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Licht und Dunkelheit: Hüterinnen der Elemente

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
728 Seiten
Reihe: Licht und Dunkelheit, Band 4

Zusammenfassung

»Es ist an der Zeit, Tochter des Wassers, dass du aufhörst, in Selbstmitleid zu zerfließen, also reiße dich zusammen und stelle dich deinem Schmerz!« Eine Heilerin, die nicht Leben rettet, sondern einem kleinen Jungen den Tod bringt. Leonora, Tochter des Elementes Wasser, droht an ihrer Schuld zu zerbrechen. Doch die Göttin Lishar hat ihr ein anderes Schicksal vorher bestimmt. Leonora ist in ihrem Kampf gegen die Dunkelheit nicht allein. Ihre Schwester, ihre besten Freundinnen und auch neue Verbündete stehen ihr bei. Nach und nach müssen die Frauen erkennen, dass der Feind gegen den sie kämpfen, nicht im Außen, sondern in ihrem Innern lauert. Sind sie bereit das größte Opfer zu bringen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Samin

Sie schloss die Augen, berührte mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand seinen Hals dort, wo das Leben pulsierte. Mit der anderen umschloss sie fest seine Hand. Sie teilte seinen Schmerz, half ihm so, die letzten Stunden seines Lebens leichter zu ertragen. Trockene Tränen brannten in ihren Augen. Es war nicht das erste Mal, dass sie einem Menschen den Übergang von der einen Welt in die andere erleichterte, aber zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, daran zu zerbrechen.

Wenn eine der Schmerzwellen besonders heftig war, kroch Übelkeit in ihr hoch. Leonora war froh, dass sie ihre letzte Mahlzeit vor über einem Tag eingenommen hatte, sonst hätte sie sich übergeben.

Kein Heiler riss sich um den Dienst, einen Menschen auf seinem letzten Gang zu begleiten. Abgesehen von den oft heftigen Schmerzen, die mit einem langsamen Tod einhergingen, war die Belastung für die eigene Seele immens. Ihr fiel es leichter als den anderen Heilerinnen, damit umzugehen, darum bekam sie von Elija, der obersten Heilerin, ungewöhnlich oft diese Aufgabe zugeteilt. Doch heute stieß sie an ihre Grenzen.

Samin war wie ein Licht, das für alle Mintraner leuchtete, ein Junge von einer grundgütigen Art, die fest in seinem Charakter verwurzelt war. Jeden steckte er mit seiner Fröhlichkeit an, schaffte es, auf die Lippen aller Menschen ein Lächeln zu zaubern. Dabei schien er einen unerschöpflichen Vorrat an tiefgründigen Fragen zu haben, als hätte er in seinem Innern geahnt, dass ihm auf Erden nur wenig Zeit blieb. Wieso holte Gott ausgerechnet dieses Kind, gerade mal zehn Jahre alt, zurück in sein Reich? Leonora wusste, dass sie niemals eine Antwort auf diese Frage bekommen würde. Der Tod gehörte unabänderlich zum Leben, dieses Grundprinzip hatte sie als Heilerin als Erstes fest verinnerlichen müssen. Es war unabänderlich, dass der Körper, ein göttliches Kunstwerk ohnegleichen, nach und nach verfiel. Was blieb, war die Energie – der Wesenskern dessen, was die einzelnen, winzigen Partikel des Körpers über die Zeit seines Lebens zusammenhielt. Vielleicht war die Energie in Samin zu groß gewesen, als dass ein begrenzter Körper ihr ein langes Leben über hätte standhalten können – oder zu schwach.

Eine Hand wurde federleicht auf ihre Schulter gelegt. Dankbar nahm sie die Energie an, die in sanften, weichen Wellen durch ihren Körper zu fließen begann, peinlichst darauf bedacht, sich nie mit der ihren zu verbinden. Eisern schotteten die beiden Heilerinnen ihre Gedanken und Gefühle voneinander ab, ein unüblicher Prozess, da Kaja, die Mutter ihrer besten Freundin Levarda, und sie häufig miteinander arbeiteten.

Es gab nichts, was eine vor der anderen hätte verbergen müssen, obwohl es für Leonora manchmal gar nicht so einfach war, wenn sich Kaja während der Arbeit mal wieder von ihrem Bedürfnis, mit Rai zu schlafen, ablenken ließ. Die beiden führten selbst in ihrem reifen Alter ein aus Leonoras Sicht erstaunlich aktives Liebesleben.

Mit ihrer prüden Denkweise sorgte sie bei Kaja regelmäßig für Heiterkeitsausbrüche. Liebevoll zog Levardas Mutter sie damit auf, dass es auch für sie eines Tages, wenn sie den richtigen Mann träfe, gut wäre, wenigstens eine Vorstellung davon zu haben, was alles möglich war, wenn Mann und Frau sich in Leidenschaft vereinigten, anstatt die Sache nur als Mittel zur Entspannung zu betrachten.

Nein, sie hatte nicht vor, leidenschaftliche Gefühle für einen Mann zu entwickeln. Ihr ganzes Leben galt der Heilkunst und den Menschen in Mintra. Außerdem brauchte Eiméar sie, und das zählte mehr als alles andere. Diese Sache war eines ihrer bestgehüteten Geheimnisse, und nur Kaja kannte die Wahrheit, aber ihr konnte man absolut vertrauen.

Achtsam zog sich die ältere Heilerin zurück, ging zu ihrem Sohn Alvar und zog ihn in ihre Arme. Es erschütterte Leonora, wie der erwachsene Mann schluchzend den Kopf auf die Schulter seiner Mutter legte, die er um Haupteslänge überragte. Seine sehnige, kräftige Gestalt, gramgebeugt, sank noch mehr in sich zusammen. Es zerriss ihr das Herz. Dummerweise machte sie den Fehler, das für sie sichtbare Bild Samin, mit dem sie verbunden war, erkennbar werden zu lassen, anstatt es vor ihm zu verbergen.

Unruhig wand sich der Junge, und die Entspannung, die seinem Gesicht fast ein Lächeln und damit einen engelsgleichen Ausdruck verliehen hatte, verschwand. Ein Schatten legte sich über seine Züge. Rasch holte Leonora das Bild seiner Schwester zurück in ihre Gedanken. Jolanda saß auf der anderen Seite des Bettes und hielt die Hand ihres zwei Jahre älteren Bruders. Auch sie hatte die Veränderung bemerkt. Sie begann, eines seiner Lieblingslieder zu singen, ganz leise und dennoch mit einer unglaublichen, klaren Ausdruckskraft. Es war ein Klang, der einen innehalten und lauschen ließ, ob man es wollte oder nicht.

»Gibt es denn überhaupt nichts, was du tun kannst?«, brachte Alvar hervor.

»Nein«, kam es dumpf und erstickt von Kaja.

Er hatte Kaja und ihr diese Frage in den letzten Tagen, Stunden und Minuten hundertmal gestellt. Sie wusste, er brauchte es, musste dieses Nein immer wieder hören, um wenigstens zu versuchen, es zu begreifen. Als hätte nicht Samins Großmutter ihr eigenes Leben geopfert, wenn es ihren Enkel vor dem Tod bewahren würde. Viel schlimmer als die ständige Frage des ernsten Alvar war das schweigende Hin- und Herwiegen von Ruth, die sich weigerte, Jolandas Platz einzunehmen und als Mutter selbst Samins Hand zu halten. Aschfahl war sie im Gesicht, die dunkelgrünen Augen waren verschleiert. Die sonst so fröhlich wirkenden bernsteinfarbenen Sprenkel darin, die immer zu funkeln schienen, wenn sie lachte – was sie oft tat – waren erloschen, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Ihr Haar war stumpf und strähnig, ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Kaja warf ihr einen Blick zu, und die Sorgen um ihre Schwiegertochter standen ihr ins Gesicht geschrieben. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Mutter über den Tod ihres Kindes den Verstand verlor. Einzig und allein Jolanda besaß die Kraft, ihren eigenen Kummer beiseitezuschieben und für ihren sterbenden Bruder da zu sein.

Eine weitere Schmerzwelle brandete durch Leonoras Körper und ließ ihn erzittern. Lange würde sie es nicht mehr durchhalten. Flach atmend versuchte sie, die Übelkeit zurückzudrängen, aber es gelang ihr nicht, und sie begann, trocken zu würgen.

Sie legte ihre rechte Hand auf den Unterleib des Jungen, wo die heimtückische Krankheit am heftigsten wütete, sandte beruhigende Impulse in diese Region. Als sie glaubte, die Kontrolle über ihre eigenen Kräfte zu verlieren, die mit aller Macht zurück in ihren Körper drängten, damit sie sich selbst schützen könnte, spürte sie eine kleine, warme Hand auf ihrer. Sie öffnete die Augen und schaute in Jolandas Augen, die sie eindringlich anblickten. Das Mädchen hatte die gleichen kastanienbraunen Haare wie ihre Mutter, ihre Augen hingegen waren genau anders herum gefärbt als die von Ruth. Leuchtend bernsteinfarben mit dunkelgrünen Sprenkeln darin, die dem jungen Gesicht eine tiefe Ernsthaftigkeit verliehen, es älter und weiser erscheinen ließen, als es bei einem jungen Menschen sein sollte. Tapfer rang sich Leonora ein Lächeln ab. Sie konnte diese beiden unmöglich im Stich lassen. Während ihr Jolanda oft wie ein Schatten bei der Arbeit folgte, war Samin für sein Leben gern mit Eiméar ausgeritten. Heimlich hatte ihre Zwillingsschwester dem Jungen den Schwertkampf und das Bogenschießen beigebracht.

Sie wusste, dass Eiméar in den Wald geritten war, zu der Stelle, an der sie immer mit Samin trainiert hatte. Leonora hoffte, dass ihre Schwester die Kraft fand, mit ihrem Kummer umzugehen, bis sie wieder für sie da sein konnte.

Lishar, ich flehe dich an, hilf dem kleinen Jungen, zu sterben. Hat er nicht schon genug gelitten? Lass ihn endlich gehen.

Die Stimme erklang in ihrem Kopf. Vor Schreck hätte sie beinahe den Kontakt abgebrochen.

Du bist es, die nicht loslässt. Du bist es, die es beenden kann. Du bist es, die Erlösung bringt oder Schmerz.

Eine kalte Faust schloss sich um Leonoras Herz. Sie wusste, was die Stimme, von der sie nicht wusste, ob es ihre eigene war, meinte. So, wie sie den Körper stärken, Selbstheilungsimpulse senden konnte, so bot sich ihr die Möglichkeit, das Gegenteil zu tun. Bis dahin, ein Herz zum Stillstand zu bringen.

Das Leben von Samin beenden – ihn und seine Seele von den Schmerzen erlösen … Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Wäre es nicht Mord? Als hätte sie die Frage laut gestellt, ließ sie ein intensiver Blick von Kaja die Augen heben. Er war tränenverhangen und enthielt eine stumme Bitte.

Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Nein, das konnte sie nicht. Es bedeutete, ihre Kräfte, mit denen Lishar sie so reichlich gesegnet hatte, einzusetzen, um Leben zu beenden. Ihre Seele würde verdammt, und sie würde zu einem Teil der Dunkelheit werden. Nein, es kam nicht infrage.

Dein Weg ist vorbestimmt. Du musst den Mut finden, ihn zu gehen. Wer aus Liebe handelt, kann niemals verdammt sein.

Die wispernde Stimme in ihrem Kopf versuchte, sie in eine Falle zu locken. Sie kannte all die mintranischen Legenden, in denen Männer oder Frauen im Namen von Lishar oder Lethos die schlimmsten Vergehen gegen das Leben begangen hatten.

Die nächste Schmerzwelle raubte ihr beinahe das Bewusstsein. Jolandas Finger krallten sich in ihre Hände, die Fingernägel verletzten ihre Haut, und Blut quoll hervor. Dennoch war sie dem kleinen Mädchen zutiefst dankbar, weil es sie damit im Hier und Jetzt hielt.

»Warum muss er so leiden?«, hauchte Jolanda. »Warum beendest du es nicht? Ich weiß, du kannst es. Bitte, Leonora, ich flehe dich an, tu es für Samin, für Mama, Papa und Oma. Keiner von ihnen erträgt es mehr.« Flehentlich blickte das Mädchen sie an. In den dichten Wimpern hingen glitzernde Tränen.

Es geschah völlig unbewusst als Reflex auf das Flehen eines Kindes. Samins Herz schlug ein letztes Mal, dann stand es still. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Ein silbriger Schimmer erschien auf seinem Antlitz.

Gelähmt von ihrem eigenen Handeln sah Leonora zu, wie die glitzernden Fäden ihre Arme entlangkrochen. Ohne nachzudenken, löste sie die Hände von Samin, formte eine Schale, in der sich die funkelnden, glitzernden Fäden zusammen zu einem Ball formten.

Danke erklang es glockenhell in ihrem Kopf. Der Ball hob sich und ließ den ganzen Raum erstrahlen.

Ruth schrie hysterisch auf, warf sich auf den toten Körper ihres Sohnes, stieß dabei die erschrockene Jolanda vom Bett.

Die geweiteten Augen des Mädchens waren das Letzte, was Leonora sah.

2

Schwestern

Ein angenehm kühles Tuch lag auf ihrer Stirn, als sie die Augen aufschlug. Elija saß an ihrem Bett und strich ihr sanft über die Wange, als sie merkte, dass sie wach war.

»Ich dachte schon, du wolltest die Augen gar nicht mehr aufschlagen.« Sie nahm eine Schüssel von dem Tisch neben dem Bett, in der ein wohlriechender Eintopf dampfte, ohne Fleisch, dafür randvoll mit Gemüse.

Als die Meisterin Anstalten machte, sie zu füttern, schüttelte Leonora den Kopf. Langsam richtete sie sich auf, erschrocken vom Zittern ihrer Armmuskeln, die ihr beinahe den Dienst versagten.

»Langsam, mein Kind. Lass mich dir helfen.«

Elija reichte ihr die Hand, doch Leonora ignorierte sie. Auf keinen Fall wollte sie der obersten Heilerin der Mintraner durch die Berührung Zutritt zu ihrem Körper gewähren, nachdem sie das entsetzlichste Verbrechen begangen hatte, das eine Heilerin begehen konnte. Sie bemerkte ihre Irritation. »Deine Kräfte sind zu kostbar, als dass du sie an mich verschwenden solltest. Eine warme Mahlzeit, und es geht mir wieder gut.«

Wortlos reichte ihr Elija die Schüssel.

