie konnte sich an dem Tag nicht wirklich auf die Arbeit konzentrieren. Enrique, der Chef der Pizzeria, nahm sie zur Seite und sagte ihr, sie solle sich den Typen mal schnell wieder abgewöhnen. Er wäre nichts für sie. Insgeheim hatte sie das noch mehr auf ihn abfahren lassen. Er war eben nicht einer dieser typischen Y-Chromosom-Träger, die ihr nachstellten.

Jetzt, fast zwanzig Jahre später, lag sie wach.

Sie hatte geweint, als Sofia in ihr Zimmer gegangen war und sie das Bett neu bezogen hatte. Sie wollte es nicht glauben. Sie wollte, dass ihre Welt wieder in Ordnung war.

Sie hörte ihn in der Küche, er öffnete und schloss den Kühlschrank, dann den Ofen, er klapperte mit dem Besteckkasten.

Alles wirkte so laut. Wieso war alles so laut?

Er zog die Rotze hoch. Oh, wie sie es hasste! Sie hasste dieses Schniefen so sehr. Sie wusste, es störte sie heute noch um einiges mehr als an den anderen Tagen. Das Geschirr landete in der Spüle. Dann hörte sie seine Schritte auf dem Gang und im Schlafzimmer.

«Brauchst gar nicht so tun, als würdest du schlafen!» Seine Stimme war kratzig, er roch nach Zigarettenrauch und Whiskey. War er wirklich betrunken Auto gefahren?

Sie bewegte sich nicht. Sie tat weiter so, als würde sie schlafen.

Johanna spürte, wie er sich neben sie ins Bett legte. Sie wusste, was jetzt kam. Es war immer das Gleiche, doch diesmal war es anders, sie hatte kein Verlangen nach ihm.

Er begann seine Hand unter der Decke auf Entdeckungstour zu schicken. Er strich ihr über die Oberschenkel, schob das Nachthemd nach oben und begann die Hand unter ihre Unterhose zu schieben. Auch wenn sie keinerlei Verlangen hatte, ihr Körper war nach neunzehn Jahren programmiert. Sie spürte, wie die Hitze in ihrem Schoss stieg. Sie versuchte, sich wegzudrehen, so als hätte sie einen schlechten Traum. Sein stinkender Atem schob sich von hinten an sie heran. Christoph begann ihren Hals zu küssen und seine Finger wollten sich vorarbeiten, doch er ließ von ihr ab. Er zog seine Jeans und seine Shorts umständlich aus. Sie fühlte seine Erregung an ihrem Po. Er schob sich immer näher an sie heran.

Neunzehn Jahre. Immer hatten sie sich so versöhnt. Johanna wurde es übel. Er widerte sie an. Er hatte an diesem Tag mit dem halben Kind in diesem Bett gelegen und es mit ihr getrieben. Versuchte er Schönwetter zu machen?

Sie schob ihn zur Seite und nach kurzem Grunzen schlief er ein. Sie schlief unruhig und träumte schlecht.

Auch am nächsten Morgen fühlte sie sich nicht besser. Sie hatte sich entschieden, dass es so nicht weitergehen konnte. Offiziell meldete sich Johanna krank. Sie brauchte eine Auszeit. Sie brauchte einen freien Kopf.

Nachdem Sofia zur Schule gegangen war und Christoph seine Termine wahrnahm, meldete sich Johanna bei Falk und gab ihm Bescheid. Sie bat ihn, dass Telefon auf sich umzustellen und die Abwesenheitsnotiz im Outlook zu aktivieren. Falk versprach ihr, sich darum zu kümmern. Sie wusste, auf ihn konnte sie sich verlassen. Im Gegensatz zu Christoph, ging es ihr durch den Kopf.

Christoph war aufgestanden, hatte sich geduscht und es war ihm nicht anzumerken, ob ihn die Situation vom Vortag noch in irgendeiner Weise beschäftigte. Er trank seinen Espresso, aß sein Croissant und verließ das Haus. Er trug ein farbenfrohes Hawaiihemd und seine dreiviertel langen Jeans.

Auch an diesem Tag sollte es heiß werden. Johanna lief in der Wohnung herum und fühlte sich wie Falschgeld. Was sollte sie machen? Christoph war ihre große Liebe. Er war der Mann, mit dem sie alt werden wollte. Nun hatte dieses Bild einen Riss. Wollte sie dieses Bild der Familie behalten und kitten, oder sollte sie sich nach neunzehn Jahren endgültig trennen?

Neunzehn Jahre waren eine lange Zeit. Sie liebte ihn. Sie begehrte ihn. Selbst nach all den Jahren liebte sie es, wenn sie sich liebten. Natürlich hatte sie eine Befürchtung, dass es andere Frauen geben konnte. Natürlich hatte sie die Blicke gesehen, mit denen junge Frauen oft ihren Mann anhimmelten. Natürlich hatte sie gespürt, dass er sich geschmeichelt fühlte. Welcher Mann wäre nicht geschmeichelt gewesen, wenn eine junge Frau einem schöne Augen machte? Meist waren es zudem hübsche junge Frauen. Sie flirteten ganz offen und ohne scheu. Anfangs kamen sie noch in Jeans und T-Shirt, doch bald wandelte sich das Outfit derjenigen, die sich für Christoph erwärmten zu einem aufreizenden Look. Kurze Hosen oder Röcke und tief ausgeschnittene Tops und entsprechendes Make-up.

