Sturmgeläute an seiner Tür. Schlagartig war Sam wach. Er sprang aus dem Bett und zog sich hastig die Jogginghose an, bevor er zu der Sprechanlage an seiner Wohnungstür ging, um zu sehen, wer ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Die Kamera war auf den Hauseingang gerichtet, doch dort stand niemand. Er warf einen Blick durch den Spion und stöhnte leise auf. Mist, er hatte gedacht, das hätte er vor seiner Abreise endgültig geklärt. Ein weiteres Mal klingelte es – gleich mehrmals hintereinander. Die Worte seiner Nachbarin kamen ihm wieder in den Sinn. Wie blöd! Hätte er doch nachgefragt, was sie meinte, dann wäre er vorbereitet gewesen oder hätte dem Besuch aktiv entgegensteuern können. Warum musste dieser Kobold aber auch ausgerechnet zu den Menschen zählen, die die Klappe hielten, obwohl sie darauf brannten, einem etwas zu erzählen? Besser, er öffnete die Tür, bevor Katja mit ihrem Lärm das ganze Haus aufweckte.
»Hi.« Er lächelte zaghaft und fuhr sich mit den Fingern durch die verstrubbelten Haare.
»Wir müssen reden.« Sie stakste auf Stöckelschuhen an ihm vorbei in die Wohnung, schnurstracks auf die Küche zu. Der Minirock – einen Ticken zu kurz, wie er fand – gab den Blick auf ihre langen Beine frei. Zugegeben, ein aufreizender Anblick. Ihre Haare waren in einem dunklen Mahagoni gefärbt, in einem Stufenschnitt umrahmten sie ihr längliches Gesicht.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Ja, bitte.«
Er schaltete die Kaffeemaschine ein, füllte den Milchkanister auf und machte einen Milchkaffee für sich und einen schwarzen für sie. Die ganze Zeit fühlte er, wie ihr intensiver Blick ihm bei jeder Bewegung folgte. Kurz überlegte er, ob er ins Schlafzimmer zurückgehen und ein T-Shirt überwerfen sollte. Sein von der Arbeit durchtrainierter Oberkörper zog oft die Aufmerksamkeit von Frauen auf sich, wenn er es bei der Auswahl seiner Klamotten darauf anlegte. Heute hätte er ihn lieber verborgen, da er keine falschen Signale senden wollte, aber irgendwie wäre das albern gewesen. Immerhin kannten sie sich seit einer Ewigkeit und waren oft genug miteinander im Bett gewesen. Wenn ihn eine nackt kannte, dann Katja. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie hatte die Jacke über die Stuhllehne gelegt, und durch die dunkelblaue, durchsichtige Bluse schimmerte der darunterliegende Spitzen-BH, sodass ihr üppiger Busen voll zur Geltung kam. Er fixierte seine Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht. Auch dessen Vorteile waren sorgfältig in Szene gesetzt. Knallroter Lippenstift betonte ihre sinnlichen, vollen Lippen, die Nase war geschickt mit Make-up verkleinert, die dunkelblauen Augen mit Silber betont, die Wimpern künstlich verlängert und verdichtet.
Katja, die erste Eroberung seiner Jugend. Ihre Wege hatten sich immer mal wieder gekreuzt. Dummerweise war er bei der Feier zum dreißigsten Geburtstag seiner Schwester mit ihr ins Bett gestiegen. Zu dem Zeitpunkt war sie gerade frisch geschieden gewesen – von ihrem zweiten Ehemann. Schon als Teenager war sie nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, was ihm entgegengekommen war. Außerdem fand er, dass jede Frau genau wie ein Mann das Recht hatte, sich wechselnde Partner zu gönnen, wenn sie es so bevorzugte. Aus diesem Grund hatte er sich auch auf der Geburtstagsfeier keine großen Gedanken gemacht, sondern das angenommen, was ihm geboten wurde. Wenn er seitdem bei seinen Eltern zu Besuch war, schickte sie ihm oft eine SMS und fragte, ob er nicht Lust hätte, auf dem Weg zurück bei ihr vorbeizuschauen. Mit wenigen Ausnahmen hatten diese Besuche in ihrem Bett geendet.
Vor knapp drei Monaten hatte sie in Bonn vor seiner Haustür gestanden. Sie waren ausgegangen, hatten wie immer grandiosen Sex gehabt, und danach hatte sie ihm erzählt, dass sie einen Job in Bonn angenommen habe und gefragt, ob er ihr beim Umzug helfen könne.
