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Hannas Entscheidung

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
370 Seiten
Reihe: Hanna, Band 2

Zusammenfassung

Eine neue Identität, ein neues Leben, um die Menschen zu schützen, die sie am meisten liebt. Hanna alias Sabine Schmidt, wünscht sich nichts sehnlicher als die Vergangenheit endlich zu vergessen und einfach nur zu leben. Die Wahrheit kann Tote nicht wieder lebendig machen. Doch Hanna muss erleben, dass ein Verbrecher mit Geld und Einfluss rasch wieder auf freien Fuß kommen. Um zu überleben muss sie eine Entscheidung treffen. Ben kann Hanna nicht vergessen. Nach einer schweren Verletzung machte er sich auf den Weg, sie zu suchen. Er weiß, dass sie ihm etwas verheimlicht hat und er braucht Antworten, ohne zu wissen, welche Fragen er stellen muss.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Danke an all meine Leserinnen und Leser, die mir so viel Mut machen, weiter zu schreiben.


»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.«

Jh. 8,12


»Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.« - Joanne K. Rowling

1

Berlin

Der Himmel war von grauen Wolken verhangen. Es regnete in Strömen. Marie starrte auf den marmornen Engel, dessen Arme schützend um den Grabstein lagen, seine Gesichtszüge so ebenmäßig, sein Mund sanft lächelnd. Das Regenwasser floss von seinem Gesicht auf den feinen, hellen Kies, der das Grab bedeckte. Eine weiße Rose lag darauf. Den Regenschirm über sich haltend, ging sie in die Hocke, streckte die Hand aus und malte mit dem Zeigefinger die Buchstaben des Grabsteins nach: Johanna Rosenbaum, geboren am 11.05.1983, gestorben am 02.07.2012. Sie wechselte auf den zweiten Namen: Gabriel Rosenbaum, geboren am 03.03.1948, gestorben am 02.07.1992. Wie seltsam, in all dem Trubel, in all der Aufregung nahm sie erst heute wahr, dass ihr Vater und ihre Zwillingsschwester am gleichen Tag gestorben waren. Im Tod miteinander vereint. Marie stand auf, wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie kramte in ihrer Manteltasche nach einem Papiertaschentuch. Doch alles, was sie fand, war genauso feucht wie ihr Gesicht. Den Regen schien es nicht zu interessieren, dass sie einen Regenschirm über ihren Kopf gespannt hatte. Überall wehte der Wind das Wasser an ihren Körper. Durchweichte den Mantel und das darunterliegende Kostüm.

Vor ihrem Gesicht tauchte eine schmale, schlanke Hand auf, die ein sauber gefaltetes Stofftaschentuch hielt. Sie gehörte einem Mann, der ihr nur bis zum Kinn reichte.

»Bitte nehmen Sie, bevor auch das Taschentuch ein Opfer der Elemente wird.«

Er sah sie freundlich an, auch der Regen schien ihm nichts auszumachen. Zögernd streckte Marie die Hand aus und nahm das Taschentuch entgegen. Sie wischte sich zuerst das Gesicht trocken, bevor sie sich die triefende Nase damit putzte, steckte es ein und lächelte den Mann vor sich schief an. »Ich werde Ihnen das Taschentuch selbstverständlich ersetzen.«

»Das brauchen Sie nicht, Frau Benner. Es heißt doch noch Benner?«

In jeder Zeitung hatte gestanden, dass sie nach der Verhaftung ihres Mannes die Scheidung eingereicht hatte. Das würde sie ein kleines Vermögen kosten, doch es war ihr egal. Keinen Tag länger wollte sie den Namen des Mörders ihrer Schwester tragen. Und nicht nur deren Tod hatte er auf dem Gewissen. Es überraschte sie nicht, dass der Mann vor ihr diese Frage stellte. Am liebsten hätte sie den Namen bereits abgelegt, doch die deutsche Bürokratie ging ihren normalen Gang und nahm keine Rücksicht auf Gefühle.

»Wieso hier?«

Der Mann zog seine Hand, die hinter seinem Rücken verborgen gewesen war, hervor. Er hob eine dunkelrote Rose an seine Nase, nahm einen tiefen Atemzug. Er bückte sich und legte seine Rose neben ihre weiße. Er erhob sich und sah sie aufmerksam an.

»Interessant, nicht wahr, dass Ihr Vater und Ihre Schwester den gleichen Todestag haben, nur mit zwanzig Jahren dazwischen.«

»Sie sagten, es wäre dringend.«

»Das ist es in der Tat. Wussten Sie, dass ich Ihren Vater kannte?«

»Ist das nicht normal, wenn man derselben Wirtschaftsorganisation angehört, die sich regelmäßig viermal im Jahr trifft?«

Er lachte, schüttelte amüsiert den Kopf, bevor der Ausdruck in seinem Gesicht sich änderte. »Ich meine nicht Ihren Stiefvater, sondern Ihren biologischen Vater, Gabriel Rosenbaum. Ein interessanter Mann, wenn Sie mich fragen.«

Ein kalter Schauer lief Marie über den Rücken. Sie zitterte unwillkürlich und wusste nicht, ob es dem Regen geschuldet war, der langsam ihre Sachen durchweichte, oder dem kalten Ausdruck in den Augen ihres Gegenübers.

»Die Eltern Ihres Vaters gehörten zu den wenigen Juden, die das Nazireich überlebten. Wussten Sie das?«

»Mein Großvater war Jude, meine Großmutter Katholikin.«

»Oh ja, sie heiratete ihn und beschützte ihn so vor dem Konzentrationslager. Eine überaus mutige Frau. Im Gegensatz zu Ihrem Großvater, der für sein Überleben seinen Glauben und sein Volk verraten hat.«

»Sie sagten, es ginge um Medicare, nicht um die Vergangenheit meiner Familie.«

»Stimmt. Doch es ist mir immer wichtig zu wissen, von wem ein Mensch abstammt, bevor ich Geschäfte mit ihm mache. Sehen Sie, Frau Benner, Sie erfahren viel über eine Person, sobald Sie ihre Familie anschauen. Ihre Schwester ist eine Frau, die viel Leid ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Wie sieht das bei Ihnen aus?«

»War. – Sie war eine Frau, die Leid ertragen konnte«, flüsterte Marie.

»Oh ja, hoffen wir, dass sie in Frieden ruht, nicht wahr? Oder glauben Sie an die Auferstehung?«

»Ja, wir Christen glauben an ein Leben nach dem Tod – aber nicht in dieser Welt.«

»Ebenfalls ein äußerst interessanter Aspekt. Sie sehen, es gäbe vieles, worüber wir uns unterhalten sollten. Aber ich schlage vor, wir verlegen unser Gespräch an einen Ort, der den Launen des Wetters nicht gar so ausgesetzt ist. Was meinen Sie, Frau Benner?«

Trotz seiner höflichen Worte wusste Marie instinktiv, dass ihr keine Wahl blieb. Statt zu antworten, warf sie einen letzten Blick auf das Gesicht des Engels und in ihrem Kopf hörte sie die leise Stimme ihres Vaters Gabriel:

Der Engel des Herrn sei neben dir, dich sanft zu umarmen, dir Schutz zu geben für alle Zeit.

Jeden Abend hatte er sie mit diesen Worten ins Bett gebracht und sie geküsst. Marie straffte die Schultern, drehte sich um und ging zielstrebig auf den Ausgang zu.

2

Identität

Der Raum lag im dritten Stock. Die Fenster besaßen Schutzgitter, eingelassen in die Fassade. Hanna hielt sich allein in dem Raum auf und genoss die Stille nach der Anspannung in den letzten Wochen. Nach ihrem Aufenthalt in Norwegen war sie zuerst in verschiedenen deutschen Städten von Wohnung zu Wohnung gezogen. Obwohl sie Reisen und Ortswechsel gewohnt war, verlor sie mit der Zeit die Orientierung darüber, wo sie sich gerade befand. Viel schlimmer war es jedoch gewesen, nie allein zu sein. Das Teilen eines Badezimmers mit den ihr zugewiesenen Personenbeschützern, das ständige Laufen eines Fernsehers oder von Musik, je nachdem, wer Dienst hatte. Der Geruch von fremdem Schweiß, der Anblick von Geschirr, das sich in der Spüle stapelte, und die Allgegenwart von Schusswaffen spannten ihre Nerven zum Zerreißen. Der Tod, der sich überall bemerkbar machte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Schließlich glaubte sie, es nicht eine Minute länger aushalten zu können, und hatte den Vorschlag gemacht, lieber in ein Kloster zu gehen, bis es mit der Verhandlung so weit sei. Natürlich wurde das abgelehnt. Deutsche Bürokratie und Flexibilität waren zwei unvereinbare Begriffe. Also hatte sie auf Erpressung zurückgegriffen und erklärt, dass sie nicht mehr für eine Aussage zur Verfügung stehe, es sei denn, der Personenschutz erklärte sich mit ihrer Lösung einverstanden. Damit löste sie eine Welle hitziger Diskussionen und Rangeleien über die Zuständigkeiten der einzelnen polizeilichen Behörden aus.

Erst die Einmischung von Oberst Karl Hartmann, der sich für sie einsetzte und seinen Einfluss geltend machte, bereitete dem ein Ende. Noch jetzt ärgerte Hanna sich darüber, denn er war der letzte Mensch auf Erden, dem sie für irgendetwas dankbar sein wollte. Er hatte ihr Major Ben Wahlstrom auf den Hals gehetzt. Er hatte ihre Gefühle zu Ben ausgenutzt, um sie gnadenlos für seine Zwecke zu manipulieren, und sie war darauf reingefallen. Ben – noch immer verursachte der Gedanke an ihn einen tiefen Schmerz in ihrem Herzen. Sie liebte ihn und hatte ihm ihre Liebe gestanden. Worte, die sie gerne zurückgenommen hätte, wenn es die Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen. Tage, nein Wochen, hatte sie darauf gehofft, etwas von ihm zu hören. Natürlich konnte sie nicht mehr an ihre E-Mail-Nachrichten herankommen. Aber wenigstens einen Brief hätte er schreiben können oder eine kurze Notiz, dass es ihm leidtat, ihre Gefühle verletzt und sie ausgenutzt zu haben oder dass er sich vielleicht sogar in sie verliebt hatte? Stattdessen nichts, absolut nichts. Was für ein Scheißkerl.

Das Kloster war der erste Ort gewesen, wo sie wieder Struktur in ihren Alltag hatte bringen können. Regeln, Rituale und Ordnung waren ein wichtiger Bestandteil in Hannas Leben. Sie nahm wieder ihre Umgebung wahr, hörte auf, in der Vergangenheit zu leben. Ihre Seele öffnete sich der Stille. Sie nahm die Worte und Gebete in sich auf, fühlte, wie sich alles in ihr miteinander verband: der Kopf, das Herz und die Seele.

Die Kunstwerke im Kloster weckten ihre Aufmerksamkeit. Fotografieren war immer mehr als nur ein Job für sie gewesen. Hier in der Abgeschlossenheit konnte sie wieder fotografieren. Zuerst die Wandmalereien, Bilder und Statuen. Später fing sie an zu zeichnen. Es war eine Art von Meditation, mit den Augen exakt die Einzelheiten eines Kunstwerks zu betrachten und es Strich für Strich zu Papier zu bringen. Das Geräusch, wenn der Stift über den Skizzenblock glitt, oder das Gefühl, wie ihr Handballen über die Fläche strich, wirkten beruhigend. Sie konnte sich völlig darin verlieren, eintauchen in eine andere Welt, in der ihr Leben keine Bedeutung mehr hatte.

Sie zog ernsthaft in Erwägung, dem Orden beizutreten. Aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich in der Gemeinschaft anderer wohlfühlten, die es schafften, sich einzuordnen und ihre eigenen Gedanken den anderen unterzuordnen. Aber das Kloster hatte ihr eine Idee gegeben, was sie in Zukunft mit ihrem neuen Leben anfangen wollte, denn als Fotografin unter dem Namen Hanna Rosenbaum würde sie nie wieder arbeiten können.

Sie seufzte tief und wandte sich vom Fenster ab. Sie wusste nicht, weshalb sie noch in diesem Gebäude blieb. Ihre Aussage hatte sie vor zwei Stunden gemacht. Die Anwälte ihres Stiefvaters und ihres Schwagers hatten hartnäckig versucht, durch Fragen die Fakten in einen anderen Zusammenhang zu stellen oder Hannas Worte zu verdrehen. Ein seltsames Gefühl, die Anwälte zu sehen und zu wissen, dass diese sie nicht sehen konnten. Verborgen hinter einer Scheibe sprach sie mit ihnen über ein Mikrofon in einen Computer, der über eine Software ihre Worte in geschriebenen Text verwandelte. Der Richter und der Staatsanwalt saßen auf ihrer Seite des Raums. Alles wurde protokolliert und aufgezeichnet. In ihren Augen stellte der Aufwand eine Farce dar, denn wer anders als sie selbst konnte all das wissen, was sie zu Protokoll gab? Ihr Stiefvater und auch ihr Schwager wussten, wem sie ihre Verurteilung zu verdanken hatten, da war sie sich sicher. Es gab nur einen Grund, weshalb sie das Versteckspiel mitmachte: die Sicherheit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester Marie. Solange sie ihrem Leben fernblieb, hoffte sie, dass die beiden sich nicht in Gefahr befanden.

Die Tür wurde in dem Moment geöffnet, als Hanna sich auf einen Stuhl am Besprechungstisch setzen wollte. Sofort spannte sich ihr Körper an, ihre Hände griffen an den Rand der Tischplatte, den sie umwerfen und als Schutz benutzen konnte. Seit sie die sicheren Mauern des Klosters verlassen hatte, war sie auf der Hut, und sie wusste, so würde es ihr restliches Leben lang bleiben.

Sie erkannte ihn sofort. Seine Haare waren an den Schläfen grau geworden, ihr Ansatz nach oben gewandert. Er trug das Haar wesentlich kürzer als damals, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Seine Schultern waren immer noch so breit wie vor sechzehn Jahren. Dafür schob sich ein Bauch über seinen Hosenbund.

Hanna löste ihre Finger von der Tischplatte, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Herr Hartmann, welch überraschender Besuch.«

»Oberst Hartmann«, korrigierte er sie. »Hallo Johanna, schön dich zu sehen.«

Er hatte sie immer bei ihrem richtigen Vornamen genannt, so wie ihr Vater Gabriel, nicht mit der verkürzten Version, Hanna, die alle anderen verwendeten. Aber ihr Name gehörte seit heute ohnehin der Vergangenheit an.

»Sabine, Sabine Schmidt.«

»Richtig, Sabine, ich vergaß deine neue Identität.«

Er kam zu ihr in die Mitte des Raums, setzte sich auf einen der Stühle ihr gegenüber und legte einen Aktenkoffer auf den Tisch. Langsam ließ sie sich nieder. Die Anspannung in ihrem Körper blieb. Schweigend betrachtete sie ihn und fragte sich im Stillen, was er von ihr wollte.

Er schob ihr eine Mappe herüber. Mit spitzen Fingern klappte sie den Deckel auf. Ein nagelneuer Reisepass und ein Personalausweis fielen ihr als Erstes ins Auge. Sie nahm den Reisepass und öffnete ihn. Ihr eigenes Gesicht sah sie an. Schmale, scharf geschnittene hohe Wangenknochen, dunkle Augen, ihr Mund eine dünne Linie, dunkle kastanienbraune Haare, in einem Pagenkopf geschnitten, der ihr bis zur Kinnspitze reichte. Weiblicher, ein wenig sanfter, so hatte die Typberatung gelautet. Kein zu krasser Wechsel auf blonde Haare, weil das mit viel Aufwand verbunden gewesen wäre. Außerdem hätte jeder aufmerksame Beobachter gesehen, dass sie sich die Haare färbte. Ihr erster Pass mit eigenem Foto darin. Früher hatte sie aus Bequemlichkeit immer ein Bild von Marie verwendet. Hanna warf einen kurzen Blick auf den Personalausweis, bevor sie den Führerschein sah. Sie runzelte die Stirn. »Wird es nicht auffallen, dass der Führerschein neu ist?«

»Nein, viele lassen sich ihren alten Führerschein auf den neuen europäischen ändern, weil er ein praktischeres Format hat.«

Hanna ließ ihren Daumen über den darunterliegenden Papierstapel gleiten. »Was ist das?«

»Schulzeugnisse, Sprachaufenthalt in England, Versicherungen, Sozialversicherungsnummer, Nachweis über ein begonnenes Kunststudium. Du hast dich ja schon mit den Studieninhalten vertraut gemacht. Ach ja, fast hätte ich es vergessen.« Er holte ein schwarzes, ledergebundenes Familienstammbuch hervor. »Deine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Du bist seit deinem neunten Lebensjahr bei der Schwester deiner Mutter aufgewachsen, die inzwischen mit Demenz in einem Pflegeheim liegt.«

»Gibt es die Tante wirklich?«

»Ja, aber keine Sorge, du wirst für die Pflegekosten nicht aufkommen müssen. Das Vermögen der Dame ist ausreichend.«

»Wie heißt sie?«

»Wer?«

»Die Frau.«

»Elisabeth Wagner, wie gesagt leidet sie unter Altersdemenz und du wirst dich nicht weiter mit ihr beschäftigen müssen.«

Hanna schwieg. Sie würde Elisabeth Wagner besuchen, nicht heute und nicht nächste Woche, doch wenn das Schicksal beschlossen hatte, ihrer beider Leben miteinander zu verbinden, so wollte sie diesen Menschen kennenlernen. Aber das würde Oberst Hartmann weder verstehen noch würde er dazu sein Einverständnis geben. Soweit verstand sie den Mann vor sich inzwischen.

Der Oberst lehnte sich zurück und betrachtete sie aufmerksam.

Hannas Puls beschleunigte sich. Er war noch nicht fertig mit ihr.

»Interessiert es dich nicht, wie die Verhandlung läuft?«

Natürlich interessierte es sie. Niemand konnte ihr zurückgeben, was sie verloren hatte, die Menschen lebendig machen, die gestorben waren. Aber ihre Hoffnung war, dass sich mit ihrer Hilfe zwei Menschen für ihre Taten verantworten mussten, und das nicht nur vor dem letzten Gericht.

»Es wäre gut gewesen, wenn du mehr Emotionen gezeigt hättest. Der Anwalt deines Stiefvaters hat deine Mutter und deine Schwester als Zeuginnen benannt.«

Hanna behielt ihre ausdruckslose Miene bei. Niemanden gingen ihre Gefühle etwas an. Sie hatte ihr Leben aufgegeben für ihre Aussage. Niemand durfte mehr von ihr verlangen. Von Marie wusste sie, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Sie hatte sich in dem Augenblick entschieden, als die Polizei mit dem Haftbefehl für Lukas vor der Haustür aufgetaucht war. Es hatte die Medien beschäftigt und Lukas eine Vorverurteilung der öffentlichen Meinung eingebracht, für Hannas Tod verantwortlich zu sein. Der Staatsanwalt erhob gegen Lukas Anklage nach § 211 des Strafgesetzbuches wegen Mordes und beantragte eine lebenslange Haftstrafe, was Hanna seltsam erschien, da sie immerhin noch lebte. Doch das spielte anscheinend in diesem Fall keine Rolle. Hannas Mutter hingegen hielt an ihrer Ehe mit Armin Ziegler fest. Die Staatsanwaltschaft klagte Armin Ziegler wegen erpresserischen Menschenraubs an und versuchte, eine Haftstrafe von sieben Jahren zu erzielen. Armin machte in der Öffentlichkeit keinen Hehl daraus, dass er Hannas Entführung in Auftrag gegeben hatte, wobei er das geschickter formulierte. Als Hausarrest, der nicht im eigenen Haus stattgefunden hatte, als Erziehungsmaßnahme gegenüber der pubertierenden Stieftochter, die ihn und seine Frau auseinanderzubringen versuchte. Wie zynisch!

Leider sei er bei der Auswahl der betreuenden Personen einem Fehlurteil unterlegen. Die Scham über das, was passiert war, der Schock und die Schuld hätten ihn all die Jahre schweigen lassen. Hannas Mutter unterstützte dieses Bild, indem sie darüber sprach, wie schwierig es für ihre Tochter gewesen sei, den Tod ihres Vaters zu verkraften. Ihre Introvertiertheit, fehlender Kontakt zu Gleichaltrigen, ihr Mangel an sozialer Kompetenz und die völlige Ablehnung ihres Stiefvaters, der keine Mühe gescheut habe, einen Zugang zu ihr zu finden, all dies führte sie ins Feld. Erstaunlicherweise gab es genügend andere Menschen, die bereit waren, mit der Presse über Hanna zu sprechen. Menschen, die mit ihr noch nie ein Wort gewechselten hatten. Menschen, die nur kurz ihren Weg gekreuzt hatten, und nun vorgaben, sie zu kennen. Aber es war keine Wut, kein Zorn, kein Hass, den Hanna gegenüber ihrer Mutter fühlte. Stattdessen fühlte sie Trauer, Enttäuschung und die Frage, wo der Mensch geblieben war, der sie auf die Welt gebracht und sie bedingungslos geliebt hatte.

Manchmal keimte ein leiser Zweifel in ihr auf, ob es diese Mutter jemals gegeben oder ob sie doch nur in ihrer Einbildung existiert hatte. Irgendwann hörte Hanna auf, heimlich die Artikel der Presse im Internet zu lesen, es tat einfach zu weh. Außerdem wusste sie nicht, was in den Berichten der Presse wirklich der Wahrheit entsprach und was nicht. Nur ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester selbst hätten ihr sagen können, wie sie sich wirklich fühlten, und beide glaubten – ja, was glaubten sie? Dass sie tot war?

»Wenn wir nicht aufpassen, werden die Aussagen deiner Mutter dazu beitragen, dass das Strafmaß von Armin Ziegler ein lächerliches Maß annimmt.«

»Ben ...«, sie holte Luft. »Major Wahlstrom hat mir gesagt, Sie hätten Material, das die Zugehörigkeit meines Stiefvaters zu einer Wirtschaftsorganisation beweist. Angeblich sorgt die mit illegalen Mitteln für Instabilität in Afrika, um sich den Zugriff auf die Rohstoffmärkte zu sichern. Was ist damit?«

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, atmete tief ein und zuckte mit den Achseln. »Das Ganze ist kompliziert. Es wird in dieser Verhandlung nicht zum Tragen kommen.«

Er verschwieg ihr etwas, das konnte sie deutlich spüren. »Weshalb nicht?«

Ein scharfer Blick traf sie. Er runzelte die Stirn, musterte sie.