Oh, den Mädels konnte und wollte Johanna keinen Vorwurf machen. Das waren schließlich noch halbe Kinder und dabei sich zu finden. Sie wussten es ja nicht besser. Sie waren jung und fühlten sich wahrscheinlich geschmeichelt, von einem älteren Mann als Frau wahrgenommen zu werden. Die meisten dachten sich nichts dabei. Da war sie sich sicher. Es gab allerdings auch Ausnahmen. Frauen, die bewusst und vorsätzlich ihre Reize einsetzten, um an das gewünschte Ziel zu kommen.

Er hätte es wissen müssen und er hätte sich auch entsprechend verhalten sollen. Doch ihm war nicht danach. Er genoss die großen Augen und die tiefen Einblicke in die Tops. Christoph hätte das unterbinden müssen.

Sofia behandelte ihn seit einiger Zeit etwas distanziert. Das war Johanna aufgefallen, konnte es aber nicht an einer bestimmten Begebenheit festmachen. Nun aber überlegte sie, ob Sofia etwas mitbekommen hatte.

Sie begann das Bad zu putzen und ging in den Hauswirtschaftsraum, um die Wäsche zu waschen. Sie nahm das Bettzeug aus dem Wäschekorb. Noch immer roch es nach Sex und Betrug, nach gebrochenen Versprechen und Lust.

Endlich brach es aus Johanna heraus. Sie hielt sich den Kopfkissenbezug vors Gesicht und ließ sich gehen. Sie schrie in den Stoff, als könnte sie den Vertrauensbruch heraustreiben. Es half nichts. Bitter stieg ihr die Galle auf.

Er hatte sie betrogen. Mit einem Kind. Das Mädel war ja kaum älter als Sofia. Bei dem Gedanken wurde ihr so schlecht, dass sie aus dem Hauswirtschaftsraum ins Gästebad rannte und sich übergab. Noch während sie versuchte ihre Übelkeit zu bekämpfen, wurde die Wohnungstür geöffnet.

Sie hörte Christoph sich mit jemanden unterhalten. Ein Lachen klang durch die Wohnung. Ein junges Lachen, fast ein Kichern. Es klang naiv und übermütig. Dann wurde es still. Johanna traute sich nicht sich zu rühren.

Getuschel. Dann hörte sie wie die Kühlschranktür geöffnet wurde, aus dem Eisfach wurden Eiswürfel genommen. Sie erkannte das Klappern in den Gläsern.

Es wurde wieder verdächtig still, dass sie es kaum aushielt. Sie hörte Christophs Stimme, konnte aber nicht verstehen, was genau er sagte. In ihren Ohren rauschte das Blut. Doch seine Stimme klang kratzig und rau.

Oh, sie kannte diese Stimmlage nur zu gut. Neunzehn Jahre hatte er es perfektioniert. So sprach er immer, wenn er mehr wollte. Um genau zu sein, wenn er Sex wollte.

Sie erkannte die Tonlage, und obgleich sie glaubte, wieder erbrechen zu müssen, saß sie wie gebannt und lauschte den Geräuschen in der Wohnung. Nach einer unerträglich quälenden Stille juchzte das Mädel, kicherte, und Johanna hörte Trappeln auf den Schieferbodenplatten. Es klang, als würde Christoph versuchen sie zu fangen.

Johanna traute ihren Ohren nicht.

Wirklich? Er jagte ihr in der Wohnung nach? Die Schritte entfernten sich in Richtung Schlafzimmer.

Ungläubig atmete Johanna aus. Dabei fiel ihr auf, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie hörte die beiden miteinander lachen, scherzen und sie meinte, es hätten Teenager sein können, so wie sie sich benahmen. Glaubte er immer noch zwanzig zu sein? Sie konnte es nicht fassen. Sie hörte laut und deutlich das Stöhnen und wie die nackten Körper aufeinander klatschten. Er war wild und tobte sich aus. Der jungen Frau schien die Behandlung zu gefallen, denn sie feuerte ihn noch an.

Langsam, wie in Trance kam Johanna aus dem Gästebad. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, folgte sie den Geräuschen zum Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt. Sie schaute durch den Spalt. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie ein schlechtes Gewissen. Konnte sie ihrem Mann so einfach hinterherspionieren?

Sie sah die beiden nackten Körper. Er kniete hinter der Frau und bearbeitete sie ausgiebig. Diese stöhnte und schrie wie in einem Pornofilm. Sie lösten sich und er legte sich auf den Rücken. Lasziv ließ sie sich auf ihm nieder.

»Jetzt reite ich dich, bis du wahnsinnig wirst«, hauchte sie.

