Seine Pension lag nicht weit vom Petersplatz entfernt. Hanna hatte der Zwanziger wehgetan, den sie aus ihrer Geldbörse zückte, um den Taxifahrer zu bezahlen. Sie hatte ihren Arm um Bens Taille geschlungen und ihn die Treppen in den ersten Stock hoch gestützt. Er lag auf dem Bett, einem Bett mit Himmel. Überhaupt besaß die Pension einen individuellen Charme. Das Zimmer war überschaubar: ein kleiner Sekretär, ein Stuhl mit Brokatbezug und dieses Himmelbett mit vier geschnitzten Säulen und einem leichten, an den Pfosten festgebundenen Vorhang. Direkt links neben der Zimmertür befand sich die Tür zum Bad. Sie ließ sie offen, damit sie Ben hören konnte, wusch sich die Hände und das verschwitzte Gesicht. Nicht nur hatte sie Ben gestützt, sondern auch beide Rucksäcke getragen. Als er sich zufrieden lächelnd auf das Bett hatte fallen lassen, kam ihr für einen Moment der Gedanke, ob das ein Trick von ihm gewesen war, um sie in sein Zimmer zu locken. Aber nein, die Blässe in seinem Gesicht und das Zittern seiner Hand, als er die Wasserflasche vom Nachttisch an den Mund führte, hatten ihr gezeigt, dass er ihr nichts vorspielte.
Auf ihre Frage, ob sie irgendetwas für ihn tun könne, hatte er den Kopf geschüttelt und geantwortet: »Nein, gib mir einfach einen Moment Zeit.«
Tausend Fragen schwirrten in Hannas Kopf herum. Warum war er hier? Weshalb schluckte er Tabletten? Wieso war er nicht in der Lage, mit ihr Schritt zu halten? Sie starrte in ihr Gesicht im Spiegel. Ihre Augen waren mit dieser grünen Farbe einfach nur gruselig. Aus dem Rucksack holte sie das Kästchen und gab Reinigungsflüssigkeit hinein. Sie entfernte die Kontaktlinsen. Schon besser, jetzt sahen ihr ihre eigenen Augen aus dem Spiegel entgegen. Tiefe Falten standen auf ihrer Stirn. Sie lauschte angestrengt auf die Geräusche im Nebenzimmer. Bens Atem ging gleichmäßig, aber flach. Ihr Blick im Spiegel blieb auf einem Fleck auf ihrem T-Shirt hängen. Das T-Shirt hatte sie heute Morgen frisch aus dem Schrank geholt. Entschlossen, wenigstens diesem Problem an den Kragen zu gehen, zog sie es aus und drehte den Wasserhahn auf. Als das Wasser durch den Stoff floss, färbte es sich rosa. Erschrocken ließ sie das T-Shirt ins Waschbecken fallen und machte das Wasser aus. Ihre Finger zögerten, als sie sich dem Fleck näherten. Sie tupfte mit der Fingerspitze darauf, betrachtete den hellrosafarbenen Wassertropfen und hielt ihn sich unter die Nase.
»Verdammt noch mal, Ben, ich habe Blut an meinem T-Shirt!«
Ihre erboste Stimme riss Ben aus dem Dämmerschlaf, in den er geglitten war. Er öffnete die Augen und starrte Hanna an, die mit bis auf den BH nacktem Oberkörper vor seinem Bett stand, den rechten Zeigefinger drohend erhoben hielt und ihn mit funkelnden blauen Augen anvisierte. Ihr Anblick erstickte jeden vernünftigen Gedanken in seinem Kopf im Keim. Sein von Schmerzen und Übelkeit benebeltes Gehirn setzte schlicht und ergreifend aus.
»Beantworte gefälligst meine Frage! Warum habe ich Blut auf meinem T-Shirt?«
»Zieh dir was an.«
»Bitte?«
»Du hast mich richtig verstanden. Zieh dir etwas an.«
Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Er ließ den Blick langsam über ihren Oberkörper gleiten. Ihre Augen folgten seinen. Sie sah an sich herunter.
»Ach verflucht, das kann jetzt nicht dein Ernst sein.« Sie sah sich im Raum um, und ihr Blick erfasste seine Tasche auf der Bank neben dem Kleiderschrank. Hanna holte sich eines seiner schwarzen T-Shirts heraus und zog es über.
Doch sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich von einer einmal gestellten Frage ablenken ließen, und ihr Blick verhieß nichts Gutes. Er stütze sich mit den Armen ab, wartete, bis der Schwindel nachließ, bevor er sich komplett aufrichtete und die Füße auf den Boden stellte. Er packte den Rand seines T-Shirts. Dass seine Wunde aufging, hatte ihm gerade noch gefehlt. Er kam nicht dazu, das T-Shirt hochzuziehen. Hanna hockte sich vor ihn. Ihre Hände fassten den Rand des Stoffs, und vorsichtig schob sie die rechte Seite hoch. Er hob den Arm und zog ihn aus dem Ärmel. Ihre Hände berührten seine Brust, als sie den Stoff sachte von der linken Seite zog. Er zuckte ein wenig zusammen, dann lag sein T-Shirt auf dem Boden.