Bemüht, die zitternden Finger zu kontrollieren, schob sich Leonora den ersten Löffel voll Suppe in den Mund. Sie verfolgte, wie die Flüssigkeit langsam den Weg in ihren Magen fand, wartete kurz ab, wie dieser reagieren würde. Erst als sie sicher war, dass sie es schaffen würde, das Essen in sich zu behalten, nahm sie noch einen Löffel voll und schluckte.

»Du hättest etwas sagen müssen. Jemand anderer hätte deinen Platz einnehmen können.«

»Es war meine Aufgabe, und ich war es Samin schuldig.«

»Aus dem Gefühl der Schuld sollten wir niemals handeln.«

Die Meisterin ließ keine Gelegenheit aus, sie zu belehren oder zu tadeln. Manchmal hatte Leonora das Gefühl, dass Elija sich voll auf sie konzentrierte. Erlaubte sie sich auch nur einen Fehler, war das ein Anlass für eine lange Belehrung. Andere Heilerinnen machten Hunderte von Fehlern und wurden mit aufmunternden Worten ermutigt. Mach dir nichts daraus, das passiert. Beim nächsten Mal wirst du daran denken und es richtig machen. Mit ihr war die oberste Heilerin von Anfang an hart ins Gericht gegangen, als müsste sie einen Ausgleich dafür schaffen, dass es Leonora im Vergleich zu allen anderen unendlich leichtfiel, das komplizierte Wissen der Heilkunst zu erlernen.

Diesmal hatte sie etwas Unverzeihliches gemacht, das Leben eines Menschen beendet, indem sie den Fluss des Blutes angehalten hatte. Noch sah sie sich außerstande, die Wahrheit zu sagen und sich dem Urteil des Ältestenrates zu stellen.

Bei Lishar, ihr ganzes Leben hatte sie daran gearbeitet, zu verhindern, dass Eiméar dem Prozess der Loslösung von ihrem Element unterzogen wurde. Und in einem Bruchteil von Sekunden hatte sie es geschafft, alles zu verlieren. Erst als Elija ihr tiefseufzend ein Tuch reichte, bemerkte sie, dass sie zu weinen begonnen hatte.

»Du solltest nicht so hart mit dir ins Gericht gehen. Es gibt nichts, was wir für Samin hätten tun können, außer ihn auf seinem Weg in den Tod zu begleiten. Manchmal reichen unsere Kräfte nicht aus, um dem Sterbenden alle Schmerzen zu nehmen, egal wie sehr wir es uns wünschen. Sei froh, dass es vorbei ist. Es war ein Segen, dass sein junges Herz den Dienst versagte. Es hätte tagelang auf diese Weise weitergehen können.«

Leonora verschluckte sich, hustete, trank einen Schluck heißen Wein, gemischt mit Wasser und Honig. Der Alkohol kroch mit seiner beruhigenden Wirkung durch ihre Adern.

»Es ist die schwerste Aufgabe, die Lishar uns auferlegte, ein sterbendes Kind in den Tod zu begleiten. Du hast Samin geholfen, von einem hell leuchtenden Licht, das für uns schien, zu einem leuchtenden Stern am Firmament zu werden.«

»Ich glaube nicht, dass es den Eltern ein Trost ist.« Genauso wenig wie mir, fügte sie stumm für sich hinzu. Bei Lishar, sie hatte das Leben eines Kindes beendet. Ihre Seele war für immer verloren. Tränen traten ihr wieder in die Augen. Sie weinte um Samin und um sich selbst.

Sanft strich ihr Elija über das Haar. »Nein, das ist es in der Tat nicht. Wir alle werden ihn vermissen, aber in unseren Erinnerungen wird er fortleben. Bleibe in den nächsten Tagen zu Hause, bis du dich wieder stark genug fühlst. Und wann immer du jemanden zum Reden brauchst – ich bin für dich da.« Elija stand auf und verließ die Kammer.

Das Haus der Heiler war das größte Gebäude in Mintra. Der Hallenkomplex des Ältestenrates wirkte dagegen wie eine kleine Hütte, obwohl er ein architektonisches Meisterwerk war, mit gebogener Holzdecke, die mit üppigen Schnitzereien aus den mintranischen Legenden verziert war, und lichten Glasfenstern, nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet. In der Mitte des achteckigen Gebildes erhob sich der Baum des Lebens, an dem die Göttin Lishar einst das Bündnis mit Chandini schloss. Im Gegensatz dazu herrschte im Haus der Heilung Funktionalität und Schlichtheit vor.

Leonora ließ sich ins Bett zurücksinken. Sie fühlte sich noch zu schwach, um sich zum Aufstehen aufzuraffen, und fragte sich, ob sie überhaupt je wieder den Willen dazu aufbringen würde. Sie rollte sich im Bett zusammen und zog die Knie an.

»So in etwa habe ich es mir vorgestellt«, riss Eiméars samtig dunkle Stimme sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Der Geruch von Kiefernnadeln und Harz, der ihre Schwester immer zu umhüllen schien, erfüllte den Raum. »Leo, du kannst nicht die ganze Menschheit retten. Am Ende bist auch du nichts anderes als eine Frau mit besonderen Fähigkeiten, mehr nicht.« Das Bett sackte ein, als ihre Schwester sich darauf niederließ.

»Wie lange war ich bewusstlos?«

»Einen ganzen Tag. Elija hat sich furchtbare Sorgen um dich gemacht. Ungewöhnlich für sie, allerdings hielt es sie nicht davon ab, gleichzeitig darüber zu lamentieren, was für einen Fehler du gemacht hast, weil du niemanden gebeten hast, deinen Platz an Samins Sterbebett zu übernehmen. Ich denke, es half ihr, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen, weil sie dir immer die unliebsame Aufgabe der Sterbebegleitung überträgt. Petur meinte, sie hätte es nicht zulassen dürfen, dass ausgerechnet du Samin zum Tod hin begleitest, weil du ihm zu nahe gestanden hättest. Aber wer von uns stand ihm nicht nah?«

Leonora drehte sich um, legte ihre Wange auf ihre gefalteten Hände und betrachtete ihre Schwester. Eiméars ganzes Äußeres wirkte dunkel und düster mit ihren pechschwarzen Haaren, die in einem warmen Blauton schimmerten, wenn die Sonnenstrahlen darauf trafen. Der Farbton ihrer Haut glich der Farbe von Baumstämmen, und genau so war ihre Schwester: von außen rau und borkig, während innen eine verletzbare Seele ruhte und ein weiches Herz schlug.

»Er hat dich bewundert.«

»Egal was ich die letzten zwei Tage gemacht habe, er war überall mit dabei. Es gibt keinen einzigen Ort, der nicht voller Erinnerungen ist. Wie kann ein so junger Mensch mein Leben derartig beeinflussen? Ich liebe ihn so, dass ich das Gefühl habe, mein Herz müsste zerbrechen und würde nie wieder heilen.« In den haselnussbraunen Augen ihrer Schwester glitzerte es verdächtig.

Leonora streckte die Hand aus, ergriff Eiméars. Stumm hielten sie sich fest. Sie brauchten keine Worte, hatten sie noch nie gebraucht.

»Was ist passiert, Leo? Was hat dich aus der Bahn geworfen? Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Hat es dich wirklich so mitgenommen? Du bist es doch, die immer sagt, dass der Tod zum Leben gehört und nur neues Leben uns hilft, uns weiterzuentwickeln, voranzuschreiten, andere Erfahrungen zu sammeln, Dinge mit anderen Augen zu betrachten.«

»Ich habe ihn getötet, Mea.«

»Blödsinn – du würdest keiner Fliege etwas zuleide tun oder gar riskieren, zu einem Teil der Dunkelheit zu werden. Seit ich denken kann, treibst du mich zum Äußersten meiner Leistungsfähigkeit, fängst ab, was ich nicht beherrschen kann, um mich vor dem gewissen Schicksal zu bewahren. Niemals würdest du deine eigene Seele riskieren.«

»Ich konnte es nicht mehr ertragen. Die Schmerzen. Wie er litt. Ich war zu schwach, und es war so leicht. Ich brauchte nur den Fluss des Blutes zum Stillstand bringen.«

»Das meinst du nicht ernst.«

»Sehe ich aus, als würde ich spaßen?«

»Bei Lethos und Lishar!« Ihre Schwester nannte wie nur wenige Mintraner immer erst den Gott vor der Göttin. »Es ist dir ernst.«

»Todernst.«

»Weiß Elija es?«

Leonora zögerte, dachte daran, was die oberste Heilerin gesagt hatte. »Ich glaube nicht.«

»War Kaja zu dem Zeitpunkt mit dir verbunden?«

»Nein.«

»Wenn du es sagst, werden sie dich dem Prozess der Loslösung unterwerfen und dich aus Mintra verbannen.«

»Ich weiß, aber das ist es nicht, was mir die meiste Angst macht.«

Ihre Schwester wusste sofort, worauf sie anspielte. »Du bist vollkommen unverändert. Deine Aura schimmert und leuchtet so rein wie das Mondlicht. Es gibt keine Schatten darin. Keine Dunkelheit.«

Erst die Worte ihrer Zwillingsschwester machten Leonora bewusst, wie stark ihre Befürchtung gewesen war, dass sich die Unreinheit ihres Handelns bereits in ihrer Aura spiegelte.

»Aber wie lange wird es so bleiben?«

»Du solltest mit Kaja reden, bevor du irgendeine Entscheidung triffst.«

»Ich soll Samins Großmutter sagen, dass ich ihren Enkel getötet habe?«

Eiméar verzog das Gesicht, als hätte sie in eine faule Frucht gebissen. »Du hast recht, das ist keine gute Idee. Aber übereilt und unbedacht zu handeln, das ist mein Charakterzug, nicht deiner. Du bist die Vernünftige, du wirst eine Lösung finden. Komm erst mal zu Kräften. Morgen ist die Beisetzung. Meinst du, dass du es schaffst, dabei zu sein?«

»Bleibst du an meiner Seite?«

Ein Lächeln, selten bei ihr, erschien auf Eiméars Gesicht. Warm und fest hielten die kräftigen, dunklen Finger ihre hellen, feinen umschlungen.

»Wann wäre ich je von deiner Seite gewichen?«

3

Beisetzung

Aufgebahrt auf einem hohen Holzgestell lag Samins Leichnam im traditionellen weißen Totengewand der Mintraner. Weiß für die Reinheit der Seele, für das Licht des Mondes und für den Wunsch, der Tote möge in das Reich des Lethos eintreten dürfen. Den Kräuterkranz, der sein Haupt krönte, hatte Jolanda geflochten, nicht Ruth. In seinen Händen hielt er Zweige und eine Winterrose, das Einzige, was um diese Jahreszeit blühte. Das wirkte traurig, trostlos und ernst, ganz anders, als man Samin kannte. Er hätte einen bunten, duftenden Sommerblumenstrauß verdient. Leonora schwor sich, dass sie ihm einen pflücken und auf sein Grab legen würde.

Das Holzgestell war so klein und das darunter geschichtete Holz so wenig. Kinder sollten nicht auf einem dieser Gestelle liegen. Eiméar neben ihr bebte. Leonora streckte die Hand aus, und ihre Schwester ergriff sie. Auf der anderen Seite drückte Ashra, der Wolf, seinen Kopf gegen die Hüfte ihrer Schwester. Eiméar hatte ihn, als sie noch ein Kind war, zwischen seiner toten Mutter und seinen toten Geschwistern aufgelesen, halb verhungert. Sie legte die andere Hand auf den Kopf des Tieres. Der Wolf war loyal. Es war nicht das erste Mal, dass Leonora ihre Zwillingsschwester um diese treue Seele beneidete. Der Wolf wich ihr nie für lange von der Seite, und mit der Zeit hatte er sein ganzes Wolfsrudel um ihre gemeinsame Höhle geschart.

Leonora blickte zu Samins Eltern hinüber. Ruth wirkte wie eine steinerne Skulptur. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Jeder Versuch von Jolanda, ihrer Tochter, Kontakt zu ihr aufzunehmen, sie zu trösten, für sie da zu sein, prallte ab an der leeren Hülle, die von Ruth übrig zu sein schien. Dabei hatte das Mädchen eine Ausdauer und innere Kraft bewiesen, die Leonora tiefe Bewunderung abrangen. Beständig redete sie mit ihrer Mutter, bürstete ihr das Haar, half ihr beim Anziehen und wusch sie. Stundenlang saß sie bei ihr, schob ihr das Essen hin und bewies dabei eine Beharrlichkeit, die Ruth zum Essen zwang. Alvar hatte es längst aufgegeben, seine Frau in ihrer Trauer zu erreichen. Leonora wusste: Er hoffte, dass sie irgendwann zu ihm zurückkehren würde. Aber sie erkannte es, wenn eine Seele zerbrochen war. Verlor ein Mensch jeglichen Lebenswillen, so schafften es die Gedanken, Oberhand über den Körper zu gewinnen. Signale, die der Körper für seine Bedürfnisse sendete, wurden blockiert, bis er irgendwann aufgab und sich dem Willen zu sterben fügte.

Sie hatte auch das in ihrer Zeit als Heilerin schon einmal erlebt. Es war schockierend gewesen, wie rasch der Verfall eines gesunden Menschen hin zu einem Toten vonstattenging. Ruth würde sterben, wenn ihre Tochter es nicht schaffte, sie aus ihrer Trauer aufzuwecken. Und weil Jolanda es nicht wagte, Ruth auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen, ging Leonora jeden Tag zu ihr und brachte ihr Kräuter, die ihrer Mutter helfen sollten, die Trauer zu verarbeiten.

Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit nach Samins Tod aufgewacht war, verbrachte Leonora jeden Morgen zwei Stunden in Meditation. Und statt zu heilen, hatte sie sich in die Küche des Hauses der Heilung zurückgezogen und die Aufgabe übernommen, Tinkturen, Salben, Sude und Öle zuzubereiten. Elija hatte es akzeptiert, dass sie sich vor den Kranken zurückzog, doch ihre Geduld begann bereits zu schwinden. Der Winter war streng und brachte viele Krankheiten mit sich. Die Ernte vom Herbst, die aus dem immer kleiner werdenden Gebiet stammte, das Lord Blourred den Mintranern zur Verfügung stellte, würde längst nicht reichen, um mit den Vorräten den Winter zu überbrücken. Genauso war es bei den mintranischen Jägern, die seit Langem nicht mehr so reiche Beute zurückbrachten wie früher. Die Jäger überschritten daher oft die Grenze nach Forran. Schließlich interessierten sich Wildtiere nicht für Grenzen, und niemand hatte das Recht, etwas, was Gott allen zur Verfügung stellte, für sich allein zu beanspruchen.