Er knetete ihre Brüste und keuchte, dann umfasste er ihre Hüften. Er drückte sie herunter, während er sich ihr entgegen hob.

Johanna kam nicht umhin, an Lady Gordiva zu denken. Leider immer eine traurige Beschreibung, wenn es um diese Position beim Sex ging und beschrieben wurde.

An sich hatte dieses Mädchen nichts mit der mutigen Frau zu tun, die Lady Gordiva der Sage nach war. Außer dass sie nackt war und statt auf einem Pferd Christoph ritt.

Vage glaubte Johanna zu wissen, wer diese Fahrschülerin war, die eben eine erweiterte Fahrstunde erhielt. Unwillkürlich schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob Christoph diese Sonderleistung auch extra bezahlen ließ oder ob es nur eine Zugabe war.

Denn genau genommen erhielt diese Frau nicht das, wofür sie bezahlt hatte. Christoph stieß einen gutturalen Laut aus und Johanna erkannte, dass es das gewesen war.

Noch immer geschockt stand Johanna in der Tür, unschlüssig was sie tun sollte, spähte sie weiter durch den Spalt. Die Kleine legte sich neben ihn und streichelte seine Brustbehaarung. Sein Bauch war dicker geworden, stellte Johanna fest und aus ihrem Blickwinkel wirkte er unattraktiv und mit einem Mal schmierig. Das erste Mal in all den Jahren ekelte sie sich vor ihrem Mann. Er brauchte noch ein paar Minuten seine Atmung zu beruhigen. Er wirkte nicht gerade in Form. Die Kleine zwitscherte ihm Worte zu. Johannas Rauschen in den Ohren war wieder stärker und daher nahm sie das Gesprochene nicht wahr. Nachdem Christoph gekommen war, lief es für Johanna als Stummfilm ab. Ein Klatschen holte sie in die Gegenwart zurück.

«Los Kleines. Zieh dich an. Wir sollten noch ein bisschen üben, wenn du schon dafür bezahlst.»

Seine Hand knallte erneut auf ihren alabasterweißen wohlgeformten Hintern und hinterließ den Abdruck seiner Hand auf ihrer Haut.

Johanna fand die Frau schön, doch wollte ihr partout der Name nicht einfallen. Sie war schlank, straff – ohne Schwangerschaftsstreifen, im Gegensatz zu ihr selbst –, mit langen blonden Haaren.

«Ich übe gern hier noch ein bisschen mit dir.»

Lasziv räkelte sich das Mädchen im Ehebett.

Johanna sah sich selbst, wie sie in all den Jahren süchtig nach ihm war. Sie konnte nie genug von ihm bekommen, von seinen Berührungen, von seinen Blicken, und seinem Geschmack, wenn sie die Mischung aus Schweiß und Körper schmeckte. Sie war süchtig und Johanna wusste es. Wie eine Heroinabhängige konnte sie nicht ohne seine körperliche Zuwendung leben. Sie liebte den Schalk in seinem Blick, seine Hände auf ihrer Haut, mal zärtlich, mal rau.

Sie sah ihn aufstehen. Nackt. Seine Lust war geschrumpft und hing klein und traurig zwischen seinen Beinen auf der gestutzten Körperbehaarung. Seine reine Anwesenheit löste für den Bruchteil eines Augenblicks den Wunsch aus, ihn zu berühren. Noch ehe sie sich versah, hatte Johanna die Tür aufgestoßen. Als es ihr bewusst wurde, erstarrte sie. Benommen blickte sie von einem zum anderen. Christoph war kalkweiß geworden, als er sie erblickte, die Frau dafür aber tomatenrot.

«Heute schon wieder? Ist aber eine andere als gestern.» Woher die Worte kamen, wusste Johanna nicht.

«Es ist nicht, was du denkst.»

Hatte er das wirklich gesagt?

«Ich denke, du fickst sie.»

«So sieht es aus, aber so einfach ist es nicht!»

Hektisch suchte er nach seiner Unterhose.

«Du liebst sie also und möchtest eine Beziehung mit ihr, so wie zu der von gestern?»

Johanna war verwirrt. Woher kam die Stimme, die so spöttisch klang?

«Was machst du eigentlich hier?»

Christoph hatte seine Souveränität zurückgewonnen. Johanna fand, seine Boxershorts sahen so gut an ihm aus. Sie spürte die verwirrende Mischung aus Faszination und Ekel.

«Spielt das wirklich eine Rolle?»

«Ja, schon. Du solltest im Büro sein. Spionierst du mir etwa nach?»

Er spielte den Entrüsteten. Johanna war mit dieser Situation überfordert. Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie versuchte die Szene in ihr Gehirn zu ordnen.

«Du fickst hier die Schülerinnen und hast den Nerv mich zu fragen, ob ich dir nachspioniere?» Ungläubig sah sie ihn an.

«Christoph, das ist unsere Wohnung. Ich bin einfach nur zuhause. Die Frage sollte doch wohl eher lauten: Was machst du hier?»

Er starrte sie an, starrte zur Kleinen, die immer noch im Bett lag, als gehöre sie genau dorthin.