»Woher wusstest du, dass es die linke Seite ist?«
Sie schwieg, presste die Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Nur eine kleine Fläche am unteren Rand der Wunde blutete. Das Pflaster war an der Stelle mit Blut durchtränkt. Mit den Fingerspitzen tastete sie vorsichtig um die Wunde herum die Haut ab, suchte sorgfältig nach Anzeichen einer Entzündung. Tiefe Falten lagen auf ihrer Stirn. Ihre Wangenknochen traten hervor und die Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. Ben konnte seinen Blick nicht von ihrem konzentrierten Gesicht lösen.
»Tut es weh?«
»Ein bisschen.«
Sie hob den Blick. »Wo?«
Er zeigte auf den schmerzenden Bereich. Ihre Augen richteten sich wieder auf die Verletzung.
»Ich möchte das Pflaster abnehmen. Hast du neues Verbandsmaterial?«
»In meiner Tasche.«
Der Arzt aus dem Militärkrankenhaus hatte ihm einiges an Verbänden, Pflastern und Salben mitgegeben. Warum, war Ben nicht bewusst gewesen, aber jetzt war er dankbar dafür.
Hanna stand auf und ging zu seiner Tasche.
»Rechts.«
Sie machte den Reißverschluss der rechten Seite auf und kam mit dem Verbandsmaterial zurück, kniete sich vor ihn und knibbelte eine Ecke des Pflasters hoch, bis sie es gut fassen konnte. Er ahnte, was sie vorhatte, doch bevor er sie daran hindern konnte, riss sie das Pflaster weg. Er schrie auf. Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu.
»Bist du wahnsinnig?«, pflaumte er sie an.
»Nein, aber du. Kannst du mir sagen, weshalb du mit so einer Wunde mit mir durch halb Rom rennst?«
Er schwieg. Sie nahm ein Stück Verbandswatte, sprühte das Desinfektionsspray darauf und entfernte das Blut auf seiner Haut. Sie arbeitete sanft, bis sie die Stelle an der Naht erreichte, an der Blut heraustrat. Die Stelle war so lang wie die Kuppe ihres kleinen Fingers bis zum Gelenk. Es schien, als hätten sich Fäden aus der Haut gelöst.
»Hat das Lisa gemacht?«
Überrascht sah er sie an. Sie hatte seine Schwester nie kennengelernt, wenigstens nicht bewusst. Als er sie damals zu Lisa brachte, war sie dem Tod näher gewesen als dem Leben. Ein sauberer Schnitt, von Hannas Schwager mit einem Messer ausgeführt, hatte ihr Blut zwar langsam, aber stetig aus ihrem Körper fließen lassen. Er erinnerte sich an ihr Gespräch im Auto, als er versucht hatte, sie wachzuhalten. Damals hatte sie ihn über seine Schwester ausgefragt.
»Und?«
Sie sah ihn fragend mit undurchdringlichem Blick an. Er schüttelte den Kopf.
»Habe ich mir gedacht. Das hier muss sich jemand anschauen, der Ahnung von solchen Dingen hat.«
»Mach Salbe drauf und ein Pflaster.«
»Ich hatte nicht vor, es offen zu lassen.«
Ihre Hände auf seiner Haut. Ihr Geruch nach Sonne, ein Hauch von Rosen und Apfel in seiner Nase. Die Wärme ihres Körpers. Das Tageslicht, das sie umrahmte. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Woher wusstest du, dass ich auf der linken Seite verletzt bin?« Er nahm selbst die Heiserkeit in seiner Stimme wahr. Verflucht, er musste seine Empfindungen kontrollieren.
Hanna konzentrierte sich auf die Behandlung der Wunde. Sie nahm ein weiteres Stück Watte und entfernte den Kleber des alten Pflasters von Bens Haut. Behutsam bewegten sich ihre Finger über seine Seite. Trotz aller Sorgen genossen es ihre Hände, seinen Körper zu berühren, sehnten sich nach mehr. Sie überlegte, was sie ihm sagen sollte. Die Nacht, die tief in ihr Gedächtnis eingebrannt war, hatte ihr deutlich vor Augen gestanden, als ihre Nase den Geruch von Blut erfasst hatte. Aber wie sollte sie ihm das erklären? Dass sie von ihm geträumt hatte? Wie lange war das her, acht Tage? Vierzehn? In der Dunkelheit, ein funkelndes Messer, das sich durch seine linke Seite bohrte. Den Nachhall ihres Entsetzens spürte sie deutlich, wenn sie die Wunde ansah. Im Traum hatte sie die Hand des Mannes gepackt und sie festgehalten. Ben hatte seine Ellenbogen in den Unterleib seines Angreifers gerammt und wenige Sekunden später hatte dieser mit gebrochenem Genick auf dem Boden gelegen, während Ben sein Bewusstsein verlor. So weit ihr Traum.
Sie konzentrierte sich auf das Pflaster in ihrer Hand und löste das Schutzpapier. Als sie im Bad das Blut gerochen hatte, wusste sie, dass seine linke Seite verletzt war. Wie konnte es sein, dass sie etwas träumte, was wirklich passiert war? Nein, es war bestimmt nicht in dieser Weise vorgefallen. Es konnte nicht sein. Wie sollte sie ihm eine Antwort geben auf etwas, das sie selbst nicht verstand, ohne ihm Angst zu machen, wenn ein »Ich liebe dich« dazu führte, dass er in Panik geriet? Was würde dann erst ein »Wir sind füreinander bestimmt, ob du es willst oder nicht« in ihm auslösen? Nein, das waren genauso wenig die richtigen Worte. Es war mehr, so viel mehr.