Lord Blourred, ein Forraner vom Geschlecht der Tokaten, der Mintra als Teil seines Herrschaftsgebietes ansah, war anderer Auffassung. Vor Kurzem erst war ein mintranischer Jäger von den Soldaten des Lords aufgegriffen worden, als er in das Dankesgebet für ein getötetes Wildschwein vertieft war. Er war vor das Gericht des Lords gebracht, wegen Wilddieberei angezeigt und zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Das Urteil war vollzogen worden, bevor überhaupt jemand aus dem Ältestenrat von Mintra zu seiner Verteidigung hätte vorsprechen können.

Als Nächstes war ein junges Mädchen verschwunden, die Enkeltochter von Petur, dem zur Zeit einzigen Mann im Ältestenrat von Mintra. Sie war Kräuter sammeln gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.

Immer wieder hatte es den einen oder anderen Mintraner fortgezogen, um in den anderen Ländern von Alurin oder sogar jenseits der Meere sein Glück zu suchen. Es war vorgekommen, dass jemand bei Nacht und Nebel das Land verließ, ob Mann oder Frau, doch Sigrid, Peturs Enkelin, war eine echte Tochter der Elemente gewesen, still, zurückhaltend, bodenständig und in ihrer Familie fest verwurzelt. Es wäre überhaupt nicht mit ihrem Charakter vereinbar gewesen, dass sie ihre Familie einfach so im Stich lassen sollte. Auf Peturs Bitte hin hatte sich Eiméar als die beste Spurenleserin zusammen mit Ashra und seinem Wolfsrudel aufgemacht, um die Spur des Mädchens zu verfolgen. Sie führte durch die dichten Wälder des Asambra und über die Grenze. Auf einer Waldlichtung unweit der Burg Hodlukay endete die Spur. Dort fanden sich ein Stofffetzen von Sigrids Kleid und Abdrücke vieler Männerstiefel. Der Boden war aufgewühlt von beschlagenen Hufen.

Petur hatte um eine Audienz bei Lord Blourred gebeten, um das Verschwinden seiner Enkeltochter im Zusammenhang mit den Beweisen darzulegen, dass man sie gegen ihren Willen mitgenommen hatte. Weil es auf seinem Gebiet geschehen war, oblag es der Verantwortung des Lords, Nachforschungen in die Wege zu leiten, um den Fall aufzuklären und Sigrid zu finden – oder, wenn sie tot war, die Schuldigen vor Gericht zu bringen.

Der Lehnsherr hatte zwar sein Bedauern ausgesprochen, jedoch keinen Grund gesehen, Nachforschungen anzustellen. Der Status einer Frau lag in Forran nur geringfügig über dem eines Stücks Vieh, und man hatte nun einmal darauf aufzupassen, es gut zu verschließen und zu behüten. Kam also jemandem ein Mädchen abhanden, so war das höchstens ein materieller Verlust für denjenigen, also die betreffenden Eltern und Familienangehörigen. Aber so war das nun einmal. Wenn die Schuld an dem Verschwinden des Mädchens überhaupt jemanden traf, dann nur den Vater selbst.

Gerechtigkeit wäre Sigrid aber nicht einmal dann widerfahren, wenn der Lord anders entschieden hätte. Selbst wenn man einen Schuldigen gefunden hätte und ihm einen Mord oder was auch immer hätte nachweisen können, so wäre er lediglich zur Zahlung des Wertes in Gold oder zum Ausgleich des Verlustes in Form von Vieh verurteilt worden.

Leonora hatte den weisen, ruhigen und bedächtigen Petur noch nie zuvor zornig und bitter erlebt. Sogar sein Versuch, mit Lady Tibana, Lord Blourreds Frau, einer Mintranerin und Schwester von Kaja, zu sprechen, scheiterte. Seit Jahren war das Verhältnis des Ältestenrates zu Tibana distanziert und unterkühlt gewesen, seit der Rat Tibana vor Jahren verweigert hatte, ihre Tochter Smira von ihrer Schwester Kaja an den Hof des Hohen Lords Gregorius begleiten zu lassen.

Allein der Gedanke, dass Kaja ihren Mann und alle ihre Kinder verlassen sollte, war in Leonoras Augen anmaßend und egoistisch von Tibana gewesen. Als sich dann Levarda entschieden hatte, der Bitte nachzugeben und Smira an den Hof zu begleiten, war Leonora schockiert gewesen. Aus einem ihr unerfindlichen Grund war Levarda für ihr Volk etwas Besonderes gewesen – wie Samin. Dabei waren ihre Talente als Tochter des Elementes Wasser nicht herausragend gewesen.

Leonora vermisste Levarda unendlich, aber der Ältestenrat hatte ein klares Votum gegen ihre Einmischung in forranische Angelegenheiten ausgesprochen, zumal es darum ging, einen Mann an der Macht zu halten, der seine Gemahlinnen hinrichten ließ, wenn sie ihm keine Kinder schenkten. Sobald Levarda gegen die Anweisung des Ältestenrates handelte, würde sie das Recht verlieren, jemals wieder die Grenze nach Mintra zu überschreiten, und dennoch hatte sie es getan.

Es war eine seltsame Sache mit dieser Grenze, die der Ältestenrat vor langer Zeit heraufbeschwor, um wenigstens das letzte Stück Land von Alurin für die Mintraner zu bewahren. Manchmal erschien es Leonora, als würde sich diese Grenze ihrer Kontrolle entziehen. Nur Kinder der Elemente waren überhaupt noch in der Lage, sie zu überschreiten. Alle anderen, die versuchten, sie zu überqueren, kehrten irgendwann an den Ausgangspunkt ihrer Wanderung zurück. Wenn die Jäger unter hohem Risiko heimlich auf dem Gebiet von Lord Blourred jagen gingen, wurden sie deshalb immer von einem Kind der Elemente über die Grenze begleitet. Was blieb ihnen schon übrig, wenn ihr Volk im Winter nicht verhungern sollte? Wenn Eiméar mit den anderen Jägern unterwegs war, stand Leonora jedes Mal Todesängste um sie aus.


Die zwölf Mitglieder des Ältestenrates von Mintra traten zu Alvar. Sie alle waren in verschiedenfarbige Gewänder mit Kapuzen gekleidet, ein jeder so, wie es seinem Wesen entsprach.

Es gab keine Gleichförmigkeit hier. Sie alle dienten dem Volk auf ihre Weise, weshalb sich auch in ihren Gewändern ihre Vielfalt widerspiegelte. Derzeit war Petur das Oberhaupt des Rates. Die Position wurde durch Wahl unter den Mitgliedern entschieden, wohingegen das Volk die Personen auswählte, die in den Ältestenrat hineinkamen. Ausschlaggebend für eine Wahl war die persönliche Leistung, die jemand für die Gemeinschaft erbrachte. Weder Beziehungen noch Herkunft spielten irgendeine Rolle. Alle fünf Jahre wurde neu entschieden, wer Teil des Ältestenrates sein würde. Innerhalb der Amtszeit wurde nur in Ausnahmefällen jemand neu hineingewählt, zum Beispiel, wenn ein Mitglied krank wurde oder sich aus anderen Gründen außerstande sah, seiner Verpflichtung nachzukommen.

Bei der letzten Wahl waren Kaja und Amira an Leonora herangetreten und hatten ihr angeboten, sie auf die Liste der möglichen Kandidaten des Ältestenrates setzen zu lassen. Einen Moment war sie vor Ehrfurcht darüber, dass die beiden ihr so eine Position im Volk zutrauten, schier erstarrt. Eine Woche lang hatte sie überlegt und es dann doch abgelehnt. Es hätte sie ohne Frage gereizt, über die Zukunft ihres Volkes mitzuentscheiden. Dann aber hatte ihr der Gedanke der Verantwortung Angst gemacht. Schon als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatten ihre Freundinnen über ihre Ernsthaftigkeit die Augen verdreht. Vor allem mit Vivien, die mit ihrem Temperament ständig jede Grenze zu überschreiten schien, war sie häufig aneinandergeraten. Mehr als einmal hatte sie die Freundin bei den Erwachsenen verpetzt. Dabei hatte sie Vivien um ihre Unbändigkeit, ihren Freiheitsdrang und die Leichtigkeit, mit der sie lebte, beneidet. Bewusst war es ihr erst geworden, als es zu spät war. Oft sehnte sie sich nach Vivien, nach ihrem Lachen und ihrer Lebensfreude. Ohne sie war das Leben in Mintra um so viel ernster geworden. Eiméar litt sogar noch mehr unter dem Verlust ihrer Freundin. Das war ein anderer Grund für sie gewesen, eifersüchtig auf Vivien zu sein. Sie hatte immer Angst gehabt, dass Eiméar sich von Vivien beeinflussen und zu Dingen anstiften ließe, die die Macht aufwecken würden, die in ihr schlummerte. Niemand ahnte, dass ihre Schwester das Element Feuer in einer Art und Weise beeinflussen konnte, mit der sie ihrer Meinung nach selbst die Fähigkeiten ihrer Tante Larisan übertraf. Und Larisans Schicksal war eine Mahnung für sie beide, dies geheimzuhalten.

Eine Tochter des Elementes Feuer entfachte die Fackeln in Alvars, Ruths und Jolandas Händen. Sie würden später das Feuer unter dem Holzgestell entzünden. Danach würden die Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins das Feuer ihrer Fackeln hinzufügen. Nach der Familie kämen dann die engsten Freunde von Samin an die Reihe. Zu ihnen zählten auch Leonora und Eiméar. Gemeinsam würden sie an das Holzgestell treten. Leonora würde all ihre Kraft brauchen, nicht nur für sich, sondern auch für ihre Schwester, damit diese nicht die Kontrolle über ihre Gefühle verlor, eine gefährliche Situation in Anbetracht der Nähe zu ihrem Element Feuer.

Der Rat bildete einen Kreis um das Holzgestell, und gemeinsam eröffneten die Ältesten das Gebet an Lishar, indem ihre Arme, die zunächst an ihren Seiten herabgehangen hatten, in absolutem Gleichklang einen Kreis beschrieben. Dann legten sie alle die Handflächen oberhalb ihres Kopfes aneinander, die Augen gegen den Himmel gerichtet. Langsam führten sie die Fingerspitzen zu ihrer Stirn, zum Mund, öffneten die Handflächen und legten sie jeder auf das Herz. Die Wolken brachen auf, ein Sonnenstrahl fiel auf das Holzgestell, erhellte den Leichnam. Eine unglaubliche Energie lag in der Luft, die nicht nur für die Kinder der Elemente spürbar war.

Sogar Ruth bewegte den Kopf, und der Ausdruck in ihren Augen, der gezeigt hatte, wie ganz nach innen gerichtet sie war, veränderte sich. Ihre Wahrnehmung kehrte zu ihrem toten Kind zurück, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sanft, aber doch laut genug, dass es für alle weithin hörbar war, begann Petur, die Worte zu sprechen: »Lishar und Lethos, wir bitten euch, erhört unsere Gebete. Begleitet diesen Menschen in das Reich des Vaters. Seid seine Fürsprecher vor seinem Gericht. Vergebt ihm seine Sünden, sodass seine Seele rein gewaschen vor Gott den Vater, den Allmächtigen, treten kann, der alles auf dieser Erde erschuf und ihm Leben einhauchte. Schenkt all denen, die um ihren Verstorbenen trauern, euren Trost. Steht ihnen bei in dieser Zeit der besonderen Not. Entzündet ein Licht, leitet sie am Tage und in der Nacht. Bewahrt sie davor, in der Dunkelheit zu versinken. Gebt ihnen Mut, dass sie ihre Aufgabe auf Erden, die der Vater ihnen zugedacht hat, finden und erfüllen, trotz ihres Verlustes. Schenkt ihnen die Hoffnung auf ein Wiedersehen, dort, wo wir uns alle eines Tages finden, in seinem Reich. Wir bitten euch, Lishar und Lethos, als eure Kinder: Schenkt uns eure Liebe.«

Es schien, als würde die Welt stillstehen, bis ein markerschütternder Schrei die Stille zerriss. Ruths Fackel landete in dem Holzhaufen, der knisternd von den hungrigen Flammen entzündet wurde. Auch Alvar und Jolanda warfen ihre Fackeln in den Holzhaufen. Ruth fiel auf die Knie, schrie, wehklagte und wurde von Schluchzern geschüttelt. Jolanda legte die Arme um ihre Mutter, versuchte sie zu beruhigen, ihr aufzuhelfen. Alvar stand nur neben seiner Frau, blickte hilflos auf sie hinab, bis ihm seine eigene Mutter Kaja einen Stoß versetzte. Aber es war Rai, der seine Schwiegertochter aufhob und sie auf seinen Armen von dem brennenden Holzgestell forttrug.

4

Vision

Leonora lag in der Dunkelheit und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen von Eiméar und Ashra. Der Wolf war ihrer Schwester seit der Beisetzung nicht einen Zentimeter von der Seite gewichen, noch nicht einmal, um seinen Anteil von dem zu fressen, was das Rudel gejagt hatte. Sein Verhalten machte die anderen Wölfe unruhig, und so liefen sie, statt zu schlafen, vor der Höhle herum. Ashra hatte Eiméar seinen Kopf auf den Bauch gelegt, und sie hatte ihre Hand in seinem dichten Nackenhaar vergraben. Die Lider halb geschlossen, wachte der Wolf über sie.

Seine Anwesenheit, seine Treue, aber vor allem der Umstand, wie aufmerksam er den Seelenzustand ihrer Zwillingsschwester wahrnahm, beruhigte Leonora. Das Tier würde immer für sie da sein. Seit der Wolf in ihr Leben getreten war, schaffte Eimeár es viel leichter, ihre Kräfte unter Kontrolle zu behalten. Leonora seufzte auf, und das veranlasste Ashra dazu, die Augen ganz zu öffnen und ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen.

»Versprichst du mir, auf sie aufzupassen, wenn ich es nicht mehr kann?«, wisperte sie in die Stille.

Ein kaum hörbares Winseln war die Antwort und wurde direkt von dem Rudel aufgegriffen. Einer der Wölfe ließ ein lang gezogenes Heulen hören. Ein Schauer lief ihr bei diesem Laut über die Arme. Es klang so verzweifelt, klagend, ja verlassen, dass es ihr wieder Tränen in die Augen drängte, dabei hatte sie gedacht, dass sie ihr nach der vielen Heulerei von heute ausgegangen wären.