«Wir ...», stammelte er.

«Sag jetzt nicht, ihr musstet etwas holen. Ich hab euch die ganze Zeit beobachtet. Deine Ausreden ziehen nicht mehr.»

Langsam stieg die Wut an. Johanna fühlte sie kochen, heiß und unaufhaltsam bahnte sie sich vulkanartig ihren Weg hinauf. Tief war sie verborgen gewesen. Sie erkannte, sie würde sich gleich entladen. Sie war kurz davor zu schreien und zu toben.

Johanna blickte zur jungen Frau im Bett.

«Raus da und zieh dich an!»

Plötzlich war die Wut, weiß und eiskalt. So kalt, dass sogar Johanna fröstelte.

«So kannst du nicht mit mir reden!»

Die junge Dame machte keine Anstalten, sich anzuziehen.

«Raus sagte ich! Und wir haben noch keine Schweine zusammen gehütet und daher verbitte ich mir diese Vertraulichkeiten. Nur weil Sie mit meinem Mann ficken, sind wir noch lange keine Freunde!» Johanna funkelte die Nackte an.

Diesmal gab es keinerlei Zweifel, dass sie sich besser anziehen sollte.

Während sie aus dem Bett stieg und sich bekleidete, versuchte Christoph Körperkontakt zu Johanna herzustellen.

Wie immer, wenn er die Situation entschärfen wollte, dachte Johanna.

«Schatz reg dich nicht so auf. Du verstehst das völlig falsch.»

Johanna realisierte, Christoph konnte nichts tun, um die Situation zu entschärfen. Er hatte kein Ass im Ärmel, wie sonst. Keine Bullshit-Taktik. Er war erwischt worden, nackt, in eindeutiger Zweideutigkeit. Es gab keinen Fluchtweg, auch nicht die Flucht nach vorn. Keine Chance. Er saß in der Falle, wie die Ratte, die er war.

Johanna ging zum wandhohen Schrank und entnahm eine Reisetasche.

Christoph beobachtete sie mit eisernem Blick.

«Du brauchst doch nicht zu gehen.»

«Irrtum, Schatz, du gehst!»

Sie zog Hemden, Hosen, Unterwäsche und Socken wild aus den Fächern und Schubladen und stopfte es in die Tasche. Diese drückte sie ihm in die Hand.

«Ich werde nicht gehen! Das ist auch meine Wohnung. Und vergiss nicht, du arbeitest für mich. Du solltest besser wieder zur Besinnung kommen!»

«Du möchtest mich erpressen? Ganz sicher? Du ziehst aus. Solltest du zurückkommen, wirst du dein blaues Wunder erleben. Im Übrigen mache ich die Buchhaltung und die anderen Büroangelegenheiten. Du drohst mir sicher nicht! Bis auf weiteres solltest du dir ein anderes Liebesnest suchen. Und jetzt raus, alle beide!»

Mittlerweile waren beide vollständig bekleidet.

«Ich lasse mich nicht aus meiner Wohnung schmeißen. Schon gar nicht von dir. Ich hab hier alles bezahlt. Wenn überhaupt, dann gehst du!»

«Du wirfst also deine Frau und Tochter raus? Ernsthaft? Ich sollte wohl mal mit deiner Mutter sprechen.»

Johanna wusste: Das Einzige, wovor Christoph wirklich Angst hatte, war seine Mutter. Die zierliche Frau hatte ihn im Griff. Johanna und Ruth verstanden sich sehr gut und Christoph wollte es sich definitiv nicht mit seiner Mutter verscherzen. Dennoch versuchte er die Oberhand zurückzugewinnen.

«Das wagst du dir nicht!» Seine himmelblauen Augen fixierten sie.

«Fordere mich nicht weiter heraus. Solltest du hier noch Sperenzchen machen, fliegt die Tasche in hohem Bogen direkt über die Balkonbrüstung. Du hast genau fünf Minuten, zusätzlich was zu packen, und dann verschwindest du.»

Er riss ihr die Tasche aus der Hand, schnappte sich das Mädel und verließ die gemeinsame Wohnung.

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, brach Johanna zusammen und sank zu Boden. Hemmungslos weinte sie. Sie brüllte ihren Schmerz heraus. Sie fühlte sich, als würde sie tatsächlich auseinandergerissen. Sie glaubte keine Luft mehr zu bekommen, und doch atmete sie. Die Tränen strömten, als müsste sie einen Ozean füllen.

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so am Boden lag. Irgendwann schlief sie vor Erschöpfung ein und wurde durch Sofia geweckt, als diese aus der Schule kam.

Kapitel 4

Was macht eine Tochter, die im Schlafzimmer die Mutter mit verweinten Gesicht, mit den Schranktüren offen, Kleidung herausgerissen am Boden findet?

Manch andere Schülerin hätte die Nerven verloren, doch Sofia blieb ruhig. Sie ging ins Wohnzimmer, nahm die Kuscheldecke vom Sofa und legte sie über ihre Mutter. Das Bett wies die eindeutigen Spuren der Benutzung auf und da ihre Mutter nicht im Bett, sondern am Boden daneben lag, brauchte sie keinen Taschenrechner, um sich zusammenzurechnen, was passiert war. Die Katze war nun eindeutig aus dem Sack.