»Hanna!«
»Mein T-Shirt hat an der rechten Seite einen Blutfleck. Ich habe dir die Treppe hochgeholfen, indem ich deine linke Seite gestützt habe.«
Er schwieg, und sein Blick kehrte sich nach innen, als würde er das, was sie gesagt hatte, vor seinen Augen als Film abspulen. Hannas Herz fing an zu klopfen.
»Stimmt. Du hast recht.«
Sie klebte das Pflaster über die Wunde, auf der sie zuvor reichlich antibiotische Salbe verteilt hatte. Der Schnitt war nicht lang, nicht so wie bei ihr damals, dafür aber viel tiefer. Vielleicht waren sogar innere Organe betroffen. Oh Gott, sie wünschte sich, Lisa wäre hier. »Wieso nimmst du falsche Tabletten?«
»Wieso kannst du eine Wunde so gut behandeln?«
Sie sah ihn an und konnte nicht verhindern, dass ein Lächeln sich auf ihren Lippen ausbreitete. Es spiegelte sich in seinem Gesicht. Fragen mit Gegenfragen beantworten – das alte Spiel. »Wenn du in der Wildnis unterwegs bist, solltest du Ahnung von so etwas haben. Ist nicht so prickelnd, eine verunreinigte Wunde zu haben, wenn das nächste Dorf Kilometer entfernt ist.«
»Du bist nicht mehr in der Wildnis unterwegs.«
»Nein.« Die Tatsache laut ausgesprochen zu hören, tat weh. Sie fragte sich, wann sie es packen würde, ihr altes Leben zu vergessen und das neue anzunehmen.
»Vermisst du es?«
»Ja.« Sie sah ihn auffordernd an. Die Reihe war an ihm, ihre Frage zu beantworten.
»Ich hatte blöderweise noch in der Jackentasche eine von den falschen Tabletten und nicht drauf geachtet, als ich sie vorhin nahm.« Er machte eine Pause. »Ich war abgelenkt.«
Hanna legte den Kopf schief und grinste ihn mit einem Anflug von Galgenhumor an. »Ich hoffe, es war keine Tablette von Medicare.«
Er lachte tatsächlich, hielt inne und verzog das Gesicht. Lachen tat natürlich weh mit so einer Wunde. Dann wurde sein Ausdruck wieder ernst.
»Nein. Ich bin gegen Penicillin allergisch.«
»Hast du noch etwas anderes dabei? Ich weiß nicht, ob es reicht, wenn wir die Wunde nur von außen behandeln.«
»Schau mal im Bad, ich bin mir nicht sicher.«
Als Hanna aus dem Bad kam, hatte Ben sich seine Hose ausgezogen und war ins Bett unter das dünne Laken mit der Wolldecke geschlüpft. Sie setzte sich auf die freie Seite an den Rand des Betts. In seinem Necessaire befanden sich nur zwei verschiedene Arten von Tabletten in einer Schutzhülle. Eine Verpackung hatte sie nicht finden können. Unsicher hielt sie die Tabletten in der Hand. Er zeigte auf die größere von beiden. Sie sah ihn zweifelnd an. »Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Also gut.« Hanna drückte die Tablette aus der Verpackung und reichte sie ihm mit der Wasserflasche. Er warf sie in den Mund und schluckte sie herunter. Hanna nahm die Flasche zurück. Sie musste gehen, bevor es zu spät war und sie keine Kraft mehr dafür hatte. Er schien ihre Gedanken zu ahnen und hielt ihre Hand fest.
»Bitte bleib.«
Sie starrte seine Hand an, schüttelte den Kopf.
»Wenigstens, bis ich eingeschlafen bin und du sicher sein kannst, dass es mir gut geht.«
Mistkerl. Verfluchter, elender Mistkerl, dachte sie wütend. Er wusste genau, welche Worte er sagen musste, nutzte gnadenlos ihre Gefühle ihm gegenüber aus. Nie hätte sie ihm sagen dürfen, dass sie ihn liebte. Aber die Worte waren so überraschend als Erkenntnis in ihrem Sein aufgetaucht, wie die Sonne sich an dem Morgen ihren Weg über den Berg gebahnt hatte. Sie entflohen einfach ihrem Mund, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich über die Konsequenzen dieser laut ausgesprochenen Worte Gedanken zu machen. Sie zog sich die Turnschuhe aus, streckte sich auf dem Bettrand aus, sodass der weiteste Abstand zwischen ihnen entstand, der in dem Bett möglich war. Er schmunzelte.
»Du brauchst keine Angst haben. Dazu wäre ich nicht in der Lage, auch wenn du nackt vor mir liegen würdest.«
Sie grinste zurück, ging auf seinen leichten Ton ein. »Das hörte sich vor einem Augenblick noch anders an. Außerdem dachte ich, Männer könnten immer.«
»Mythos«, murmelte Ben.
»Und warum musste ich mir vorhin etwas anziehen?«
Er streckte seine Hand aus und legte sie auf halbem Weg zu ihr auf die Bettdecke.
Sie starrte darauf, zögerte. Es würde keinen Schaden anrichten, oder? Sie legte ihre Hand auf seine und umschloss sie mit den Fingern.
»Schlaf«, befahl sie ihm leise.