Es war zwecklos. Sie würde keinen Schlaf mehr finden. Leise stand sie von ihrem Lager auf. Als sie sich über Eiméar beugte, um sie zu wecken, damit sie die schlaflose Nacht nicht allein mit ihren zermürbenden Gedanken verbringen musste, stieß der Wolf ein dumpfes Grollen aus, das tief aus seiner Brust drang.

Sie gab nach. Er hatte recht. Es wäre unfair, ihre Schwester um den Schlaf zu bringen, nachdem sie so lange darum gerungen hatte. Sie brauchte kein Licht, fand ihre Sachen mit tastenden Händen.

Kaum war sie aus der Höhle getreten, erwischte der kalte Winterwind sie, der aufgekommen war, kurz nachdem sie Samins Asche in einem Tontopf verschlossen hatte. Sie hatte es getan, obwohl es nicht ihre Aufgabe gewesen war. Sie hatte impulsiv gehandelt, als sie Jolandas flehenden Blick bemerkt hatte. Alvar, Ruth, Kaja und Rai waren gegangen und hatten ihre Enkeltochter allein gelassen. Leonora war an Jolandas Seite getreten, um ihr ein wenig Kraft und Energie zu geben. Die anderen Familienmitglieder überließen ihr den Platz an der Seite des Mädchens, dankbar für ihre Hilfe. So kam es, dass am Ende sie es war, die gemeinsam mit Jolanda die Asche in den Tonkrug füllte und das Gebet murmelte. Ausgerechnet sie, die das Leben des Jungen beendet hatte.

Bisher hatte Leonora das Ritual mitsamt den Worten immer als tröstlich empfunden.

Der Wind trägt die Seele zur Erde und haucht ihr Leben ein. Das Wasser gibt ihr Halt und Nahrung und lässt den Körper wachsen. Wenn die Seele den Körper verlässt, kehrt dieser zur Erde zurück. In den Flammen des ewigen Feuers wird die Seele von allem Irdischen gereinigt. Zurück bleiben Staub und Asche, die Zeichen für den Kreislauf des Lebens. Dort, wo alles begann, dort endet es.

Bei der Beisetzung ihrer Eltern hatte sie zusammen mit Eiméar die Worte eines ums andere Mal wiederholt, so lange, bis auch das letzte bisschen der Asche sicher im Tonkrug verwahrt war. Ein Jahr hatten sie die Überreste der Eltern in der Höhle auf einem Tisch aufgehoben, zusammen mit allen Erinnerungsstücken an sie. Sie hatten gebetet, erzählt, gedankt und sich erinnert. Erst dann waren sie bereit gewesen, das letzte Band zu lösen und die sterblichen Überreste in den feurigen Kern des Asambra zu werfen.

Für diesen Prozess gab es keinen festgelegten Zeitraum. Jede Familie folgte ihrem eigenen Zeitrhythmus, und manch einem gelang dieser letzte Schritt nie. Sofern es die anderen Familienmitglieder so wollten, wurde der Tonkrug dann demjenigen, der nicht hatte loslassen können, auf die eigene Totenbahre mitgegeben.

Als sie mit Jolanda zusammen die Ritualworte sprach, hatte ihr ständig die Stimme versagt. Ihre Tränen hatten sich mit der Asche von Samin vermischt und sie zu einer feuchten Schmiere werden lassen.

Der Platz für die Verbrennung lag an einer Stelle am Fuße des Asambra, die aus glattem Fels bestand, auf drei Seiten durch schroffe Felswände begrenzt. Dort, wo das Holzgestell, die Totenbahre aufgebaut war, war der Felsboden glatt gearbeitet. Rundherum gab es tiefe Einkerbungen, Sonnenstrahlen gleich, die von der Bahre als ihrem Zentrum ausgingen und in einer ringförmigen Rinne endeten, die zur Felskante hin abschüssig verlief, wo sich ein Tongefäß darunterstellen ließ. Je nach Wetterlage konnte die Asche trocken oder feucht eingefüllt werden.

Leonoras Hände hatten gezittert, als sie versucht hatte, die feuchte Mischung in den Krug zu befördern, bis Jolanda ihre Hand ergriffen, sie geküsst und an ihre Wange gelegt hatte. Ein dunkles Abbild ihrer Finger aus Tränen und der Asche des Bruders hatte sich auf der Wange des Mädchens abgezeichnet. Seltsamerweise hatte es Leonora getröstet, und sie hatte Jolandas trauriges Lächeln erwidert. Was für eine Kraft in diesem Kind steckte.


Völlig in den Bildern vom Tag der Beisetzung gefangen achtete Leonora nach ihrem Aufbruch aus der geschwisterlichen Höhle nicht darauf, welchen Weg sie einschlug. Es wunderte sie allerdings nicht im Mindesten, als sie sich am gefrorenen Ufer des Sees Luna wiederfand.

Einer der Wölfe, ein mageres, zerrupftes Weibchen, war ihr gefolgt. Auch das Rudel von Ashra hatte sein Jagdgebiet erweitern müssen, um Nahrung für alle zu finden. War den Wölfen das Jagdglück hold, teilten sie die Beute mit Eiméar. Der Magen mitsamt seinem nährstoffreichen Inhalt stand dem Rudelführer zu. Darum war der Leitwolf selbst im Winter kräftig und muskulös und besaß ein glänzendes Fell. Die Verteilung der Reste geschah nach strengen Regeln. Das Weibchen war noch jung und stand anscheinend ganz am Ende der Rangfolge.

Leonora streckte ihre Sinne aus, testete das Eis und balancierte so weit zur Mitte des Sees, wie es die Festigkeit der Oberfläche zuließ. In der Mitte, wo das Wasser am tiefsten war, waren auch seine Heilkräfte am stärksten konzentriert. Auch wenn sie das Element Wasser beeinflussen konnte, sodass sie keine Angst vor dem Ertrinken zu haben brauchte, war Leonora nicht darauf erpicht, mitten im Winter ein eiskaltes Bad zu nehmen. Ihre Absicht war es nun, von dem tröstenden Wasser zu trinken und ihren Ledertrinkbeutel damit zu füllen. Sie würde es zusätzlich mit starken Kräutern anreichern, die einer verletzten Seele halfen, Trost zu finden. Sie wollte es am nächsten Morgen Samins Familie bringen, in der Hoffnung, dass es Ruth helfen würde.

Die Hände zu einer Schale zusammengelegt nahm sie mit geschlossenen Augen Verbindung zu ihrem Element auf. Sanft löste sie die wunderschönen und vielfältigen kristallinen Strukturen des Wassers im gefrorenen Zustand auf. Fast tat es ihr leid, die kleinen Kunstwerke durch den Prozess der Veränderung zu zerstören. Doch es war notwendig, denn nur im flüssigen Zustand entfaltete das Wasser seine tröstenden Heilkräfte. Am Rande ihrer Wahrnehmung bemerkte sie ein silbriges Licht.

Ein lang gezogenes Heulen der Wölfin ließ sie die Augen öffnen. Die Welt, wie sie sie kannte, war verschwunden. Die Geräusche verstummten. Sie stand in einer silbern schimmernden Wasserblase. Hitze entstand, versetzte das Wasser in seinen dritten Zustand – Dampf. Dieser verdichtete sich zu einer Frauengestalt im Gewand der Heilerinnen, die Kapuze über den Kopf gezogen. Dichtes, wallendes schwarzes Haar quoll darunter hervor. Gesichtszüge begannen sich abzuzeichnen, eine feine, gerade Nase, Lippen in Herzform, Wangenknochen, die ein wenig hervortraten, doch zum spitz zulaufenden Kinn passten. Das ovale Gesicht hatte einen Ausdruck, der sowohl weich als auch streng wirken konnte. Bisher nie empfundene Energie strömte durch Leonoras Lebensbahnen, erreichten ihre innerste Quelle und explodierten. In einer Qual, die ihr die Besinnung zu rauben drohte, löste sich ihr Körper in winzige Partikel auf. So also sah das Ende aus. Das war ihre Strafe dafür, dass sie ein unschuldiges Leben beendet hatte.

»Es ist an der Zeit, Tochter des Wassers, dass du aufhörst, in Selbstmitleid zu zerfließen, also reiße dich zusammen und stelle dich deinem Schmerz!«, donnerte eine zornige Frauenstimme sie an.

»Wie kann ich das? Ich habe getötet.«

»Und es wird nicht der letzte Tod sein, dem du begegnest oder der durch deine Hand geschieht.«

Die Worte lösten ein solches Entsetzen in ihr aus, dass sie die Qual darüber vergaß. Überrascht betrachtete sie ihren Körper, der sich aus den einzelnen Partikeln wieder zusammenzufügen begann.

»Du hast dich hinter deiner Angst verkrochen, hinter dem Rücken deiner Schwester. Willst du für immer dort verharren oder bist du bereit, endlich den Mut aufzubringen, deinen vorherbestimmten Weg zu gehen?«

Empört sah Leonora die Frauengestalt aus Wasserdampf an, die sich groß und mächtig vor ihr erhob.

»Wer sagt, dass ich feige bin? Beweise ich nicht jeden Tag Mut, wenn ich den Menschen von Mintra helfe, ihre Krankheiten zu heilen?«

»Den Menschen von Mintra. Genau. Und zwar nur den Menschen von Mintra. Wagst du es, mein Geschenk, dass ich dir so großzügig angedeihen ließ, in den Nutzen aller Menschen zu stellen? Es vollkommen auszuschöpfen? Nein. Stattdessen machst du dich klein, ordnest dich unter, lässt andere für dich Entscheidungen treffen. Und wenn du einmal eine eigene triffst, weil dein Herz es mit aller Macht von dir fordert und dir keine andere Wahl mehr lässt, wenn du einmal bereit bist, die Kontrolle deines Verstandes aufzugeben zugunsten dessen, was du fühlst, dann wendest du dich am Ende voller Feigheit von dir selbst ab.«

»Du siehst, was geschieht, wenn ich mein Herz die Oberhand gewinnen lasse. Ein unschuldiger Mensch ist gestorben.«

»Der bereits dem Tode geweiht war. Ja, er starb durch deine Hand und wurde von seinen Qualen erlöst. Das ist eine Entscheidung, die du triffst, ein Preis, den du bezahlst, so wie jede deiner Entscheidungen einen Preis von dir fordert.«

»Meine Bestimmung ist es, Menschen zu retten.«

»Alle Menschen, nicht allein ein Kind, nicht einen einzelnen, sondern sie alle.«

»Das kann ich nicht.«

Die Energie floss aus Leonoras Körper, und die Gestalt vor ihr schrumpfte. Die Feuchtigkeit der Luft perlte auf ihrer Haut, durchtränkte ihre Kleidung.

»Wenn du den Mut nicht in dir findest, dann ist die Welt verloren«, wisperte die Stimme. »Ohne dich kann nicht beendet werden, was begonnen hat. Deine Seele wird verdammt sein wie die der ganzen Menschheit. Sklaven werden sie alle sein bis ans Ende der Zeit. Das Opfer der Liebe, das ich brachte, war vergebens, die Bitte des kleinen Mädchens umsonst, das Geschenk, das ich euch gab, vergeudet. Ihr habt den Eid, den mir Chandini leistete, gebrochen, weil euch ihr Mut fehlt, um für mich zu kämpfen und euer Opfer zu bringen.«

Das silbrige Licht verschwand. Die Wasserblase löste sich auf. Stattdessen umschloss eiskaltes Wasser Leonora, brachte ihr Herz für die Zeit von zwei Schlägen zum Stillstand. Dunkelheit kroch heran, Tentakel begannen sie zu umschließen, zogen sie zum Grund des Sees hinab. Sie gab sich ihnen widerstandslos hin, hob ihr Gesicht zur immer weiter entschwindenden Wasseroberfläche empor, wo sich der Halbmond am Firmament spiegelte. So gern hätte sie sich wenigstens von Eiméar verabschiedet. Ihre Füße berührten den Grund. Einem wirbelnden Wasserstrudel gleich begann die Dunkelheit, alles zu verschlingen. Schmerzensschreie erklangen, Klagelaute füllten ihren Kopf aus.

Dann lichtete sich die Dunkelheit, machte einem grauenvollen Bild Platz. Sie wanderte auf verbrannter Erde über Berge von Skeletten in grotesk verzerrten, gebrochenen, verbogenen, zersplitterten Knochenstrukturen, die von einem gewaltsamen Tod zeugten. Die Schreie Tausender zu Tode gequälter und gefolterter Seelen erklang. Egal wie sehr Leonora versuchte, im Wasser die Hände auf ihre Ohren zu pressen, es misslang ihr, die Laute auszusperren. Sie schloss die Augen, drückte die Augenlider aufeinander, wollte wenigstens die Bilder der Knochenberge ausschließen. Mühselig beschwor sie das Gesicht ihrer Schwester herauf, ließ die Liebe zu ihr durch ihre Adern strömen. Alles um sie her wurde still. Unheimlich still.

Vorsichtig blinzelte sie. Ein kleines Mädchen mit nachtschwarzem, lockigem Haar saß im Schneidersitz auf der Spitze des Knochenberges. Es hatte seinen Arm tröstend um einen blondhaarigen Jungen gelegt, der die Hände vor sein Gesicht geschlagen hatte. Keine Angst, ich verlasse dich nicht, durch uns fließt dasselbe Blut. Die dunkelblauen Augen des Mädchens blickten auf Leonora herab. Ihre Unterlippe zitterte. Leonora kannte das Gesicht, es ähnelte dem ihrer Freundin Levarda aus Kindertagen, und das war für sie zugleich verblüffend, tröstlich und auf erschreckende Weise anklagend.

Bitte Leonora, finde den Mut, zu leben. Wir brauchen dich.