Dann schüttelte er den Kopf. »Was, Johanna, ist wirklich unten in Afrika passiert?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wissen Sie bereits.«

»Warum wolltest du dich mit Marie treffen? Was hast du herausgefunden? Es gab zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise, dass Lukas Benner in die Sache verwickelt war. Also, was verheimlichst du vor uns?«

Hanna blieb ruhig. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihr diese Frage stellten. Und ihre Antwort blieb konstant dieselbe: »Nichts. Ich habe nichts herausgefunden.«

»Weshalb dann das Treffen mit Marie?«

»Weil ich sie heimlich ausspioniert und mich deshalb schlecht gefühlt habe.«

»Und stattdessen kommt dein Schwager und versucht dich zu töten. Wie lange willst du sie noch beschützen?«

Für immer, hätte sie ihm am liebsten geantwortet, doch sie schwieg. Was geschehen war, war geschehen. Das konnte niemand mehr rückgängig machen. Seine Andeutung, Marie habe etwas mit Lukas‘ Mordversuch an ihr zu tun, war einfach nur lächerlich. Und das andere? Das andere spielte auch keine Rolle mehr, denn wenn es die Spur eines Heilmittels gegen die HIV-Erkrankung gegeben hätte, so wäre es inzwischen auf dem Tisch. Marie würde sich in diesem Fall verantworten müssen, dass sie Menschen ohne deren Wissen als Versuchskaninchen für ein neues Medikament benutzt hatte – genauer gesagt: Waisenkinder.

Was hatte ihre Schwester dazu bewogen, diesen Schritt zu gehen? War es wohl so gewesen oder gab es Dinge, die Hanna nicht sah und deshalb nicht verstand? Nein, sie würde Marie nicht ans Messer liefern, nicht, bevor sie mehr über die Hintergründe für ihr Handeln wusste. Sie kannte ihre Schwester besser als jeden anderen Menschen auf der Welt. Es mochte sein, dass Marie ihre Schwächen hatte, so wie jeder Mensch, aber tief in ihrem Inneren gab es einen guten Kern, davon war sie überzeugt. Hanna mochte in Zukunft Sabine Schmidt heißen, aber ihre Verantwortung blieb dieselbe. Es war ihre Aufgabe gewesen, ihre Mutter und ihre Schwester vor allen Gefahren zu beschützen, seit ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Sie hatte versagt. Diese Schuld konnte ihr niemand nehmen.

»Hättest du mir damals vertraut und den Mut gehabt, das Richtige zu tun, dann wäre all das niemals passiert. Mach diesen Fehler nicht noch einmal.«

Eine Drohung schwang in seinem Satz mit. Hanna hob den Kopf, schob das Kinn vor und funkelte ihn an. Eine Antwort sparte sie sich. Er hatte recht und sie beide wussten das. Niemand würde so hart mit sich ins Gericht gehen wie sie selbst. Das Bild des kleinen Jungen würde für immer in ihren Kopf eingebrannt sein. Es würde ihre Strafe sein, nie wieder ihren eigenen Namen tragen zu dürfen. Das mit Marie war eine andere Sache, nicht vergleichbar mit dem, was ihr Stiefvater ihr angetan hatte.

»War das alles?« Sie wollte endlich allein sein.

Er senkte den Kopf, wich ihrem Blick aus.

Überrascht sah Hanna ihn an. Der Mann war ihr schon auf viele Arten gegenübergetreten: wütend, streng, sie unter Druck setzend, sanft, beschützend und fürsorglich in der ersten Zeit nach ihrer Begegnung. Doch seine Verlegenheit zu sehen, war neu für sie.

Er rutschte auf dem Stuhl herum, verschränkte die Hände ineinander. Schließlich hob er den Kopf und suchte ihren Blick.

Sie sah ihn an, fühlte, dass etwas kam, was sie auf eine weitere Probe stellen würde. Seine Finger lösten sich voneinander. Die rechte Hand wanderte in seine Anzugjacke. Er trug keine Uniform, schoss es ihr durch den Kopf. Das irritierte sie, trotzdem schob sie den Gedanken beiseite, als er vorsichtig ein kleines Kästchen auf den Tisch setzte, auf halbe Entfernung zu ihr.

Hannas Herzschlag beschleunigte sich. Sie konnte den Blick nicht von der Schachtel lösen.

»Es wäre besser, du würdest es nicht annehmen.«

Sie starrte darauf, versuchte, nicht zu ahnen, was darin war. Ihre Hand fand ihren Weg wie von selbst auf die Tischplatte, näherte sich millimeterweise dem Kästchen, so vorsichtig, als enthielte es eine Bombe.

»Tu es nicht.« Er legte seine Hand schützend über die Schachtel. »Lass mich ihm sagen, dass ich sie dir geben wollte und du abgelehnt hast. Er wird es verstehen.«

Ihre Hand verharrte. Sie hob den Blick, sah in das Gesicht von Oberst Hartmann. »Haben Sie hineingesehen?«

Schuldbewusst senkte er den Kopf, richtete seine Augen auf das Kästchen.

»Warum haben Sie es mir gezeigt, wenn Sie nicht wollen, dass ich es annehme?«

»Weil ich es ihm versprochen habe und weil ich ihn nicht anlügen möchte und weil ich es ihm schuldig bin.«

Seine Stimme war leise, nur ein Flüstern. Dann hob er die Augen und sah sie fest an. »Hanna, du fängst ein neues Leben an und es gibt nichts, was du von deinem alten Leben mitnehmen kannst, keine Freunde und keine Dinge. – Es gibt nichts, was ihr beide gemeinsam habt, weder in eurem alten noch in deinem neuen Leben. Er ist mein bester Mann, loyal, zuverlässig, konzentriert und kontrolliert in allem, was er macht. Ich brauche ihn fokussiert. In seinem Job kann er sich keine Ablenkung erlauben, weil es für ihn tödlich sein kann. Das willst du doch nicht, oder?«

Er versuchte es wieder. Hätte er nichts gesagt, hätte er geschwiegen, dann hätte sie Bens Geschenk abgelehnt, nicht wegen Ben, nicht wegen Oberst Hartmann, sondern ihrer selbst wegen. Sie musste diesen Mann vergessen, ihre Gefühle für ihn begraben. Nein, er war kein Mann für sie, das wusste sie nur zu gut. Aber sie hatte es satt, sich von Oberst Hartmann manipulieren zu lassen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Sie zog die Schachtel unter seiner Hand hervor und packte sie ungeöffnet in ihre Jacke.

Für einen Moment saßen sie sich still gegenüber, Oberst Hartmann noch immer die nun leere Hand auf dem Tisch. Er seufzte, schloss seinen Aktenkoffer. Das Einschnappen der Schlösser klang unnatürlich laut in der Stille. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich wünsche dir, dass du als Sabine Schmidt ein ruhiges Leben hast und vielleicht irgendwann jemandem begegnest, den du lieben kannst. Ich weiß, du siehst es anders, aber es war nie meine Absicht, dir wehzutun.«

»Ich weiß«, entgegnete Hanna leise, »dennoch haben Sie es getan. Es wäre besser gewesen, Sie hätten mich niemals wieder zurück ins Leben geholt.«

3

Rom

Tief und regelmäßig atmete Hanna ein und aus. Darin bestand die Kunst, während sie hoch oben auf dem Gerüst stand und mit vorsichtigen Strichen die Wandmalerei vom Staub befreite, der darauf lag. Sie wusste, dass unter ihr ein wachsames Augenpaar jede ihrer Handbewegungen verfolgte, was ihr eigentlich hätte Stress verursachen müssen. Nur mit viel Mühe hatte sie den Professor davon überzeugt, dass er ihr die Säuberung des oberen Teils der Wandmalerei überlassen konnte. Nachdem sie beim Fotografieren der unteren Teile festgestellt hatte, wie er auf dem Gerüst immer wieder ins Wanken geriet, hatte sie ihn energisch von dort oben vertrieben.

»Passen Sie auf, Frau Schmidt! Nicht so fest.«

Hanna reagierte nicht auf seine Worte.

»Frau Schmidt!«

Der Ruf verhallte in der Kirche genauso wie der erste.

»Sabine!«

Dieser Schrei wiederum ließ sie erschrocken zusammenzucken. Auch nach all den Monaten fiel es Hanna schwer, auf den Namen Sabine Schmidt zu reagieren. Sie konnte ihn einfach nicht mit sich in Verbindung bringen.

»Kommen Sie sofort runter von dem Gerüst, Sie zerstören das Bild, wenn Sie es weiter so bearbeiten«, schimpfte der Professor und machte Anstalten, zu ihr hochzuklettern.

Hastig legte Hanna den Pinsel beiseite und hob die Kamera hoch, die sie vor Beginn der Arbeit neben sich gelegt hatte. Stück für Stück fotografierte sie die Fresken. Dabei veränderte sie die Belichtungszeiten. Sie überlegte, ob sie noch mal herunterklettern und ihr kleines Stativ holen sollte, entschied sich aber dagegen. Das künstliche Licht, aufgestellt für eine optimale Ausleuchtung, entwickelte eine Wärme, die der Wandmalerei Schaden zufügen würde. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an, während sie den Auslöseknopf drückte und die Nikon D3200 absolut ruhig hielt. Der Apparat war nichts im Vergleich zu ihrer Profikamera, einer Nikon D4, die in ihrem speziellen Rucksack mit eingebautem Kamerafach sicher verstaut in ihrem Zimmer lag. Schließlich gab sie sich mit ihrer fotografischen Ausbeute zufrieden.

Eigentlich hätte Hanna sich nicht mehr mit dem Thema Fotografie beschäftigen dürfen. Nachdem sie aber am ersten Tag die katastrophalen Bilder des Professors gesehen hatte, konnte sie einfach nicht widerstehen, vom nächsten Tag an das Fotografieren der Wandmalereien zu übernehmen. Der erste Blick durch das Objektiv, ihr Zeigefinger auf dem Auslöser und ihre Konzentration auf das Motiv waren reiner Balsam für ihre Seele. Der Professor konnte beim Anblick der Ergebnisse ihrer Arbeit seiner Begeisterung gar nicht genug Ausdruck verleihen. Ganz zu schweigen von seiner Reaktion auf ihren geschickten Umgang mit der Fotosoftware auf seinem Laptop, mit dem sie verschiedene Szenarien aus Fotos mit unterschiedlicher Tiefe, Belichtung und Zusammensetzung erstellte.


Professor Bartolis Schreiben mit der Einladung zu dem Projekt hatte Hanna zu einem Zeitpunkt erreicht, der nicht besser hätte sein können. Ihre Arbeit über die frühchristliche Geschichte und ihre Symbolik war gerade abgegeben und der erste Part ihres Fernstudiums der Kunstgeschichte an der Open University of England somit abgeschlossen. Nach ihrer Zeugenaussage vor Gericht hatte sie sich für einen neuen Wohnort entscheiden müssen, an dem sie nicht mit Menschen aus ihrer Vergangenheit in Berührung käme. Ihre Wahl war auf Bonn gefallen. Zum Glück gab es nur wenig Menschen, zu denen sie in ihrem Leben Kontakt gehabt hatte, und die lebten überwiegend in Hamburg und Berlin. In dem Schreiben hatte ihr der Professor einen auf drei Monate befristeten Job angeboten, der sie mit einer Menge Kunstwerke der christlichen Geschichte in Berührung brachte.


Hanna kletterte das Gerüst hinunter. Der Tag war zu weit fortgeschritten, sodass das Licht für weitere Aufnahmen nicht mehr ausreichte. Die anderen Mitglieder des Teams packten ihre Sachen zusammen. Es war Samstag und morgen würden sie nicht arbeiten. Zwei der Hilfskräfte waren Studentinnen an der Hochschule für bildende Künste in Dresden, drei kamen von der staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart, und ein Student kam von der Technischen Universität in München. Letzterer fertigte bei Professor Bartoli seine Doktorarbeit über Konservierung und Restaurierung an. Hanna nahm den Chip aus der Kamera und übertrug die Bilder auf den Laptop des Professors.

»Hey, Sasa, hast du Lust auf eine Pizza bei Luigis?«

Ein blondes Mädchen tauchte an ihrer Seite auf. Hanna fiel der Name der kleinen, zierlichen Person nicht ein. Es gab Dinge, die sich in ihrem neuen Leben nicht geändert hatten. Ihr mangelndes Interesse, sich in eine Gruppe einzufügen oder mit anderen Menschen nicht leicht Freundschaft zu schließen, gehörten dazu. In der Rolle einer Studentin, wenn auch von einer Fernuniversität, fiel es ihr schwer, sich der sozialen Dynamik der Studentengruppe zu entziehen. Ein oder zwei Mal war sie mit den anderen unterwegs gewesen, aber heute stand ihr nicht der Sinn danach. Heute war ihr Geburtstag. Ihr richtiger Geburtstag, ein Tag, den sie seit ihrer Geburt mit Marie teilte. Doch heute würde sie ihn allein verbringen und noch nicht mal Maries Stimme durchs Telefon hören. Ein seltsam befremdlicher Gedanke. Sie erinnerte sich, wie sie letztes Jahr spöttisch zu Marie gesagt hatte, man könne seinen Geburtstag nicht verpassen. Marie machte ihren gemeinsamen Tag zu etwas Besonderem, auch wenn sie sich dagegen wehrte. Hanna, die sich immer selbst genug gewesen war, fühlte sich einsam.

Sie verzog die Lippen zu einem kurzen Lächeln für die Studentin und schüttelte den Kopf.

»Ach, komm schon. Marco hat seine Gitarre dabei und wir wollen später noch alle gemeinsam an den Tiber. Sei keine Spielverderberin. Selbst der Professor kommt mit, nicht wahr, Baba?«

Der Professor, dessen glänzende Augen aufmerksam auf den Bildschirm gerichtet gewesen waren, hob mit einem gequälten Lächeln den Kopf. Ob wegen der Verunstaltung seines Namens oder in Vorausschau auf den Abend, konnte Hanna nicht erkennen. Sie versteckte ihr Grinsen vor Sonja – richtig, Sonja hieß das Mädchen oder wie sie es selbst immer gerne betonte: Soso. Hanna runzelte die Stirn und fragte sich, warum Marco von Soso Marco genannt wurde und nicht Mama, dann brach sie in Lachen aus. Verständnislose Blicke der anderen Teammitglieder richteten sich auf sie, aber es war zu spät. Sie bekam einen Lachkrampf, der die anderen ansteckte.

Schließlich japste Sonja: »Okay, was immer dich jetzt so erheitert hat«, sie warf einen vorsichtigen Blick auf den Professor, der sich die Lachtränen abwischte, »aber jetzt gehst du auf jeden Fall mit und erzählst uns, worüber du so lachen musstest.« Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. Jeder in der Gruppe fügte sich Sonjas Kommando. Ihre gerade mal ein Meter fünfundsechzig gepaart mit der zierlichen Figur waren eine Täuschung.

Tatsächlich steckte in dieser Frau eine unglaubliche Energie und Kommandierfreudigkeit, aber Hanna gehörte nicht zu den Menschen, die sich einem Kommando unterwarfen. Sie hatte immer getan, was sie für richtig hielt, und die Konsequenzen daraus getragen. »Nein, tut mir leid, aber ich kann heute nicht.« Sie lächelte freundlich, und bevor sich Sonja von der Überraschung ihres Widerspruchs erholen konnte, hatte Hanna ihren Rucksack geschnappt und verschwand aus der Kirche.


»Stracciatelle e pistacchio«, bestellte sie mit einem Lächeln ihr Lieblingseis an der Eisdiele, die sich auf dem Weg zur Spanischen Treppe befand.

»Prego, Signora.« Der Italiener reichte ihr das Eis nicht ohne ein Grinsen und indem er ihr ein Auge kniff.

Es gelang Hanna nicht, die Röte auf ihren Wangen zu verbergen. Normalerweise bewahrte ihre Größe sie vor der steten Aufmerksamkeit der Römer, wie sich die in Rom gebürtigen Italiener gern bezeichneten, doch den Eisverkäufer störte sie offenbar nicht. »Grazie«, bedankte sie sich hastig, bevor sie sich in den Strom von Einheimischen und Touristen einfädelte, der sich zur Spanischen Treppe bewegte.

Die Steine strahlten die Wärme der Sonne ab, die den Tag über am Himmel gestanden hatte. Der Abend war mild und von den Düften des Frühlings erfüllt. Hanna liebte diese Treppe, auf der sich alles sammelte. In der Anonymität der Menge beobachtete sie Liebespärchen, Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche, das vorsichtige Annähern zwischen Mädchen und Jungen. Das Kichern von Mädchen in Gruppen, die so taten, als würden sie sich für Jungs nicht interessieren. Das Coolsein der reinen Jungengruppen, die so taten, als interessierten sie sich wiederum nicht für die Mädchen. Schließlich waren sie auf der Suche nach ihrer Männlichkeit.

Hanna setzte sich an den Rand auf halber Höhe der Treppe, so hatte sie einen Überblick über das bunte Treiben der Menschen aus unterschiedlichsten Ländern. Vorsichtig umrundete ihre Zunge das Eisbällchen. Langsam ließ sie den Geschmack sich in ihrem Mund ausbreiten. Erst als das Eis geschmolzen war, knackte sie die Nüsse und die Schokoladensplitter. Dabei schloss sie die Augen, damit sie den ganzen Geschmack wahrnahm. Es lag nicht allein daran, dass sie noch nie ein so hervorragendes Eis gegessen hätte, sondern an dem Luxus, den sie sich so selten gönnte. Das Eis war ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst.

Hatte sie in ihrem früheren Leben Geld keine Bedeutung beigemessen, so gehörte es in ihrem jetzigen Leben zu einem äußerst knappen Gut. Alles Ersparte, auch ihre Eigentumswohnung, die sie sich vom Erbe ihres Vaters geleistet hatte, war mit ihrem amtlichen Tod an ihre Schwester und ihre Mutter gefallen. Zwar hatte der Staat ihr einen Ausgleich gewährt, aber der entsprach nur einem Bruchteil ihres Vermögens. Das allein wäre kein Problem gewesen, hätte sie weiter als Fotografin arbeiten können. Derzeit verdiente Hanna sich ihren Lebensunterhalt als Zimmermädchen und Spülhilfe in verschiedenen Hotels. Dafür brauchte sie keine Berufsausbildung und es gab ihr genug Zeit für ihr Fernstudium. Große Sprünge konnte sie mit dem Verdienst nicht machen.

Der Job bei Professor Bartoli erwies sich als eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag. Das Geld reichte ihr, um sich die Unterkunft bei den Schwestern der Unbefleckten Empfängnis leisten zu können, das Essen und die Reisekosten. Rom gehörte zu den Städten, die sie so gerne zusammen mit ihrem Vater hatte bereisen wollen, bis sein Tod einen Strich durch ihre Pläne machte. Es gab unendlich viele Kirchen, heilige Orte, Geschichte, wo immer sie hinsah. Vermutlich würde sie Jahre brauchen, um alles zu entdecken. Vielleicht sollte sie ganz hierher ziehen. Da waren natürlich der Dreck, die Enge und die Masse an Menschen. Aber gleichzeitig das Forum Romanum, das Kolosseum, die Engelsburg, das Pantheon, die Via Appia, die Pieta von Michelangelo und all die Werke zahlreicher kleiner und großer Künstler.

Das Projekt von Professor Bartoli, in Auftrag gegeben von der katholischen Kirche, beinhaltete die Erfassung der Wandmalereien und ihres Zustands in allen römischen Kirchen. Es sollte ein langfristiger Plan für den Erhalt und die Renovierungsbedürftigkeit der Malereien erstellt werden – ein ideales Doktorandenprojekt für Marco.

Hanna hatte in den drei Wochen so viel von den beiden Männern gelernt, mehr als in all der Literatur, die sie gelesen hatte. Marco war ein netter Typ, den sie nur anzustupsen brauchte, damit er sein Wissen mit ihr teilte, was aber mit eifersüchtigen Blicken von Sonja quittiert wurde. Immer wieder hängte sich Soso vertrauensvoll an Marcos Arm und klimperte mit ihren Augenlidern. Er nahm das gelassen hin. Hanna hatte noch nicht herausgefunden, ob der Student aus München an Sonja interessiert war oder nicht. Marco besaß eine wunderschöne Gesangsstimme, der sie gerne lauschte, wenn er von seiner Gitarre begleitet Lieder sang. Auch Sonja hatte eine eindrucksvolle Stimme, und wenn sie zusammen sangen, bekam Hanna eine Gänsehaut. Sie waren wie füreinander geschaffen, das Singen, die Kunst – sah Marco das nicht? Nein, Männer waren blind, wenn es um tiefe Gefühle ging, dachte Hanna im Stillen und verbot ihren Gedanken, in die Vergangenheit zurückzuwandern. Ihre Hand rutschte automatisch zu ihrem Hals, umfasste das schlichte goldene Kreuz. Unter ihren Fingern gewann es an Wärme. Sie konnte die Ruhe und Kraft spüren, die es ausstrahlte.

Hanna wusste, dass der Professor ihre ruhige Art mochte, ihre Konzentration bei der Arbeit, ihr Talent beim Fotografieren und ihr Gespür für das Auffinden von Stilrichtungen. All das war für die Restauration der Malereien äußerst wichtig. Sie erinnerte sich an ihre Überraschung, als sie den Brief mit der Einladung für das Praktikum erhalten hatte. Zwar gehörte der Professor zu den Personen, die ihre Hausarbeit korrigiert hatten, doch dass er sie deshalb einlud? Von den anderen wusste sie, dass es viele Bewerber für dieses Projekt gegeben hatte. Kürzlich hatte der Professor sich sogar erkundigt, ob sie sich vorstellen könnte, für längere Zeit in Rom zu bleiben. Ein faszinierender Gedanke, bei der Restauration der Kunstwerke helfen zu dürfen. Vielleicht wäre der Job sogar besser bezahlt als ihr jetziger. Sie könnte ihr Studium an der Fernuniversität genauso gut in Rom fortführen wie in Bonn. Hanna lächelte bei dem Gedanken. Es gab nur einen Haken dabei – Onkel Richard, den Freund ihres Vaters, ihren Patenonkel und Kardinal in Rom.