In der Küche stellte sie die Gläser mit den Colaresten in die Spülmaschine. Kochte Wasser und nahm zwei Tassen aus dem Hängeschrank, suchte zwei Teebeutel heraus und hing sie in die Tassen. Als das Wasser kochte, goss sie den Tee auf. Während der Tee durchzog, holte sie den Laptop aus ihrem Zimmer.

Mit der Tasse und dem Laptop und setzte sich auf die Couch. In der Suchmaschine fand sie einen Schlüsseldienst, schrieb Falk eine Nachricht übers Handy und meldete ihre Mutter für den nächsten Tag krank. Sie rief den Schlüsseldienst an und erfragte, was das Austauschen des Schlosses kosten würde. Sofia notierte sich den Preis. Als sie aufgelegt hatte, stand ihre Mutter in Zimmer.

«Was machst du da?»

«Ich suche einen Schlüsseldienst! Es wird Zeit, dass er endlich raus ist.»

«Wie meinst du das?» Johanna setzte sich auf die Couch, ihr Blick auf Sofia gerichtet. Angst war deutlich in den Augen lesbar.

«Du weißt es doch jetzt. Er ist ein Schwein. Er hat es nicht das erste Mal gemacht und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.» Sofia hielt dem Blick ihrer Mutter stand. Beide saßen sich gegenüber und versuchten im Blick der anderen zu lesen, was diese über die Situation wusste. Nach einer kleinen Ewigkeit erkannte Johanna, dass Sofia weitaus besser im Bilde war, als sie selbst. Sie senkte den Blick und Tränen schossen in ihre Augen. Sie fühlte sich noch gedemütigter. Sie hatte es nicht vor Sofia fernhalten können. Sie glaubte, als Mutter versagt zu haben. Wie konnte es sein, dass Sofia so viel darüber wusste?

«Wie lange weißt du es schon?»

«Seit einem Jahr.» Damit stand Sofia auf und holte die zweite Tasse Tee für Johanna.

Sie gab sie ihr.

«Mach dir nichts draus. Er hat uns alle getäuscht.»

«Wie kann ich mir nichts daraus machen? Er ist dein Vater. Und ich liebe ihn.» Johanna schniefte.

«Ich weiß, du liebst ihn, aber er ...», Sofia ließ den Satz unbeendet. Sie fühlte sich so elend. Sie konnte ihrer Mutter den Schmerz nicht nehmen. Sie konnte sie nur unterstützen und für sie da sein. Aus einem Impuls heraus umarmte sie Johanna.

«Er ist so ein Penner!»

Johanna nickte und versuchte trotz der Umarmung und des Nickens den Tee nicht zu verschütten.

«Er ist immer noch dein Vater.» Johanna brachte die Worte kaum hervor, so wurde sie durch das Schluchzen geschüttelt.

«Schöner Vater. Er vögelt meine Klassenkameradinnen und vor allem diese dämliche Susann. Wie kann er diese dumme Kuh dir vorziehen? Er ist doch einfach ein dummes Schwein. Ich hab sie gesehen. Und sie ist nicht die Einzige. Ich habe oft gemerkt, dass er hier, in unserer Wohnung, die Tussis anbringt und es hier mit ihnen treibt.» Es brach einfach aus Sofia heraus. Die Wut hatte sie überrollt und sie wollte es auch endlich loswerden. Diesen dreckigen Ballast, den ihr Vater ihr durch sein Verhalten aufgebürdet hat. Tränen rannen über ihr Gesicht. Die Augen schwollen an, die Nase wurde rot. Sie versuchte zu atmen, aber die Wut und die Enttäuschung schüttelten ihren Körper immer wieder mit Heulattacken. Sie hielt sich an Johanna fest, die ihrerseits die Aussagen fassungslos aufgenommen hatte. Es zerriss ihr Herz, dass sie nichts tun konnte, um die Enttäuschung und Trauer von Sofia zu mildern. Sie konnte ja nicht einmal ihren eigenen Schmerz im Zaum halten. So saßen sie noch einige Minuten und ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Sofia löste sich von Johanna und schaute sie an.

«Alles was wir jetzt machen können, ist ohne ihn klarkommen und das werden wir, Mama. Wir schaffen es auch ohne ihn. Du darfst dich nur nicht wieder von ihm einlullen lassen. Ich habe es mir in den letzten Monaten genau überlegt. Ich würde als erstes das Schloss auswechseln und dann würde ich mir einen neuen Job suchen. Der Arsch hat es nicht anders verdient.»