5

Eiméar

Eiméar drehte sich im Halbschlaf auf die Seite. Ashra leckte ihre Hand. Genervt verbarg sie sie unter ihrem Körper, in der Hoffnung, dass er sie endlich in Ruhe weiterschlafen ließ. Stattdessen begann der Wolf, sie mit seiner feuchten, kalten Nase ins Gesicht zu stupsen. Sie knurrte und hob schützend die Bettdecke über ihren Kopf. Als Nächstes zog er ihr die Decke weg. Nein, diesmal würde sie nicht nachgeben und aufstehen, egal was Ashra von ihr wollte. Sie war von den letzten Tagen vollkommen erschöpft. Einerseits war sie mit Energie angefüllt, die sie unterdrücken und kontrollieren musste, andererseits war sie völlig ausgelaugt. Ihr fehlte die Kraft, gegen ihre Trauer, den Verlust, die negativen Gefühle, die in ihr tobten, anzukämpfen. Die paar Stunden traumlosen Schlafes hatten ihr so gutgetan, nachdem sie sich eine Ewigkeit im Bett gewälzt hatte, um überhaupt einzuschlafen. Was war bloß in Ashra gefahren, dass er sie so bedrängte, obwohl er genau spüren musste, dass sie den Schlaf dringend brauchte? Seine Schnauze schloss sich um ihren Arm. Mit den Vorderpfoten stemmte er sich gegen das hölzerne Bettgestell und zerrte an ihr.

Sie riss die Augen auf, starrte in die bernsteinfarbenen Wolfsaugen, die in der Dunkelheit leuchteten. »Bist du von Sinnen? Hör sofort auf damit!«

Sie versuchte, ihren Arm aus seinem Fang zu befreien, indem sie gegenhielt, aber statt sie freizugeben, packte er sie nur fester, und die Zähne bohrten sich schmerzhaft in ihren Arm. Das hatte er noch nie gemacht. Entschlossen ruckte er an ihr, in seiner Technik von Nachgeben und vollem Körpereinsatz, womit er sie kurzerhand vom Bett auf den Boden beförderte. Erschrocken schrie sie auf, versetzte ihm mit der freien Hand einen Schlag auf die empfindliche Schnauze, woraufhin er aufheulte und sie losließ, aber nur, um gleich mit einem tiefen, bedrohlichen Knurren erneut nach ihr zu schnappen. Diesmal war sie hellwach und schneller als er. Knapp verfehlte er ihren Arm.

»Ist ja gut, ist ja gut. Ich habe verstanden, dass ich aufstehen soll. Gib mir einen Moment, du weckst mit deinen Lärm Leo…« Sie stockte, sah auf das leere Bett ihrer Schwester.

Ashra lief dorthin, legte seinen Kopf auf die Decken und winselte leise. Eine eiskalte Faust presste Eiméar das Herz zusammen.

»Verstanden. Sie ist in Gefahr? Wo in Lethos’ Namen ist sie?«

Ashra lief zum Eingang der Höhle und leckte Gigi über die Schnauze. Die magere, zerrupfte Wölfin, die Eiméar halb tot mit einem Pfeil in der Flanke in den Wäldern von Lord Blourred aufgegabelt hatte, stand in der Rangfolge des Rudels auf dem niedrigsten Platz, weshalb sie nur wenig zum Fressen abbekam.

Das Herz der Wölfin gehörte Leonora, die seinerzeit den Pfeil entfernt und sie gesund gepflegt hatte. Wie ein Schatten folgte ihr Gigi, wenn Ashra es nicht unterband. Immer wieder suchte sie Leonoras Nähe, und diese nahm das wie selbstverständlich hin, gab aber nichts darum. Oft schien sie es nicht einmal zu bemerken. Es war eine unerwiderte Liebe, weshalb Eiméar die Wölfin oft leidtat. Gigis Augen waren noch so hellblau wie die eines Wolfswelpen. Kaum sah die Wölfin, dass der Mensch begriffen hatte, machte sie kehrt und rannte in die Nacht.

»Hey, warte! Verflucht, ich habe keinen Wolfspelz und nur zwei Beine, und im Gegensatz zu euch sehe ich in der Dunkelheit nicht so gut.«

Rasch schlüpfte sie in eine Hose, warf sich Hemd und Jacke über, schnappte rein instinktiv Pfeile und Bogen. Ashra kam zurück, biss in den Stoff ihres Jackenärmels und fing erneut an, ungeduldig an ihr zu zerren. Wenn es der Wolf so eilig hatte … Sie unterdrückte die aufkeimende Angst, nutzte die Energie in ihrem Körper und rannte los. Zu ihrem Glück wich die Nacht bereits langsam dem Morgen, aber sie hatte keinen Blick für den glutroten Sonnenaufgang, der einen klaren Tag ankündigte.

Keuchend kam sie an Leonoras Lieblingsstelle am Ufer des Sees an. Die Spuren ihrer Schwester führten über die Eisfläche, aber sie selbst war nirgends zu sehen.

Gigi schlich winselnd über das Eis. Ashra blieb stehen. Vorsichtig testete Eiméar die Stabilität des Eises, während sie der Wölfin folgte. Im Gegensatz zu Leonora mochte sie Wasser nicht sonderlich. Je näher sie zur Seemitte kamen, desto dünner war das Eis. Schließlich legte sich die Wölfin winselnd auf den Bauch. Eiméar folgte dem Beispiel des Tieres. Ihr Herz klopfte. Wo war ihre Schwester? Das Wasser war ihr Element. Sie konnte im Wasser unmöglich in Gefahr geraten oder gar ertrinken. Oder?

Das Eis knirschte, und Eiméar erstarrte. Ein Riss entstand.

»Mist. Verfluchter Mist! Gigi, lauf!«

Die Wölfin ließ sich das nicht zweimal sagen, sprang auf und rannte zum Ufer zurück. Das Eis brach, und bevor Eiméar es schaffte, ihren Körper mit Flammen zu umhüllen, tauchte sie in das eiskalte Wasser ein, das ihr den Atem nahm. Sofort wurde sie in die Tiefe gezogen. Innerlich fluchend begann sie zu paddeln, zerrte sich die Kleidungsstücke vom Körper. Kaum war ihr das gelungen, schaffte sie es, mit rudernden Armen und strampelnden Beinen ihren Kopf über die Wasseroberfläche zu bekommen. Gierig sog sie die Luft ein. Irgendetwas an dem Wasser war anders als sonst. Panisch begann sie zu paddeln, als sie die schwarzen Tentakel bemerkte, die sich ihr näherten. Ihr Amulett fing an zu glühen, und golden rotorange Flammen wanderten über ihre Haut. Hastig zogen sich die schwarzen Tentakel zurück. Um sie herum bildete sich eine kreisrunde freie Fläche von drei Schritt Ausmaß. Und dann nahm sie das silberne Leuchten auf dem Grund des Sees wahr.

»Leo!«, schrie sie auf, vergaß die Bedrohlichkeit der Finsternis und ihre Wasserscheu, sah nur noch das totenbleiche Gesicht ihrer Schwester, die scheinbar schwerelos auf dem Grund lag, umhüllt von schwarzen Schlieren, die sich in einiger Entfernung von ihr zu einem dichten Schwarz zusammenballten. Nein, sie würde nicht zulassen, dass die Dunkelheit die Seele ihrer Schwester stahl. Sie gehörte nicht dorthin, egal was sie seit dem Tod von Samin dachte. Eiméar holte tief Luft. Mit kräftigen Armzügen und Beinschlägen durchmaß sie das Wasser. Ihre Lunge brannte. Der Impuls, Luft zu holen, wuchs mit jedem Schwimmzug, der sie ihrer Schwester näher brachte. Mit aller Gewalt kämpfte sie gegen ihren eigenen Körper an, der sie zwingen wollte, an die Oberfläche zurückzukehren.

Nur noch zwei Züge. Sie streckte eine Hand aus, ergriff die Hand ihrer Schwester. Verzweifelt begann sie den Aufstieg. Die Last und der Umstand, dass sie nur noch mit einem Arm schwimmen konnte, verlangsamte sie. Ihre Kräfte ließen nach, der Mangel an Sauerstoff drohte, ihr das Bewusstsein zu rauben. Ich schaffe es nicht, ging es ihr durch den Kopf. Die schwarzen Schlieren, die vor ihrer flammenden Aura zurückgewichen waren, näherten sich wieder. Lauernd schienen sie darauf zu warten, dass das letzte Quäntchen Luft aus ihrem Körper weichen und sie alle Energie verlieren würde, weiter für ihr Leben und das ihrer Schwester zu kämpfen.

Leo, flehte sie in Gedanken, du musst aufwachen und mir helfen, sonst sterben wir beide. Willst du dich nach all den Jahren, die du mich vor der Dunkelheit bewahrt hast, ihr selbst kampflos ausliefern?

Ihr Kopf schien explodieren zu wollen. Stechender Schmerz verdrängte jeden vernünftigen Gedanken. So würde es also enden. Hier, im See Luna, dem Lieblingsort ihrer Schwester, dem Ort der Tränen von Lishar, dem See des Trostes und der Hoffnung. Ein letztes Mal gab sie alle Kraft in den Armzug, unterstützte die Schwimmbewegung mit den Beinen. Die Wasseroberfläche lag sichtbar über ihr, so nah und doch zu fern.

Die Last an ihrem Arm wurde leicht. Um sie herum bildete sich eine Blase. Gierig sog sie die wenige Luft ein. Jetzt wurde sie gezogen. Gemeinsam durchbrachen ihren Köpfe die Wasseroberfläche. Sanft hob das Element ihrer Schwester sie an. Sie glitten über das Eis, als wäre es lebendig, bis sie das Ufer erreichten.

Ashra leckte mit seiner heißen Zunge über Eiméars Gesicht, ihre Arme, ihre Beine. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, in tiefen Atemzügen Luft in sich einzusaugen, als dass sie die Kraft gehabt hätte, sich gegen die Liebkosungen des Wolfes zu wehren. Ihr Kopf hämmerte, ihr Nacken schmerzte.

»Eiméar! Eiméar, mach die Augen auf. Bitte, bitte, mach die Augen auf. Bei Lishar. Was habe ich getan! Es tut mir so leid. Bitte, bitte.«

»Hör endlich auf, Leo! Mir geht es gut. Ich brauche nur noch mehr Luft«, stieß sie Wort für Wort hervor.

Leonora legte die Finger an ihren Hals. Sofort ließ das Pochen nach. Noch ein paar Atemzüge mehr, und sie öffnete die Augen, richtete sich auf – und erstarrte.

»Was ist?«, fragte Leonora. »Hast du Schmerzen, brauchst du noch Energie? Frierst du? Ach, was für eine Frage an eine Tochter des Feuers.«

Eiméar streckte die Hand aus, ergriff ehrfürchtig eine Strähne von dem schneeweißen Haar. Es fühlte sich ganz normal an, nur ein wenig seidiger und kräftiger, als Leonoras Haar sonst gewesen war.

Leonora verstummte, starrte auf die Strähne, die sich leuchtend von Eiméars dunkler Haut abhob. Dann schrie sie entsetzt auf und sprang gleichzeitig auf die Füße. Hastig kam auch Eiméar hoch, packte Leonora und zog sie in ihre Arme.

»Alles wird gut. Wir schaffen das, glaub mir. Solange wir zusammen sind, kann uns nichts etwas anhaben, weder die Dunkelheit noch das Licht.«


Wie ein Kind hatte sich Leonora von Eiméar in die Höhle zurückführen lassen. Gigi war dicht an ihrer anderen Seite geblieben. Ihren Arm um die Schultern ihrer Schwester gelegt, führte Eiméar sie über die Waldpfade zurück zu ihrer Höhle. Wie eine Schlafwandlerin ließ Leonora sich von ihr leiten.

Es machte Eiméar Angst, ihre starke, vernünftige Schwester, die immer die Haltung wahrte und die sich von nichts aus der Ruhe bringen ließ, in diesem Zustand zu erleben. Immer war es Leonora gewesen, an die Eiméar sich hatte anlehnen können. Immer war sie es gewesen, die die Entscheidungen in ihrer beider Leben traf. Immer war sie es gewesen, die wusste, was zu tun war, wenn ihre Schwester sich wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Es fühlte sich falsch an, dass jetzt sie die Führung übernahm. Dankbar folgte sie Ashra, der vor ihnen hertrottete, darauf bedacht, sie auf dem einfachsten Weg zurückzuleiten.

An der Höhle angelangt ließ sich Leonora ohne Widerstand auf einen Stuhl drücken. Gigi legte ihr ihren Kopf auf den Schoß. Erst wollte Eiméar die aufdringliche Wölfin verscheuchen, aber dann sah sie, wie ihre Schwester eine Hand auf den Wolfskopf legte und ihn kraulte.

Mit einer Handbewegung entzündete sie das Holz an der Feuerstelle. Sie füllte einen Kessel mit Wasser, das sie am Abend zuvor geholt hatte. Ungeduldig wühlte sie in ihren Schubladen nach der Holzdose mit der Kräutermischung, die die Lebensgeister entfachte. Erst als die Luft in der Höhle vom Duft der Kräuter geschwängert war, warf sie sich ihr Nachtgewand über den nackten Körper.

»Leo, du musst die nassen Sachen ausziehen.«

Ihre Schwester machte keine Anstalten, sich zu rühren. Seufzend ging sie hinüber, zog sie vom Stuhl hoch und zog sie aus. Kein Wunder, dass es so schwer gewesen war, sie hochzuziehen. Sie zog ihr das Nachtgewand über den Kopf und strich ihr mit den Handflächen über die Haut, bis diese rot glühte. Wenn die Wärme nicht von innen kam, dann musste sie halt von außen kommen.

Energisch drückte sie Leonora zurück auf den Stuhl. Sofort legte ihr Gigi wieder ihren Kopf auf den Schoß. Wie zuvor kraulte sie den Kopf der Wölfin in einer abwesenden Geste, während ihre Augen ins Leere starrten.

»Brich ihr bloß nicht das Herz mit der Aufmerksamkeit, die du ihr schenkst. Weißt du, wie lange sie dich schon liebt? Aber du hast es nie bemerkt und ihr nie Beachtung geschenkt.«

Keine Reaktion. Leonoras Augen starrten in die Flammen und schienen doch nichts zu sehen.

Gigi winselte und leckte über den Stoff des Gewandes.

»Leo, sprich mit mir, bitte.«

Nichts geschah. Eiméar trat nahe zu ihrer Schwester, nahm ihren Kopf zwischen ihre Hände und zwang sie, sie anzusehen. »Leo, du machst mir Angst. Bitte, rede mit mir. Ich flehe dich an. Was ist im See passiert? Wieso sind deine Haare schneeweiß?«

Leonoras Blick ging durch sie hindurch, war auf etwas gerichtet, das sie nicht sehen konnte, weil es nicht von dieser Welt war.

Wütend packte Eiméar sie an den Schultern und rüttelte sie. Wie eine Puppe pendelte ihr Körper hin und her. Gigi sprang auf, knurrte, zeigte ihre Fänge. Ihr zerrupftes Fell stand nach allen Seiten ab, ließ ihren mageren Körper üppiger erscheinen.