Klar, wieso nicht? – Er war ein echter Volltrottel. In dem Moment hätten alle Alarmglocken in seinem Kopf schrillen müssen, aber stattdessen hatte er sie auf stumm geschaltet. Selber schuld, Samuel Roberto Maria Baumann, sieh gefälligst zu, wie du deinen Kopf aus der Schlinge ziehst. Das hatte er gedacht, als er endlich bereit war, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, denn das erklärte Ziel von Katja lag darin, ihm Handschellen anzulegen. Das jedoch würde nur über seine Leiche geschehen.
»Wusstest du, dass du eine Nachbarin bekommen hast? Sie war so nett, mich zu einem Kaffee einzuladen, nachdem ich stundenlang vor deiner Haustür auf dich gewartet habe. Ich war stinksauer auf dich. Du hättest mir sagen können, dass du erst abends nach Hause kommst. Das arme Mädchen ist blind. Furchtbar, so leben zu müssen.«
Er schwieg. Das war nur ein Einstieg, bevor sie zu dem eigentlichen Grund ihres Besuches kommen würde. Er dachte daran, wie der Kobold reagieren würde, wenn sie wüsste, dass jemand sie so bedauerte. Aber nun war klar, dass sie gestern wirklich diesen Besuch hatte andeuten wollen mit dem Ärger, der ihm bevorstand. Er fragte sich, was Katja ihr erzählt hatte, dass sie so sicher vorausgesehen hatte, was ihn erwartete. Katjas Finger strichen über den Tisch. Sie wich seinem Blick aus, nahm die Tasse und nippte an dem heißen Getränk.
»Warum bist du hier, Katja?«, fragte er sie ruhig. Es war nicht so, dass er der eiskalte Typ war. Normalerweise pickte er sich Frauen heraus, die genauso wie er an einer losen sexuellen Beziehung interessiert waren. Ihm hatte nie der Sinn danach gestanden, Herzen zu brechen. Im Gegenteil, genau das wollte er immer vermeiden. Hätte er Liebe in seinem Leben gewollt, dann hätte er mit Jessica etwas angefangen, der allerbesten Freundin seiner Schwester Tami. In ihrer Kindheit hatte sie mehr bei ihnen gelebt als bei ihrer Mutter. Inzwischen war sie mit Jonas, seinem jüngeren Bruder, verheiratet. Gemeinsam erwarteten sie ihr drittes Kind. Nach Luna, der Ältesten, und Tim, ihrem jüngeren Bruder, waren sie jetzt neugierig, welches Geschlecht in der Familie bald in der Überzahl wäre.
Katja atmete tief durch und sah ihm in die Augen.
Unwillkürlich zog sich sein Magen zusammen.
»Ich bin schwanger.«
Unmöglich. Das konnte nicht sein. Abgesehen davon, dass er grundsätzlich Kondome verwendete, gab es noch einen weiteren Grund, der definitiv dagegen sprach. Er hütete sich jedoch davor, es laut auszusprechen. Bei seinem Job war er darauf trainiert, mit schwierigen Situationen umzugehen.
»Im wievielten Monat?«
»Willst du nachrechnen? Was glaubst du? Dass ich mit jemand anderem geschlafen hätte? Es ist von dir, Samuel!«
Er atmete tief durch, bewahrte Ruhe. Der Fehler lag bei ihm. Anstatt ihr klar zu sagen, dass er sie mochte und den Sex mit ihr schätzte – mehr aber auch nicht –, hatte er nur gesagt, er sei nicht der Richtige für sie, und war ins Trainingslager abgehauen. Ihm hätte klar sein müssen, dass sie es anders sah.
»Wann hast du den nächsten Arzttermin?
»Wieso willst du das wissen?«
»Ich möchte dabei sein.«
»Aus welchem Grund?«
»Wenn es mein Kind ist, möchte ich ein Teil seines Lebens sein.«
Sie fixierte ihn, lehnte sich zurück. »Du schlägst mir nicht vor, dass ich es abtreiben soll?«
»Nein.«
Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Er war beeindruckt von der emotionalen Hingabe, mit der sie ihre Lüge untermauerte. Er hatte das oft in Verhören erlebt. Es gab viele Signale, die zusammengenommen dabei halfen, herauszufinden, ob jemand log oder nicht. Die Gestik, die Mimik, die Wortwahl, die Wiederholung von Sätzen – es war ein feines Spiel, das Erfahrung bei der Interpretation erforderte. Er hatte das in einem Kurs von CIA-Trainern gelernt. Seitdem er das System anwandte, führten seine Verhöre zügig zu Ergebnissen, und oft war es dem Täter selbst gar nicht klar, dass er sich um Kopf und Kragen redete.