»Deine Augen sind in Blau viel schöner.«
»Schlaf.«
»Weißt du, dass sie manchmal wie Saphire funkeln?«
»Schlaf.«
»Wenn sie so funkeln, bist du wütend.«
»Dann schau jetzt mal genau hin.«
Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Seine Augenlider fielen zu. Zwei Minuten später zeigten seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge, dass Ben eingeschlafen war. Sie löste ihre Hand nicht von seiner. Das Lächeln von eben lag noch immer auf seinen Gesichtszügen, gaben ihm einen weichen Ausdruck, einen, den Hanna nur von Momenten her kannte, wenn er mit ihr geschlafen hatte. Nein, sie wollte nicht daran denken. Wann war es passiert, dass er sich so in ihr Herz geschlichen hatte? Nie war früher je ein Verlangen oder nur der Gedanke an Sex in ihrem Bewusstsein aufgetaucht. Schon in Afrika hatte er ihre über Jahre aufgebauten Mauern eingerissen. Einfach so. Mit seinen Worten, mit seinem Mitgefühl, mit seiner Beherrschtheit und Kontrolle. Er hatte sich von ihr erobern lassen, aber nein, nein, das stimmte nicht. Seine Worte waren es gewesen: »Es tut mir leid, aber ich habe jemandem versprochen, die Hände von dir zu lassen.« Er hatte es versprochen und er hielt sich an sein Versprechen. Hatte sie das bewogen, ihre persönliche Grenze zu überschreiten? Nein, da gab es noch etwas, vor dem sie Angst hatte, es sich selbst einzugestehen, weil es sich so völlig außerhalb ihrer Kontrolle befand. Ben besaß eine Anziehungskraft wie ein Magnet, und kam sie ihm zu nahe, schaffte sie es nicht mehr, sich dieser zu entziehen. Reine Physik. Sie grinste über ihren Versuch, dem Gefühl eine wissenschaftliche Richtung zu geben, löste ihre Hand von seiner und richtete sich auf. Sie musste gehen – für ihr eigenes Seelenheil, denn wenn er hatte, was er wollte, würde er sich umdrehen und verschwinden, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Sie fasste an den Kreuzanhänger, den er ihr geschenkt hatte. Ob er auch nur ansatzweise eine Ahnung hatte, wie viel ihr sein Geschenk bedeutete? Es verband sie auf eigenartige Weise mit ihm. Sie runzelte die Stirn. Norwegen – der Helikopter. Sie hatte sich umgedreht und ihn verlassen, ohne ein weiteres Wort. Er war zurückgeblieben. Sein Gesicht erschien ihr unendlich blass in den Kissen. Auf der Haut oberhalb des Pflasters zeigte sich ein breiter roter Streifen, der sich warm anfühlte. Was, wenn er eine Infektion bekam? Sie würde doch noch ein Weilchen bleiben. Nur so lange, bis sie sicher war, dass es ihm besser ging. Hanna zog sich einen Stuhl heran, holte ihr Notizbuch hervor und begann zu zeichnen.
Ben wachte auf. Er hatte so tief und fest geschlafen wie seit Monaten nicht, einen erholsamen Schlaf ohne obskure Albträume. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Hanna. Gleichzeitig spürte er ihre Hand, die auf seiner lag und sie umschlossen hielt, so wie er eingeschlafen war. Er lächelte, betrachtete die feingliedrige Hand, in der so viel Kraft lag. Ihre Berührung gab ihm Ruhe und spendete Trost. Auf eine seltsame Art fühlte sich die Last, die ihn nach Rom geführt hatte, leichter an. Zwei Männer, für deren Tod er die Verantwortung trug. Aber hier neben ihm lag ein Mensch, der ihm sein Leben verdankte. Ihre Züge waren völlig entspannt, der Mund leicht geöffnet, Speichel tropfte auf das Kissen. Es störte ihn nicht. Es gab ihrem Gesicht ein kindliches Aussehen. Die Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, ihre Augenbrauen fuhren kurz über der Nasenwurzel zusammen, und sie runzelte die Stirn. Dann glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er fragte sich, wovon sie träumte. Ihm war noch nie bewusst gewesen, dass ein Mensch beim Träumen seine Mimik veränderte. Es war spannend, Hanna beim Schlafen zu betrachten. Er drehte seine Hand, die unter ihrer lag, um auf seine Uhr zu schauen, und sofort schlossen sich ihre Finger fester um seine Hand, hielten ihn fest. Dieser Reflex löste eine Flut von Emotionen in ihm aus.
Er hatte eine Riesendummheit begangen, einfach in ein Flugzeug zu steigen und nach Rom zu fliegen. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Nichts. Rein gar nichts, Ben Wahlstrom, schalt er sich selbst. Wonach suchte er hier? Hatte er gedacht, sie würde ihm sagen: Ja ich war es, die dich nicht ins Licht hat gehen lassen, als du es wolltest, weil es mein Licht ist, dem du folgen sollst? Es hörte sich so lächerlich an. Nein, es war lächerlich. Sein Gehirn hatte ihm einen Streich gespielt, als es nicht wusste, ob es ihn sterben oder leben lassen sollte. So einfach lautete die Erklärung. Es hat nichts, rein gar nichts mit Hanna zu tun. Er hatte seine Mutter gesehen, so deutlich, dass er die Hand nach ihr hätte ausstrecken können, um sie zu berühren. Sie hatte gelächelt und ihn mitnehmen wollen. Aber da legte sich eine andere, schmale, kräftige Hand in seine, die ihn festhielt. Festhielt im Leben, im Schmerz, dem er sich stellen musste, wenn er seiner Mutter nicht folgte. Und als er sich umdrehte, hatte er Hanna gesehen. Hanna, ganz dunkel, nur mit einer schwach leuchtenden Aura um sich herum. Kalt im Gegensatz zu dem hell leuchtenden, warmen Licht, das seine Mutter umgab. Das Lächeln seiner Mutter hatte sich verändert. Sie hatte an ihm vorbeigesehen, so als könnte sie Hanna sehen, und nach und nach verblasste sie. Mit ihr ging das Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Als Ben die Augen geöffnet hatte, lag er im Krankenhaus. Jemand war hereingekommen, hatte sich über ihn gebeugt und gelächelt.