Ohne einen Laut der Vorwarnung packte Ashra die junge Wölfin im Nacken, doch statt sich wie sonst winselnd zu ducken, ihren Schwanz zwischen die Beine zu klemmen oder sich auf den Rücken zu legen, um in einer Unterlegenheitsgeste ihre Kehle darzubieten, widersetzte sich die Wölfin wild knurrend dem Leitwolf.

Hastig ließ Eiméar ihre Schwester los. »Es ist gut. Ich würde ihr nie etwas tun, Gigi, und nun ordne dich unter, bevor Ashra dir das Genick bricht. Ich möchte nicht, dass heute jemand stirbt. Es soll kein Leben ausgelöscht werden, egal von wem.«

Ashra verstärkte seinen Biss, und kurz stemmte sich die Wölfin dagegen, aber dann gab sie nach. Er schüttelte sie einmal wie einen jungen Welpen und gab sich damit zufrieden.

Erleichtert stieß Eiméar die angehaltene Luft aus.

Völlig unberührt von dem, was sich ihretwegen in der Höhle abgespielt hatte, war Leonora sitzen geblieben, die Hände im Schoß gefaltet. Behutsam legte Eiméar sich den einen Arm ihrer Schwester um den Hals, schob eine Hand unter ihre Kniekehlen und eine unter den Rücken und hob sie vom Stuhl. War sie schon immer so leicht gewesen oder hatte sie erst in den letzten Tagen, seit sie Samin in den Tod begleitet hatte, so an Gewicht verloren? Sorgsam legte sie Leonora in ihr Bett, zog das dicke Fell über sie und stopfte es an den Seiten fest.

Leonora drehte sich auf die Seite und legte die gefalteten Hände unter ihre Wange, so wie sie am liebsten lag und einschlief, und schloss die Augen.

Die Wölfin legte sich vor das Bett, den Kopf auf ihren Pfoten. Die hellblauen Augen hatte sie aufmerksam auf den Menschen im Bett gerichtet. Eiméar ließ sich bei ihr auf dem Boden nieder, kraulte Gigi den Hals, dort, wo Ashra seine Fänge hineingeschlagen hatte.

»Was machen wir nur?«

Ein leises Winseln.

»Du meinst, wir sollten sie erst einmal schlafen lassen?«

Ein tiefes Brummen.

»Also gut, wie du meinst. Dann machen wir es so. Pass gut auf sie auf und hol mich sofort, wenn sich ihr Zustand ändert.«

6

Kaja

Eiméar saß vor der Höhle und bearbeitete konzentriert das Holz für einen Pfeil. Vor ihr auf dem Boden lagen an die fünfundzwanzig Pfeile, die sie im Laufe des Vormittags gemacht hatte.

Bevor die Besucherin sie erreichte, wusste Eiméar bereits, wer da kam. Das Wolfsrudel hatten sie schon lange vorher angekündigt. Innerlich wappnete sie sich, aber sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

Kaja setzte sich neben sie auf einen Stein, schloss die Augen und ließ die warme Wintersonne auf ihr Gesicht scheinen. »Woher kommt es, dass wir die Sonne im Winter viel mehr genießen als im Sommer?«

»Erstens besitzt sie längst nicht dieselbe Kraft wie im Sommer, zweitens ist es rundherum kalt, und die Wärme ist uns willkommen, während wir sie im Sommer lieber meiden.«

Sie wusste, es war keine wirkliche Frage, die Kaja an sie gerichtet hatte. Dennoch half ihr das belanglose Geplänkel, sich zu sammeln.

»Du warst fleißig heute Morgen.«

»Das Wetter lud mich dazu ein.«

»Marek sagte, du würdest nicht mit auf die Jagd gehen?«

»Mir waren die Pfeile ausgegangen.«

Kaja öffnete die Augen, blickte auf den Haufen Pfeile. »Mhm. Dir ist klar, dass wir nur noch wenig Fleisch haben und dringend welches brauchen?«

»Es ist nicht notwendig, dass du mich an meine Pflichten erinnerst.«

»Da bin ich froh, denn du und das Wolfsrudel, ihr seid unsere besten Jäger. Und du weißt, ohne ein Kind der Elemente kommen die anderen gar nicht erst über die Grenze.«

»Sicher, ich weiß.« Sie warf den Pfeil, den sie fertiggestellt hatte, mit Schwung auf den Haufen.

»Eiméar, wir alle vermissen ihn – und Ruth am allermeisten. Es ist nur der Hartnäckigkeit von Jolanda zu verdanken, dass sie noch nicht verhungert ist. Ohne ihre Tochter wäre Ruth verloren. Aber auch Jolandas Kraft sind Grenzen gesetzt. Sie braucht jemanden, an den sie sich anlehnen kann. Immerhin zählt sie gerade mal acht Lebensjahre.«

»Wenn du gekommen bist, um Leonora zu bitten, für sie da zu sein, dann muss ich dich enttäuschen. Sie muss sich ausruhen. Samin in den Tod zu begleiten, hat sie erschöpft.«

»Elija sagte, sie wäre seit gestern nicht mehr im Haus der Heiler erschienen.«

»Macht sie denn nicht genug? Kann sie nicht mal ein paar Tage Auszeit von ihren Pflichten nehmen? War sie jemals krank, hat sie jemals Rücksicht auf sich genommen? War sie nicht ständig für alle anderen da?«

Kaja legte ihr eine Hand auf das Knie. »Eiméar, du musst Leonora nicht vor uns beschützen. Wir alle lieben sie und wissen, was sie für ihr Volk leistet. Hätte man ihr sonst einen Platz im Ältestenrat angeboten? Was ist wirklich los? Ich habe dich noch nie so aufgelöst gesehen. Ist es Samins Tod? Ich weiß, dass er dir immer wie ein Schatten folgte und du ihn sehr liebtest. Es ist das Schwerste, was Gott von uns verlangt, wenn er ein Kind zu sich ruft.«

»Warum musste er nur von uns gehen? Es ist so sinnlos.«

»Diese Frage kann dir niemand beantworten. Manchmal denke ich, dass erst das Leid, der Verlust eines geliebten Menschen, uns klarmacht, wie wertvoll das Leben ist und dass wir es niemals verschwenden dürfen. Samin hätte nicht gewollt, dass wir aufhören zu leben, aufhören zu lachen oder zu lieben. Es erfordert oft viel mehr Mut zu leben, als den Tod herauszufordern.«

»Ich kann sie nicht auch noch verlieren!« Schluchzend lehnte Eiméar ihren Kopf an Kajas Brust.

Sie spürte, wie sich Kaja, überrascht von ihrem Gefühlsausbruch, versteifte. Langsam begann sie, ihr über Haare und Rücken zu streicheln. Es tat so unendlich gut, mal wieder ein Kind sein zu dürfen. Sie und Leonora waren eben zwölf geworden, als sie ihre Eltern verloren, und waren damit viel zu früh der Mutterliebe beraubt worden. Sie sehnte sich so sehr nach dieser unvoreingenommenen Liebe, den Berührungen und der Wärme einer streichelnden Hand.

»Wen kannst du nicht auch noch verlieren?«, wagte Kaja schließlich nachzufragen, als Eiméar sich einigermaßen wieder gefasst hatte.

»Ich habe Leonora vorletzte Nacht aus dem See Luna gefischt, in dem sie fast ertrunken wäre.«

»Unsinn. Leonora kann nicht ertrinken. Sie ist eine Tochter des Elementes Wasser.«

»Aber sie hat Samin getötet. Sie hat den Fluss seines Blutes angehalten und damit sein Herz zum Stillstand gebracht.« Eiméar gab ihrem Bedürfnis nach, die Last ihrer Sorgen und ihrer Angst zu teilen. Sie war so vollkommen hilflos, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie Leonora aus dem Zustand herausholen konnte, in dem sie sich befand.

»Das weiß ich doch. Und es ist nicht das erste Mal in der Geschichte der Heilerinnen, dass jemand das Leben eines Leidenden auf diese Weise beendet. Sie hat ihn erlöst, nicht getötet. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, und ich weiß, es hat sie viel Mut gekostet, aber das ist kein Grund dafür, dass sie nun im Wasser ertrinken könnte.«

Überrascht hob Eiméar ihr tränennasses Gesicht und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Aber verfällt ihre Seele dann nicht der Dunkelheit? Sie hat doch ihr Element benutzt, um zu töten.«

»Nein, denn es geschah aus Liebe für einen Menschen, der stirbt. Sie tat es, um ihn von seinen Schmerzen zu befreien, um der Seele den Weg ins Jenseits zu erleichtern. Manchmal verhindert ein allzu harter Todeskampf, dass eine Seele in den Himmel steigt, und sie wird zu einem Teil der Dunkelheit. Ist es das, was Leonora denkt? Ist das der Grund, warum sie seit Samins Tod nur noch in der Kräuterküche arbeitet? Aber Elija hat doch sicher mit ihr darüber gesprochen, oder?«

Stumm schüttelte Eiméar nur den Kopf. Waren all ihre Ängste und Sorgen ganz umsonst gewesen? »Aber wieso war all die Dunkelheit um sie herum und hielt sie auf dem Seegrund fest? Und weshalb spricht sie nicht mehr mit mir?«

»Eiméar! Weshalb bist du nicht sofort zu mir gekommen? Wo ist sie?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, sprang Kaja auf und rannte in die Höhle.

Eiméar erschrak, aber obwohl sie jünger und flinker war als die Heilerin, schaffte sie es nicht, Kaja einzuholen, um sie vorzuwarnen. Als sie in die Höhle kam, stand Kaja mit erschrockenem Gesicht an die Felswand gepresst da. Gigi verharrte mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen vor ihr und knurrte.

»Bei Lishar. Wird sie mich töten?«, wisperte die Heilerin.

»Nein, nicht wenn sie spürt, dass du Leonora nichts tust. Sie passt auf sie auf und ist dabei etwas übereifrig. – Gigi, lass es gut sein, Kaja möchte ihr nur helfen.«

Leonora saß noch genauso mit einem Fell über den Knien in ihrem Schaukelstuhl vor dem Küchenfeuer, wie sie sie heute Morgen verlassen hatte. Gemächlich schaukelte sie vor und zurück und wendete der Besucherin nicht einmal den Kopf zu, um zu sehen, wen die Wölfin verscheuchen wollte.

Langsam und das Tier im Auge behaltend, schlich Kaja näher zu ihr. »Ihre Haare sind schneeweiß.« Ehrfurcht klang aus ihren Worten. »Ich hörte einmal davon, doch ich glaubte, es sei ein Märchen.«

»Sie muss eine Begegnung mit Lethos gehabt haben.«

»Nein, mit Lishar. Die Farbe des Haars ändert sich nur, wenn man der Göttin oder dem Gott seines eigenen Elementes begegnet. Und auch dann erscheint eigentlich nur eine weiße Strähne. Dass sich die Haarfarbe insgesamt ändert …« Kaja schüttelte den Kopf. »Es ist lange her, dass jemand in Mintra eine Begegnung mit Lishar oder Lethos hatte. Levarda ist die Einzige, von der ich es weiß. Und dass es innerhalb von nur acht Jahren ein zweites Mal geschieht und sich sogar die Haarfarbe vollständig verändert … Ich kann es nicht fassen.«

Sie kniete sich vor Leonora hin und nahm eine ihrer Hände. Leonora schaute weder Kaja an noch hörte sie auf zu schaukeln.

Kaja blickte zu Eiméar. »Erzähl mir, was geschehen ist, und lass diesmal nichts aus!«

Sie berichtete ihr alles – was sie gesehen und gefühlt und worüber sie vor der Nacht mit Leonora gesprochen hatte. Sie ließ nichts aus. »Ich kann sie nicht fühlen. Sie lässt mich nicht ein. Es ist, als wäre ihre Haut aus Eisen und als würde ich all meine Kräfte verlieren, wenn ich sie berühre. Kannst du sie erreichen?«, beendete sie verängstigt ihre Ausführung.

Kaja schüttelte stumm den Kopf. Sie runzelte nachdenklich die Stirn, während sie die Fingerspitzen ihrer rechten Hand zu Leonoras Hals hochgleiten ließ, an die Stelle, an der das Leben pulsierte. Hier war der Punkt, der den intensivsten Zugang für eine Vereinigung zweier Kinder der Elemente bot.

Kaum hatte sie ihn berührt, da rauschte silbernes Licht einer Wasserwelle gleich über Leonoras Körper. Kaja wurde zurückgeschleudert. Geistesgegenwärtig fing Eiméar sie auf und bewahrte sie davor, unsanft auf dem Boden zu landen. Leonoras Aura erstrahlte in einem seegrünen Schimmer, und ihre Haut glitzerte silbern. Das Schaukeln hatte sie nicht unterbrochen.

Langsam rappelte Kaja sich hoch. »Das hier übersteigt mein Wissen. Es ist, als wäre nur ihr Körper hier, aber ihre Seele nicht. Etwas Derartiges habe ich noch nie erlebt.«

Hastig ergriff Eiméar ihren Arm. »Bitte nicht, gib ihr noch ein wenig Zeit. Wenn der Ältestenrat davon erfährt …« Sie brach ab, unfähig auszusprechen, was sie dachte.

»Also gut. Einen Tag, aber du musst sie erreichen, Eiméar. Das ist ihre einzige Chance zu überleben.«

7

Leila

Die Hitze des Steins schreckte Leila aus dem Schlaf. Sie öffnete die Faust und betrachtete ihn. Den ganzen Tag hatte sie Sehnsucht nach ihrer älteren Schwester verspürt und immer wieder den Stein aus ihrer Hosentasche geholt, während sie mit den Pferden arbeitete. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie ihn heute zum Einschlafen in ihrer Hand behielt. Es war ein schlichter, schwarzer Kiesel, wie man sie häufiger, an den Ufern des Sees Luna finden konnte. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag des Abschieds, als Vivien ihn ihr in die Hand gedrückt hatte. Sie hatte ganz still gehalten, obwohl sie zu der Zeit als kleines Mädchen ein echter Wildfang gewesen war und ihrer älteren Schwester immer nacheiferte. Erst das Erwachsenwerden und die intensive Arbeit mit den Pferden hatte sie Ruhe und Geduld gelehrt. Vivien war immer fröhlich gewesen, immer zu Streichen aufgelegt, und sie hatte ein goldenes Herz, in dem jeder Platz fand. Selbst ihrer strengen Mutter war es schwergefallen, lange mit ihr böse zu sein.