Ben sah Hanna zu, wie sie auf der Treppe genussvoll ihr Eis schleckte. Entspannt saß sie rechts am Rand, etwa auf halber Höhe der Treppe. Sie trug ihre Haare länger. Ihr Hemd hatte sie ausgezogen und in ihren Rucksack gesteckt. Die Sonne hatte ihre Haut in einen Goldton verwandelt. Ihr Tattoo zeichnete sich deutlich knapp unter dem rechten Ärmel des T-Shirts ab. Ein Notizbuch lag auf ihren Beinen, die in einer leichten Cargohose steckten. Ihre Turnschuhe samt Socken hatte sie ausgezogen und unter sich auf die Treppe gestellt. Er fragte sich, was in diesem Buch auf ihrem Schoß war. Er lächelte, als er das goldene Kreuz in ihrem Ausschnitt sah – sein Geschenk. Oberst Hartmann hatte es Hanna also bei der Verhandlung übergeben.

Ben war sich nicht sicher gewesen, ob sie es annehmen würde. Doch sie hatte es getan, und dass sie es trug, ließ eine warme Welle durch seinen Körper fluten. Noch mehr, als sie danach griff und es mit den Fingern umschloss. Es war, als würde sie ihn berühren. Er sah die Blicke von Männern, die Hanna streiften, während sie auf eine unverschämt genussvolle Art ihr Eis leckte. Aber es lag eine Vorsicht gebietende Aura um sie und ließ die Männer Abstand halten. Nicht zu Unrecht, wie Ben aus eigener Erfahrung wusste. Hanna konnte sich ihrer Haut wehren, wenn es darauf ankam. Sie hatte sich verändert und das lag nicht nur an den braunen Strähnen in ihrem eigentlich schwarzen Haar oder an dem Grün, ihrer normalerweise himmelblauen Augen, das sie mit gefärbten Kontaktlinsen erreichte. Augen, die ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hatten. Nein, ihr Blick erschien ihm offener als früher. Sie besaß eine intensive Art, das Leben um sich herum wahrzunehmen, etwas, was ihm früher nur bei ihren Bildern aufgefallen war. Jede Laterne, jedes Schild und jeder Pfosten schien ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Oder ihre nackten Füße, die leicht über die Treppe strichen, als wollte sie die Konturen nachfühlen, die Tausende von Füßen im Laufe der Zeit beim Auf-und-ab-Laufen hinterlassen hatten. Sie leckte ihr Eis, als wäre es die größte Kostbarkeit auf Erden.

Ben war zurückgegangen und hatte sich ein Eis geholt, als er sicher war, dass sie eine Weile auf der Treppe bleiben würde. Obwohl Eis nicht zu seinem Speiseplan zählte. Entsprechend klassisch fiel seine Wahl aus: Schokolade und Vanille.


»Worüber lächelst du, Sabine?« Ihr neuer Vorname ging ihm leichter über die Lippen, als er es gedacht hatte. Langsam öffnete sie die Augen, die sie geschlossen hatte, nachdem sie mit ihrer Zunge die Eisbällchen einmal umrundet hatte. Das hatte sie jedes Mal aufs Neue gemacht, wenn sie an ihrem Eis leckte. Sein Herz klopfte fest gegen seine Brust, so heftig, dass sie es sehen musste. Er hatte keine Ahnung, wie sie auf sein Erscheinen reagieren würde. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, waren sie schweigend auseinandergegangen. Er war dem Befehl seines Obersts gefolgt und hatte Hanna, nachdem er sie geknackt hatte, an das BKA übergeben. Er hatte gewusst, dass er sie danach nie wiedersehen würde. Hanna Rosenbaum war tot. Gestorben im Feuer in einer Hütte am Seeufer in Berlin. Ihr Schwager Lukas hatte das Feuer gelegt und einen Abschiedsbrief vorbereitet, damit alle Welt glaubte, Hanna hätte sich das Leben genommen. Aber Ben hatte ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht und Hanna überzeugt, gegen ihren Schwager auszusagen, ebenso gegen ihren Stiefvater, der Jahre zuvor ihre Entführung in Auftrag gegeben hatte. Ihm war bewusst gewesen, dass Hanna alles verlieren würde, was ihr jemals etwas bedeutet hatte, aber einen Weg zu gehen, der Gerechtigkeit brachte, hieß Opfer zu bringen. Sie war mutig genug gewesen, das zu erkennen. Und doch war er das Gefühl nicht losgeworden, dass es etwas gab, das er nicht sah. Dass sie etwas vor ihm verheimlichte. Er hatte sich selbst eine Mauer gegen ihre Anziehungskraft aufgebaut, die sie umrundet hatte. Zwei Mal hatte er mit ihr geschlafen. Zwei Nächte, die sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatten, nicht allein wegen des Sex. Es gab etwas anderes, was dabei passiert war und was er nicht verstand.

In Norwegen hatte sie ihm voller Staunen erklärt, dass sie ihn liebe. Aber er wusste, dass es nicht stimmte. Wie sollte sie, Hanna, einen Mann lieben, der anderen Menschen das Leben nahm? Ihr eigenes eingeschlossen. Er war Soldat und tötete Menschen. Das gehörte zu seinem Job und er war zutiefst von dem überzeugt, was er machte.

Hanna antwortete ihm nicht. Ihre Zunge glitt ein weiteres Mal um ihr Eis herum, sie schloss die Augen und ließ das Eis in ihrem Mund schmelzen. Verwirrt beobachtete er sie und überlegte, was er machen sollte. Versuchte sie ihn zu ignorieren? Ihr eines Lid öffnete sich, blinzelte, schloss sich wieder. Er seufzte. »Hanna, ich bin kein Geist, der verschwindet, wenn du die Augen schließt.« Hastig sah er sich um. Verdammt, wie konnte ihm so ein Fehler passieren, dass er sie mit ihrem richtigen Namen ansprach? Sie öffnete die Augen, sah ihn an.

»Schade, ich dachte es würde funktionieren.«

Das Bedauern in ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich. Sie runzelte die Stirn, legte den Kopf schief. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann beugte sie sich leicht vor, als wollte sie ihm ein Geheimnis erzählen. Unwillkürlich beugte er sich von seiner unter ihr sitzenden Position aus vor und wandte ihr sein Ohr zu.

»Aber weißt du was?«, sagte sie verhalten. »Ich kenne einen Zauberspruch, mit dem man Menschen wie dich aus seinem Leben verjagt.«

Sie lehnte sich mit einem Lachen zurück und begann die Waffel vom Eis abzuknabbern. Er betrachtete Hanna und versuchte zu verstehen, was in ihr vorging. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, und das ärgerte ihn, denn in seinem Job gehörte es zu seinen Stärken, sich in die Empfindungen anderer Menschen hineinzudenken. Das machte seine Erfolge bei den Verhören und seinen Einsätzen aus: das sich Hineinversetzen in seine Gegner. Schweigend aßen sie beide ihr Eis zu Ende. Ein hervorragendes Eis, wie er sich eingestand. Cremig, kalt, von perfekter Konsistenz, und wenn es im Mund zerschmolz, entfaltete es seinen vollen Geschmack, die Schokolade leicht bitter, die Vanille süß und zart. Hanna stand auf, schulterte ihren Rucksack und nahm die Turnschuhe in die Hand. Er folgte ihr zu dem Brunnen am Fuß der Treppen, in dem sie sich die klebrigen Hände wusch. Bevor er dasselbe machen konnte, traf ihn ein Schwall Wasser. Er starrte sie überrascht an.

»Hm, geweihtes Wasser scheint dich auch nicht zu vertreiben.«

Er musste grinsen. Sie besaß eine seltsame Art von Humor. »Das ist kein geweihtes Wasser, sondern dreckiges Brunnenwasser.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Stimmt, du hast recht, ich vergaß. Dann kann es natürlich nicht funktionieren.«

Ein zweiter Schwall Wasser traf ihn. Er schüttelte die Feuchtigkeit aus seinen Haaren, leicht verärgert. »Hanna, du bist albern.«

»Ich heiße Sabine«, erklärte sie ruhig, setzte sich auf den Boden und zog ihre Turnschuhe an.

Er folgte ihr durch die Gasse. Ihre Schritte waren zügig, und es fiel ihm schwer, ihr Tempo zu halten. Er war nicht den weiten Weg nach Rom geflogen, um sich von ihr abschütteln zu lassen. Er wusste aber auch nicht, wie er es anfangen sollte, mit ihr über das zu reden, weshalb er hier war. Schließlich hatten sie die Pension der Schwestern der Unbefleckten Empfängnis erreicht. Was für ein Name! Ben verzog das Gesicht. Die Unbefleckte Empfängnis – wer konnte an so etwas glauben? Als Hanna den Wunsch geäußert hatte, die Zeit bis zur Verhandlung in einem Kloster zu verbringen, war man beim BKA erst dagegen gewesen. Oberst Hartmann, sein Vorgesetzter, hatte schließlich dafür gesorgt, dass Hanna dieses Zugeständnis erhielt. Eine, wie sich herausstellte, günstige Variante des Personenschutzes für Zeugen. Hanna schien aus ihrem Aufenthalt im Kloster Ruhe und Kraft für die Verhandlungen gewonnen zu haben.

Es hatte Karl Hartmann beeindruckt, mit welcher Klarheit und Präzision ihre Aussage erfolgte. Lediglich ein wenig mehr Emotionalität hätte er sich gewünscht. Die Rechtsanwälte hatten versucht, die Zeugin, die sie nicht sehen konnten, da sie sich in einem Nachbarraum befand, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Fragen an sie hatten dem Oberst deutlich gemacht, dass zumindest der Anwalt von Lukas Benner sehr wohl wusste, wer die unbekannte Zeugin war. Am Ende fiel die Strafe für Lukas Benner geringer als erhofft aus. Mit sieben Jahren kam der Mistkerl davon. Nach dreieinhalb Jahren bestand für ihn die Möglichkeit, eine Haftentlassung zu beantragen. Rechnete man die Zeit der Haft vor der Verhandlung ab, so blieben zwei Jahre, die Lukas Benner mit Sicherheit würde abbüßen müssen. Eine Schande, dass es kein Auslieferungsabkommen zwischen Nigeria und Deutschland gab, um auch deutsche Staatsangehörige für ihre Verbrechen nach Nigeria auszuliefern. Der einzige Weg, ihn für den Überfall auf das Dorf haftbar zu machen, führte über den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, und dort stapelten sich die Fälle.

Hanna blieb stehen. Sie wandte sich ihm zu, steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Da wären wir.«

»Ja, da wären wir.« Er nahm seinen Rucksack herunter, öffnete ihn und holte ein Geschenk heraus, ein Päckchen, doppelt so lang wie ein durchschnittliches Buch und auf einer Seite etwas dünner.

Er reichte es ihr. Hanna starrte auf das Päckchen und wich zurück, als wäre darin eine Bombe versteckt, was in gewisser Weise ja auch stimmte. Nein, natürlich keine Bombe, aber etwas, was ihr gleichzeitig Freude machen und wehtun würde.

»Herzlichen Glückwunsch zum einunddreißigsten Geburtstag, Hanna.«

Sie sah ihn an. Ihr Blick bohrte sich in seinen und er bekam das Gefühl, dass sie in die Tiefe seiner Seele blickte, einer Seele, die viel Schuld auf sich geladen hatte. Hanna presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ging einen Schritt vor, nahm sich das Päckchen aus seiner Hand und wandte sich ohne ein Wort des Dankes um. Er blieb, bis sich die Tür hinter ihr schloss.


Allein in ihrem Zimmer atmete Hanna tief ein. Mit zitternden Händen setzte sie sich auf ihr Bett und presste das Päckchen an ihr Herz. Sie hatte keine Ahnung, was es enthielt, aber sie wusste, es steckte eine Absicht dahinter. Nur, welche, das musste sie noch herausfinden. Noch immer hatte sie sich nicht von dem Schock erholt, den Bens plötzliches Auftauchen verursacht hatte. Freute sie sich oder überwog die Angst?

Es klopfte leise an ihrer Tür.

»Sabine?« Gedämpft drang die Stimme von Schwester Valentina an ihr Ohr. »Möchten Sie an der Vesper teilnehmen?«

Hastig stopfte Hanna das Geschenk unter ihr Kopfkissen. Sie stand auf, straffte die Schultern und wischte sich über die Augen. Nein, besser auch noch die Nase putzen, bevor sie die Tür aufmachte.

Aufmerksam musterte Schwester Valentina sie. Sie war so klein, dass sie zu Hanna aufsehen musste. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja.« Hanna rang sich ein Lächeln ab und folgte der Schwester in einen Raum, der den Ordensfrauen als Gebetsraum diente.

Der gewohnte Rhythmus der Vesper und die vertrauten Worte beruhigten ihr aufgewühltes Gemüt. Ihre Hände zitterten nicht mehr, nur das Ziehen in ihrem Herzen wollte nicht aufhören.

Später schöpfte Hanna im gemeinsamen Beten die Kraft, um das Paket von Ben zu öffnen. Nachdem sie sich gewaschen und ihr altes Schlafshirt angezogen hatte, wickelte sie sich sicherheitshalber in die Strickjacke ihres Vaters. Umhüllt von seiner Wärme und Liebe riss sie das Papier auf. Vorsichtig umschlossen ihre Hände den dunkelbraunen, abgenutzten Einband. Die goldenen Buchstaben darauf leuchteten ihr entgegen: Mit den Augen von Hanna. Sie schlüpfte unter die Decke, rollte sich ein und lehnte das Album an das Nachtkästchen. Lange starrte sie darauf, bevor sie es öffnete. Sie hatte es als Geschenk von ihrem Vater bekommen, vor langer, langer Zeit. Ungewöhnlich, dass er dafür ihren abgekürzten Namen verwendet hatte. Es war mit Fotos gefüllt, die sie gemeinsam an einem Wochenende gemacht hatten.

Glaube an dich. Betrachte die Welt in ihrer Einzigartigkeit. Sieh all das Schöne, das dich umgibt, und halte es fest. Dann erkennst du, dass es nichts zweimal auf Erden gibt. – Dein Papa, der seine kleine Johanna von Orleans so liebt, wie Gott sie ihm gab und nicht anders.

Sie flüsterte die Worte beim Lesen vor sich hin. Es tat weh, aber gleichzeitig fühlte sie eine innere Ruhe. Sie hatte das Album nie zu Ende geführt. Sie hatte es so gelassen, doch jetzt waren die letzten Seiten gefüllt mit weiteren Bildern: Marie und Silvia, ihre Mutter, sie selbst, fotografiert von einem afrikanischen Jungen, und zuletzt ein Bär. Sie starrte das letzte Foto an und fragte sich, wann er es ihr geklaut hatte. Warum liebte sie einen Mann, der sie ständig zu manipulieren versuchte und ihr alles weggenommen hatte, was ihr in ihrem Leben überhaupt geblieben war? Und das alles für eine Gerechtigkeit, die keine war, denn sie brachte kein Leben zurück. Aber sie verhindert, dass weiteres Leben geopfert wird, hörte sie die leisen, mahnenden Worte ihres Vaters im Kopf. »Und was ist mit mir? Was ist mit meinem Leben?«, fragte sie ihn. Doch die Antwort blieb aus, wie immer, wenn sie diese Frage stellte. Armin Ziegler – verurteilt zu fünf Jahren, weil er Reue gezeigt hatte, wegen seines sozialen Engagements sowie dem Fehlen einer erpresserischen Absicht. Lukas Benner hatte lächerliche sieben Jahre bekommen. Hanna schloss das Album, stand auf und packte es in ihre Tasche, ganz nach unten. Wie auch immer er an das Album herangekommen war, sie war ihm dankbar dafür, dass sie es wiederhatte, denn es gehörte zu ihr.

4

Sightseeing

Als Hanna am nächsten Morgen um acht die Pension verließ, wartete Ben bereits auf sie. Er lehnte auf der anderen Straßenseite an einer Hauswand, einen Fuß angewinkelt an der Wand, mit dem er sich abstieß, bevor er auf sie zukam. Er lächelte, zog seine Kapuze vom Kopf und nahm die Kopfhörer aus den Ohren. Seine Füße steckten in Turnschuhen. Er trug eine Kaki-Bermuda, ein schwarzes T-Shirt und darüber seine übliche Kapuzen-Sweatshirtjacke, alles weit geschnitten. Obwohl er einen halben Kopf größer als sie war, wirkte er in den Klamotten weniger groß. Seine braunen Haare waren ungewöhnlich lang für ihn. Das letzte Mal, als sie ihn außerhalb von Rom gesehen hatte, war sein Haar so kurz gewesen, dass sie es mit den Händen nicht zu greifen vermochte. Es faszinierte Hanna, wie harmlos Ben in seiner Alltagskleidung aussah. Ein Jäger, der sein Opfer in Sicherheit wiegte. Sein Gesicht war etwas blasser um die Nasenspitze, obwohl es die tiefe Bräune der afrikanischen Sonne besaß.

»Zeigst du mir Rom?« Abwartend blieb er in sicherem Abstand vor ihr stehen.

Statt eine Antwort zu geben, wandte sich Hanna um und schlug den Weg zur Spanischen Treppe ein. Ihre Schritte waren zügig, doch das stellte für Ben kein Problem dar, wie sie wusste. Er trainierte täglich. Als sie merkte, dass sich ihr Abstand zu ihm vergrößerte, drosselte sie das Tempo.


Ben war froh, als Hanna die Geschwindigkeit ihrer Schritte verringerte. Sie schien verdammt gut in Form zu sein, das war ihm bereits gestern aufgefallen, als er ihr von der Kirche aus gefolgt war. Hanna hatte eine effiziente Art zu gehen, die wenig Kraft kostete, und er konnte sich ohne Probleme vorstellen, wie sie Stunden durch die Wildnis lief für ein einziges gutes Foto. Normalerweise hätte es für ihn keine Schwierigkeit bedeutet, sich ihrem Tempo anzupassen. Doch seine Wunde bereitete ihm heute mehr Ärger als gestern.

Bisher hatte Hanna kein Wort zu ihm gesagt. Sie schien auch nicht überrascht, dass er auf sie gewartet hatte. Sie war nicht dumm, leider auch nicht neugierig, und sie war geduldig. Er hatte erwartet, dass sie ihn fragte, was er hier suche oder wie er an das Album herangekommen war. Irgendetwas. Doch sie tat ihm den Gefallen nicht. Er wusste noch nicht einmal, wohin sie unterwegs waren. Im Grunde hatte er nur die vage Hoffnung gehabt, dass Hanna es sich nicht entgehen lassen würde, heute eine Tour durch Rom zu machen, und er hatte recht behalten. Wenigstens ab und an schien es ihm zu gelingen, ihr Verhalten vorherzusagen. Hanna gehörte nicht zu den Menschen, die viel redeten. Alles, was sie dachte und fühlte, drückte sie in ihren Bildern aus. Nachdem er sie damals halbtot aus dem Feuer gerettet und nach Norwegen in eine einsame Hütte gebracht hatte, bekam sie von ihm eine neue Nikon D4 samt Objektiv geschenkt. Allein die Kamera hatte ihn mit Versandkosten über sechstausend Euro gekostet, hinzu kam das Objektiv mit weiteren tausend Euro. Zu sehen, wie beim Anblick der Kamera das Leben in Hannas Augen zurückkehrte, wäre ihm auch mehr Geld wert gewesen. Norwegen. Schnell verbannte er die Erinnerung in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses.

»Wohin gehen wir?« Er machte sich keine Hoffnung auf eine Antwort.

»Castel Sant‘Angelo.«

»Castel Sant‘Angelo, okay«, sagte er gedehnt, »ich dachte, das hättest du in den vier Wochen längst abgehakt.«

Abrupt blieb sie stehen. Ihre Augen funkelten in einer seltsamen, fremden Farbmischung. Ben legte ein wenig Distanz zwischen sich und Hanna. Sie konnte gefährlich werden. Sein Blick ging prüfend über die Gegend, ein Reflex aus seinem jahrelangen Training. Auf den Straßen von Rom tummelten sich die Römer auf dem Weg zur Arbeit. Touristen konnte er nur wenige entdecken.

»Seit wann bist du hier?«, stellte sie ihn zur Rede.

»Seit gestern«, antwortete er wahrheitsgemäß.

Skepsis lag in ihrer Haltung. Er ließ sie nicht aus den Augen. Zwar rechnete er nicht damit, dass sie ihn hier auf der Straße angreifen würde, aber sicher war sicher. Sie atmete tief ein, schloss kurz die Augen, bevor sie mit dem Verhör fortfuhr. »Weshalb bist du hier?«

Das war eine schwierige Frage, die er so einfach nicht beantworten konnte. Zwei Männer waren tot und er wusste nicht weshalb. Sein Instinkt vermittelte ihm, dass Hanna nicht alles gesagt hatte, was sie wusste. Weshalb verheimlichte sie etwas? Um Marie zu schützen? Er konnte ihr nicht von den toten Männern erzählen, genauso wenig von den Umständen, die zu seiner Verwundung geführt hatten. Das alles unterlag Geheimhaltung. Offiziell hatte es ihren Einsatz nie gegeben. Er versuchte, mit einer Lüge Zeit zu gewinnen. Das hier war nicht der richtige Moment, sie zum Reden zu bekommen.

»Ich mache Urlaub.«

»In Rom?«

»Ja.«

»Ausgerechnet dann, wenn ich in Rom bin?«

»Du scheinst dich in Rom auszukennen«, versuchte er sie von ihrer Frage abzulenken.

»Nein, tue ich nicht. Es ist mein erster Besuch in Rom. Aber du weichst mir aus und lügst.«

Ihre Arme verschränkten sich vor ihrer Brust. Ben atmete tief ein und zuckte zusammen, als ihm der Schmerz durch die Seite fuhr. Vorsichtig ließ er die Luft wieder aus seinem Brustkorb entweichen. Hanna runzelte die Stirn. Sie war eine aufmerksame Beobachterin. Bevor sie eine Frage stellen konnte, die er ihr nicht beantworten wollte, entschloss er sich, ihr einen Teil der Wahrheit zu sagen. »Also gut, ich bin deinetwegen hier.«

»Weiß Oberst Hartmann, dass du hier bist?«

»Ja«, log Ben, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war sicherer für ihn und Paul, wenn sie das glaubte. Paul hatte ihm Hannas neuen Namen und Aufenthaltsort aus den Daten des Zeugenschutzprogramms organisiert. Allein wäre er an diese Information nicht herangekommen. Er wollte nicht, dass Paul seinetwegen in Schwierigkeiten geriet.