»Schön. Sie sind aufgewacht.«
Die Realität war mit aller Heftigkeit über ihn hereingebrochen. Zwei Männer aus seiner Gruppe waren tot. Der Angriff hatte sich auf die Deutschen konzentriert, obwohl Amerikaner an der heikelsten Stelle eingesetzt worden waren. Sie hatten mehr Erfahrung mit solchen Einsätzen und zögerten im Gegensatz zu den Deutschen nicht, zu töten. Das hatte ihr gemeinsamer Auftrag in Afghanistan gezeigt. Damals hatte die deutsche KSK-Einheit ihre Position aufgegeben, nachdem ein Ziegenhirte sie entdeckt und damit die gesamte Aktion der Amerikaner gefährdet hatte. Es hatte einige Diskussionen mit den Amerikanern gegeben, die in so einem Fall die Zivilperson eliminiert und als unvermeidbaren Kollateralschaden angesehen hätten. Anders die Deutschen, die das Leben der Zivilperson über die Erreichung ihres Ziels setzten.
Seine Wunde hatte ihn an Hannas Verletzung erinnert, und mit dieser Erinnerung kam das Gefühl zurück, dass sie ihnen etwas verschwiegen hatte. Seitdem haftete die Frage in seinem Hirn, ob sie hinter ihrem Schweigen etwas verbarg, was mit dem schiefgelaufenen Einsatz zu tun hatte. Als er seinen Rückflug nach Berlin organisierte, war ihm der Gedanke noch völlig logisch erschienen, aber jetzt kam er ihm absurd vor.
Er hätte nicht hierher kommen dürfen. Ein Zeuge in einem Zeugenschutzprogramm durfte keinen Kontakt mit Menschen aus seiner Vergangenheit haben. Vorsichtig und ohne seine Hand weiter zu bewegen, die unter ihrer lag, aktivierte er mit der Rechten sein Licht für die Uhr. Vier Uhr morgens. Er hatte vierzehn Stunden am Stück geschlafen. Kein Wunder, dass er sich so erholt fühlte. Er schob den rechten Arm wieder unter seinen Kopf und betrachtete Hanna, die immer noch am Rand des Betts lag, so weit wie möglich von ihm entfernt. Kluges Mädchen, dachte Ben im Stillen. Sein Blick fiel auf sein T-Shirt, das sie trug, und wanderte weiter. Hanna hatte ihre Hose ausgezogen und lag mit einem Teil ihres Körpers und einem Bein unter dem Laken und der Wolldecke. Das andere Bein lag darüber. Seine Augen folgten der Linie ihrer Taille, bis zu der das T-Shirt hochgerutscht war, glitten über die Rundung ihres Pos, der in einer praktischen, schnörkellosen Panty steckte, zu ihrem Bein, das sie leicht angewinkelt hatte. Er brauchte nur ein Stück vorzurücken und seine Hand aus ihrer zu lösen, dann könnte er dieser verführerischen, süßen Linie mit seinen Fingern folgen.
Millimeter für Millimeter, mit unendlicher Geduld, die gewöhnlich seine Arbeit auszeichnete, befreite er seine linke Hand von ihrem Griff, woraufhin Hannas Finger sich zu einer Faust ballten. Zentimeter für Zentimeter zwang sich Ben, aus dem Bett zu rutschen, weg von der Frau, die sich so vertrauensvoll in sein Bett gelegt hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit betrachtete er sich grimmig im Badezimmerspiegel. Wenigstens war es ihm diesmal gelungen, die Grenze nicht zu überschreiten.
Die Helligkeit im Zimmer holte Hanna aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf, und ihr Blick fiel auf das leere Bett neben ihr. Ihre Finger, die beim Einschlafen seine Hand umschlossen gehalten hatten, krallten sich jetzt ins Bettlaken. Ein Gefühl von Einsamkeit breitete sich in ihr aus, nahm ihr die Luft zum Atmen. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Abrupt richtete sie sich auf.
»Guten Morgen.«
Sie drehte sich zu der Stimme hinter ihrem Rücken um. Dort saß Ben im Schneidersitz auf dem Boden an der Wand. Auf seinen Beinen lag ihr geöffnetes Notizbuch. Seine Augen richteten sich auf ihr nacktes Bein, das über der Decke lag. Hastig ließ sie es unter der Decke verschwinden und zog die Konstruktion von Laken und Wolldecke höher. Den Schalk in den Augen, ließ er seine Brauen in die Höhe wandern. Hannas Blick ging suchend über den Boden. Ihre Hose lag ordentlich zusammengefaltet direkt neben seinem Knie. Verdammt, wieso hatte sie die überhaupt ausgezogen? Sie riss an dem Laken, um es unter dem Bett hervorzuzerren, doch das funktionierte nicht. Es war einfach zu weit unter die Matratze gestopft. Sie hörte sein ersticktes Lachen. Erbost stieg sie aus dem Bett, griff sich Hose und Rucksack und schnappte sich ihr Notizbuch aus seinem Schoß.