Erwartungsvoll sah sie ihre Mutter an. Sofia hoffte, ihre Mutter überzeugt zu haben sich zu trennen. Endgültig. Sie war ja nicht dumm. Sie hatte es in den letzten Jahren immer mal wieder erlebt, wie sich ihre Eltern gestritten hatten. Ihr Vater hatte dann seine blauen Augen blank poliert und Johanna innig angesehen. Er hatte sein Gesicht den Ausdruck verliehen, der leicht als Liebe gemischt mit Traurigkeit über eine falsche Beschuldigung interpretiert werden konnte, und er hatte Johanna wieder verführt, hatte sie eingelullt und sie hatte es mit sich machen lassen. Sofia wollte sicherstellen, dass es diesmal nicht der Fall war. Sie wollte alles daran setzen, dass er diesmal nicht das leichte Spiel hatte. Sie wollte ihre Mutter glücklich sehen und sie selbst hatte kein Bedürfnis ihren Vater weiterhin hier zu sehen. Sofia hatte alles bereits mehrfach in ihren Gedanken durchgespielt. Sie hatte neben der Schule und der Recherchen für diese auch Jobs für ihre Mutter gesucht. Sie hatte sich Wohnungen angesehen, da sie sich denken konnte, dass ihr Vater für ihr jetziges Zuhause nicht mehr zahlen würde und allein konnte ihre Mutter das nicht stemmen.

Johanna schnäuzte sich die Nase.

«Okay, dann lass mal sehen, was dieser Schlüsseldienst so verlangt.» Johanna war beschämt, dass ihre Tochter ihr den Weg zeigte, aber sie war auch dankbar, an die Hand genommen zu werden.

Sie riefen zwei weitere Firmen an und die Firma, die noch am selben Abend das Schloss auswechselte, erhielt den Zuschlag. Sofia zeigte Johanna die Stellenanzeigen, die sie herausgesucht hatte, um vorbereitet zu sein, wenn die Katze aus dem Sack war. Nun war es soweit und sie fühlte sich gut, ihre Mutter in dieser Situation unterstützen zu können. Sofia empfand es keinesfalls als Schwäche, dass ihre Mutter ihre Unterstützung annahm. Im Gegenteil, sie konnte etwas tun und nicht nur passiv daneben stehen, wie so viele andere Kids, die sie aus der Schule kannte. Sie konnte aktiv daran teilhaben, die Situation zu verbessern, und zusammen saßen sie lange an diesem Abend. Sie bestellten Pizza und schauten sich Sofias Recherchen an. Sie sprachen ausführlich darüber, wie Sofia Christoph auf die Schliche gekommen war, welche Last Sofia in den letzten Monaten mit sich herumgetragen hatte und wieso sie Weihnachten so schlecht gelaunt war. Christoph hatte sich besonders reizend gegeben. Zwar war er immer wieder zwischen den Feiertagen verschwunden, doch brachte er immer etwas mit. Er hatte Sofia die Vespa geschenkt, die sie sich gewünscht hatte, doch Sofia hatte keine Freude gezeigt. Eher widerstrebend hatte sie das Geschenk angenommen und seine Versuche, mit ihr zu fahren, abgelehnt. Sie hatte gemeint, es sei zu kalt. Seit Weihnachten stand die Vespa nun in der Garage und war noch nie ausgefahren worden.

Mehr und mehr fügten sich die Puzzleteilchen zu einem Bild. Johanna wurde schwindelig bei all den Gelegenheiten, die Christoph sich heraus genommen hat, um Zeit zur freien Verfügung zu haben. Was er in diesen Zeiten tat, darüber konnte Johanna zwar nur spekulieren, aber sie hatte eine reiche Phantasie und nach dem, was sie zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte, brauchte sie ihre Phantasie nicht überanstrengen.

Sie dachte weiter darüber nach, nachdem Sofia und sie sich in ihre Schlafzimmer zurückgezogen hatten. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie konnte sie allein weitermachen? Noch immer war sie schockiert über die Geschichte, die Sofia ihr erzählt hatte. Johanna wusste jetzt, dass dies keine einmalige Angelegenheit war. Christoph hatte sie wieder und wieder betrogen.

Johanna lag wach, in dem Bett, das sie mit diesem Mann geteilt hatte. Sie hatte es nicht erwartet. Sie wusste, dass es immer wieder vorkam, dass es junge Frauen missverstanden, dass ein Lehrer nicht auch gleich an allen Frauen interessiert ist. Woher kam eigentlich diese Faszination mit Lehrern? Ihre Freundin Nicole war mit einem Skilehrer verheiratet und hatte mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Sind Frauen der Meinung, Lehrer, Fahrlehrer und Skilehrer sind einfache Beute? Gab es einen bestimmten Charakter Mann, der einen solchen Beruf aufgriff, um bewundert zu werden und leichter an die Frauen heranzukommen? Oder woran lag es, dass sie und ihre Freundin diese Erfahrungen machten? Waren sie Einzelfälle oder gab es ein Schema? Bisher hatte Johanna nur Nicole trösten müssen, nun bedurfte sie selbst Trost. Sie schrieb Nicole eine Nachricht. Kurz vor Mitternacht ertönte das Signal für einkommende Nachrichten auf ihrem Handy. Sie las die kurze Nachricht rasch und konnte es nicht glauben.