»Bist du in seinem Auftrag hier?«

»Können wir das Verhör auf der Straße beenden und uns eine nettere Umgebung für das Gespräch aussuchen?«

»Nein.« Sie drehte sich um und ging weiter.

Zum Glück behielt sie das langsamere Tempo bei. Am Anfang der Brücke, die über den Tiber führte, blieb sie stehen, holte ihre Kamera hervor und begann Fotos zu machen, beim Blick durch ihr Objektiv völlig auf das Motivkonzentriert. Stundenlang hätte Ben sie bei ihrer Arbeit beobachten können. Er wandte den Blick von ihr ab auf das Motiv, betrachtete das runde Gebäude am anderen Ufer. Er versuchte, die Festung mit Hannas Augen zu betrachten. Was sah sie darin? Welches Geheimnis entlockte sie dem Gebäude? Die Welt über die Bilder von Hanna zu entdecken, das eröffnete eine völlig neue Blickweise auf all das, was einen umgab. Eine einfache Blume konnte zu einem Wunder an Farbe, Struktur und Leuchtkraft werden, das Gesicht einer alten Frau, mit tiefen Runzeln und zahnlos, zu einer Geschichte über das Leben in einem Land.

Ben runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen für einen besseren Fokus. »Soll das auf der Spitze des Gebäudes ein Engel sein?«

»Castel Sant‘Angelo – Engelsburg«, spottete Hanna.

Ben hatte nie Latein gelernt, doch Angelo, das war nicht weit entfernt von Engel oder Angel. Englisch gehörte durchaus zu den Sprachen, die er beherrschte. Er spürte, wie ihm Röte ins Gesicht stieg. Wie dumm, natürlich musste das Gebäude von irgendwoher seinen Namen bekommen haben.

Sie nahm die Kamera vom Auge und sah ihn amüsiert an. »Ursprünglich war es ein Mausoleum, gebaut für den Kaiser Hadrian.«

Ihn zu belehren, schien ihr zu gefallen. »Und der ließ sich einen Engel auf die Spitze bauen, der seinen Tod bewachen sollte?«, hakte Ben interessiert nach.

»Nein, der Engel kam erst später auf das Mausoleum. Im Jahr 590 nach Christus wütete eine Pest in Rom. Angeblich hat Papst Gregor I. über dem Grabmal eine Erscheinung des Erzengels Michael gesehen, der das Schwert des göttlichen Zorns in die Scheide steckte und somit das Ende der Pest verkündete. Tatsächlich ging die Pest zu Ende. Aus diesem Grund gibt es auf dem Dach die Bronzefigur des Erzengels Michael und aus dem Hadrianeum wurde das Castel Sant’Angelo.«

Wow, Ben konnte sich nicht erinnern, wann sie freiwillig so viel geredet hatte. Sie ließ die Kamera um ihren Hals hängen, schulterte den Rucksack und betrat die Brücke. Ein Engel, der sein Schwert schwingt, dachte Ben und betrachtete die Figur auf dem Gebäude nachdenklich.


Bevor er Hanna begegnet war, hatte Ben in der Religion lediglich den größten Auslöser für Kriege gesehen. Egal, in welches Krisengebiet ihn sein Job führte, fast immer ließen sich die Konflikte auf drei wesentliche Ursachen reduzieren: Religion, Zugang zu oder Mangel an Rohstoffen und Machtbesessenheit, häufig gepaart mit einer Form von Größenwahn. Bei Hanna hatte er zum ersten Mal erlebt, wie der Glaube einem Menschen die Kraft verlieh, mit seelischen und physischen Verletzungen fertigzuwerden.

Hanna war in ihrem Zorn durchaus schlagkräftig, was er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Gleichzeitig gab es etwas an ihr, das er mit Worten nicht beschreiben konnte. »Ich bin das Licht der Welt« hatte sie an ihrem Oberarm eintätowieren lassen. Es war ein Bibelzitat, wie er inzwischen wusste. Noch ein Geheimnis, das er nicht verstand. Er hatte Gesetze übertreten, um zu ihr zu kommen und er hatte keine Ahnung, was sein Oberst tun würde, wenn er erfuhr, dass er sich hier bei Hanna in Rom befand. Zum Glück war sein Vorgesetzter mit anderen Dingen beschäftigt und er selbst offiziell bei seiner Schwester, Dr. Elisabeth Jung, in Berlin. Tatsächlich hatte ihm der Oberarzt im Militärkrankenhaus erst erlaubt zu fliegen, nachdem er den Namen seiner Schwester hörte. Es überraschte Ben immer wieder, welchen Ruf Lisa in so jungen Jahren in Fachkreisen besaß.

Hanna bewegte sich von Engel zu Engel über die Brücke, und er folgte ihr langsam.

»Wieso hat der Engel ein Tuch in der Hand?«, rutschte ihm die nächste Frage über die Lippen.

»Alle Engel auf der Brücke tragen ein Symbol aus der Passionsgeschichte von Jesus.«

»Passionsgeschichte?«

Seufzend nahm Hanna die Kamera vom Auge. »Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu.«

»Ach so.« Ben betrachtete seinerseits die Engel einzeln und versuchte herauszufinden, welches Symbol sie trugen. Seine Mutter war Katholikin gewesen, doch das hatte ihr nicht das Leben gerettet, als sie bei einem Überfall in der Botschaft getötet worden war. Im Gegenteil. Weil sie ein goldenes Kreuz um den Hals trug, wählten die Fanatiker sie zum Sterben aus. Es war ein Symbol für die Überlegenheit des Islams über das Christentum. Damals war Ben fünfzehn gewesen, seine Schwester Elisabeth dreizehn. Er hatte sich mit seiner Schwester aus der Botschaft schmuggeln und die Polizei alarmieren können. Ein Sonderkommando hatte die Geiselnahme beendet. Danach hatte sein Entschluss festgestanden, Soldat zu werden. Lisa war Ärztin geworden. Auch ihr Berufswunsch entsprang dem traumatischen Ereignis. Sie hatten an dem Tag Menschen an ihren Verletzungen sterben sehen, ohne dass sie irgendetwas hätten tun können. Lange Zeit war Lisa mit »Ärzte ohne Grenzen« unterwegs gewesen. Genauso wie er riskierte auch sie oft ihr Leben, um andere Menschen zu retten. Ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, hatte immer wieder versucht, sie beide davon zu überzeugen, dass es andere Möglichkeiten gab, der Welt von Nutzen zu sein. Lisa, inzwischen mit einem Arzt verheiratet, hatte eine chirurgische Gemeinschaftspraxis in Berlin. Wenigstens konnte seine Tante seitdem ruhiger schlafen.

Bens Mutter war nur selten mit ihnen in die Kirche gegangen. Er kannte Weihnachten und Ostern als Feiertage, doch damit war seine Kenntnis über die christlichen Lehren bereits erschöpft, mit Ausnahme derer, die zu Kriegen geführt hatten. Von einer Passionsgeschichte hatte er nichts mitbekommen.


Sie hatten die Engelsburg erreicht. Hanna zog einen Studentenausweis hervor. Ben zückte seine Geldbörse, um für sie beide den Eintritt zu bezahlen, aber Hanna kam ihm zuvor. Der italienische Kassierer warf ihm einen Blick zu, der deutlich zeigte, dass ein Italiener nicht eine Frau bezahlen lassen würde. Ben zuckte grinsend die Schultern und folgte Hanna, die ihre Kamera zurück in den Rucksack gepackt hatte.

Als Erstes machten sie einen Rundgang durch die Wehranlagen der Burg. Bens Aufmerksamkeit war sofort gefesselt. Strategische Verteidigung einer Stellung bei einem Angriff, das interessierte ihn. Er konnte sich ohne Probleme in die Männer hineinversetzen. Vieles, was damals für die Verteidigung eine Rolle gespielt hatte, stimmte heute noch genauso. Die Waffenkammer absorbierte seine Aufmerksamkeit völlig. Wie gern hätte er die eine oder andere Waffe von der Wand genommen, um sie in der Hand zu halten oder selbst auszuprobieren.

Sie sahen sich gemeinsam das Areal an, das dem Papst vorbehalten gewesen war, und Ben erfuhr, dass es einen Gang zwischen der Engelsburg und dem Vatikan gab, der bei Gefahr als Fluchtweg für den Papst diente. Die Burg ließ sich wesentlich einfacher verteidigen als der Petersdom – für ihn als Stratege leicht nachzuvollziehen.

Schließlich standen sie auf der obersten Ebene der Engelsburg mit einer unvergleichlichen Aussicht auf Rom. Tafeln zeigten auf, was sich wo in der Stadt befand. Das Wetter war absolut klar, der Himmel wolkenlos, die Temperatur angenehm – warm, aber nicht heiß. Ben wollte nicht wissen, wie sich der Sommer in Rom anfühlte. Hanna betrachtete lange die Bronzefigur des Erzengels. Innerhalb der Räume war es verboten gewesen, Fotos zu machen. Hier draußen holte sie ihre Kamera hervor.

»Was ist das für eine Glocke?« Ben deutete auf eine Glocke links neben der Engelsfigur. Irgendwie ging er davon aus, dass Hanna all seine Fragen beantworten konnte. Sie enttäuschte ihn nicht.

»Misericordia.«

Sein fragender Ausdruck entlockte ihr sogar eine weitere Erläuterung. »Die Glocke wurde beim Vollzug von Todesstrafen geläutet.« Hanna setzte sich, zog ihr Skizzenbuch heraus und begann, die Bronzefigur des Engels zu zeichnen.

Er näherte sich ihr und schaute über ihre Schulter. Es war keine naturgetreue Zeichnung, sondern betonte bestimmte Aspekte der Figur. Es faszinierte ihn, wie aus einigen markanten Strichen unter ihrer Hand ein Bild auf dem Blatt entstand. Er wandte sich abrupt ab. Ihre Nähe weckte sein Verlangen, sie zu berühren.

»Ich frage mich, was diese Burg alles erlebt hat, in der Zeit, seit sie erbaut wurde«, dachte Ben laut, als er auf den Innenhof hinuntersah.

»Ein Gebäude erlebt nichts.«

»Wenn du deine Bilder machst, denkst du da nicht über den Architekten eines Gebäudes nach, der es erschaffen hat? Fragst du dich nie, was hier alles passiert ist? Welche Lügen erzählt, welche Intrigen geschmiedet oder welche Tränen vergossen wurden? Oder auch im Gegenteil: Wie viele Liebesschwüre haben die Mauern gehört?« Er wagte sich mit seiner letzten Frage auf gefährliches Terrain vor, aber es war zu spät, die Worte zurückzunehmen.


Hanna hob den Kopf und sah Bens Gestalt an der Brüstung an. Seine Stirn nachdenklich gerunzelt musterte er die Mauern, die Augen auf die Vergangenheit gerichtet. Sein spöttisches Lächeln war verschwunden. Sie hätte wissen müssen, dass Ben solche Fragen stellen würde. Dass ihn die Geschichte eines Ortes genauso in den Bann zog wie sie. Er gehörte nicht zu den Menschen, die blind durch die Welt liefen. Im Gegenteil, es war eine tiefe Überzeugung, die ihn zum Soldaten machte, und das fand sie viel gefährlicher, als wenn jemand sich aus Abenteuerlust für so einen Job bewarb. Ben glaubte daran, dass er die Welt besser machte, weil er sie als Soldat beschützte. Die Welt, ein Körper voller Krebsgeschwüre, und er der Arzt, der sie mit scharfer Klinge entfernte. Manchmal war der Schnitt nicht exakt, und gesundes Gewebe wurde mit entfernt. Störte ihn das? Belastete der Tod von Unschuldigen sein Gewissen? Ihre Weltanschauungen hätten nicht weiter auseinanderliegen können. Hanna glaubte an das Gute im Menschen, an die Sünde und vor allem an ihre Vergebung. Für Ben gab es keine Vergebung, sondern nur gerechte Strafe. So wie er dort stand, fühlte Hanna mit aller Macht die tief gehende Liebe, die sie für ihn empfand. Wie gern hätte sie ihn in ihre Arme gezogen, geküsst und ihm seine Einsamkeit genommen, nur einmal sein Gesicht berührt und für einen Moment vergessen, wer er war. Sie wusste, dass seine Hände nicht nur töten, sondern unglaublich zärtlich sein konnten. Er war die pure Versuchung, ihre zweite Hälfte, aber sie nicht die seine. Sie presste die Lippen zusammen, versuchte ihre aufwallenden Gefühle zurückzudrängen. Ein körperlicher Schmerz durchzog sie, weil sie ihn nicht berühren durfte. Er wandte sich zu ihr um, als könnte er einen Hauch der Emotionen spüren, die sie durchzogen. Sie löste ihren Blick und senkte ihn konzentriert auf das Blatt Papier, aber der Moment, in dem sie sich in der Engelsfigur verloren hatte, war unwiderruflich vorbei.

Er schlenderte zu ihr herüber. Hanna stand auf, ging zu der Glocke und vergrößerte so die Entfernung zu ihm. Mit leiser Stimme fing sie an zu erzählen: »Beatrice Cenzi war eine römische Patrizierin. Ihr Vater, Francesco, war bekannt für seine Ausbrüche voller Gewalt. Er sperrte sie mit ihrer Stiefmutter auf einem Landgut außerhalb der Stadt ein, misshandelte sie. Ohne Hoffnung, ihrem Martyrium zu entfliehen, entschieden sich die Frauen, Francesco Cenzi zu töten. Beatrice, die selbst nicht in der Lage war, etwas Derartiges zu organisieren, bat ihren Bruder Giacomo um Hilfe. Gemeinsam mit einem Attentäter gelang es ihnen, den Vater zu vergiften, doch sein Tod erregte Aufsehen und führte zu Untersuchungen. Am Ende ließ der Papst die Familie inhaftieren. Beatrice wurde am elften September 1599 mit zweiundzwanzig Jahren hier auf dem Innenhof zusammen mit ihrer Stiefmutter enthauptet. Die Glocke läutete und verkündete ihren Tod.«

Hanna schloss die Augen, hörte den Klang der Glocke, sah die Angst in den Augen von Beatrice Cenzi, als diese den Kopf für die Axt senkte. »Tod führt immer zu weiterem Tod. Egal wie gerecht er erscheint.« Doch wer ist der Schuldige, dachte sie still weiter. Beatrice, die ihrem Leid durch einen in Auftrag gegebenen Mord ein Ende bereiten will? Der Bruder, der ihn organisiert? Der Vater – Ursache allen Leidens? Die Gesellschaft, die es nicht möglich gemacht hat, dass die Frauen dem Leid anders hätten entfliehen können?

Hätte sie Armin Ziegler töten können? Den Auftrag dazu geben können wie die römische Patrizierin? Nein, ihre Situation erschien ihr nicht annähernd vergleichbar mit der von Beatrice Cenzi, und dennoch fühlte sie sich ihr verbunden. Sie hatte die Oper schon so oft gesehen, und noch immer berührte sie die Geschichte wie beim ersten Mal.

»Woher kennst du die Geschichte?«

Der Tonfall in Bens Stimme klang seltsam beunruhigt. Hanna öffnete die Augen, wischte schnell die Feuchtigkeit weg. »Sie ist kein Geheimnis. Du findest sie in Büchern und Opern verarbeitet. Die Familie war angesehen, und in der römischen Bevölkerung galt die Tat als berechtigte Notwehr. Die Hinrichtung beschädigte das Ansehen des Papstes schwer.«

»Die Verurteilung geschah durch die Kirche?«

»Ja.«

»Weshalb? Gab es zu der Zeit keine staatliche Judikative in Rom?«

»Nein, Rom war zu dieser Zeit ein Kirchenstaat«, erklärte Hanna brüsk und packte ihre Sachen zusammen. Die Uhr zeigte auf eins, und sie wollte der Vergangenheit nicht noch mehr Platz einräumen. Die Geschichte Roms war voller Leid, aber auch voller Hoffnung. Die Menschheit brauchte beides in gleichem Maße. Ohne darauf zu achten, ob Ben ihr folgte, schulterte sie ihren Rucksack und verließ die Engelsburg.


Erst, als sie einen der zwei Brunnen auf dem Petersplatz erreichte, hielt Hanna an. Ben war ihr schweigend gefolgt. Er versuchte zu verarbeiten, was er für einen Moment wie eine Vision vor sich gesehen hatte: eine junge Frau, von Angst darüber erfasst, was ihr bevorstand. Die niederkniete, ihr Haupt senkte, bereit für die Axt des Henkers. Den metallischen Geruch des Bluts in der Nase, dort, wo kurz zuvor die Stiefmutter ihren Kopf verloren hatte. Ben kannte diesen Geruch von frischem Blut. Wie konnten Worte aus Hannas Mund so lebendig werden? Sein Geist wandte sich der Gegenwart zu, als sein Magen sich vor Hunger schmerzhaft zusammenzog.

»Darf ich dich zum Essen einladen?« Er wusste, dass Hannas Mittel äußerst begrenzt waren. Allerdings machte er sich keine Hoffnung, dass sie seine Einladung annahm. Sie wollte ihm nichts schuldig sein, auch das wusste er. Aber sein Magen knurrte. Sie schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Stufen des Brunnens und deutete auf eine Stelle neben dem Rucksack. Gehorsam setzte er sich. Aus ihrem Rucksack kamen nach und nach Brote, Äpfel und Bananen zum Vorschein sowie eine Flasche Wasser. Genug für sie beide. Er betrachtete das Essen, das sie vor ihnen ausgebreitet hatte.

»Isst du immer so viel?«

»Nein.«

»Du hast mit mir gerechnet? Du wusstest, dass ich auf dich warte?«

Ihre Augen streiften flüchtig sein Gesicht. Sie rückte ein wenig von dem Rucksack ab und entfernte sich so ein Stück von ihm. »Ich hatte so eine Ahnung, nachdem ich dein Geschenk ausgepackt hatte. Übrigens danke, auch wenn es mir schon gehörte. Hast du es Marie geklaut?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil sie es dir freiwillig niemals gegeben hätte.«

In der Tat war er vor einigen Monaten in das Haus von Marie eingebrochen, als er seine Schwester besuchte. Warum er das machte, hatte er damals selbst nicht verstanden. In dem zweiten Raum im Keller hatte er die Überreste von Hannas Habseligkeiten gefunden. Die wenigen Möbel aus der Wohnung und ein paar Kartons mit ihren Sachen, ordentlich beschriftet – die erste Ähnlichkeit, die er bei den Schwestern feststellen konnte. Es stellte für ihn eine Kleinigkeit dar, zu finden, wonach er suchte – das Buch ihres Vaters mit den Fotos. Sorgsam hatte er alles andere wieder in den Kartons verstaut. Seitdem hatte er das Buch mit sich herumgeschleppt – ein Stück von Hanna, etwas, das ihr viel bedeutete, von einem Menschen, der sie geliebt hatte.

Während sie aßen, ließ Ben seinen Blick über den Petersplatz schweifen, der voll mit Touristen war. In der Mitte stand ein Obelisk. Der Platz selbst war eingerahmt von Kolonnaden, auf denen an die drei Meter hohe Statuen standen. Ein beeindruckender Anblick. Er sah die Videokameras, die den Platz überwachten, und fragte sich, ob sie gerade gefilmt wurden. Der Vatikan war, soweit er wusste, ein selbstständiger Staat in Italien mit eigenen Polizeikräften. Hier befand sich die Machtzentrale der christlichen Kirche, deren Einfluss weit in die Welt reichte. Er war diesem Machtzentrum noch nie so nah gewesen. »Ein Obelisk im Zentrum des Platzes. Ziemlich ungewöhnlich, ich würde hier eher ein Kreuz erwarten.«

»Kriegsbeute der Römer.«

»Auf einem christlichen Platz ein Machtsymbol des alten Ägypten zu sehen, besitzt eine gewisse Ironie.«

Hanna zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht die einzige Beute aus anderen Religionen und Kulturen. Das Vatikanmuseum ist voll davon, und niemand kennt alle Stücke.«

Ben schaute amüsiert. »Du trägst das Kreuz, hast dich in einem Kloster vergraben, hältst dich an die Zehn Gebote und sprichst so respektlos von der Machtzentrale deines Glaubens?«

Hanna nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. »Petrus war der Fels, auf dem Jesus seine Kirche baute. Vielleicht ist seine Wahl nicht besonders klug gewesen.«

Etwas an dem Klang ihrer Stimme verursachte ihm ein unangenehmes Prickeln. Ihre Worte schienen heute auf seltsame Weise mit der Vergangenheit verwoben zu sein. Ben schüttelte den Kopf über seine Gedanken und Gefühle.

Der Tag verlief anders, als er es erhofft und erwartet hatte. Statt Nähe konnte er deutlich Distanz spüren, die sich zwischen ihnen aufbaute. Er betrachtete Hanna, die, einen angebissenen Apfel in der Hand haltend, ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegenhielt. Trotz ihrer Anspannung wirkte sie mit sich selbst im Reinen, anders als letztes Jahr. Er war sich immer noch nicht sicher, ob sie in Norwegen, als sie in den See gesprungen war, die Absicht gehabt hatte, Selbstmord zu begehen. Oder hatte sie damals wirklich eine Vision ihrer selbst als Sechzehnjährige gehabt, die sie hatte retten wollen? Ihre Hand war im Seegras festgekrallt gewesen in dem Versuch, es herauszureißen, als er sie hochzog.

Die Anstrengung vom Laufen machte sich bemerkbar. Ben griff in seine Jackentasche, holte eine Tablette hervor und schluckte sie mit einem kräftigen Schluck Wasser herunter. Aus ihrem Rucksack holte er sich einen Apfel und fing an, ihn langsam zu essen. Eine Gruppe japanischer Touristen lief an ihnen vorbei, die ihre Kameras gezückt hielten und Fotos von dem Platz schossen. Es war schön, hier in der Sonne zu sitzen, das Plätschern des Brunnens im Hintergrund, Hanna zwei Meter von sich entfernt. Wie sollte er sie fragen, was er sie fragen wollte? »Ego sum lux mundi. – Ich bin das Licht der Welt.« Diese Worte hatte sie zu ihm gesagt, als ihm keine Antwort auf ihre Erkenntnis von »Ich liebe dich« einfiel. Er hatte an diese Worte nicht mehr gedacht, bis zu dem Tag, als er im Krankenhaus aus dem Koma aufwachte. Zwei seiner Männer hatte er verloren. Ein Einsatz wie jeder andere, nur – diesmal lief alles schief. Auf Kugeln waren sie vorbereitet gewesen. Nicht auf Messer. Er konnte noch fühlen, wie das Messer sich durch die Schutzweste in seine Taille bohrte. Es hatte nicht einmal wehgetan. Zu seinem Glück glitt das Messer dem Angreifer bei seiner ersten Gegenwehr aus der Hand. Leutnant Dirk Richter und Oberleutnant Ralf Mader hatten dieses Glück nicht gehabt. Sie waren beide tot. Nein, etwas war bei dem Einsatz gewaltig fehlgelaufen und er würde herausfinden, was es gewesen war. Er hatte die Verantwortung getragen. Ben fühlte, wie sich Übelkeit langsam anschlich und seinen Magen hochkroch. Kalter Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. Der Apfel fiel ihm aus der Hand.