»Musst du immer in den Sachen von anderen Leuten rumschnüffeln?«, knurrte sie ihn an.
Erst als sie im Bad den Schlüssel umgedreht hatte, gestattete sie es sich zu grinsen. Er war nicht abgehauen! Er war geblieben, hier bei ihr.
Ben hörte, wie die Dusche anging und Hanna anfing, leise etwas zu summen. Langsam erhob er sich, setzte sich auf das Bett, das noch die Wärme von Hannas Körper abstrahlte. Er nahm ihr Kissen, knüllte es vor seiner Brust zusammen und steckte die Nase hinein. Er gönnte sich diesen intimen Moment mit ihr. Es fühlte sich an, als würde er sie selbst in seinen Armen halten. Erst hatte er ihr Notizbuch im Schein seiner Taschenlampe betrachtet. Dann, als es im Zimmer heller geworden war, im Licht der Morgensonne. Seite für Seite hatte er ihre Zeichnungen betrachtet, darunter eine Madonnenfigur, den toten Sohn auf dem Schoß haltend, Engel in verschiedenen Varianten, Kirchen, Brunnen und eine Brücke, die irgendwo in Rom über den Tiber führte. Er hatte eine Zeichnung vom Erzengel Michael auf der Engelsburg gefunden, wo sie gestern gemeinsam gewesen waren, und zuletzt eine von sich selbst beim Schlafen. Langsam stand er auf und fing an, das Bett zu machen. Routine. Er war hier in einem Hotel, es wäre nicht notwendig gewesen. Er holte seine Tasche, stellte sie auf das gemachte Bett, und begann seine Sachen einzuräumen. Er würde heute abreisen, weiterfliegen zu seinem ursprünglichen Ziel: Lisa in Berlin. Seine Wunde tat immer noch höllisch weh, und er wusste, dass es vernünftiger war, wenn er einen Arzt einen Blick darauf werfen ließ.
Es wäre einfach gewesen, in den frühen Morgenstunden zu verschwinden und Hanna allein im Zimmer zu lassen. Sie wäre mit der Situation klargekommen, so, wie sie mit jeder Situation in ihrem Leben zurechtkam, wenn er an das dachte, was ihr in ihrem Leben passiert war. Doch er wollte sie diesmal nicht verlassen, ohne wenigstens den Versuch einer Erklärung zu machen. Er wollte ihr erklären, dass, wenn es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, für den er Liebe empfinden konnte, sie dieser Mensch war. Nun ja, er musste sich wohl eine andere Formulierung einfallen lassen. Er verfügte nicht gerade über Geschick in solchen Dingen. Bisher hatte er es immer den Frauen überlassen, ihn aus ihrem Leben zu werfen. Ben verstrickte sich nicht gern in irgendwelche Gefühle, die kompliziert werden konnten. Egal, wie offen eine Frau einer Beziehung am Anfang gegenüberstand, irgendwann wollten sie alle mehr. Aber er gehörte nicht zu den Männern für mehr. Er hatte vor langer Zeit seinen Lebensweg gewählt. Niemand hatte ihn dazu gezwungen. Seine Wahl hatte er aus purer Überzeugung getroffen. Hanna hingegen zählte zu den durch und durch komplizierten Frauen. Nichts an ihr war einfach. Selbst beim Sex verkomplizierte sie alles, denn es blieb mit ihr nicht bei dem simplen körperlichen Akt, der für Vergnügen und Entspannung sorgte. Nein, sie verschlang ihn mit Haut und Haar und ...
Er zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Im Bad trat Stille ein.
»Si?«
»Major Wahlstrom, sind Sie da drinnen?«
Als er Oberst Hartmanns Stimme hörte, fror Ben in seiner Bewegung ein. Das war nicht möglich. Der Oberst war in Nairobi und analysierte gemeinsam mit anderen Einheiten, was genau zum Tod seiner zwei Männer geführt hatte. Halluzinierte er?
»Major Wahlstrom? Sind Sie da drinnen?«
Die Stimme wurde eine Spur ungeduldiger. Es gab keinen Zweifel, vor seiner Tür stand Oberst Hartmann. Hastig sah Ben sich um. Das Bett war gemacht, der Rucksack mit Hannas Sachen und sie selbst waren im Bad eingeschlossen. Er musste nur zusehen, dass er den Oberst aus seinem Zimmer raushielt, am besten komplett mit ihm aus dem Hotel verschwand, damit Hanna Gelegenheit bekam, sich in Luft aufzulösen. Wenn der Oberst merkte, dass Hanna sich in seinem Zimmer aufhielt ...
Ben rieb sich sein unrasiertes Kinn.
»Schließen Sie die Tür auf.«
Stille.
»Sofort!«
Ben hörte eine ängstliche weibliche Stimme. »No, no, Signore, ich darf nicht Tür von ein Gast aufschließen.«
»Es ist mir egal, was Sie dürfen oder nicht. Entweder Sie tun es sofort oder ich schlage die Tür ein, haben Sie mich verstanden?«
Ben öffnete. »Nicht nötig, Oberst Hartmann.«
Der wütende Oberst wandte sich ihm zu. Ein Zimmermädchen, das mit einem Putzwagen vor der Tür stand, bekreuzigte sich hastig und floh mit dem Wagen an das andere Ende des Flurs.