«Stehe auch vor der Scheidung. Weiß nicht, wie es mit mir und den Kindern weitergehen soll.» So sehr Johanna Nicole trösten wollte, konnte sie sich allerdings nicht durchringen zu antworten. Sie wollte selbst in den Arm genommen werden. Sie drehte sich auf die Seite. Das Bett war zum zweiten Mal in den letzten vierundzwanzig Stunden bezogen worden. Sie nahm Christophs Kopfkissen und versuchte seinen Geruch dennoch wahrzunehmen. Sie vermisste ihn, trotz ihrer Wut, trotz ihrer Erschöpfung, trotz ihrer Enttäuschung. Sie wollte ihn für sich. Für sich allein. Doch je mehr sie an ihn dachte und den schwachen Hauch seines Geruchs wahrnahm, desto mehr liefen die Tränen in Bächen über ihre geröteten Wangen. Sie fühlte sich leer, irgendwie verloren. Sie weinte leise vor sich hin, bis der Schlaf seine schützenden Arme um sie legte und sie sich in ein schwarzes, tiefes und dennoch nicht beängstigendes Nichts fallen ließ.

Sie schlief und träumte von einem anderen Leben. Einem Leben, von dem sie bisher nicht einmal eine Vorstellung hatte. Sie würde wohl allein sein, denn gab es eine Alternative? Konnte sie Christoph verzeihen? Konnte sie es ihm durchgehen lassen?
Johanna erwachte vor dem Wecker am kommenden Morgen. Sie fühlte sich erschlagen und irgendwie unwirklich. Doch im Selbstmitleid baden und den Tag zuhause verbringen, wollte sie nicht. Nachdem sie sich angezogen hatte, bereitete sie das Frühstück und verabredete mit Sofia, dass sie sich am Nachmittag in der Stadt trafen. Johanna begab sich in die Firma. Wo Christoph wohl geschlafen hatte? Hatte er sich ein Zimmer in einem Hotel genommen oder war er zu Ruth gegangen?

Im Büro stellte sie das Telefon auf sich um, fuhr den PC hoch und kochte Kaffee. An diesem Tag gab es wieder eine Firmenveranstaltung und einen Erste-Hilfe-Kurs, den sie in ihren Räumlichkeiten mit anboten. Johanna hatte die Räume damals gefunden und Christoph davon überzeugt, sein Fahrschullokal von dem Stadtrand in die Stadtmitte zu verlegen. Die Zimmer waren geradezu ideal gelegen in einem neugebauten Wohn- und Geschäftshaus, Parkplätze waren vorhanden. Eine Bushaltestelle befand sich genau zwei Minuten zu Fuß vom Büro, das in einer 30er Zone lag, und gab den vorbeifahrenden Autos die Möglichkeit, auch die Geschäfte wahrzunehmen.

Große Fenster boten die Möglichkeit, saisonale Werbung zu betreiben. Wenn man das Schulungslokal betrat, fand man sich in einem großzügigen Empfangsbereich wieder. Gegenüber befand sich Johannas Büro, das auch einen kleinen Durchbruch besaß, ähnlich einer Rezeption, links und rechts davon befanden sich Schulungsräume. Ein angedeuteter Flur schaffte Platz für Toiletten und eine kleine Kaffeeküche, die ebenfalls als Getränkelager diente. Um die Kosten gering zu halten, hatte Johanna sich auf die Suche nach zusätzlichen Einnahmen gemacht. Wenn keine Fahrschulkurse stattfanden – diese konnten gut ein Jahr im Voraus geplant werden – bot Johanna die Kursräume für kleine Firmen als Beratungs-, Schulungs- oder Präsentationsräume an. Dafür verlangte sie weniger als die Hotels in der Umgebung. Kleine Firmen mit wenig Budget freuten sich über das Angebot und nahmen es gern wahr.

Zudem ergab eine glückliche Fügung, dass Johanna mit dem Roten Kreuz zusammenkam und diese ebenfalls darauf aufmerksam wurden. Es bot sich daher an, die Räume einmal im Monat regelmäßig zu mieten. Das ergab eine enorme finanzielle Erleichterung.

Mittlerweile hatte Johanna das Geschäft im Griff und hielt die Unterhaltskosten gering, somit war es im letzten Jahr möglich, Falk als zusätzlichen Fahrlehrer anzuheuern. Eine sehr gute Entscheidung, wie Johanna fand.

Gerade als der Kaffee durchgelaufen war und Johanna die Räumlichkeiten für die Kurse vorbereitete, kam Falk durch die Tür. Seine leichte Augenfehlstellung versuchte er durch eine randlose Brille abzuschwächen. Er hatte seine dunkelblonden Haare zurückgekämmt und bereits so früh am Morgen standen winzige Schweißperlchen auf der Stirn. Er trug eine knielange Hose und ein kariertes, kurzärmliges Hemd. Es war figurbetont geschnitten und doch nicht zu eng. Er wirkte sportlich und fit. Seine Füße steckten in luftigen Schuhen. Korrekt und seriös gekleidet, aber auch dem Wetter entsprechend, wie immer, dachte Johanna.