Von dem Geräusch des auf den Boden fallenden Apfels aufgeschreckt, öffnete Hanna die Augen. Ben saß mit glasigen Augen da, sein Gesicht weiß wie eine getünchte Wand. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Ben, alles klar mit dir?«

Was für eine dämliche Frage, dachte Hanna. Er antwortete ihr nicht. Um seine Lippen zog sich ein weißer Rand. Hastig sprang sie auf, schnappte sich seinen Rucksack, der neben ihm stand, und holte sein Handy heraus.

»Was hast du vor?«, stöhnte er.

»Einen Notarzt rufen.«

Er packte mit für seinen Zustand erstaunlicher Kraft ihr Handgelenk. »Das wirst du nicht tun.«

»Oh doch, schau dich mal an.«

»Das ist nur die Tablette.«

»Die Tablette?«

»Ja, ich habe die falsche genommen. Gib mir einen Moment.«

Skeptisch musterte ihn Hanna. Ein wenig Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, dennoch sah er beunruhigend geschwächt aus. Ihr war klar, dass Ben gesetzliche Grenzen überschritten haben musste, um sie zu finden. Genauso wusste sie, dass sein Oberst keine Ahnung davon hatte, dass er hier bei ihr war. Wenn er log, zeigte er keine Emotionen. Das verriet ihn. Sie wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen und sie wollte – nein musste – wissen, weshalb er hier war.

»Kannst du ein Taxi organisieren und mich in mein Hotel zurückbringen?«

Sie nickte, warf ihm einen letzten Blick zu und machte sich auf den Weg, ein Taxi zu suchen.

5

Sehnsucht

Seine Pension lag nicht weit vom Petersplatz entfernt. Hanna hatte der Zwanziger wehgetan, den sie aus ihrer Geldbörse zückte, um den Taxifahrer zu bezahlen. Sie hatte ihren Arm um Bens Taille geschlungen und ihn die Treppen in den ersten Stock hoch gestützt. Er lag auf dem Bett, einem Bett mit Himmel. Überhaupt besaß die Pension einen individuellen Charme. Das Zimmer war überschaubar: ein kleiner Sekretär, ein Stuhl mit Brokatbezug und dieses Himmelbett mit vier geschnitzten Säulen und einem leichten, an den Pfosten festgebundenen Vorhang. Direkt links neben der Zimmertür befand sich die Tür zum Bad. Sie ließ sie offen, damit sie Ben hören konnte, wusch sich die Hände und das verschwitzte Gesicht. Nicht nur hatte sie Ben gestützt, sondern auch beide Rucksäcke getragen. Als er sich zufrieden lächelnd auf das Bett hatte fallen lassen, kam ihr für einen Moment der Gedanke, ob das ein Trick von ihm gewesen war, um sie in sein Zimmer zu locken. Aber nein, die Blässe in seinem Gesicht und das Zittern seiner Hand, als er die Wasserflasche vom Nachttisch an den Mund führte, hatten ihr gezeigt, dass er ihr nichts vorspielte.

Auf ihre Frage, ob sie irgendetwas für ihn tun könne, hatte er den Kopf geschüttelt und geantwortet: »Nein, gib mir einfach einen Moment Zeit.«

Tausend Fragen schwirrten in Hannas Kopf herum. Warum war er hier? Weshalb schluckte er Tabletten? Wieso war er nicht in der Lage, mit ihr Schritt zu halten? Sie starrte in ihr Gesicht im Spiegel. Ihre Augen waren mit dieser grünen Farbe einfach nur gruselig. Aus dem Rucksack holte sie das Kästchen und gab Reinigungsflüssigkeit hinein. Sie entfernte die Kontaktlinsen. Schon besser, jetzt sahen ihr ihre eigenen Augen aus dem Spiegel entgegen. Tiefe Falten standen auf ihrer Stirn. Sie lauschte angestrengt auf die Geräusche im Nebenzimmer. Bens Atem ging gleichmäßig, aber flach. Ihr Blick im Spiegel blieb auf einem Fleck auf ihrem T-Shirt hängen. Das T-Shirt hatte sie heute Morgen frisch aus dem Schrank geholt. Entschlossen, wenigstens diesem Problem an den Kragen zu gehen, zog sie es aus und drehte den Wasserhahn auf. Als das Wasser durch den Stoff floss, färbte es sich rosa. Erschrocken ließ sie das T-Shirt ins Waschbecken fallen und machte das Wasser aus. Ihre Finger zögerten, als sie sich dem Fleck näherten. Sie tupfte mit der Fingerspitze darauf, betrachtete den hellrosafarbenen Wassertropfen und hielt ihn sich unter die Nase.


»Verdammt noch mal, Ben, ich habe Blut an meinem T-Shirt!«

Ihre erboste Stimme riss Ben aus dem Dämmerschlaf, in den er geglitten war. Er öffnete die Augen und starrte Hanna an, die mit bis auf den BH nacktem Oberkörper vor seinem Bett stand, den rechten Zeigefinger drohend erhoben hielt und ihn mit funkelnden blauen Augen anvisierte. Ihr Anblick erstickte jeden vernünftigen Gedanken in seinem Kopf im Keim. Sein von Schmerzen und Übelkeit benebeltes Gehirn setzte schlicht und ergreifend aus.

»Beantworte gefälligst meine Frage! Warum habe ich Blut auf meinem T-Shirt?«

»Zieh dir was an.«

»Bitte?«

»Du hast mich richtig verstanden. Zieh dir etwas an.«

Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Er ließ den Blick langsam über ihren Oberkörper gleiten. Ihre Augen folgten seinen. Sie sah an sich herunter.

»Ach verflucht, das kann jetzt nicht dein Ernst sein.« Sie sah sich im Raum um, und ihr Blick erfasste seine Tasche auf der Bank neben dem Kleiderschrank. Hanna holte sich eines seiner schwarzen T-Shirts heraus und zog es über.

Doch sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich von einer einmal gestellten Frage ablenken ließen, und ihr Blick verhieß nichts Gutes. Er stütze sich mit den Armen ab, wartete, bis der Schwindel nachließ, bevor er sich komplett aufrichtete und die Füße auf den Boden stellte. Er packte den Rand seines T-Shirts. Dass seine Wunde aufging, hatte ihm gerade noch gefehlt. Er kam nicht dazu, das T-Shirt hochzuziehen. Hanna hockte sich vor ihn. Ihre Hände fassten den Rand des Stoffs, und vorsichtig schob sie die rechte Seite hoch. Er hob den Arm und zog ihn aus dem Ärmel. Ihre Hände berührten seine Brust, als sie den Stoff sachte von der linken Seite zog. Er zuckte ein wenig zusammen, dann lag sein T-Shirt auf dem Boden.

»Woher wusstest du, dass es die linke Seite ist?«

Sie schwieg, presste die Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Nur eine kleine Fläche am unteren Rand der Wunde blutete. Das Pflaster war an der Stelle mit Blut durchtränkt. Mit den Fingerspitzen tastete sie vorsichtig um die Wunde herum die Haut ab, suchte sorgfältig nach Anzeichen einer Entzündung. Tiefe Falten lagen auf ihrer Stirn. Ihre Wangenknochen traten hervor und die Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. Ben konnte seinen Blick nicht von ihrem konzentrierten Gesicht lösen.

»Tut es weh?«

»Ein bisschen.«

Sie hob den Blick. »Wo?«

Er zeigte auf den schmerzenden Bereich. Ihre Augen richteten sich wieder auf die Verletzung.

»Ich möchte das Pflaster abnehmen. Hast du neues Verbandsmaterial?«

»In meiner Tasche.«

Der Arzt aus dem Militärkrankenhaus hatte ihm einiges an Verbänden, Pflastern und Salben mitgegeben. Warum, war Ben nicht bewusst gewesen, aber jetzt war er dankbar dafür.

Hanna stand auf und ging zu seiner Tasche.

»Rechts.«

Sie machte den Reißverschluss der rechten Seite auf und kam mit dem Verbandsmaterial zurück, kniete sich vor ihn und knibbelte eine Ecke des Pflasters hoch, bis sie es gut fassen konnte. Er ahnte, was sie vorhatte, doch bevor er sie daran hindern konnte, riss sie das Pflaster weg. Er schrie auf. Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

»Bist du wahnsinnig?«, pflaumte er sie an.

»Nein, aber du. Kannst du mir sagen, weshalb du mit so einer Wunde mit mir durch halb Rom rennst?«

Er schwieg. Sie nahm ein Stück Verbandswatte, sprühte das Desinfektionsspray darauf und entfernte das Blut auf seiner Haut. Sie arbeitete sanft, bis sie die Stelle an der Naht erreichte, an der Blut heraustrat. Die Stelle war so lang wie die Kuppe ihres kleinen Fingers bis zum Gelenk. Es schien, als hätten sich Fäden aus der Haut gelöst.

»Hat das Lisa gemacht?«

Überrascht sah er sie an. Sie hatte seine Schwester nie kennengelernt, wenigstens nicht bewusst. Als er sie damals zu Lisa brachte, war sie dem Tod näher gewesen als dem Leben. Ein sauberer Schnitt, von Hannas Schwager mit einem Messer ausgeführt, hatte ihr Blut zwar langsam, aber stetig aus ihrem Körper fließen lassen. Er erinnerte sich an ihr Gespräch im Auto, als er versucht hatte, sie wachzuhalten. Damals hatte sie ihn über seine Schwester ausgefragt.

»Und?«

Sie sah ihn fragend mit undurchdringlichem Blick an. Er schüttelte den Kopf.

»Habe ich mir gedacht. Das hier muss sich jemand anschauen, der Ahnung von solchen Dingen hat.«

»Mach Salbe drauf und ein Pflaster.«

»Ich hatte nicht vor, es offen zu lassen.«

Ihre Hände auf seiner Haut. Ihr Geruch nach Sonne, ein Hauch von Rosen und Apfel in seiner Nase. Die Wärme ihres Körpers. Das Tageslicht, das sie umrahmte. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Woher wusstest du, dass ich auf der linken Seite verletzt bin?« Er nahm selbst die Heiserkeit in seiner Stimme wahr. Verflucht, er musste seine Empfindungen kontrollieren.


Hanna konzentrierte sich auf die Behandlung der Wunde. Sie nahm ein weiteres Stück Watte und entfernte den Kleber des alten Pflasters von Bens Haut. Behutsam bewegten sich ihre Finger über seine Seite. Trotz aller Sorgen genossen es ihre Hände, seinen Körper zu berühren, sehnten sich nach mehr. Sie überlegte, was sie ihm sagen sollte. Die Nacht, die tief in ihr Gedächtnis eingebrannt war, hatte ihr deutlich vor Augen gestanden, als ihre Nase den Geruch von Blut erfasst hatte. Aber wie sollte sie ihm das erklären? Dass sie von ihm geträumt hatte? Wie lange war das her, acht Tage? Vierzehn? In der Dunkelheit, ein funkelndes Messer, das sich durch seine linke Seite bohrte. Den Nachhall ihres Entsetzens spürte sie deutlich, wenn sie die Wunde ansah. Im Traum hatte sie die Hand des Mannes gepackt und sie festgehalten. Ben hatte seine Ellenbogen in den Unterleib seines Angreifers gerammt und wenige Sekunden später hatte dieser mit gebrochenem Genick auf dem Boden gelegen, während Ben sein Bewusstsein verlor. So weit ihr Traum.

Sie konzentrierte sich auf das Pflaster in ihrer Hand und löste das Schutzpapier. Als sie im Bad das Blut gerochen hatte, wusste sie, dass seine linke Seite verletzt war. Wie konnte es sein, dass sie etwas träumte, was wirklich passiert war? Nein, es war bestimmt nicht in dieser Weise vorgefallen. Es konnte nicht sein. Wie sollte sie ihm eine Antwort geben auf etwas, das sie selbst nicht verstand, ohne ihm Angst zu machen, wenn ein »Ich liebe dich« dazu führte, dass er in Panik geriet? Was würde dann erst ein »Wir sind füreinander bestimmt, ob du es willst oder nicht« in ihm auslösen? Nein, das waren genauso wenig die richtigen Worte. Es war mehr, so viel mehr.

»Hanna!«

»Mein T-Shirt hat an der rechten Seite einen Blutfleck. Ich habe dir die Treppe hochgeholfen, indem ich deine linke Seite gestützt habe.«

Er schwieg, und sein Blick kehrte sich nach innen, als würde er das, was sie gesagt hatte, vor seinen Augen als Film abspulen. Hannas Herz fing an zu klopfen.

»Stimmt. Du hast recht.«

Sie klebte das Pflaster über die Wunde, auf der sie zuvor reichlich antibiotische Salbe verteilt hatte. Der Schnitt war nicht lang, nicht so wie bei ihr damals, dafür aber viel tiefer. Vielleicht waren sogar innere Organe betroffen. Oh Gott, sie wünschte sich, Lisa wäre hier. »Wieso nimmst du falsche Tabletten?«

»Wieso kannst du eine Wunde so gut behandeln?«

Sie sah ihn an und konnte nicht verhindern, dass ein Lächeln sich auf ihren Lippen ausbreitete. Es spiegelte sich in seinem Gesicht. Fragen mit Gegenfragen beantworten – das alte Spiel. »Wenn du in der Wildnis unterwegs bist, solltest du Ahnung von so etwas haben. Ist nicht so prickelnd, eine verunreinigte Wunde zu haben, wenn das nächste Dorf Kilometer entfernt ist.«

»Du bist nicht mehr in der Wildnis unterwegs.«

»Nein.« Die Tatsache laut ausgesprochen zu hören, tat weh. Sie fragte sich, wann sie es packen würde, ihr altes Leben zu vergessen und das neue anzunehmen.

»Vermisst du es?«

»Ja.« Sie sah ihn auffordernd an. Die Reihe war an ihm, ihre Frage zu beantworten.

»Ich hatte blöderweise noch in der Jackentasche eine von den falschen Tabletten und nicht drauf geachtet, als ich sie vorhin nahm.« Er machte eine Pause. »Ich war abgelenkt.«

Hanna legte den Kopf schief und grinste ihn mit einem Anflug von Galgenhumor an. »Ich hoffe, es war keine Tablette von Medicare.«

Er lachte tatsächlich, hielt inne und verzog das Gesicht. Lachen tat natürlich weh mit so einer Wunde. Dann wurde sein Ausdruck wieder ernst.

»Nein. Ich bin gegen Penicillin allergisch.«

»Hast du noch etwas anderes dabei? Ich weiß nicht, ob es reicht, wenn wir die Wunde nur von außen behandeln.«

»Schau mal im Bad, ich bin mir nicht sicher.«

Als Hanna aus dem Bad kam, hatte Ben sich seine Hose ausgezogen und war ins Bett unter das dünne Laken mit der Wolldecke geschlüpft. Sie setzte sich auf die freie Seite an den Rand des Betts. In seinem Necessaire befanden sich nur zwei verschiedene Arten von Tabletten in einer Schutzhülle. Eine Verpackung hatte sie nicht finden können. Unsicher hielt sie die Tabletten in der Hand. Er zeigte auf die größere von beiden. Sie sah ihn zweifelnd an. »Bist du dir sicher?«

»Ja.«

»Also gut.« Hanna drückte die Tablette aus der Verpackung und reichte sie ihm mit der Wasserflasche. Er warf sie in den Mund und schluckte sie herunter. Hanna nahm die Flasche zurück. Sie musste gehen, bevor es zu spät war und sie keine Kraft mehr dafür hatte. Er schien ihre Gedanken zu ahnen und hielt ihre Hand fest.

»Bitte bleib.«

Sie starrte seine Hand an, schüttelte den Kopf.

»Wenigstens, bis ich eingeschlafen bin und du sicher sein kannst, dass es mir gut geht.«

Mistkerl. Verfluchter, elender Mistkerl, dachte sie wütend. Er wusste genau, welche Worte er sagen musste, nutzte gnadenlos ihre Gefühle ihm gegenüber aus. Nie hätte sie ihm sagen dürfen, dass sie ihn liebte. Aber die Worte waren so überraschend als Erkenntnis in ihrem Sein aufgetaucht, wie die Sonne sich an dem Morgen ihren Weg über den Berg gebahnt hatte. Sie entflohen einfach ihrem Mund, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich über die Konsequenzen dieser laut ausgesprochenen Worte Gedanken zu machen. Sie zog sich die Turnschuhe aus, streckte sich auf dem Bettrand aus, sodass der weiteste Abstand zwischen ihnen entstand, der in dem Bett möglich war. Er schmunzelte.

»Du brauchst keine Angst haben. Dazu wäre ich nicht in der Lage, auch wenn du nackt vor mir liegen würdest.«

Sie grinste zurück, ging auf seinen leichten Ton ein. »Das hörte sich vor einem Augenblick noch anders an. Außerdem dachte ich, Männer könnten immer.«

»Mythos«, murmelte Ben.

»Und warum musste ich mir vorhin etwas anziehen?«

Er streckte seine Hand aus und legte sie auf halbem Weg zu ihr auf die Bettdecke.

Sie starrte darauf, zögerte. Es würde keinen Schaden anrichten, oder? Sie legte ihre Hand auf seine und umschloss sie mit den Fingern.

»Schlaf«, befahl sie ihm leise.

»Deine Augen sind in Blau viel schöner.«

»Schlaf.«

»Weißt du, dass sie manchmal wie Saphire funkeln?«

»Schlaf.«

»Wenn sie so funkeln, bist du wütend.«

»Dann schau jetzt mal genau hin.«

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Seine Augenlider fielen zu. Zwei Minuten später zeigten seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge, dass Ben eingeschlafen war. Sie löste ihre Hand nicht von seiner. Das Lächeln von eben lag noch immer auf seinen Gesichtszügen, gaben ihm einen weichen Ausdruck, einen, den Hanna nur von Momenten her kannte, wenn er mit ihr geschlafen hatte. Nein, sie wollte nicht daran denken. Wann war es passiert, dass er sich so in ihr Herz geschlichen hatte? Nie war früher je ein Verlangen oder nur der Gedanke an Sex in ihrem Bewusstsein aufgetaucht. Schon in Afrika hatte er ihre über Jahre aufgebauten Mauern eingerissen. Einfach so. Mit seinen Worten, mit seinem Mitgefühl, mit seiner Beherrschtheit und Kontrolle. Er hatte sich von ihr erobern lassen, aber nein, nein, das stimmte nicht. Seine Worte waren es gewesen: »Es tut mir leid, aber ich habe jemandem versprochen, die Hände von dir zu lassen.« Er hatte es versprochen und er hielt sich an sein Versprechen. Hatte sie das bewogen, ihre persönliche Grenze zu überschreiten? Nein, da gab es noch etwas, vor dem sie Angst hatte, es sich selbst einzugestehen, weil es sich so völlig außerhalb ihrer Kontrolle befand. Ben besaß eine Anziehungskraft wie ein Magnet, und kam sie ihm zu nahe, schaffte sie es nicht mehr, sich dieser zu entziehen. Reine Physik. Sie grinste über ihren Versuch, dem Gefühl eine wissenschaftliche Richtung zu geben, löste ihre Hand von seiner und richtete sich auf. Sie musste gehen – für ihr eigenes Seelenheil, denn wenn er hatte, was er wollte, würde er sich umdrehen und verschwinden, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Sie fasste an den Kreuzanhänger, den er ihr geschenkt hatte. Ob er auch nur ansatzweise eine Ahnung hatte, wie viel ihr sein Geschenk bedeutete? Es verband sie auf eigenartige Weise mit ihm. Sie runzelte die Stirn. Norwegen – der Helikopter. Sie hatte sich umgedreht und ihn verlassen, ohne ein weiteres Wort. Er war zurückgeblieben. Sein Gesicht erschien ihr unendlich blass in den Kissen. Auf der Haut oberhalb des Pflasters zeigte sich ein breiter roter Streifen, der sich warm anfühlte. Was, wenn er eine Infektion bekam? Sie würde doch noch ein Weilchen bleiben. Nur so lange, bis sie sicher war, dass es ihm besser ging. Hanna zog sich einen Stuhl heran, holte ihr Notizbuch hervor und begann zu zeichnen.


Ben wachte auf. Er hatte so tief und fest geschlafen wie seit Monaten nicht, einen erholsamen Schlaf ohne obskure Albträume. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Hanna. Gleichzeitig spürte er ihre Hand, die auf seiner lag und sie umschlossen hielt, so wie er eingeschlafen war. Er lächelte, betrachtete die feingliedrige Hand, in der so viel Kraft lag. Ihre Berührung gab ihm Ruhe und spendete Trost. Auf eine seltsame Art fühlte sich die Last, die ihn nach Rom geführt hatte, leichter an. Zwei Männer, für deren Tod er die Verantwortung trug. Aber hier neben ihm lag ein Mensch, der ihm sein Leben verdankte. Ihre Züge waren völlig entspannt, der Mund leicht geöffnet, Speichel tropfte auf das Kissen. Es störte ihn nicht. Es gab ihrem Gesicht ein kindliches Aussehen. Die Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, ihre Augenbrauen fuhren kurz über der Nasenwurzel zusammen, und sie runzelte die Stirn. Dann glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er fragte sich, wovon sie träumte. Ihm war noch nie bewusst gewesen, dass ein Mensch beim Träumen seine Mimik veränderte. Es war spannend, Hanna beim Schlafen zu betrachten. Er drehte seine Hand, die unter ihrer lag, um auf seine Uhr zu schauen, und sofort schlossen sich ihre Finger fester um seine Hand, hielten ihn fest. Dieser Reflex löste eine Flut von Emotionen in ihm aus.