»Du bist bereit, die Verantwortung zu übernehmen?«
»Ja.«
Die Tränen liefen ihre Wange hinunter, sie lachte, wischte sie weg, sprang auf und fiel ihm um den Hals. Er achtete sorgsam darauf, wo er seine Hände platzierte. Als sie anfing, seine Wangen mit Küssen zu bedecken, nahm er ihr Gesicht sanft in seine Hände. Er wollte, dass sie ihm in die Augen sah und es endgültig kapierte.
»Ich sagte, dass ich ein Teil des Lebens meines Kindes sein möchte. Katja, ich mag dich. Der Sex mit dir ist großartig, und ich bin sicher, dass du wieder einen Mann findest, der dich heiratet und dir das gibt, was du brauchst. Nur bin ich nicht dieser Mann.«
Er konnte sehen, wie seine Worte langsam in ihren Verstand einsickerten und sie den Sinn dahinter begriff. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, sie presste die Lippen zusammen, rutschte von seinem Schoß und holte aus. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, den Schlag abzufangen, aber er fand es nur fair. Hoffentlich half es ihr, mit der Enttäuschung und der Wut fertig zu werden.
Mit Schwung knallte Sekunden später seine Haustür ins Schloss, das Bild im Flur fiel auf den Boden. Zum Glück hatte er es sowieso nie sonderlich gemocht.
Er klingelte zuerst mehrmals an der Wohnungstür. Als niemand öffnete, nahm er den Schlüssel. »Emily?«
Nichts. Es gab keine Gardinen an den Fenstern, sodass das Morgenlicht durch die Räume flutete. Er blieb stehen, sah sich um, lauschte. Ob sie noch schlief? Während er noch überlegte, ob er einfach so in ihr Schlafzimmer gehen konnte, kam sie aus der Tür zu dem zweiten Zimmer, das er bei sich als Trainingsraum und Gästezimmer nutzte. Sie hatte die Haare zu einem unordentlichen Dutt festgesteckt, aus dem sich zahlreiche Strähnen lösten – lauter kleine Kringellocken, die ihr Gesicht einrahmten. Diesmal trug sie ein schwarzes T-Shirt zu einer gleichfarbigen Jeansbermuda. Sie hatte ein versonnenes Lächeln auf den Lippen.
»Guten Morgen.«
Sie schrie auf, duckte sich blitzschnell und legte die Hände schützend über den Kopf.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin’s, Sam.« Er nahm sie bei den Schultern.
Langsam richtete sie sich auf, ließ die Arme sinken und zog dabei seine Hände von ihren Schultern.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen, mich so zu erschrecken?«
»Tut mir leid, aber ich habe geklingelt. Du hast nicht aufgemacht.«
»Gib mir auf der Stelle meinen Schlüssel wieder!«, fauchte sie.
Er gab ihn ihr. Ihm war klar, dass er eine Grenze überschritten hatte, und wenn sie es darauf anlegte, konnte ihm das echten Ärger einbringen. Sie steckte den Wohnungsschlüssel in die Hosentasche und drehte sich zu der Tür um, durch die sie eben gekommen war, schloss sie ab, und auch dieser Schlüssel verschwand in der Hosentasche. Unwillkürlich fiel Sams Blick zu der Tür und er fragte sich, was sie dahinter verbarg. Immerhin war es offensichtlich, dass sie es vor ihm geheim halten wollte.
»Warum bist du hier?«
»Ich wollte dein Knie verarzten und dir außerdem meine Hilfe beim Sortieren deines Kleiderschranks anbieten.«
»Nett von dir, aber das ist mir viel zu gefährlich.«
»Gefährlich?«
»Nicht wegen dir, sondern wegen deiner Freundin.«
»Aha, ich verstehe.«
Sie legte den Kopf schief, zog die Nase kraus. »Das bezweifle ich. Hast du noch was von dieser Salbe, die du mir auf das Knie geschmiert hast? Oder kannst du mir sagen, was das ist? Es hat Wunder gewirkt.«
»Was hat sie dir erzählt?«
»Wer?«
»Katja. Sie hat gesagt, du hättest sie zum Kaffee eingeladen.«
»Ja, aber erst, nachdem sie eine Stunde vor deiner Tür gesessen hat. Puh, hat die eine Ausdauer.«
»Also?«
»Dass sie deine Freundin ist.«
»Und?«
»Wie sehr sie dich vermisst.«
»Und?«
»Das übliche Gelabere einer Frau, die sich selbst belügt, weil sie hofft, ihre Gefühle würden von dem Mann erwidert. Dabei weiß sie genau, dass er nur am Sex mit ihr interessiert ist.«
Er zuckte unter ihren Worten zusammen. Sie hatte es ganz sachlich gesagt, ohne eine Spur von Vorwurf.