«Guten Morgen Johanna, gehts dir wieder besser?» Er lächelte ihr freundlich zu. Seine Schüchternheit hatte er erst nach vielen Monaten abgelegt. Es schien, als wäre er immer etwas befangen. Kein testosteronsprühender selbstbewusster Charakter wie Christoph.

«Ja, danke. Es ist noch nicht wirklich okay, aber besser.» Johanna überlegte, wie viel sie erzählen sollte, entschied sich aber, zunächst einmal abzuwarten, wie ein Treffen mit Christoph ablief. Danach würde sich vielleicht schon einiges an Diskretion erledigt haben.

«Möchtest du einen Kaffee?» Johanna bot Falk eine große Tasse an. Er nahm diese dankend an.

«Heute ist ja wieder viel los. Ich weiß wirklich nicht, wie du das alles so koordinieren kannst. Nachdem du gestern nicht da warst, war es schon recht stressig. Ich bin froh, dass es dir besser geht. Sofia hatte sich gestern Abend noch einmal gemeldet und dich für heute krankgemeldet. Aber ich bin wirklich froh, dass du da bist.» Seine Augen leuchteten sie an, sie schienen aber auch ihr Gesicht nach einer bestimmten Regung abzuscannen.

«Ja, naja. Gestern sah es auch noch ganz anders aus.»

Sofia hatte wohl vergessen, dieses Detail Johanna mitzuteilen. Was sollte es? Jetzt war sie im Büro und Arbeit war die beste Ablenkung. Schließlich änderte es an der Gesamtsituation nichts.

«Oh, ich hoffe, es ist nichts Ernstes.» Falk wirkte erschüttert. Er machte sich ganz offensichtlich Sorgen.

«Nein, nein. Ich glaube nicht. Nichts Lebensbedrohliches zumindest.» Johanna versuchte zu lächeln, um Falk etwas zu beruhigen. Offenbar bewirkte es allerdings das Gegenteil. Er schien besorgter, doch ließ es auf sich beruhen. Er wand sich der Einteilung zu, die auf einem Whiteboard in Johannas Büro hing, während Johanna einen finalen Blick über die Beratungsräume schweifen ließ.

Als sie ins Büro kam, stand Falk noch immer vor dem Whiteboard und schien in den Terminplan des Tages vertieft.

«Ist die Katze aus dem Sack?», fragte er, als Johanna den Raum betrat.

«Was meinst du?» Johanna lief es eiskalt den Rücken herunter. Wusste denn die ganze Welt Bescheid, während sie naiv in ihrem Wolkenkuckucksheim lebte? Sie fühlte sich ertappt und noch erniedrigter als zuvor. Wie konnte Christoph so lange mit seinem Verhalten durchkommen?

«Naja, mit der Miriam und der Katja und der Regula und der Vesna.» Falk versuchte gar nicht erst, seinen Unmut zu verbergen. Genau wie bei Sofia am Abend zuvor schien es aus ihm herauszubrechen. Nur war er dabei nicht so emotional wie Johannas Tochter. Johanna war bei der Nennung der Namen immer bleicher geworden. Sie musste sich setzen. Sie plumpste fast auf den Stuhl. Mit so vielen Frauen hatte sie tatsächlich nicht gerechnet, aber es zeigte auch, wie wenig Rücksicht Christoph nahm. Seine Gespielinnen waren allgemein bekannt. Alles Abstreiten nutzte nichts.

«Woher weißt du es?»

«Ich glaube, die ganze Stadt weiß es. Es tut mir leid, Johanna. Er ist nicht gerade verschwiegen oder zurückhaltend. Er zeigt sich offen mit den Mädels und jungen Frauen. Ich dachte, vielleicht habt ihr eine solche Beziehung, die offen ist und wo jeder seines macht. Doch nachdem du dich krankgemeldet hast und er so sauer ins Büro kam und er nichts zu deiner Abwesenheit sagte, noch sich erkundigte, schien es mir sehr komisch. Er sprach kaum ein Wort und schmiss nur die Akten auf deinen Tisch und fluchte. Er war nicht mehr so souverän wie sonst. Das machte mich stutzig und nach Sofias Nachricht gestern Abend, wusste ich was los war. Sie schrieb nur, dass es dir nicht gut ginge. Aber du hättest dich selbst gemeldet, es sei denn es wäre was Schwerwiegendes und Christoph hätte doch sicher anders reagiert, wenn du was Schlimmes gehabt hättest. Johanna. Es tut mir leid, dass ich keinen Mut hatte dich früher darauf anzusprechen. Kann ich jetzt etwas für dich tun?»

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135961
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Liebesroman Neuanfang Trennung Drama zweite Chance Liebe

Autoren

  • Josephine Cunningham (Autor:in)

  • Josephine E. Cunningham (Autor:in)

Josephine E. Cunningham lebt derzeit in Deutschland und liebt Dekorationen, Kochen, Lesen, Schreiben und Weihnachten. Ein Weihnachtsroman ist in Arbeit.
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Titel: Midlife