Er hatte eine Riesendummheit begangen, einfach in ein Flugzeug zu steigen und nach Rom zu fliegen. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Nichts. Rein gar nichts, Ben Wahlstrom, schalt er sich selbst. Wonach suchte er hier? Hatte er gedacht, sie würde ihm sagen: Ja ich war es, die dich nicht ins Licht hat gehen lassen, als du es wolltest, weil es mein Licht ist, dem du folgen sollst? Es hörte sich so lächerlich an. Nein, es war lächerlich. Sein Gehirn hatte ihm einen Streich gespielt, als es nicht wusste, ob es ihn sterben oder leben lassen sollte. So einfach lautete die Erklärung. Es hat nichts, rein gar nichts mit Hanna zu tun. Er hatte seine Mutter gesehen, so deutlich, dass er die Hand nach ihr hätte ausstrecken können, um sie zu berühren. Sie hatte gelächelt und ihn mitnehmen wollen. Aber da legte sich eine andere, schmale, kräftige Hand in seine, die ihn festhielt. Festhielt im Leben, im Schmerz, dem er sich stellen musste, wenn er seiner Mutter nicht folgte. Und als er sich umdrehte, hatte er Hanna gesehen. Hanna, ganz dunkel, nur mit einer schwach leuchtenden Aura um sich herum. Kalt im Gegensatz zu dem hell leuchtenden, warmen Licht, das seine Mutter umgab. Das Lächeln seiner Mutter hatte sich verändert. Sie hatte an ihm vorbeigesehen, so als könnte sie Hanna sehen, und nach und nach verblasste sie. Mit ihr ging das Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Als Ben die Augen geöffnet hatte, lag er im Krankenhaus. Jemand war hereingekommen, hatte sich über ihn gebeugt und gelächelt.

»Schön. Sie sind aufgewacht.«

Die Realität war mit aller Heftigkeit über ihn hereingebrochen. Zwei Männer aus seiner Gruppe waren tot. Der Angriff hatte sich auf die Deutschen konzentriert, obwohl Amerikaner an der heikelsten Stelle eingesetzt worden waren. Sie hatten mehr Erfahrung mit solchen Einsätzen und zögerten im Gegensatz zu den Deutschen nicht, zu töten. Das hatte ihr gemeinsamer Auftrag in Afghanistan gezeigt. Damals hatte die deutsche KSK-Einheit ihre Position aufgegeben, nachdem ein Ziegenhirte sie entdeckt und damit die gesamte Aktion der Amerikaner gefährdet hatte. Es hatte einige Diskussionen mit den Amerikanern gegeben, die in so einem Fall die Zivilperson eliminiert und als unvermeidbaren Kollateralschaden angesehen hätten. Anders die Deutschen, die das Leben der Zivilperson über die Erreichung ihres Ziels setzten.

Seine Wunde hatte ihn an Hannas Verletzung erinnert, und mit dieser Erinnerung kam das Gefühl zurück, dass sie ihnen etwas verschwiegen hatte. Seitdem haftete die Frage in seinem Hirn, ob sie hinter ihrem Schweigen etwas verbarg, was mit dem schiefgelaufenen Einsatz zu tun hatte. Als er seinen Rückflug nach Berlin organisierte, war ihm der Gedanke noch völlig logisch erschienen, aber jetzt kam er ihm absurd vor.

Er hätte nicht hierher kommen dürfen. Ein Zeuge in einem Zeugenschutzprogramm durfte keinen Kontakt mit Menschen aus seiner Vergangenheit haben. Vorsichtig und ohne seine Hand weiter zu bewegen, die unter ihrer lag, aktivierte er mit der Rechten sein Licht für die Uhr. Vier Uhr morgens. Er hatte vierzehn Stunden am Stück geschlafen. Kein Wunder, dass er sich so erholt fühlte. Er schob den rechten Arm wieder unter seinen Kopf und betrachtete Hanna, die immer noch am Rand des Betts lag, so weit wie möglich von ihm entfernt. Kluges Mädchen, dachte Ben im Stillen. Sein Blick fiel auf sein T-Shirt, das sie trug, und wanderte weiter. Hanna hatte ihre Hose ausgezogen und lag mit einem Teil ihres Körpers und einem Bein unter dem Laken und der Wolldecke. Das andere Bein lag darüber. Seine Augen folgten der Linie ihrer Taille, bis zu der das T-Shirt hochgerutscht war, glitten über die Rundung ihres Pos, der in einer praktischen, schnörkellosen Panty steckte, zu ihrem Bein, das sie leicht angewinkelt hatte. Er brauchte nur ein Stück vorzurücken und seine Hand aus ihrer zu lösen, dann könnte er dieser verführerischen, süßen Linie mit seinen Fingern folgen.

Millimeter für Millimeter, mit unendlicher Geduld, die gewöhnlich seine Arbeit auszeichnete, befreite er seine linke Hand von ihrem Griff, woraufhin Hannas Finger sich zu einer Faust ballten. Zentimeter für Zentimeter zwang sich Ben, aus dem Bett zu rutschen, weg von der Frau, die sich so vertrauensvoll in sein Bett gelegt hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit betrachtete er sich grimmig im Badezimmerspiegel. Wenigstens war es ihm diesmal gelungen, die Grenze nicht zu überschreiten.


Die Helligkeit im Zimmer holte Hanna aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf, und ihr Blick fiel auf das leere Bett neben ihr. Ihre Finger, die beim Einschlafen seine Hand umschlossen gehalten hatten, krallten sich jetzt ins Bettlaken. Ein Gefühl von Einsamkeit breitete sich in ihr aus, nahm ihr die Luft zum Atmen. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Abrupt richtete sie sich auf.

»Guten Morgen.«

Sie drehte sich zu der Stimme hinter ihrem Rücken um. Dort saß Ben im Schneidersitz auf dem Boden an der Wand. Auf seinen Beinen lag ihr geöffnetes Notizbuch. Seine Augen richteten sich auf ihr nacktes Bein, das über der Decke lag. Hastig ließ sie es unter der Decke verschwinden und zog die Konstruktion von Laken und Wolldecke höher. Den Schalk in den Augen, ließ er seine Brauen in die Höhe wandern. Hannas Blick ging suchend über den Boden. Ihre Hose lag ordentlich zusammengefaltet direkt neben seinem Knie. Verdammt, wieso hatte sie die überhaupt ausgezogen? Sie riss an dem Laken, um es unter dem Bett hervorzuzerren, doch das funktionierte nicht. Es war einfach zu weit unter die Matratze gestopft. Sie hörte sein ersticktes Lachen. Erbost stieg sie aus dem Bett, griff sich Hose und Rucksack und schnappte sich ihr Notizbuch aus seinem Schoß.

»Musst du immer in den Sachen von anderen Leuten rumschnüffeln?«, knurrte sie ihn an.

Erst als sie im Bad den Schlüssel umgedreht hatte, gestattete sie es sich zu grinsen. Er war nicht abgehauen! Er war geblieben, hier bei ihr.


Ben hörte, wie die Dusche anging und Hanna anfing, leise etwas zu summen. Langsam erhob er sich, setzte sich auf das Bett, das noch die Wärme von Hannas Körper abstrahlte. Er nahm ihr Kissen, knüllte es vor seiner Brust zusammen und steckte die Nase hinein. Er gönnte sich diesen intimen Moment mit ihr. Es fühlte sich an, als würde er sie selbst in seinen Armen halten. Erst hatte er ihr Notizbuch im Schein seiner Taschenlampe betrachtet. Dann, als es im Zimmer heller geworden war, im Licht der Morgensonne. Seite für Seite hatte er ihre Zeichnungen betrachtet, darunter eine Madonnenfigur, den toten Sohn auf dem Schoß haltend, Engel in verschiedenen Varianten, Kirchen, Brunnen und eine Brücke, die irgendwo in Rom über den Tiber führte. Er hatte eine Zeichnung vom Erzengel Michael auf der Engelsburg gefunden, wo sie gestern gemeinsam gewesen waren, und zuletzt eine von sich selbst beim Schlafen. Langsam stand er auf und fing an, das Bett zu machen. Routine. Er war hier in einem Hotel, es wäre nicht notwendig gewesen. Er holte seine Tasche, stellte sie auf das gemachte Bett, und begann seine Sachen einzuräumen. Er würde heute abreisen, weiterfliegen zu seinem ursprünglichen Ziel: Lisa in Berlin. Seine Wunde tat immer noch höllisch weh, und er wusste, dass es vernünftiger war, wenn er einen Arzt einen Blick darauf werfen ließ.

Es wäre einfach gewesen, in den frühen Morgenstunden zu verschwinden und Hanna allein im Zimmer zu lassen. Sie wäre mit der Situation klargekommen, so, wie sie mit jeder Situation in ihrem Leben zurechtkam, wenn er an das dachte, was ihr in ihrem Leben passiert war. Doch er wollte sie diesmal nicht verlassen, ohne wenigstens den Versuch einer Erklärung zu machen. Er wollte ihr erklären, dass, wenn es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, für den er Liebe empfinden konnte, sie dieser Mensch war. Nun ja, er musste sich wohl eine andere Formulierung einfallen lassen. Er verfügte nicht gerade über Geschick in solchen Dingen. Bisher hatte er es immer den Frauen überlassen, ihn aus ihrem Leben zu werfen. Ben verstrickte sich nicht gern in irgendwelche Gefühle, die kompliziert werden konnten. Egal, wie offen eine Frau einer Beziehung am Anfang gegenüberstand, irgendwann wollten sie alle mehr. Aber er gehörte nicht zu den Männern für mehr. Er hatte vor langer Zeit seinen Lebensweg gewählt. Niemand hatte ihn dazu gezwungen. Seine Wahl hatte er aus purer Überzeugung getroffen. Hanna hingegen zählte zu den durch und durch komplizierten Frauen. Nichts an ihr war einfach. Selbst beim Sex verkomplizierte sie alles, denn es blieb mit ihr nicht bei dem simplen körperlichen Akt, der für Vergnügen und Entspannung sorgte. Nein, sie verschlang ihn mit Haut und Haar und ...

Er zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Im Bad trat Stille ein.

»Si?«

»Major Wahlstrom, sind Sie da drinnen?«

Als er Oberst Hartmanns Stimme hörte, fror Ben in seiner Bewegung ein. Das war nicht möglich. Der Oberst war in Nairobi und analysierte gemeinsam mit anderen Einheiten, was genau zum Tod seiner zwei Männer geführt hatte. Halluzinierte er?

»Major Wahlstrom? Sind Sie da drinnen?«

Die Stimme wurde eine Spur ungeduldiger. Es gab keinen Zweifel, vor seiner Tür stand Oberst Hartmann. Hastig sah Ben sich um. Das Bett war gemacht, der Rucksack mit Hannas Sachen und sie selbst waren im Bad eingeschlossen. Er musste nur zusehen, dass er den Oberst aus seinem Zimmer raushielt, am besten komplett mit ihm aus dem Hotel verschwand, damit Hanna Gelegenheit bekam, sich in Luft aufzulösen. Wenn der Oberst merkte, dass Hanna sich in seinem Zimmer aufhielt ...

Ben rieb sich sein unrasiertes Kinn.

»Schließen Sie die Tür auf.«

Stille.

»Sofort!«

Ben hörte eine ängstliche weibliche Stimme. »No, no, Signore, ich darf nicht Tür von ein Gast aufschließen.«

»Es ist mir egal, was Sie dürfen oder nicht. Entweder Sie tun es sofort oder ich schlage die Tür ein, haben Sie mich verstanden?«

Ben öffnete. »Nicht nötig, Oberst Hartmann.«

Der wütende Oberst wandte sich ihm zu. Ein Zimmermädchen, das mit einem Putzwagen vor der Tür stand, bekreuzigte sich hastig und floh mit dem Wagen an das andere Ende des Flurs.

Hartmann stieß die angehaltene Luft aus, musterte Ben und kniff die Augen zusammen. »Sie sehen blass aus.«

»Ja, mir ging es gestern nicht besonders.«

»Was in drei Teufels Namen machen Sie in Rom?«

Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Jetzt wurde die Sache heikel. Die Putzfrau warf ihnen von Weitem Blicke zu. Der Oberst schob ihn durch die Tür und trat in sein Zimmer. Mist, verfluchter, dachte Ben im Stillen. Hoffentlich verhielt sich Hanna so schlau, jetzt nicht aus dem Bad zu kommen.

»Also? Was machen Sie in Rom?«

»Ich wollte jemanden besuchen.«

Der Blick des Obersts wanderte durch das Zimmer. »Ihr Flug war nach Berlin gebucht.«

»Ja, ich war auch erst in Berlin.«

»Und?«

»Und dann habe ich mich entschieden, nach Rom weiterzufliegen.«

»Sie haben dem Arzt gesagt, Sie wollten sich in die ärztlichen Hände Ihrer Schwester begeben. Nur deshalb sind Sie aus dem Krankenhaus entlassen worden.«

Ben schwieg. Die Augen seines Vorgesetzten durchbohrten ihn, forschend nach einer Antwort, nach der Wahrheit, aber Ben hatte nicht vor, die Wahrheit preiszugeben. Wenn er das tat, würde nicht nur er einen Heidenärger bekommen, sondern auch Paul Gerlach. Schließlich hatte der Computerspezialist ihrer Einheit, den sie sich mit der Polizei teilten, den Computer des Zeugenschutzprogramms gehackt und Ben den aktuellen Aufenthaltsort von Hanna weitergegeben. Sein schlechtes Gewissen hielt sich dennoch in Grenzen, da Paul die praktische Erfahrung nutzen würde, um die Sicherheitsleute auf die Schwachstelle in ihrer Software aufmerksam zu machen.

Wer fragt, führt, dachte Ben grimmig. »Was machen Sie in Rom?«

Es funktionierte. Der Oberst sah ihn einen Moment perplex an, bevor er antwortete: »Sie suchen, was sonst?«

»Mich suchen?«

»Ja, Ihre Schwester hat sich bei mir gemeldet, nachdem Sie ihr eine SMS geschickt haben, dass Sie sich später bei ihr melden würden. Nur haben Sie das nicht getan.«

Ben biss sich auf die Lippen. Er hatte es tatsächlich nach seinem ersten Wiedersehen mit Hanna versäumt, sich bei Lisa zu melden. Er stellte sich lieber nicht vor, was für Sorgen sich seine Schwester gemacht hatte.

»Seit wann schalten Sie überhaupt Ihr Handy aus?« Erneut sah sich der Oberst im Zimmer um, diesmal langsamer. Sein Blick verweilte länger auf dem ordentlich gemachten Bett.

»Ich brauchte eine Auszeit.«

»In Rom?«

»Wieso nicht?«

»Sie haben noch nie erwähnt, dass es Sie nach Rom zieht.«

»Sie wissen eben nicht alles von mir.«

»Nein, in der Tat nicht. Also, wen wollten Sie besuchen?«

»Besuchen?«

Mit schmalen Augen betrachtete ihn Oberst Hartmann. Verdammt, er hatte den Faden verloren, weil er ständig auf verräterische Geräusche aus dem Bad lauschte. Gleichzeitig machte ihn ihr völliges Fehlen nervös. Sein Blick wanderte zur Tür. Er registrierte sofort, dass er einen Anfängerfehler gemacht hatte, der ihn verriet. Oberst Hartmann trat vor die Badezimmertür.

»Wer ist da drin?«

»Niemand«, machte Ben einen letzten Versuch, die Situation zu retten. »Ich habe Hunger, was halten Sie davon, wenn wir unten etwas frühstücken gehen? Ich lade Sie ein.«

Statt zu antworten, drückte der Oberst die Klinke der Badezimmertür herunter. »Die Tür ist abgeschlossen.«

»Tatsächlich? Sie klemmt sicher nur, aber Oberst Hartmann, lassen Sie uns frühstücken ge–«

»Verarschen sie mich nicht, Major Wahlstrom. Wer – ist – da – drin?« Den letzten Satz sprach der Oberst Wort für Wort.

»Eine Frau.«

Hartmann zog die Hand von der Badezimmertür zurück, als hätte er sich verbrannt.

»Oh! – Eine Frau?«

Ben zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte.

»Sie sind zwei Tage auf den Beinen, fliegen nach Berlin und dann nach Rom, um mit einer Frau zu schlafen?«

Röte schoss Ben ins Gesicht. Er senkte den Blick, hob die Hand an seinen Nacken. Dachte der Oberst, er wäre notgeil? Seine Verlegenheit schlug in Wut um. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen. Wir haben nur ...«, er suchte nach einem Wort, kratzte sich am Hinterkopf, »... die Nacht miteinander verbracht. Sie hat mir Rom gezeigt und ich habe mir anscheinend etwas zu viel zugemutet. Sie hat mich zur Pension gebracht und ist geblieben, weil es mir schlecht ging.« Diese Wahrheit überzeugte den Oberst, das konnte Ben in seinem Gesicht sehen.

»Das war absolut leichtsinnig von Ihnen. Ich darf gar nicht daran denken, was hätte passieren können. Ist Ihnen überhaupt klar, wie nah Sie dem Tod waren?«

Ben nickte stumm. Niemand wusste das besser als er selbst.

»Also gut. Erledigen Sie, was Sie erledigen müssen. Diese Situation ist bereits peinlich genug. Ich warte unten im Frühstücksraum auf Sie. Der Kaffee im Flugzeug ist die reinste Zumutung. Unser Flug geht in vier Stunden.«

Ben verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde nicht nach Nairobi zurückfliegen.«

»Das hat auch niemand gesagt. Ich bringe Sie nach Berlin und werde Sie diesmal höchstpersönlich bei Ihrer Schwester abliefern. Sie macht auf mich den Eindruck einer durchaus zuverlässigen Person, die dafür sorgen wird, dass Sie keine weiteren Dummheiten veranstalten.« Der Oberst nickte ihm zu und sein Blick wanderte zur Badezimmertür. Er zeigte mit dem Kopf darauf. »Erledigen Sie das.«


Ben atmete ein paar Mal tief ein und aus, nachdem sein Vorgesetzter das Zimmer verlassen hatte. Dann klopfte er an die Badezimmertür. »Alles okay bei dir?« Er wagte es nicht, ihren Namen auszusprechen, weder den richtigen noch ihren neuen. Welcher Gefahr er sie ausgesetzt hatte, wurde ihm erst jetzt richtig bewusst. Mit seinem echten Namen einen Flug nach Rom zu buchen, war absolut unprofessionell gewesen. Viel zu leicht hätte jemand seine Spur verfolgen können, wenn er wusste, dass es eine Verbindung zwischen ihnen beiden gab. Ben konnte nur hoffen, dass niemand danach suchte.

Hanna öffnete die Tür. Diesmal hing der Geruch von Mandeln an ihr – das Duschgel der Pension. Ihre Haare waren feucht, blaue Augen sahen ihn an. Sie trug immer noch sein T-Shirt.

»Wie nah warst du dem Tod?«

Ihm waren noch nie die unterschiedlichen Blautöne in ihrer Iris aufgefallen, die vermutlich der Grund waren, weshalb sie je nach Gemütszustand in verschiedenen Farbschattierungen leuchteten. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Er hat übertrieben.«

»Ja, deshalb ist er hier.«

»Für mein Befinden nahe genug.«

»Wenn ich dich frage, was passiert ist, wirst du mir antworten?«

»Nein.«

Sie nickte. »Das dachte ich mir.«

»Hanna ...«

Sie schüttelte den Kopf, und Wassertropfen trafen sein Gesicht. »Sag nichts. Ich bin nicht blöd, Ben.«

»Ich halte dich nicht für blöd.«

»Weshalb bist du wirklich nach Rom gekommen?«

»Weil ich wissen wollte, was du uns verschwiegen hast. Ich dachte, dass es mir helfen würde zu verstehen, was passiert ist ...«, er fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, suchte nach Worten, »... worüber ich nichts erzählen kann. Aber ich glaube, es fällt mir nur schwer zu akzeptieren, dass ich einen Fehler gemacht habe.« Er hielt inne, versuchte selber zu verstehen, was er gerade gesagt hatte. Sie stand so dicht vor ihm, dass er ihre Wärme fühlen konnte. Was hatte er sie fragen wollen?

»Ben ...«

»Pst.« Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Sag nichts, was immer dein Geheimnis ist.«

Der Blick aus seinen nebelgrauen Augen fixierte sie forschend. Ein vorsichtiges Lächeln trat auf sein Gesicht. Er nickte.

»Du denkst mit deinem Herzen und handelst danach. Egal was es dich kostet.« Sein Finger strich über ihre Lippe. »Ich vertraue deiner Entscheidung.« Langsam senkte er den Kopf, gab ihr Zeit, vor ihm zurückzuweichen.

Sie blieb stehen, atmete zitternd ein, schloss die Augen.

Er konnte nicht anders, er brauchte diesen endgültigen, letzten Kuss.


Seine Lippen legten sich auf ihre. Hanna öffnete den Mund, tauchte ein in seine Wärme. Da war er wieder, dieser fiese Magnetismus. Ihr verräterischer Körper entzog sich ihrer Kontrolle. Sie schmiegte sich an seine Brust, spürte seinen Arm, der sich um ihre Taille legte, sie so dicht an ihn heranzog, dass es wehtat. Das Pulsieren seiner Wunde an ihrer rechten Seite ließ die Bilder ihrer Träume kurz aufblitzen. So nahe war er dem Tod gewesen, und sie hätte es nie erfahren. Die Emotionen wallten heftig und unerwartet in ihr auf. Schmerz, mit nichts zu vergleichen, schoss durch ihre Adern.

Ihr Aufschluchzen ließ ihn einen Schritt zurücktreten. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste ihr erst die Tränen von der einen Wange weg, dann die der anderen. Er legte seine Stirn an ihre. »Ich wünsche dir ein glückliches, sorgenfreies Leben«, wisperte er mit geschlossenen Augen. Dann drehte er sich um, packte seine Tasche, und ehe Hanna einen weiteren Atemzug nehmen konnte, war sie allein im Zimmer.

Sie schlang die Arme um sich und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ich vertraue deiner Entscheidung! »Du verdammtes, herzloses, kaltschnäuziges, berechnendes Arschloch! Du kannst bleiben, wo der Pfeffer wächst!«, fluchte sie in die Stille, schnappte sich ihren Rucksack und machte sich auf den Weg, die Pension über den Notausgang zu verlassen.