Hartmann stieß die angehaltene Luft aus, musterte Ben und kniff die Augen zusammen. »Sie sehen blass aus.«
»Ja, mir ging es gestern nicht besonders.«
»Was in drei Teufels Namen machen Sie in Rom?«
Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Jetzt wurde die Sache heikel. Die Putzfrau warf ihnen von Weitem Blicke zu. Der Oberst schob ihn durch die Tür und trat in sein Zimmer. Mist, verfluchter, dachte Ben im Stillen. Hoffentlich verhielt sich Hanna so schlau, jetzt nicht aus dem Bad zu kommen.
»Also? Was machen Sie in Rom?«
»Ich wollte jemanden besuchen.«
Der Blick des Obersts wanderte durch das Zimmer. »Ihr Flug war nach Berlin gebucht.«
»Ja, ich war auch erst in Berlin.«
»Und?«
»Und dann habe ich mich entschieden, nach Rom weiterzufliegen.«
»Sie haben dem Arzt gesagt, Sie wollten sich in die ärztlichen Hände Ihrer Schwester begeben. Nur deshalb sind Sie aus dem Krankenhaus entlassen worden.«
Ben schwieg. Die Augen seines Vorgesetzten durchbohrten ihn, forschend nach einer Antwort, nach der Wahrheit, aber Ben hatte nicht vor, die Wahrheit preiszugeben. Wenn er das tat, würde nicht nur er einen Heidenärger bekommen, sondern auch Paul Gerlach. Schließlich hatte der Computerspezialist ihrer Einheit, den sie sich mit der Polizei teilten, den Computer des Zeugenschutzprogramms gehackt und Ben den aktuellen Aufenthaltsort von Hanna weitergegeben. Sein schlechtes Gewissen hielt sich dennoch in Grenzen, da Paul die praktische Erfahrung nutzen würde, um die Sicherheitsleute auf die Schwachstelle in ihrer Software aufmerksam zu machen.
Wer fragt, führt, dachte Ben grimmig. »Was machen Sie in Rom?«
Es funktionierte. Der Oberst sah ihn einen Moment perplex an, bevor er antwortete: »Sie suchen, was sonst?«
»Mich suchen?«
»Ja, Ihre Schwester hat sich bei mir gemeldet, nachdem Sie ihr eine SMS geschickt haben, dass Sie sich später bei ihr melden würden. Nur haben Sie das nicht getan.«
Ben biss sich auf die Lippen. Er hatte es tatsächlich nach seinem ersten Wiedersehen mit Hanna versäumt, sich bei Lisa zu melden. Er stellte sich lieber nicht vor, was für Sorgen sich seine Schwester gemacht hatte.
»Seit wann schalten Sie überhaupt Ihr Handy aus?« Erneut sah sich der Oberst im Zimmer um, diesmal langsamer. Sein Blick verweilte länger auf dem ordentlich gemachten Bett.
»Ich brauchte eine Auszeit.«
»In Rom?«
»Wieso nicht?«
»Sie haben noch nie erwähnt, dass es Sie nach Rom zieht.«
»Sie wissen eben nicht alles von mir.«
»Nein, in der Tat nicht. Also, wen wollten Sie besuchen?«
»Besuchen?«
Mit schmalen Augen betrachtete ihn Oberst Hartmann. Verdammt, er hatte den Faden verloren, weil er ständig auf verräterische Geräusche aus dem Bad lauschte. Gleichzeitig machte ihn ihr völliges Fehlen nervös. Sein Blick wanderte zur Tür. Er registrierte sofort, dass er einen Anfängerfehler gemacht hatte, der ihn verriet. Oberst Hartmann trat vor die Badezimmertür.
»Wer ist da drin?«
»Niemand«, machte Ben einen letzten Versuch, die Situation zu retten. »Ich habe Hunger, was halten Sie davon, wenn wir unten etwas frühstücken gehen? Ich lade Sie ein.«
Statt zu antworten, drückte der Oberst die Klinke der Badezimmertür herunter. »Die Tür ist abgeschlossen.«
»Tatsächlich? Sie klemmt sicher nur, aber Oberst Hartmann, lassen Sie uns frühstücken ge–«
»Verarschen sie mich nicht, Major Wahlstrom. Wer – ist – da – drin?« Den letzten Satz sprach der Oberst Wort für Wort.
»Eine Frau.«
Hartmann zog die Hand von der Badezimmertür zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Oh! – Eine Frau?«
Ben zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte.
»Sie sind zwei Tage auf den Beinen, fliegen nach Berlin und dann nach Rom, um mit einer Frau zu schlafen?«
Röte schoss Ben ins Gesicht. Er senkte den Blick, hob die Hand an seinen Nacken. Dachte der Oberst, er wäre notgeil? Seine Verlegenheit schlug in Wut um. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen. Wir haben nur ...«, er suchte nach einem Wort, kratzte sich am Hinterkopf, »... die Nacht miteinander verbracht. Sie hat mir Rom gezeigt und ich habe mir anscheinend etwas zu viel zugemutet. Sie hat mich zur Pension gebracht und ist geblieben, weil es mir schlecht ging.« Diese Wahrheit überzeugte den Oberst, das konnte Ben in seinem Gesicht sehen.
»Das war absolut leichtsinnig von Ihnen. Ich darf gar nicht daran denken, was hätte passieren können. Ist Ihnen überhaupt klar, wie nah Sie dem Tod waren?«
Ben nickte stumm. Niemand wusste das besser als er selbst.