Vivi, wie Leila sie nannte, hatte damals einen weiteren Kiesel derselben Beschaffenheit aufgehoben und zu ihr gesagt: »Schau, wann immer ich diesen Stein in meiner Hand halte, werde ich an dich denken. Und ich werde es spüren, wenn du deinen in der Hand hältst und an mich denkst.«

Leila hatte ihre Faust um den Stein geschlossen und konnte direkt eine Wärme fühlen, die sie mit ihrer Schwester zu verbinden schien. Seitdem trug sie den Stein beständig in ihrer Hosentasche und legte ihn nur, wenn sie schlafen ging, auf den Nachttisch neben ihrem Bett.

Jahre später war es zum ersten Mal passiert, dass Vivi wie ein Geist in ihrem Zimmer erschienen war. Damals war es nicht die Hitze des Steins gewesen, die sie weckte, sondern die feuchte Kälte, die die Gestalt ausstrahlte. Bei Lishar, sie hätte beinahe laut geschrien und ihren Vater geweckt. Aber instinktiv hatte sie sich das Kissen vor den Mund gehalten.

Ihnen war nur wenig Zeit zum Austausch geblieben. Kaum hatte sich die Gestalt in Nichts aufgelöst, hatte Leila gedacht, sie hätte sich alles nur eingebildet, doch dann war ihr Blick auf den rot glühenden Stein gefallen, und sie wusste, dass sie tatsächlich ihrer Schwester begegnet war.

Es geschah viel zu selten, dass Vivi sie auf diese Weise besuchte. Sie brauchte viel Energie dafür und einen sicheren Platz für ihren Körper, den sie zurückließ. Leila hatte heimlich ein paar Nachforschungen zu dieser Art des geistigen Besuches angestellt, was sich als schwierig erwiesen hatte, denn keines der Kinder der Elemente redete gegenüber einem gewöhnlichen Mintraner darüber, wozu sie in der Lage waren. Bücher gab es nur wenige, und die, die es gab, wurden sorgsam gehütet, diejenigen über die Heilkunst im Haus der Heilung, der Rest auf der oberen Ebene des Versammlungshauses des Ältestenrats.

Der Stein war wie ein Band, das sie fest mit ihrer Schwester verknüpfte. Wann immer Leila sich einsam, verlassen oder unverstanden fühlte, brauchte sie nur den Stein in die Hand zu nehmen, zu spüren, wie er sich in ihrer Hand erwärmte, und sie wusste, dass Vivi im Herzen und in Gedanken bei ihr war. Überkam sie das dringende Bedürfnis, mit ihrer Schwester zu reden, dann hielt sie den Kiesel in der Faust, schloss die Augen und konzentrierte sich voll auf Vivien. Manchmal dauerte es einen oder auch zwei Tage, doch sie kam. Darauf konnte sie sich verlassen.

Weder ihr Vater noch ihre Mutter wussten von der Verbindung. Leila ahnte, dass niemand in Mintra diese Art des Kontaktes tolerieren würde. Die Gefahr, dass eine Seele ihren Körper nicht wiederfand, war viel zu groß. Das hatte sie immerhin herausgefunden. Es gab kein Verbot, den Geist auf Reisen zu schicken, aber überall wurde eingehend davor gewarnt und geraten, nur in äußersten Notfällen darauf zurückzugreifen. Was ihr die kleine Jolanda erzählt hatte, bevor ihr Bruder gestorben war, ließ sie ahnen, worin die Gefahr lag. Wenn der Geist vom Körper getrennt blieb und der Körper starb, war der Seele der Weg in das Licht versperrt. Auf keinen Fall wollte Leila, dass Vivien das widerfuhr, und sie hatte sich geschworen, dass sie ihre Schwester bei der nächsten Gelegenheit bitten würde, es fortan zu unterlassen. Dieses Band zu durchtrennen, würde kein leichter Schritt sein.

Leila legte den Stein auf den Nachttisch. Sein Glühen nahm unaufhörlich zu, bis seine schwarze Farbe einem Glutrot gewichen war. Aus schmerzhafter Erfahrung wusste sie, dass es besser war, ihn abzulegen. Mehr als einmal hatte er ihr mit seiner Hitze die Handinnenfläche verbrannt, was zu Fragen seitens ihres Vaters geführt hatte. In der einen Ecke ihres Zimmers verdichtete sich die Luft, nahm erst eine diesige Konsistenz an und verwandelte sich in dichteren Dunst, bis sie Viviens Gestalt erkennen konnte. Aber sie strahlte diesmal nicht übers ganze Gesicht, sondern ließ eine bedrückte, sorgenvolle Miene erkennen.

»Vivien? Kannst du nicht schlafen?«

»Nein. Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht.«

»Was ist geschehen?«

»Ich verlor die Beherrschung und bedrohte einen Mann, einen Gast auf einem Fest.«

»Du hattest bestimmt deine Gründe.«

»Jemanden aus einem anderen Land zu bedrohen, darauf steht in Tinau die Todesstrafe.«

»Oh, Vivien, das ist furchtbar! Du musst sofort fliehen!«

»Leila, sag mir, sind bei euch Mädchen verschwunden?«

»Wieso fragst du das?«

»Also Ja.«

»Eines.«

»Eine Tochter der Elemente?«

»Woher weißt du das?«

»Meine Kraft lässt nach. Du musst zum Ältestenrat gehen und ihnen sagen, dass sie auf alle Kinder der Elemente aufpassen müssen.«

»Sag mir, was du weißt.«

»Ich schaffe es nicht mehr. Pass auf dich auf und gib Papa einen Kuss von mir.«

Die Gestalt verschwand, wie sie erschienen war, nur in umgekehrter Reihenfolge, zuerst löste sie sich in Rauch auf, dann in diesige Luft, bis sie zuletzt mit einem Windhauch völlig verschwand. Leilas Herz schlug rasch, aus Angst um ihre Schwester, aber auch, weil sie die Dringlichkeit von Viviens Anliegen spürte. Erst da fiel ihr siedendheiß ein, dass sie sie hatte bitten wollen, sie nicht mehr auf diese Art zu besuchen.


Leila gab ihrem Vater einen Kuss auf die eine Wange, dann einen zweiten auf die andere. Sie hatte viel länger geschlafen als beabsichtigt. Es wäre heute ihre Aufgabe gewesen, das Frühstück vorzubereiten. Noch lange hatte sie sich nach Viviens Besuch ruhelos im Bett herumgewälzt und gefragt, weshalb das Verschwinden eines Mädchens ihrer Schwester so besondere Sorge bereitete, und woher sie überhaupt davon wusste. Was hatte das zu bedeuten?

»Zwei Küsse?«

»Einer ist von Vivi.«

Marek lächelte sie an. Anfangs hatte er Fragen gestellt, wenn sie das gemacht hatte. Inzwischen akzeptierte er den Kuss wortlos. Er schien zu ahnen, dass es eine besondere Bewandtnis mit diesem Ritual hatte. Manchmal befürchtete sie, dass es mehr als eine Ahnung war.

»Ah, deshalb bist du heute später aufgestanden.«

»Tut mir leid, Papa, ich verspreche dir, morgen und übermorgen das Frühstück zuzubereiten.«

»Schon gut, mach dir darüber keine Gedanken. Erzähl mir lieber, was du heute vorhast.«

»Du meinst, nach dem Training der Jährlinge und dem Bearbeiten der Hufe von zehn Pferden? Nachdem ich geprüft habe, ob alle gesund sind und genug zum Fressen finden …«

»Das hört sich nach einem arbeitsreichen Tag an.«

»Nicht zu vergessen, dass ich beim Ältestenrat vorsprechen möchte.«

Marek hörte auf, den Getreidebrei über dem Herd zu rühren.

»Worüber willst du mit dem Ältestenrat reden?«

Leila zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Mist, sie hatte gar nicht darüber sprechen wollen, es war ihr einfach so herausgerutscht. Fieberhaft kramte sie in ihrem Gedächtnis nach einer Begründung.

»Erinnerst du dich daran, wie Sigrid verschwunden ist?«

Aufmerksam musterte ihr Vater sie. »Wer würde sich nicht daran erinnern? Bis heute weiß niemand, was mit ihr geschehen ist. Die Unwissenheit peinigt Petur und die Familie jeden Tag. Manchmal denke ich, es wäre leichter, mit dem Tod eines Kindes umzugehen, als sich tagein tagaus Gedanken darüber zu machen, was mit ihm geschehen sein mag. Wenn jemand sie quält und das Mädchen darauf hofft, dass man ihr zu Hilfe kommt, um sie vor ihrem schlimmen Schicksal zu retten … Wenn man nur wüsste, wo sie ist.«

Auf seinem Antlitz war beim Sprechen ein grimmiger Ausdruck erschienen. Sein Mund war ein schmaler Strich, und scharfe Linien trieben jedes Zeichen der vorherigen Ausgeglichenheit aus seinem Gesicht. Dabei war ihr Vater ihr Fels in der Brandung.

Sanft legte Leila eine Hand auf seinen Arm. Sie wusste, an wen er bei den Worten dachte. »Mama und Vivien geht es gut.«

Ein wenig überkam sie das schlechte Gewissen, denn Vivien war in Gefahr, wenn sie ihren Worten glauben schenken konnte. Doch sie war zuversichtlich, dass sie auch diese Herausforderung meistern würde. Egal wie weit voneinander entfernt sie lebten, noch immer bewunderte sie ihre ältere Schwester für ihren Lebensmut, dafür, wie unerschrocken und leicht sie das Leben nahm. Oft genug hatte Vivien sie bei ihren Besuchen zum Lachen gebracht. Sowohl die Distanz zu ihrer Schwester als auch die Arbeit mit den Pferden ließ Leila innerlich zur Ruhe kommen. Sie war vernünftig und viel zu rasch erwachsen geworden. Nur manchmal mit Eiméar überkam sie der Übermut wie einst in ihrer Kindheit, als sie das Fünfergestirn gewesen waren. Dann gab es vonseiten Leonoras einen mahnenden Blick, und sie kehrte in ihr verantwortliches Verhalten zurück, das sie für einen Moment aufzugeben gewagt hatte.

»Woher willst du das wissen?«, erwiderte Marek leise. Tränen glitzerten in seinen Augen. Ihr war nicht klar gewesen, dass Sigrids Verschwinden die alten Wunden wieder aufgerissen und seine Sorgen an die Oberfläche gebracht hatte.

Ihre Hand auf sein Herz gelegt schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln, setzte ihr strahlendstes Gesicht auf. »Weil ich es dort drinnen weiß. Mama ist eine unerschrockene, kluge Frau, und wenn einer Vivi bremsen kann, dann sind es Mama und Sanira. Außerdem – glaubst du etwa, dass sie noch immer ständig Blödsinn ausheckt?«

Er seufzte tief. »Allerdings, denn es liegt in ihrer Natur. Manchmal ist der Wind eine erfrischende Brise, der einem in der Hitze des Sommers angenehme Erleichterung bringt. Im Winter kommen die Stürme, und die können gefährlich sein.«

»Sie ist keine Gefahr.«

»Ich weiß. Jedenfalls nicht willentlich.« Bitterkeit mischte sich in seine Stimme.

Leila nahm die Hand weg und begann, den Tisch zu decken. So endete unweigerlich jedes Gespräch über Vivien. Er liebte sie, aber gleichzeitig gab er ihr die Schuld dafür, dass die Familie auseinandergerissen worden war. In all den Jahren, die ihre Eltern nun schon getrennt lebten, hatte er nie das Bett mit einer anderen Frau geteilt. Als Sanira angefangen hatte, Briefe zu schreiben, war es ihm jedoch nicht in den Sinn gekommen, ebenfalls zu schreiben oder die Briefe zu lesen. Leila konnte das damals nicht verstehen, bis ihr klar geworden war weshalb. Marek konnte weder lesen noch schreiben. Es war ihm peinlich, darüber zu sprechen. Sie hatte darüber nachgedacht, ihm anzubieten, es für ihn zu machen, doch sie verstand, dass er sich selbst dafür verachten und glauben würde, dass auch sie so empfinden müsste. Mama wusste es, und deshalb schrieb sie weder ihm noch ihr.

Marek war mit ihr, der jüngeren Tochter, in Mintra geblieben, um ihr das Leben einer freien, unabhängigen Frau zu ermöglichen, obwohl ihn sein Herz mit aller Macht zu Ricarda zog. Besser hätte er ihr seine Liebe nicht zeigen können. Manchmal wünschte Leila sich, er würde von Mintra weg und nach Eldemar ziehen. Aber dann bliebe sie als Einzige zurück, und das würde sie nicht aushalten.

Der Gedanke, mit nach Eldemar zu ziehen, in ein Land, in dem Frauen nur eingeschränkte Rechte besaßen, ließ sie erst recht erschauern. Niemals würde sie die Arbeit mit den Pferden aufgeben wollen. War das egoistisch von ihr? Ja. Vielleicht würde sie irgendwann den Mut aufbringen, ihren Vater ziehen zu lassen. Aber nicht heute.

Schweigend aßen sie zusammen den Brei mit den eingeweichten Trockenfrüchten. Gemeinsam wuschen sie das benutzte Holzgeschirr. Leila nahm eines der vorbereiteten Holzstückchen und kaute darauf herum, bis die losen Fasern ihre Zähne vollständig gereinigt hatten.

»Kommst du zum Mittagessen nach Hause?«, wollte Marek wissen.

»Ich esse etwas bei Eiméar. Sie kann ein wenig Ablenkung gebrauchen. Samins Tod macht ihr mehr zu schaffen, als sie zugeben möchte.«

Marek nickte. »Am späten Nachmittag versammelt sich der Ältestenrat. Sie werden über die Wintervorräte sprechen und darüber, wie sie am besten einzuteilen sind, damit alle heil durch den Winter kommen. Wenn du vorsprechen möchtest, wäre es ein geeigneter Zeitpunkt.«

Er wartete, und Leila spürte die unausgesprochene Frage. Sie überging sie, erwähnte nicht, weshalb sie beim Ältestenrat vorsprechen wollte. Erst musste sie sich selbst darüber klar werden, wie sie Viviens Warnung und ihren dringlichen Rat, auf die Kinder der Elemente aufzupassen, formulieren sollte.