6

Entlarvt

Dort, wo der Flur einen Knick machte und zur Treppe in den Frühstücksraum führte, wartete Ben, bis er hörte, wie Hanna die Treppe zum Notausgang herunterlief. Er drückte sich eng an die Wand und schloss die Augen. Seine Wunde tat weh. Langsam löste er seinen Körper von der Wand und ging in sein leeres Zimmer zurück. Sich unter die Dusche zu stellen, wagte er nicht, beließ es bei einer Katzenwäsche. Er packte die restlichen Sachen zusammen, bevor er sein Handy einschaltete. Mehrere Signale zeigten ihm verpasste Anrufe an. Außerdem gab es mehr als zehn SMS von Lisa. »Meld dich!« – »Wo bist du?« – »Hast du einen anderen Flug genommen?« – »Hey, du wolltest dich melden, das war vor vier Stunden!!!!« – »Ben!!!!!!« – »Was ist los?« – »Verdammt!« – »Es reicht« – »Ich bin sauer!« – »Habe Oberst Hartmann angerufen!« – »Rom?« – »Bitte sag mir kurz, wie es dir geht.« Das Telefon vibrierte in seiner Hand. Das Bild seiner Schwester erschien auf dem Display. Er war noch nicht so weit, sich ihren Fragen zu stellen. Aber er wusste auch, dass er keine Wahl hatte.

»Hi, es tut mir leid.«

»Das sollte es auch. Wie geht es dir?«

»Gut.«

»Lügner.«

Er seufzte tief. »Die Wunde tut weh.«

»Das meinte ich nicht. Das kann ich mir später anschauen. Nimm eine Tablette.«

Verdutzt starrte er aus dem Fenster.

»Ben, du verschwindest auf dem Flughafen, ohne mir ein Wort zu gönnen. Ich stand die ganze Zeit vor dem Gate und habe darauf gewartet, dass du rauskommst. Ach verdammt!«

Er presste den Hörer fester an sein Ohr, als könnte er sie so in seine Arme nehmen und trösten.

»Mist, diese blöde Schwangerschaft macht mich zu einer echten Heulsuse, dabei wollte ich dir den Hals umdrehen.«

»Lisa, Lizzy ...«, verwendete er ihren Kosenamen, »... es tut mir ehrlich leid. Ich ...«

»Ich will es nicht wissen und hör auf mich weichzuklopfen. Du kannst dein blaues Wunder erleben, wenn du hier aufkreuzt. Das schwöre ich dir.«

Bei der Vorstellung, wie seine Schwester versuchen wollte, ihm ein blaues Wunder zu verpassen, musste er grinsen. Seine Mutter hatte ihm immer damit gedroht, wenn er ihre Nerven mit seinen Mutproben an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht hatte. Niemals hatte sie die Hand gegen ihn erhoben.

»Also – wie geht es dir? Und diesmal eine ehrliche Antwort!«

»Scheiße.«

»Komm nach Hause, Ben.«

Er schloss die Augen, spürte das Brennen, schluckte. »Das mache ich, versprochen.«


»Haben Sie mit Ihrer Schwester telefoniert?«

»Ja.«

Ben setzte sich, und die Bedienung brachte ihm unaufgefordert einen Cappuccino, setzte einen Teller mit Obst vor ihm ab, Müsli und Milch.

»Ich habe für Sie bestellt. Das Taxi kommt in zwanzig Minuten.«

»Könnten Sie mir noch Eier, Speck und ein Brötchen bringen?«

»Ma si, naturalmente, no ci sono problemi.«

Die Kellnerin entschwand, nachdem sie ihm einen schüchternen Blick zugeworfen hatte. Ben schätzte, dass es sich bei ihr um die Tochter seiner Pensionswirte handelte. Eine hübsche Italienerin, mit langen schwarzen Locken, einem runden Gesicht, dunkelbraunen Augen und dichten Wimpern. Durchaus einen zweiten Blick wert, wie er an seinem Oberst feststellen konnte, der sonst weiblichen Reizen gegenüber immun zu sein schien. Ertappt konzentrierte sich Hartmann auf das Brötchen auf seinem Teller. »Kommt sie zum Flughafen?«

Sein Vorgesetzter schien es mit der Übergabe seiner Person an seine Schwester ernst zu meinen. »Nein, sie hat Sprechstunde. Ich nehme mir ein Taxi.«

»Nicht nötig. Wir können Sie auf dem Weg absetzen.«

»Sie bleiben in Berlin?«

»Ja.«

Ben schüttete sich Milch in sein Müsli, zog sich ein Stück Melone vom Obstteller und schob es sich in den Mund. Ungewöhnlich, dass Oberst Hartmann nach Berlin zitiert wurde, oder war das seine eigene Entscheidung gewesen? »Gibt es etwas das ich wissen muss?«

»Nein. Sie gehen zu Ihrer Schwester. Ihr Job ist es, wieder gesund zu werden.«

»Hat es etwas mit unserem Fall vom letzten Jahr zu tun?«

»Nein.«

»Mit unserem Einsatz?«

»Hören Sie auf, mich auszufragen.«

Die Kellnerin kam mit seiner Bestellung und Ben schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Amüsiert stellte er fest, dass sich ihre Wangen rot färbten.

»Sie sollten sie vergessen.«

»Ich hatte nicht vor, mit der Kellnerin etwas anzufangen.«

»Ich meine nicht die Kellnerin – ich meine Hanna.«

Bens Gabel blieb in der Luft stehen. Langsam senkte er sie, stach sich Rührei mit Speck auf und schob es sich in den Mund. Das gab ihm Zeit nachzudenken. »Hanna?«

»Ach, hören Sie auf mit dem Theater«, blaffte Oberst Hartmann ihn an. »Ist Ihnen eigentlich klar, in welche Gefahr Sie sie gebracht haben?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Von der Frau, die sich oben in Ihrem Zimmer befindet.«

Der Oberst warf sein Messer auf den Tisch und biss in sein Brötchen.

»Wie kommen Sie darauf, es wäre Hanna?«

»Halten Sie mich für blöd?«

»Nein.«

»Beeilen Sie sich, unser Taxi kommt gleich.«

Langsam legte Ben die Gabel zur Seite. »Bin ich im Dienst?«

»Nein.«

»Dann hören Sie auf, mir Befehle zu erteilen.«

»Fangen Sie erst einmal an, sich vernünftig zu benehmen.«

Schweigend aß Ben sein Frühstück, während der Oberst aufstand und sich um die Rechnung kümmerte.


»Entschuldigung«, presste Hanna hervor, als sie die Kirche erreichte.

Sie machte sich spontan nützlich, indem sie den anderen half, das Gerüst aufzubauen. Ihre volle Konzentration richtete sich auf die Arbeit, indem sie versuchte, jeden sonstigen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie fühlte den Schmerz mit jedem Atemzug. Körperlich. Oh Gott, weshalb hast du mir diese Gefühle für ihn gegeben? Warum kannst du nicht einmal gnädig mit mir sein?

»Alles in Ordnung, Sasa?«, hörte sie Sonja neben sich.

»Ja, klar.« Hanna versuchte ein Lächeln.

»Du weinst doch«, flüsterte Sonja und kramte in ihrer Tasche.

Erschrocken fasste sich Hanna an die Wange. Sonja beförderte eine Packung Papiertaschentücher ans Licht und reichte ihr eins.

»Ach verflucht!«

Statt damit aufzuhören, fing sie an, noch mehr zu heulen. Sachte fasste Sonja sie am Arm und zog sie in eine stille Ecke in der Kirche. Hanna setzte sich auf die Bank, versuchte ihre Gefühle zu sortieren und die Trauer, den Schmerz in den Griff zu bekommen. Entgegen ihrer sonstigen Art schwieg Sonja, strich ihr nur sanft über den Arm. Hanna wusste, sie würde länger brauchen, um ihre Begegnung mit Ben zu verarbeiten. Damals nach Norwegen war die Hoffnung mit ihr geflogen. Diesmal wusste sie, sie würde Ben nicht wiedersehen. Sein »Ich wünsche dir ein glückliches, sorgenfreies Leben.« war so endgültig gewesen, seine Antwort auf ihr Geständnis vor so langer Zeit, als sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebe. Nach all den Monaten tauchte er wieder in ihrem Leben auf, überreichte ihr das Fotoalbum ihres Vaters, nur um ihr zu sagen, dass sie ihn vergessen sollte? Verdammt, sie hatte ihn vergessen. Sie war mit ihrem neuen Leben klargekommen. Warum musste er sie an das, was sie hatte opfern müssen, erinnern? Sie starrte auf die Madonna beim linken Seitenaltar der Kirche. Betrachtete das makellose Gesicht, das Kind auf ihrem Arm. Wie hast du es geschafft, loszulassen, ohne daran zu zerbrechen? Wie hast du es ertragen, unter ihm am Kreuz zu stehen und zu sehen, wie er stirbt? Hilflos – ohne ihn retten zu können? Sie bekam keine Antwort. Die Figur vor ihren Augen schwieg. Hanna fühlte sich leer und kraftlos. Liebe sollte nicht wehtun, sie sollte einen stark machen und glücklich. Sie drehte den Kopf zu Sonja, die zaghaft lächelte. »Danke.« Hanna wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sonja warf nur ihre Arme um sie und drückte sie. Zu ihrer Verwunderung erschreckte es Hanna nicht, vielmehr genoss sie das Gefühl, für einen Moment in der Umarmung eines anderen Menschen zu sein.

»Geht es wieder?«

»Ja. Ich brauche nur noch einen Moment für mich allein.«

Sonja nickte und stand auf. Hanna folgte ihr mit den Augen.


In den nächsten Tagen arbeitete sie hart und konzentriert. Wenn sie nicht am Projekt arbeitete, lief sie durch Rom. Abends verschrieb sie sich ein anstrengendes Work-out, bis sie so müde war, dass sie vor Erschöpfung einschlief. Jeden Tag meldete sie sich einmal kurz bei ihrer Kontaktperson auf die klassische Weise über verschiedene Festnetztelefone. Bei der Arbeit ließen die anderen sie in Ruhe. Sie wusste, dass sie dies Sonjas Einfluss zu verdanken hatte. Es überraschte sie, dass Sonja keine Fragen stellte. Erst, als sich der Freitag dem Ende zuneigte, sprach die zierliche, blonde Person sie an.

»Ich weiß, es ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, andererseits könnte es dich ablenken. Ach egal, ich sage es einfach und hoffe du bist nicht sauer. Hast du Lust, dich uns heute Abend anzuschließen? Manchmal hilft es, wenn man nicht allein ist und ständig grübelt.«

»Ja, ich komme gern mit.« Hanna sah erst Überraschung in Sonjas Gesicht, dann zeigte sich ein breites Grinsen.

Sie hakte sich bei ihr unter. »Dir ist klar, dass du mir dann noch beichten musst, weshalb du letztes Mal einen Lachanfall bekommen hast, oder?«


Die Pizza war ausgezeichnet und preiswert. Es war von Vorteil, wenn man von Menschen umgeben war, die sich genauso wenig leisten konnten wie man selbst. Sonja ließ nicht locker, und schließlich erklärte Hanna ihr, weshalb sie damals bei ihrer letzten Einladung hatte lachen müssen.

»Sasa, Soso, M... – Mama.«

Sonja zog einen Flunsch, als die anderen lachten. Hanna boxte ihr freundschaftlich in die Seite.

»Ihr hättet mir einfach sagen können, dass ihr es nicht mögt, wenn ich eure Namen abkürze.«

»Stimmt, ich mag es nicht, wenn du meinen Namen abkürzt«, entschied sich Hanna für die Wahrheit.

»Mir wäre es auch lieber, wenn Sie meinen richtigen Namen verwenden würden, statt Baba«, schloss sich Professor Bartoli an.

»Sabine ist verdammt lang.« Sonja runzelte die Stirn, aber dann verschwanden die Runzeln und ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Weißt du was? Ich nenn‘ dich einfach Bine.«

Die anderen mussten lachen, während Hanna die Augen rollte. Diese Frau war ein hoffnungsloser Fall.


Hanna hockte auf den Stufen des Brunnens auf der Piazza Santa Maria de Trastevere und lauschte den Stimmen von Marco und Sonja. Fasziniert beobachtete sie Marcos Finger, die mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Gitarrenhals tanzten. Sonja berührte Marco immer wieder, strich über sein Bein oder lehnte lachend ihren Kopf an seinen Arm. Zwischen ihnen gab es eine neue Vertrautheit, und Hanna wunderte sich nicht, als sich Marco nach einem Lovesong zu Sonja herunterbeugte, um sie unter dem johlenden Geschrei der anderen zu küssen. Statt rot zu werden, lachte Sonja und warf ihren Kopf in den Nacken. So einfach konnte Liebe sein.

»Ich fürchte, ich muss mir einen neuen Doktoranden suchen«, brummte Professor Bartoli neben ihr.

»Wieso sollte Marco seine Arbeit hinwerfen, nur weil er mit Sonja schläft?« Hanna stellte die Frage schärfer als beabsichtigt.

Der Professor schien amüsiert. »So ist das nun mal mit der Liebe, alles tritt in den Hintergrund, das Herz übernimmt die Führung, und der Verstand setzt aus.«

»Eine überaus poetische Betrachtungsweise, typisch italienisch.«

Bartoli lachte. »Sie können das nicht nachvollziehen?«

»Nein.«

»Dann waren Sie noch nie aus tiefstem Herzen verliebt, Frau Schmidt.«

Sie schwieg, nippte an ihrem Plastikbecher mit rotem Chianti. Nein, sie war nicht verliebt – sie liebte. Sie liebte so sehr, dass es ihr das Herz zerriss.

Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm. »Eifersüchtig?«

Sie antwortete nicht.

»Sabine, es gibt für jeden Menschen auf dieser Welt jemanden, den er lieben kann.«

Hanna schnaubte.

»Oh, Sie werden doch nicht etwa auch in Marco verliebt sein?«

»Nein.«

»Zum Glück, denn Eifersuchtsdramen hätten mir jetzt gerade noch gefehlt.«

Hanna wollte lieber das Thema wechseln. Die letzten Tage hatte sie viel nachgegrübelt. Ihr Traum von dem Überfall auf Ben, sein Auftauchen ... Auf einmal kam ihr alles nicht mehr wie ein Zufall vor. Warum saß sie hier auf der Piazza mit Studenten, trank Wein und redete mit einem Kunsthistoriker über Liebe? »Wieso haben Sie mich eigentlich für das Projekt eingeladen, Herr Bartoli? Ich meine – alle anderen haben sich selbst auf die Ausschreibung hin beworben.«

»Vergessen?« Er griff nach seinem Becher. »Ich habe doch Ihre Arbeit über die frühchristliche Kirchenkunst und ihre Symbolik korrigiert, und Sie haben mich damit beeindruckt.« Er lächelte freundlich. »Stand das nicht in meiner Einladung?«

Ja natürlich, es hatte dringestanden. Doch weshalb wollte er sie hierbehalten, ihren Aufenthalt in Rom ausdehnen? Hanna betrachtete aufmerksam seine Hand, die den Becher schwenkte, als müsse er damit von sich ablenken. War er nervös? Sie hob das Gesicht und sah ihn an. »Und Ihr Angebot, meinen Aufenthalt zu verlängern?«

»Sie sind ein Genie, wenn es um Bilder geht – so etwas brauche ich.«

»Es steckt nicht zufällig noch eine andere Absicht dahinter?« Jetzt war es heraus. Im Bruchteil einer Sekunde huschten die Bilder wie eine rasante Diashow an ihrem inneren Auge vorbei: Ben, Hartmann, die Verhandlung, ihre neuen Papiere – Afrika ... Sie sah ihn immer noch direkt an. Eine feine Röte zog sich jetzt über sein Gesicht. Er hatte den Becher abgestellt, hob die Hand und kratzte sich am Kinn.

»Sie wollen mir doch nichts unterstellen?«

Hanna spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Nein, nein ...« Sie wandte ihr Gesicht ab und musterte konzentriert ihre Turnschuhe. Himmel, was hatte sie denn erwartet?

Professor Bartoli räusperte sich. »Sie haben etwas durchaus Anziehendes an sich, Frau Schmidt, aber ich bin lange aus dem Alter heraus, mich in amouröse Abenteuer zu stürzen. Ihr klarer, wacher Verstand und Ihr scharfer Blick für Details sind mir bereits bei ihrer Projektarbeit aufgefallen. Darum wollte ich Sie dabei haben. In den letzten vier Wochen haben Sie meine in Sie gesetzten Erwartungen weit übertroffen, weshalb ich Ihnen gern eine feste Stelle an meinem Institut anbieten möchte.«

Überrascht hob Hanna den Kopf und sah in die dunklen Augen des Professors, der sie mit einem Schmunzeln betrachtete.

»Eine feste Anstellung? Nicht nur eine Verlängerung? Aber ...«

Er hob die Hand. »Natürlich nicht zu dem Hungerlohn, für den Sie jetzt noch arbeiten.«

»Aber ...«

»Natürlich bekommen Sie Zeit, damit Sie ihr Fernstudium beenden können. Aber Sie werden sehen, mein Institut bietet Ihnen Zugang zu reichlichem Anschauungsmaterial für Ihr Studium.«

Hanna atmete tief ein, versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Kurz zuvor war ihr ein absurder Verdacht gekommen, dass ihr Aufenthalt in Rom nicht ganz zufällig zustande gekommen war. Ben hatte ihr nicht gesagt, weshalb er hier war, doch sein Erscheinen hatte sie daran erinnert, dass nichts im Leben einfach so geschah. Nun bot ihr der Professor diese Stelle an. Es wäre ein echter Neuanfang, eine Zukunft, ein neues Leben, das sie ausfüllen würde. Sie gestattete sich das Gefühl von Freude und schenkte dem Professor ein zaghaftes Lächeln.

»Lassen Sie das erst mal sacken, Sie brauchen das nicht heute Abend entscheiden.« Er kniff ihr ein Auge. »Noch kennen Sie nicht das Beste an dem Angebot.«

Hanna lachte. »Sie meinen den Zugang zu dem nicht öffentlichen Teil des Vatikanmuseums?«

Bartolis Mund klappte auf. Mit großen Augen musterte er sie. »Woher ...?«

Sie grinste. »Ich habe so meine eigenen Quellen. Ich wollte wissen, was mich bei dem Projekt erwartet.«

Er betrachtete sie aufmerksam. »Ja, ganz offensichtlich.«

»Hey, Sie beide reden doch nicht etwa an einem Freitagabend über die Arbeit?«, unterbrach sie Sonjas empörte Stimme.

Wie diese kleine Person es schaffte, Bartoli, sie und den Rest der Gruppe zu überreden, den Refrain eines italienischen Schlagers zu singen, war Hanna am Ende des Abends ein Rätsel.


Professor Bartoli versicherte sich erst, dass Hanna ein Taxi zu ihrer Pension nehmen würde, bevor er sie gehen ließ. Davon war sie natürlich weit entfernt. Ihr Budget hatte sich nach Bens Besuch noch nicht wieder erholt. Der Weg betrug nicht einmal drei Kilometer und führte sie auf Wegen, die an einem Freitagabend gut besucht waren. Sie ging in Richtung Piazza di Sant‘Apollonia, bog rechts auf die Via della Lungaretta ein. Den Tiber überquerte sie über die Ponte Garibaldi, um dem Lauf der Via Arenula zu folgen, die auf dem Weg zum Pantheon dreimal den Namen änderte. Sie blieb einen Moment vor dem beleuchteten Pantheon stehen, einem Gebäude, das den römischen Gottheiten geweiht war und inzwischen ebenfalls ein reichhaltig ausgestattetes Museum beherbergte. Sie überquerte die Piazza della Rotonda und bog in die Via dei Pastini ein. Im Gegensatz zu ihrem bisherigen Weg herrschte hier Stille. Die Gasse war schmal, würde in die Via delle Muratte führen und sich erst am Fontana di Trevi wieder öffnen. Hanna beschleunigte ihre Schritte. Aufmerksam betrachtete sie die Schatten in der Gasse. Das Gefühl überfiel sie in der Via Pietra, an der Ecke, wo rechts die Vicolo dé Burró abzweigte. Sie spürte es. Jemand lauerte in der Dunkelheit auf sie. Dann sah sie ihn. Der Mann trat aus dem Eingang eines Hauses hervor, und wie aus dem Nichts tauchten zwei weitere Männer in der Gasse auf. Gleichzeitig hörte sie von hinten Schritte näherkommen. Es lag an der Art, wie sie sich gezielt näherten. Hanna reagierte instinktiv. Während sie noch den Bauchgurt ihres Rucksacks um die Taille festzurrte, sprintete sie los. Die Männer vor ihr reagierten schnell. Ihr Abstand war nicht groß genug, als dass sie zwischen ihnen hätte durchschlüpfen können. Sie bremste ab, warf sich herum und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, dorthin, wo sie hergekommen war. Wenn sie es nur an der Kreuzung rechts hoch auf die Via dei Bergamaschi schaffte, dann war es nicht mehr weit bis zur Piazza Colonna. Dort würden sie es bestimmt nicht wagen, sie anzugreifen. Der Mann, der hinter ihr gewesen war, bremste ab. Bevor er sich sammeln konnte, rempelte sie ihn an und stieß ihm sicherheitshalber den Ellenbogen in die Seite, legte an Tempo zu und hoffte, die Typen würden keine Waffen ziehen. Sie erreichte die Piazza Colonna, wo viele Leute sie erstaunt musterten. Es war ihr egal. Sie machte nicht den Fehler zu prüfen, ob ihr die Männer gefolgt waren. Stattdessen schlug sie den Weg über die lebhaftere Via del Corso ein. Noch im Laufen holte sie den Schlüssel aus dem Seitenfach ihres Rucksacks, was nicht einfach war, da sie sich auf ihren Tastsinn verlassen musste. Mit zitternden Fingern und einem hastigen Seitenblick in die Gasse öffnete sie die Tür und schloss sie direkt hinter sich wieder. Erschöpft ließ sie sich an der Wand auf den Boden gleiten. Sie lehnte ihre Stirn an die Knie, schlang ihre zitternden Arme um die Beine, versuchte ihren Atem zu normalisieren, ihren Herzschlag, aufgepuscht vom Adrenalin und vom Laufen, zu beruhigen. Als eine Hand ihren Arm berührte, hätte sie fast zugeschlagen, besann sich aber in letzter Sekunde darauf, dass sie in Sicherheit war.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten ein Taxi nehmen. Verdammt, Johanna, weshalb, denken Sie, habe ich Ihnen das gesagt?«

7

Geschwister

»Du bist schlimmer als Tom.« Er konnte die Belustigung in ihrer Stimme hören, sah aber auch die dunklen Ränder unter ihren Augen. Ohne auf ihre Proteste zu achten, drückte er ihr ein Glas Johannisbeerschorle in die Hand. Er zog sich den Hocker her, setzte sich darauf und hob ihre Füße auf seinen Schoß. Langsam begann er, ihre geschwollenen Beine zu massieren. Ein wohliges Stöhnen entfuhr ihr. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Couch.