»Also gut. Erledigen Sie, was Sie erledigen müssen. Diese Situation ist bereits peinlich genug. Ich warte unten im Frühstücksraum auf Sie. Der Kaffee im Flugzeug ist die reinste Zumutung. Unser Flug geht in vier Stunden.«
Ben verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde nicht nach Nairobi zurückfliegen.«
»Das hat auch niemand gesagt. Ich bringe Sie nach Berlin und werde Sie diesmal höchstpersönlich bei Ihrer Schwester abliefern. Sie macht auf mich den Eindruck einer durchaus zuverlässigen Person, die dafür sorgen wird, dass Sie keine weiteren Dummheiten veranstalten.« Der Oberst nickte ihm zu und sein Blick wanderte zur Badezimmertür. Er zeigte mit dem Kopf darauf. »Erledigen Sie das.«
Ben atmete ein paar Mal tief ein und aus, nachdem sein Vorgesetzter das Zimmer verlassen hatte. Dann klopfte er an die Badezimmertür. »Alles okay bei dir?« Er wagte es nicht, ihren Namen auszusprechen, weder den richtigen noch ihren neuen. Welcher Gefahr er sie ausgesetzt hatte, wurde ihm erst jetzt richtig bewusst. Mit seinem echten Namen einen Flug nach Rom zu buchen, war absolut unprofessionell gewesen. Viel zu leicht hätte jemand seine Spur verfolgen können, wenn er wusste, dass es eine Verbindung zwischen ihnen beiden gab. Ben konnte nur hoffen, dass niemand danach suchte.
Hanna öffnete die Tür. Diesmal hing der Geruch von Mandeln an ihr – das Duschgel der Pension. Ihre Haare waren feucht, blaue Augen sahen ihn an. Sie trug immer noch sein T-Shirt.
»Wie nah warst du dem Tod?«
Ihm waren noch nie die unterschiedlichen Blautöne in ihrer Iris aufgefallen, die vermutlich der Grund waren, weshalb sie je nach Gemütszustand in verschiedenen Farbschattierungen leuchteten. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Er hat übertrieben.«
»Ja, deshalb ist er hier.«
»Für mein Befinden nahe genug.«
»Wenn ich dich frage, was passiert ist, wirst du mir antworten?«
»Nein.«
Sie nickte. »Das dachte ich mir.«
»Hanna ...«
Sie schüttelte den Kopf, und Wassertropfen trafen sein Gesicht. »Sag nichts. Ich bin nicht blöd, Ben.«
»Ich halte dich nicht für blöd.«
»Weshalb bist du wirklich nach Rom gekommen?«
»Weil ich wissen wollte, was du uns verschwiegen hast. Ich dachte, dass es mir helfen würde zu verstehen, was passiert ist ...«, er fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, suchte nach Worten, »... worüber ich nichts erzählen kann. Aber ich glaube, es fällt mir nur schwer zu akzeptieren, dass ich einen Fehler gemacht habe.« Er hielt inne, versuchte selber zu verstehen, was er gerade gesagt hatte. Sie stand so dicht vor ihm, dass er ihre Wärme fühlen konnte. Was hatte er sie fragen wollen?
»Ben ...«
»Pst.« Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Sag nichts, was immer dein Geheimnis ist.«
Der Blick aus seinen nebelgrauen Augen fixierte sie forschend. Ein vorsichtiges Lächeln trat auf sein Gesicht. Er nickte.
»Du denkst mit deinem Herzen und handelst danach. Egal was es dich kostet.« Sein Finger strich über ihre Lippe. »Ich vertraue deiner Entscheidung.« Langsam senkte er den Kopf, gab ihr Zeit, vor ihm zurückzuweichen.
Sie blieb stehen, atmete zitternd ein, schloss die Augen.
Er konnte nicht anders, er brauchte diesen endgültigen, letzten Kuss.
Seine Lippen legten sich auf ihre. Hanna öffnete den Mund, tauchte ein in seine Wärme. Da war er wieder, dieser fiese Magnetismus. Ihr verräterischer Körper entzog sich ihrer Kontrolle. Sie schmiegte sich an seine Brust, spürte seinen Arm, der sich um ihre Taille legte, sie so dicht an ihn heranzog, dass es wehtat. Das Pulsieren seiner Wunde an ihrer rechten Seite ließ die Bilder ihrer Träume kurz aufblitzen. So nahe war er dem Tod gewesen, und sie hätte es nie erfahren. Die Emotionen wallten heftig und unerwartet in ihr auf. Schmerz, mit nichts zu vergleichen, schoss durch ihre Adern.
Ihr Aufschluchzen ließ ihn einen Schritt zurücktreten. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste ihr erst die Tränen von der einen Wange weg, dann die der anderen. Er legte seine Stirn an ihre. »Ich wünsche dir ein glückliches, sorgenfreies Leben«, wisperte er mit geschlossenen Augen. Dann drehte er sich um, packte seine Tasche, und ehe Hanna einen weiteren Atemzug nehmen konnte, war sie allein im Zimmer.
Sie schlang die Arme um sich und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ich vertraue deiner Entscheidung! »Du verdammtes, herzloses, kaltschnäuziges, berechnendes Arschloch! Du kannst bleiben, wo der Pfeffer wächst!«, fluchte sie in die Stille, schnappte sich ihren Rucksack und machte sich auf den Weg, die Pension über den Notausgang zu verlassen.