»Frag mich nicht, wenn du keine ehrliche Antwort hören willst.«
»Bist du immer so direkt?«
»Ja. Das Leben ist zu kurz für viele Lügen. Ich denke, es ist besser, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, als sich etwas vorzuspielen. Sie ist entschlossen, dich festzunageln, aber das weißt du bestimmt schon. Jedenfalls möchte ich nicht, dass deine Freundin falsche Schlüsse zieht, wenn sie dich bei mir sieht.«
»Und ich bestimme selbst, was ich in meiner Freizeit mache. Wenn ich Lust verspüre, meiner Nachbarin, die frisch eingezogen ist, zu helfen, ihren Schrank zu sortieren, dann gibt es niemanden, der mich daran hindern kann.«
»Ach ja? Und was ist mit der Nachbarin?«
Er grinste, weil er das Zucken um ihre Mundwinkel sah. »Die darf selbstverständlich Nein sagen, aber dann erfährt sie nie, welche Klamotten ihre Schwester ihr noch so untergejubelt hat.«
»Deine Freundin war schon da?«
»Ja.«
»Sie ist wieder weg?«
»Ja.«
»Und du lebst noch? Okay. Du bist besser im Umgang mit heiklen Situationen, als ich dachte. Muss ich damit rechnen, dass sie mich abmurkst, wenn sie dich bei mir erwischt?«
»Nein. Die Sache ist endgültig geklärt.«
»Also gut, aber nur, weil ich keine Ahnung habe, wen ich sonst fragen kann. Das Schlafzimmer ist da.«
»Ich weiß.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Woher?«
»Deine Wohnung ist genauso geschnitten wie meine.«
»Hmh!«
Sie machte seltsame Klick-Laute, während sie zielsicher ins Schlafzimmer ging. Die Türen aller Räume – bis auf den einen, den sie zuvor abgeschlossen hatte – standen offen. Das Bett hatte einen Überzug, der mit Rosen bedruckt war. Es roch frisch nach einer Mischung aus Rosenholz und Vanille. Er sah sich nach der Quelle um und entdeckte einen Glasbehälter mit einer Flüssigkeit, in dem Holzstäbchen steckten. Ein Schiebetürenschrank nahm die komplette Wand neben der Tür gegenüber vom Bett ein.
»Stopp. Bevor wir das machen, musst du mir etwas hoch und heilig versprechen.«
»Hey, du erinnerst dich? Ich habe eine kleine Schwester. Du brauchst dir also keine Gedanken machen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Frauenklamotten rumwühle.«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist mir egal. Es geht um die ganz linke Tür des Schranks. Versprich mir, dass du sie zu lässt und unter keinen Umständen reinschaust!«
»Du weißt, wie das mit Verboten ist?«
Sie streckte die rechte Hand aus, tastete, fand seinen linken Arm, trat dichter an ihn heran. Ihre Fingerspitzen glitten über seine Brust zu seinem rechten Arm herunter, bis sie seine Hand fanden. Ein warmer Schauer rieselte bei der sanften Berührung durch seinen Körper. Diese langen, schlanken und so kräftigen Finger hoben seine Hand wie zu einem Schwur hoch.
»Versprich es mir.«
Er schluckte, sah in das Spiegelbild seines Antlitzes in der Sonnenbrille, die sie trug. »Ich verspreche es.«
Sie lächelte ihn an, ihr Gesicht dicht vor seinem.
»Danke.«
Er trat zum Schrank und öffnete die rechte Seite. Lauter T-Shirts mit langen und kurzen Ärmeln lagen da fein säuberlich sortiert. Überwiegend waren sie schwarz, doch es gab auch quietschgelbe, leuchtend orangefarbene und giftgrüne Shirts dazwischen. Im Fach darunter stapelten sich schwarze Stoffhosen sowie Jeans in langer und kurzer Variante. Auch hier gab es grelle Farbvarianten dazwischen.