»Du solltest dich mehr schonen.«

»Das musst ausgerechnet du sagen.«

An dem Ton erkannte Ben, dass Lisa ihm seine Eskapade immer noch nicht gänzlich verziehen hatte.

»Du trägst jetzt die Verantwortung für zwei.«

»Ich weiß«, murmelte sie leise. Ein feines Lächeln trat in ihr Gesicht. Sie öffnete die Augen, richtete sich vorsichtig auf. »Gib mir deine Hand.«

Er gab sie ihr. Als seine Handfläche auf ihrem Bauch lag, konnte er ein leichtes Flattern unter seinen Fingern spüren, nicht mehr als ein sachtes Vibrieren und doch das Zeichen von Leben, das in Lisas Bauch heranwuchs. Ein Wunder, das ihn tief berührte. Ihr Lachen steckte ihn an.

»Du schaust aus, als hättest du gerade das achte Weltwunder gesehen«, presste Lisa hervor, während sie sich die Tränen von den Wangen wischte.

Er hörte auf zu lachen, sah sie aufmerksam an. »Das ist es auch.«

Abrupt verebbte ihr Lachen. Sie nahm seine Hand, führte sie an ihre Wange. »Ich weiß.«

Sie hatte ihm von ihren drei Fehlgeburten erzählt, als er nach seinem Einsatz in Norwegen zurückgekommen war. Er hatte gewusst, dass er es ihr schuldig war, sie so weit zu informieren, dass Hanna die Verletzung lebend überstanden hatte. Mehr durfte und konnte er ihr nicht erzählen. Das respektierte Lisa. Er hatte seine Schwester in Ruanda erlebt, wo sie vergewaltigte Frauen in einem Krankenhaus behandelte. Ihr Kummer, den er gespürt hatte, bevor er mit der bewusstlosen Hanna aufgebrochen war, hatte ihn nicht losgelassen. Wenn er etwas wissen wollte, ließ er nicht locker, bis er es wusste. Er konnte sich wie ein Terrier darin verbeißen und so war er später geblieben, bis Lisa ihm alles erzählt hatte. Jetzt war sie im neunten Monat und ihr Bauch wölbte sich beachtlich, ganz zu schweigen von ihrer Brust. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Und wonach gelüstet es dich heute?«

»Kartoffelpuffer mit Apfelmus, dafür könnte ich jetzt sterben.«

»Du übertreibst maßlos, Lisschen.«

Die beiden Geschwister wandten sich zu Dr. Tom Jung um.

»Wie gut, dass Ben dein Bruder ist, sonst müsste ich mich noch mit ihm duellieren.« Er stellte seine Tasche ab, setzte sich neben seine Frau auf die Couch und legte seine Hand auf ihren Bauch. »Na, mein kleiner Racker, hast du Mama heute den ganzen Tag auf Trab gehalten?«

»Hat es nicht, es war ganz lieb, nur jetzt tobt es rum.«

Ben stand auf und ließ die werdenden Eltern allein. Es gab in ihrem Alltag wenig Zeit für Zweisamkeit, und er wollte diese kostbaren Momente nicht mit seiner Anwesenheit stören. In der Küche prüfte er im Vorratsschrank und im Kühlschrank, ob alles für Kartoffelpuffer vorrätig war. Er fing an, Kartoffeln zu schälen.


Ben klappte seinen Laptop hoch und schaltete ihn ein. Hier in seiner eigenen Wohnung, die sich im dritten Stock von Toms Haus befand, konnte er sich auf seine Arbeit konzentrieren. Die letzte Woche hatte ihn emotional ausgebrannt. Seine Gefühle für Hanna hatte er tief in sich vergraben. Bei seiner Schwester konnte er seiner Liebe freien Lauf lassen. Er bemerkte, dass er in Lisas Nähe jede ihrer Regungen im Auge behielt. Als er am Samstag an einer Kirche vorbeigekommen war, war er spontan hineingegangen. Gerade steckte eine alte Frau Münzen in einen Opferstock, nahm sich Kerzen und zündete sie vor dem Altar von Maria an. Sie setzte sich, faltete die Hände und bewegte die Lippen in einem stummen Gebet. Nachdem sie gegangen war und er sich allein in der Kirche befand, folgte er ihrem Beispiel. Ohne Erfahrung mit Gebeten hatte er nur stumm im Kopf die Worte wiederholt: »Bitte lass sie das Kind bekommen, bitte.« Er kam sich dabei albern vor. Der Geruch von Weihrauch hing in der Luft, die Kühle in der Kirche, dieses fein modellierte Gesicht der Madonnenfigur. Er erinnerte sich an Hannas Zeichnung der Maria mit ihrem toten Sohn in den Armen. Abrupt stand er auf. Ein Gott, der seinen eigenen Sohn einem so grausamen Tod aussetzte, würde seine Bitte nicht erhören. Mit fünfunddreißig Jahren gehörte Elisabeth als Erstgebärende einer Risikogruppe an, umso mehr, als sie vorher die drei Fehlgeburten gehabt hatte. Wenn Tom Lisa zärtlich über den Bauch strich, ihre Wange streichelte oder sie küsste, gab es Ben ein Stich. Er gönnte Lisa ihr Glück, aber gleichzeitig fiel es ihm schwer, dass er nicht mehr der wichtigste Mann in ihrem Leben war. Vielleicht gluckte er deshalb so um sie herum, wenn Tom nicht in der Nähe war.

Ben streckte sich und zog sein T-Shirt über den Kopf. Die Wunde juckte. Ein gutes Zeichen. Seit Lisa vorgestern die Fäden gezogen hatte, spannte die Haut nicht mehr so wie am Anfang. Er nahm die Creme vom Couchtisch und pflegte seine Haut rund um das Pflaster. Das war genauso albern wie sein Beten, aber es gab ihm das Gefühl, den Heilungsprozess zu beschleunigen. Inzwischen war sein Rechner hochgefahren. Er tippte das Passwort und loggte sich in das System des KSK ein.

Zu der Zeit der Beerdigung von Dirk Richter und Ralf Mader schwebte er noch zwischen Leben und Tod. Für das Wochenende hatte er sich vorgenommen, ihre Gräber zu besuchen. Dirk Richter war von seinen Angehörigen in einem Friedenswald beerdigt worden. Außer einer Gedenktafel an einem Baum würde nichts an den jungen Mann erinnern. Ben versuchte, seine dunklen Gedanken wegzuschieben. Stattdessen öffnete er die Berichte zu den bisherigen Erkenntnissen ihres Einsatzes. Sie waren für einen Nahkampf nicht ausgerüstet gewesen. Ihre Schutzwesten waren kugelsicher, aber einer Messerattacke gegenüber boten sie keinen adäquaten Schutz. Er las, dass Oberst Hartmann für künftige Einsätze darauf bestand, dass seine Männer mit den teureren Westen ausgerüstet wurden, die sowohl kugelsicher waren als auch gegen Messerangriffe Schutz boten. Dieser Forderung folgte eine ganze Reihe von E-Mails, deren Inhalt sich Ben ersparte. Er hatte die Nase voll von Wichtigtuern, die mit ihrem fetten Hintern in ihrem Büro saßen und über Risiken diskutierten, denen sie niemals ausgesetzt waren. Stattdessen wandte er sich einem Postfach zu, das er unter einer öffentlichen E-Mail-Adresse pflegte.

»Wie ist das Wetter bei Euch?«

Eine halbe Stunde später, in der er nur halbherzig die politischen Blogs der bekanntesten Zeitschriften nach Vorkommnissen in Afrika gescannt hatte, bekam er eine Antwort.

»Sonnig, wie immer.«

Erleichtert atmete er auf.

Paul hatte eine Standpauke von Oberst Hartmann erhalten, aber in seiner Akte war keine Übertretung von Vorschriften eingetragen. Wenigstens brauchte Ben sein Gewissen damit nicht belasten. Ihr Austausch belief sich auf ein Minimum. Er war froh, dass Paul ihn weiterhin mit den Informationen fütterte, die er brauchte, damit er ruhig schlafen konnte. Die Sicherheit, dass Hannas Tarnung nicht aufgeflogen war. Regelmäßig meldete sie sich bei ihrer Kontaktperson im Zeugenschutzprogramm.

Mit mehr Aufmerksamkeit startete Ben seine Recherche über Medicare im Internet. Marie Benner – nein falsch, sie hieß inzwischen wieder Ziegler – hatte es geschafft, das Unternehmen aus den negativen Schlagzeilen herauszuholen. Er betrachtete die Fotos eines Pharmaziekongresses in Hamburg, bei dem Marie über die Wichtigkeit einer authentischen und ehrlichen Diskussion mit der Öffentlichkeit referiert hatte. Dafür war sie in dem letzten Dreivierteljahr ein absolutes Musterbeispiel gewesen. Weder hatte sie die Schuld ihres Mannes am Tod ihrer Schwester noch ihre eigene Tablettenabhängigkeit unter den Tisch gekehrt. Anfänglich hatte sich die Presse auf sie gestürzt wie die Geier auf Aas. Nach und nach war jedoch die Polemik einem sachlichen Diskurs über Burn-out gewichen, dem immer mehr Menschen unterlagen. Marie avancierte von der gefallenen Frau zu einem Vorbild. Sie zeigte, wie Menschen aus Fehlern lernen und einen gesunden Weg finden konnten, mit Stress umzugehen. Er musste zugeben, dass sie in den letzten Monaten auch seine Achtung gewonnen hatte. Sie hatte an Gewicht zugelegt, ihre Haare glänzten in einer schwarzen Schattierung, die ins Rötliche ging, und die dunklen Ringe unter ihren Augen waren verschwunden. Das Lächeln, nicht mehr so strahlend, wie er es in Erinnerung hatte, endete unterhalb ihrer Augen. Es hatte Momente gegeben, wo er versucht gewesen war, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass ihre Schwester noch lebte. Vor allem, als er beobachtete, wie sie zu Hannas Grab ging und dort eine weiße Rose hinlegte. Wenn sie Hanna nur annähernd so liebte wie er Lisa – er schob den Gedanken beiseite. Sie war nicht zu dem Treffen mit ihrer Schwester erschienen. Dass sie aufgrund einer Mischung aus Tabletten und Alkohol dazu nicht in der Lage gewesen war, entschuldigte ihr Verhalten in seinen Augen nicht. Niemand konnte Ben erzählen, dass eine Frau nach neun Jahren Ehe mit einem Mann nicht wusste, wen sie geheiratet hatte.

Das BKA hatte sich bei der Überwachung der Benners dämlich angestellt. Niemand hatte Maries Fahrzeug überwacht, nachdem ein Angestellter von Medicare es in die Werkstatt gegeben hatte. Genauso wenig wurde bemerkt, dass sich Lukas Benner einen kleinen Polo aus dem Medicare-Fuhrpark nahm, um sich das Auto seiner Frau zu holen. So war der ganze Transfer nachher auch wieder umgekehrt gelaufen. Lukas Benner kam pünktlich um sieben zu seiner Verabredung mit Philip Bornstedt, während auf der anderen Seite von Berlin eine Hütte in Flammen stand und bis auf den Grund abbrannte. Philip Bornstedt war noch so ein Fall. Sie hatten ihm nicht nachweisen können, dass er in die Sache verwickelt war. Tatsächlich gab es außer Ben niemanden, der diesen Verdacht hegte. Am liebsten hätte er dem Typen den Trojaner untergejubelt und ihn so lange beobachtet, bis er seine Beweise hatte. Doch er war an die Gesetze gebunden. Von Viktor Samuels fehlte noch immer jede Spur. Ben war sicher, dass Hanna ihn zu finden wüsste. Genauso, wie sie ihm etwas verheimlichte, was die Hintergründe des Überfalls in Afrika betraf. Aber weder er noch Oberst Hartmann konnte dieses Gefühl mit Fakten untermauern. Vertraute er ihrer Entscheidung, ihm nicht alles zu erzählen, wirklich? Selbst die Korrespondenz zwischen Marie und Dr. Frederike Schneider gab keinen weiteren Aufschluss über irgendetwas. Neben den Berichten gab es zwei persönlichere E-Mails von Dr. Schneider, die eine von Maries Besuch in Afrika, die andere vom Tod der kleinen Ifeschi, der letztlich Auslöser für den Angriff auf das Dorf gewesen war.

Es gibt Schönheit mitten im Leiden, Freude in der Trauer, Hoffnung in der Verzweiflung und neues Leben sogar im Tod.

Er wurde das Gefühl nicht los, dass in diesem Zitat einer nigerianischen Weisheit etwas steckte, was sie alle nicht verstanden.

Genug gegrübelt, ermahnte er sich selbst und klappte den Laptop zu. Er stand auf, holte sich sein Sport-T-Shirt, eine Jogginghose und eine Matte, zog sich um und begann mit seinem Training. Er sparte Übungen aus, die seine Verletzung zu sehr belasteten. Lisa bemerkte er erst, als sie direkt vor ihm stand, so konzentriert quälte er sich. Statt aufzuhören, fuhr er mit dem Muskelaufbau fort. Nicht voll leistungsfähig zu sein, bedeutete einen Zustand, der ihm nicht behagte, und er fand, er hätte sich lang genug geschont. Sollte Lisa ruhig motzen.

»Wie geht es ihr?«

Anstatt ihr eine Antwort zu geben, fing er mit Liegestützen an. Lisa war es erstaunlich leichtgefallen herauszufinden, weshalb er in Rom gewesen war. Dass er für sie so ein offenes Buch war, störte ihn ungemein. Die Verbindung Rom – Hanna schien nur für ihn ein Mysterium zu sein. Dennoch würde er Lisas Neugier kein weiteres Futter geben.

»Ehrlich, du warst total leichtsinnig. Ich darf ihren Namen nicht mal erwähnen und du hast nichts Besseres vor, als dich in ein Flugzeug zu setzen und sie zu besuchen! Warum eigentlich?«

Mittlerweile war er schweißgebadet, und das Pflaster fing an zu jucken. Er zuckte zusammen, beugte schnell die Knie und fing so einen Sturz auf den Bauch ab.

»Verdammt Ben, du bist echt ein Masochist. Meinst du, mir macht es Spaß, dich alle paar Tage neu zusammenzuflicken?« Mit zusammengepressten Lippen hockte sich Lisa vor ihn hin.

Er wehrte ab. »Lass, es ist okay, nur ein bisschen Schweiß.«

»Ich bin die Ärztin, Soldat. Los, lass mich sehen.«

Er setzte sich auf und zog das nass geschwitzte T-Shirt hoch.

»I, ist ja ekelig! Männerschweiß.«

Sie grinste ihn an und drückte mit den Fingerspitzen an der Wunde entlang. Es war alles in Ordnung, aber sie glaubte ihm ja nicht. Weil er nicht reagierte, pikste sie ihn ein wenig.

»Aua! Lass das, Lisa.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich wollte nur sehen, ob du noch zu Gefühlen fähig bist.«

»Okay. Erst beglucke ich dich zu viel, dann bin ich der kaltschnäuzige Bruder. Kannst du dich vielleicht mal entscheiden?« Er wusste selbst nicht, wo seine Wut herkam, stand auf, ließ Lisa sitzen und ging ins Badezimmer. Kaum stand er in der Dusche, hörte er die Tür.

Lisa ließ sich auf dem Toilettendeckel nieder. »Ben? Liebst du mich?«

»Was für eine dämliche Frage.«

»Hör auf mir auszuweichen. Ja oder nein?«

»Ja.«

»Und was ist daran so schlimm?«

Er drehte den Wasserhahn ab, öffnete die Duschkabine und nahm sich das Handtuch vom Sideboard. Sorgfältig trocknete er sich ab. Dann griff er sich die Gummiflitsche und wischte die Wassertropfen von den Wänden in den Abfluss. Zuletzt verwendete er das Handtuch, sodass keine Feuchtigkeit mehr übrig blieb. Lisa folgte seiner Tätigkeit mit einem amüsierten Blick.

»Ich glaube, seit du Soldat bist, bist du noch pingeliger geworden.«

»Nichts.«

»Was?«

Er drehte sich zu ihr um. »Nichts ist daran schlimm, dich nerviges, penetrantes, unglaublich talentiertes Weibsstück zu lieben.«

Sie wedelte hastig mit der Hand. »Könntest du dir bitte etwas anziehen. Es ist ein verstörender Anblick, seinen Bruder nackt vor dem Gesicht rumspringen zu haben.«

»Ich springe nicht nackt vor dir rum.« Er zuckte die Achseln, sah sie belustigt an. »Du bist mir ins Badezimmer gefolgt. Hast du gedacht, dass ich mit Badehose dusche?« Dennoch holte er sich eine frische Unterhose aus seinem Schlafzimmer und zog sie an.

»Was ist dann so schlimm daran, eine andere Frau zu lieben?«

Verärgert runzelte er die Stirn. Er hätte wissen müssen, wohin ihn dieses Verhör führen würde. Er nahm seine Zahnbürste und fing an sich die Zähne zu putzen. Hoffnungslos. Wenn Lisa wollte, konnte sie unendlich viel Geduld aufbringen. Er spülte die Zahnpasta aus dem Mund und hockte sich langsam vor ihr nieder. Seine Hände umfassten ihren Bauch zu beiden Seiten. Er bekam einen Tritt in den linken Handballen und musste lächeln. Dann sah er Lisa ernst in die Augen. »Ich liebe meinen Job, Lisa. Er ist alles, was mir in meinem Leben etwas bedeutet ...« Sie hob zum Protest an, doch sein Finger war schneller und legte sich auf ihren Mund. »... außer dir und diesem kleinen, frechen Wesen, das seinen Onkel gerade tritt. Übrigens so fest, wie es das macht, muss es ein Junge sein.«

»Oh, wenn du glaubst, du könntest mich so reinlegen. Männer! Was hat Tom dir angeboten, damit du es herausfindest?«

Sie weigerte sich bisher strikt, Tom zu sagen, was sie bei ihrer letzten Vorsorgeuntersuchung erfahren hatte, von der sie mit besonders strahlendem, wissendem Lächeln zurückgekehrt war. Tom hatte sie nur aufgrund eines Notfalls diesmal nicht begleitet, aber alles Betteln hatte ihm nichts gebracht.

Ben schmunzelte. »Das verrate ich dir nicht. Dein Mann braucht auch ein paar Geheimnisse vor dir. Also, weshalb hast du diese Tonne Lebendgewicht zu mir in den dritten Stock hochgehievt? Doch nicht wegen solcher Fragen?« Ihren Faustschlag gegen seine Brust wehrte er geschickt ab.

»Oberst Hartmann hat mich vorhin angerufen.« Ihre Augen blitzten zwischen Zorn und Lachen.

Er stutzte, richtete sich auf, runzelte die Stirn. »Wieso ruft er dich an?«

Sie zuckte die Achseln. »Weil er wissen wollte, wie es dir tatsächlich geht. Ich meine aus medizinischer Sicht, nicht aus deiner Männer-Selbstüberschätzer-Sicht.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Dass du frühstens in zwei Wochen wieder einsatzfähig bist.«

Er stöhnte, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die dringend einen Schnitt benötigten. Zwei Wochen! Er bekam bereits jetzt die Krise.

»Ja, das Stöhnen von deinem Oberst hörte sich ähnlich an.«

Sie richtete sich auf. »Dann werde ich mal meine Tonne Lebendgewicht wieder die Treppe runterhieven.«

Er reichte ihr die Hand und half ihr beim Aufstehen. Sie streichelte seine Wange, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die andere. Glänzten in ihren Augen Tränen? Ben blieb sicherheitshalber genau dort stehen, wo er war. Ihm fehlte die Erfahrung für die emotionalen Achterbahnfahrten einer Schwangeren.

Sie drehte sich in der Tür noch mal um. »Ach ja, hätte ich fast vergessen. Du sollst am Montag im Hauptquartier vorbeischauen, wenn du ausgeschlafen hast.«


Ein Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Er liebte seinen Beruf. Männer waren simpel und einfach im Umgang. Die paar Frauen in seinem Job waren nicht viel anders. Mit jedem Schritt, mit jedem zackigen Gruß ließ seine Unruhe nach. Obwohl er keine Uniform trug, kannten viele der Soldaten, die ihm begegneten, seinen Rang von seinem letzten Besuch. Im Hauptgebäude fragte er nach, wo er seinen Vorgesetzten finden konnte. Oberst Hartmann hatte den Telefonhörer am Ohr, als er eintrat. Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, hörte er seinem Anrufer zu. Er forderte Ben mit einer Geste auf, sich zu setzen, als er sich höflicherweise aus dem Raum bewegen wollte, also schloss Ben die Tür und setzte sich abwartend vor den Schreibtisch.

»Ist das endgültig?«

Ben zuckte bei dem scharfen Ton zusammen. Er fragte sich, was seinen Oberst so verärgerte.

»Es ist zum Kotzen! Wird er überwacht?« Hartmann schüttelte nach der Antwort ungehalten den Kopf, dann wandte er sich halb von Ben ab und starrte auf die Wand, bevor er tief seufzte. »Nein, ich weiß. Es lässt sich nicht ändern.« Er knallte den Telefonhörer auf die Halterung, fuhr sich mit beiden Händen durch seine Haare. »Armin Ziegler ist wieder auf freiem Fuß.«

»Was?«

»Sie haben richtig verstanden, Major Wahlstrom. Das Gericht hat seinem Antrag auf Haftminderung stattgegeben, aufgrund seiner Reue, des guten Leumunds und seines hervorragenden Benehmens während der Haftzeit.«

»Na toll.«

Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Vor Bens Auge schoben sich die Bilder eines sechzehnjährigen Mädchens, dessen Handgelenke bis auf die Knochen wundgescheuert waren. Für den, der darauf achtete, waren die Linien noch heute an ihren Handgelenken sichtbar. Die Verletzungen an den Oberschenkeln, die schlimmer waren, je näher es zum Vaginalbereich ging. Nicht Armin Ziegler hatte sie vergewaltigt. Vielleicht hatte er tatsächlich nicht geahnt, dass so etwas passieren würde. Dennoch wäre Hanna niemals in die Gewalt der Männer geraten, wenn er nicht dazu den Auftrag gegeben hätte.

»Was jetzt?«

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Hannas Entscheidung