»Wie willst du es eingeteilt haben?«
»Rechts immer die langen Varianten, links die kurzen. Alle Klamotten, die bunt sind, kannst du aufs Bett legen, dann packe ich sie in Plastiksäcke, damit ich sie in die Altkleidersammlung bringen kann. Oben die Shirts, unten die Hosen.«
Wie ein eingespieltes Team machten sie sich an die Arbeit. Sam las die Sprüche auf den reingeschmuggelten Klamotten vor. Sie waren oft witzig, doch in Anbetracht von Emilys Blindheit auch geschmacklos. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn war dabei noch der harmloseste Spruch. Interessanterweise fand sie die Sprüche lustig, wohingegen sie die Farben ärgerten. Sie besaß ein ansteckendes Lachen.
»Warum Schwarz?«, hakte er nach.
»Weil es immer gut aussieht, du keine Ketchupflecken darauf siehst und es mir steht.«
»Dir steht aber auch grün und rot oder orange.«
»Genau, und wie soll ich sie auseinanderhalten?«
»Du kannst mehr Fächer machen, wo du die Farben sortierst.«
»Und wenn alles in der Wäsche ist, wie soll ich es nach dem Waschen auseinanderhalten?«
»Unterschiedliche Stoffe, unterschiedliche Farben? Oder du machst dir Knöpfe rein, Stickzeichen oder sonst etwas, was du fühlen kannst.«
»Und wer sagt mir, womit ich wie aussehe? Die Verkäuferin, die die Provision kassiert? Nein, danke.«
»Ich kann mit dir einkaufen gehen.«
»Du? Und woher weiß ich, ob du meinen Geschmack triffst?«
»Indem du mir sagst, was du gerne anziehst. – Fertig«, verkündete er und sah sich zufrieden den Schrank an. Alles lag ordentlich übereinander, wie mit dem Lineal gezogen. Die aussortierten Sachen hatte Emily in drei Plastiksäcken verpackt. Einer nach dem anderen wanderte in die Abstellkammer. Wenn Sam sie in der Wohnung beobachtete, vergaß er, dass Emily blind war, so sicher bewegte sie sich hier. Dabei schnalzte sie immer wieder mit der Zunge und wandte dabei den Kopf hin und her.
»Warum machst du das?«
»Was?«
»Diese Klickgeräusche.«
»Damit orientiere ich mich wie eine Fledermaus.«
»Du willst mich veräppeln.«
»Nein, ich war ein halbes Jahr in den USA, um es von Daniel Kish zu lernen. Er hat das Echoloten für Blinde sozusagen populär gemacht. Man braucht eine Weile, um es zu trainieren, doch es gibt einem unglaublich viel Freiheit.«
»Hast du keinen Stock?«
»Doch, der war eigentlich in der Handtasche. Er muss rausgefallen sein.«
»Dann mache ich dir jetzt einen Vorschlag. Du kochst etwas, und ich gehe auf die Suche nach dem Stock.«
»Da gibt es zwei Probleme.«
»Welche?« Gespannt wartete er auf ihre Erklärung für das einseitige Menü in ihrem Kühlschrank.
»Erstens habe ich schon viel zu viel von deiner Zeit in Anspruch genommen, zweitens kann ich nicht kochen.«
»Das Erste ist kein Problem, im Gegenteil. Du hältst mich davon ab, vor lauter Langeweile sinnloses Zeug zu machen.«
Sie lachte. »Du meinst, Fernsehshows anzuschauen oder vor einem Computer zu hängen und zu spielen?«
»So in etwa. Bei dem Zweiten muss ich nachhaken. Meinst du, du kannst gar nicht kochen oder bereitet es dir Schwierigkeiten, weil du blind bist?«
»Ich kann was bestellen. Was magst du? Chinesisch, italienisch oder Sushi?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Er sah ihr an, wie sie sich innerlich wand.
Schließlich holte sie tief Luft. »Ich musste noch nie kochen.«
»Wie alt bist du?«
»Zweiunddreißig.«
»Und du hast noch nie in deinem ganzen Leben selber gekocht?«
Sie seufzte tief. »Nein.«
»Ich denke, dann ist es an der Zeit, dass du es lernst. Du kannst dich nicht für den Rest deines Lebens von Milch, Joghurt und Müsli ernähren.«
»Woher weißt du ...«
»Gib mir drei Stunden, und wir kochen bei mir. Schaffst du es ohne Stock zu mir rüber?«
»Klar, aber ...«
»Keine Sorge. Wir fangen mit etwas Leichtem an. Spaghetti Bolognese, das magst du doch, oder?«
»Ja, schon, aber ...«
»Bis später«, würgte er sie ein drittes Mal ab. Warum musste er sich auch ausgerechnet bei ihr derartig verplappern? So etwas passierte ihm sonst nie.