»Ein guter Vorschlag. Gehst du heute auf die Jagd?«

»Nein, ich will heute den Bestand der Wildtiere in der Gegend prüfen und bei den anderen Dörfern vorbeischauen, um Petur die Bestände mitzuteilen. Deshalb weiß ich auch, dass sie heute darüber reden wollen.«

»Pass auf dich auf.«

»Du auch.«

Sie schmunzelte. »Ich bin ja nur bei den Pferden.«

»Und bei Eiméar.«

»Ich glaube, ihr ist gerade nicht nach Blödsinn zumute.«

»Nein, wir alle haben den Tod von Samin noch nicht verarbeitet. Am schlimmsten ist es für Ruth und Alvar.«

»Du vergisst Jolanda.«

»Sie hat dieselbe innere Stärke, die auch du sogar in noch jüngeren Jahren besessen hast. Du kannst auf sie vertrauen, auch wenn sie ihren Bruder ganz gewiss schmerzlich vermisst.«

8

Versammlung

Den ganzen Tag hatte sich Leila den Kopf darüber zerbrochen, was genau sie den Ältesten sagen sollte. Erst das Gespräch mit ihrem Vater am Morgen hatte ihr wieder ins Bewusstsein gebracht, dass es ja um Peturs Enkeltochter ging, die verschwunden war, und er war ein Mitglied des Ältestenrats. Wie sollte sie beginnen? Welchen Grund sollte sie für ihre mahnenden Worte angeben?

Sie betrachtete das von Laternen erleuchtete achteckige Versammlungshaus, aus dessen Mitte der uralte Baum herausragte. Seine Äste dehnten sich in den Himmel und zu allen Seiten. Sie bildeten eine schützende Kuppel über dem Holzdach des Gebäudes. Im Sommer, wenn die Blätter am dichtesten wuchsen, kam kein Regentropfen hindurch. Im Frühjahr erfüllte der betörende Duft der Blüten, der durch jede Ritze drang, das Haus. Die vier Hauptecken waren nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet, die jeweils für eines der Elemente standen: der Norden für die Luft, der Süden für das Feuer, der Westen für das Wasser und der Osten für die Erde. Vor dem Baum des Lebens, der mit seinem Stamm das Zentrum des Hauses bildete, hatte einst Chandini gekniet und zu Lishar gebetet. Hier war dem Mädchen die Göttin begegnet, und im Schatten des Baumes hatten sie das Bündnis geschlossen. Es war ein heiliger Ort, der eine unglaubliche Energie ausströmte, die selbst für einfache Mintraner spürbar war. Wer in das Zentrum des Versammlungshauses eintrat, wurde von einer Stille umfangen, die absolute Ruhe in jede Seele einkehren ließ.

Leilas Herzschlag verlangsamte sich, ihre Sorgen verschwanden, sobald sie unter die Äste trat, die über das Haus hinausragten. Es war, als hätte sie eine unsichtbare Grenze überschritten. Die zweiflügelige Holztür war offen. Nur bei Sturm wurde sie mit einem schweren Holzriegel verschlossen. Der untere Teil des Gebäudes bestand aus einem einzigen Raum. Holzpfeiler, geschnitzt nach dem Vorbild der Maserung von Baumstämmen, stützten die Konstruktion. Rechts neben dem Eingang gab es eine breite Holztreppe, die in die zweite Ebene führte. Dort waren die Bücher des mintranischen Volkes untergebracht, es gab Sitzgelegenheiten zum Lesen, aber auch lange Tische, die Platz zum Schreiben und Studieren boten. Auch der Unterricht der Kinder zum Erlernen des Lesens und Schreibens fand in den oberen Räumlichkeiten statt.

Im unteren Raum gab es rund um den Baumstamm einen Bereich von zwei Schritten im Radius, der aus lockerer Erde bestand. Eine Umrandung aus kniehohen Findlingen grenzte den Bereich ab. Ein unterirdischer Wasserlauf nährte die Wurzeln des Baumes. Die Luft im Raum wies trotz der vier kleinen Feuer, die in einiger Entfernung vom Stamm brannten, eine gewisse Feuchtigkeit auf. Der Boden war von einer Tochter der Erde erschaffen worden, er bestand aus einem Stein, unter dem Wasser wie durch Adern aus einer warmen Quelle floss, die dicht am Zentrum des Berges Asambra entsprang. Der Boden war daher angenehm temperiert, was im Winter dafür sorgte, dass man sich gemütlich darauf niederlassen konnte. Im Sommer wurde die heiße Quelle durch eine unterirdische Verriegelung umgeleitet und über einen anderen Zufluss kaltes Wasser eingeleitet. In der sommerlichen Mittagshitze suchten daher vor allem ältere Menschen die kühlen Räume des Hauses auf.

In den vier Hauptecken waren auf dem Boden in einer kunstvollen Zeichnung die vier Tiere dargestellt, die für die Elemente standen: der Drache für das Element Feuer, der Nevarn für die Luft, die Raubkatze für die Erde und der Delfin für das Wasser. Es waren keine Zeichnungen, die jemand auf den Stein gemalt hatte, sondern die Linien wirkten wie eine natürliche, jedoch farbige Maserung des Gesteins. Die Bilder enthielten eine solche Lebendigkeit, dass es dem Betrachter erschien, als würden die Tiere ihn beobachten, als könnten sie jeden Moment aus dem Stein in das reale Leben springen.

Leila konnte stundenlang die Bildnisse betrachten oder ihre Finger den Linien folgen lassen, die sich spürbar aus dem Stein erhoben. Vor allem bei dem Nevarn verbrachte sie viel Zeit. So wie der Kieselstein gab er ihr das Gefühl, ihrer Schwester ganz nahe zu sein.

Überall im Raum waren Kissen verteilt, auf denen die Besucher sitzen konnten, egal, ob sie zum Beten, zur Meditation oder zur Versammlung kamen. An der Stelle, an der laut der Legende die Begegnung von Chandini und Lishar stattgefunden hatte, gab es eine ovale Vertiefung. Vier Stufen führten hinab zu dieser Ebene, deren Rand von einer Steinbank gebildet wurde, die für die zwölf Mitglieder des Ältestenrates genügend Platz bot.

Leila sah, dass alle zwölf Ältesten bereits anwesend waren. Sie trugen die unterschiedlichen, in Naturtönen gehaltenen schlichten Kutten des Ältestenrates. Jeder im Rat hatte dasselbe Stimmrecht, bekam dieselbe Wertschätzung und Anerkennung zugesprochen. Für die Beziehungen zu anderen Ländern bestimmte der Ältestenrat eine Sprecherin oder einen Sprecher. Dabei fand der Kontakt zu den Ländern inzwischen hauptsächlich über schriftliche Korrespondenz statt. Besuche gab es nur jenseits der Grenze, die Mintra von den übrigen Ländern Alurins trennte.

Einst hatte es eine Zeit gegeben, in der das anders gewesen war. Damals hatte der Ältestenrat beinahe zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen bestanden. Oft waren die Mintraner als Berater oder Vermittler zu heiklen Verhandlungen oder zum Schließen von Friedensverträgen hinzugezogen worden. Aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen außerhalb Mintras hatten die männlichen Mitglieder des Ältestenrates diese Aufgabe wahrgenommen. Aber nicht immer hatten sie es geschafft, sich von den Macht- und Ränkespielen der Adelshäuser fernzuhalten. Der eine oder andere von ihnen war der Versuchung der Macht erlegen und hatte gar am Ende die Alleinherrschaft über Alurin angestrebt.


Leise nahm Leila ein Kissen und platzierte es in der Nähe der Runde des Ältestenrates. Es gab einige, die dem Gespräch des Rates folgten. Dazu gehörten auch Frauen und Männer aus den entlegenen Küstendörfern hinter dem Asambra.

»Somit verfügen wir über ausreichend Vorräte für den restlichen Winter, als da wären Getreide, getrocknete Früchte, Marmelade, Honig, kandierte Nüsse und Samen, eingelagerte Äpfel, Eier, frisch gefangener Fisch, Kräuter, Wintergemüse sowie das Eingekochte aus dem Herbst«, fasste Elisabeth, eine der Ältesten, die Ausführungen eines Mannes zusammen, der mit einer Papierrolle in der Mitte stand.

»Das ist korrekt. Wir müssen lediglich die Vorräte ein wenig umschichten, damit jedes Dorf von allem etwas hat.«

Bernadette, eine Heilerin und die Jüngste im Ältestenrat, erhob sich. Sie war ein Ratsmitglied geworden, nachdem Leonora diese Ehre abgelehnt hatte. Leila wusste, dass es für Leonora nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als zwei Dinge: Eiméar und ihre eigene Berufung als Heilerin. Sie und ihr Vater hatten es jedoch zutiefst bedauert, dass sie das Ehrenamt nicht angenommen hatte.

»Für die Kranken und die Alten benötigen wir Fleisch. Es bietet wichtige Nährstoffe für den Körper, vor allem bei geschwächten Menschen, weil sie ihnen rascher Energie zuführen, als es Gemüse oder Getreide vermögen.«

Elisabeth runzelte die Stirn und wandte sich an die anderen Mitglieder. »Wie sieht es mit Geflügel aus? Und Kaninchen?«

»Selbst Mäuse sind bei uns inzwischen rar geworden, weil das Wolfsrudel von Eiméar alles verschlingt«, brummte Gustav in seinen Bart. Er war neben Jared einer der Jäger, die ihr Vater und Eiméar bei der Jagd begleiteten.

»Gustav hat recht«, griff Bernadette die Anmerkung auf. »Das Wolfsrudel muss raus aus Mintra, es kann genauso gut jenseits der Grenze jagen.«

»Langsam, Bernadette«, wandte Vasna, die Zweitälteste, mit sanfter Stimme ein. Ihre Gestalt mit dem schlohweißen Haar erinnerte Leila an einen Waldkauz, klein und gedrungen, wachsam vom Charakter. »Ich weiß, es behagt dir nicht, dass das Rudel im Wald umherzieht, aber noch nie haben wir ein Geschöpf Gottes von unserem Gebiet verbannt. Alle haben dasselbe Anrecht, hier zu leben, wie wir.«

»Und was, wenn sie beginnen, uns anzugreifen, weil sie selbst keine Nahrung mehr finden?«

»Unfug!«, fuhr Jared dazwischen. »So waren Gustavs Worte doch gar nicht gemeint. Das Rudel hilft uns sogar bei der Jagd jenseits der Grenze. Ohne die Wölfe hätten wir schon lange kein frisches Fleisch mehr heranschaffen können. Sie treiben das Wild in unsere Richtung, sodass wir nie allzu tief in das Gebiet von Lord Blourred vordringen müssen. Welche Gefahr das für jeden von uns bedeutet, brauche ich wohl nach dem letzten Vorfall hier niemandem zu erläutern. Bevor sich das Wolfsrudel an einem von uns vergreift, was Eiméar sowieso nicht zulassen würde, gehen die Tiere über die Grenze, um ihren Hunger zu stillen. Es ist gut, dass sie die Mäuse fressen, sonst würden die sich über unsere Vorräte hermachen.«

»Es sind Wildtiere, nicht Menschen, die nachdenken, bevor sie handeln«, gab Bernadette zurück.

»Sag das mal Ashra, dem Leitwolf.« Jared grinste breit.

Bevor die Heilerin erneut etwas erwidern konnte, legte ihr Xenja, die neben ihr saß, eine Hand auf die Schulter. Die Geste verfehlte ihre beruhigende Wirkung nicht. Die schlanke, schmale Gestalt von Xenja, ragte zwei Köpfe hoch über Bernadette hinaus. Ihre helle Haut gab ihr einen Hauch von Transparenz, als würde sie sich in Wasserdampf auflösen.

»Lass es gut sein, Bernadette«, sagte Xenja. »Wir überstehen auch diesen Winter, die Jäger werden jenseits der Grenze das Fleisch beschaffen, das wir für die Bedürftigen im Haus der Heilung brauchen.«

»Was ist mit unseren Kranken, Alten und Schwachen?«, warf ein Mann aus den Dörfern jenseits des Asambra ein.

»Ich würde vorschlagen, dass wir diejenigen, deren Gesundheitszustand es zulässt, im Haus der Heilung einquartieren. Für die übrigen werden wir einen Kurierdienst einrichten, der sie mit Fleisch versorgt.«

Einhellig nickten die Ältesten den Vorschlag von Barnis ab. Sie hatte immer eine praktische Lösung für ein Problem parat.

»Gut, dann wäre das Thema Wintervorräte geklärt. Wir danken denen, die bereitwillig ihre Vorräte mit allen teilen, die zu wenig zurückgelegt haben. Wir sollten im nächsten Jahr bereits im Sommer und Herbst beginnen, mehr Wintervorräte anzulegen.« Petur blickte sich nach seinen Worten kurz um und bekam auch dafür ein allgemeines zustimmendes Nicken.

»Es ist eine Schande, dass wir anfangen müssen, alles zu planen. Früher gab es nie Knappheiten«, warf Ceit seufzend ein. Der warme Erdton ihres Gesichtes verdunkelte sich für einen Augenblick. Ihre Körperhaltung machte den Eindruck, als trüge sie eine schwere Last. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf. Ihre goldbraunen Haare reflektierten das Licht. Leila hätte schwören können, dass sie ein Stück in die Höhe wuchs. »Alles, was wir brauchten, gab uns die Natur.«

»Das war, bevor Mintra auf das Gebiet rund um den Asambra begrenzt wurde. Die wildreichsten Gegenden, allein eine Menge Wälder, Täler und Flüsse, hat sich doch Lord Blourred unter den Nagel gerissen, und die liegen jetzt jenseits unserer Grenze.« Finis hatte eine prägnante, nüchterne Art, Fakten darzustellen.

»Weshalb wir darüber nachdenken sollten, unsere Viehhaltung zu intensivieren, Weideflächen abzustecken und die Bestände der Nutztiere zu reglementieren«, hakte Kimir direkt ein.

Ein allgemeines Stöhnen kam aus den Reihen der Ältesten wie der Zuhörerschaft. Das war in den letzten Jahren ein viel diskutiertes Thema gewesen, bei dem es keine Einigkeit gab. Die einen behaupteten, dass dies nicht dem Leben entsprach, wie es Gott vorgesehen hatte, und einem Eingriff in die Natur gleichkam. Die anderen widersprachen dem, denn schließlich stellten die Pferdezucht und die Haltung von Geflügel wegen der Eier auch nichts anderes dar. Darauf hieß es wiederum, die Tiere würden zum Reiten und zum Eierlegen gehalten und nicht, um sie zu töten. Das sei ein erheblicher Unterschied.

Leila konnte beide Seiten verstehen und war sich unsicher, in welche Richtung sie tendierte.

»Die Zeiten ändern sich. Vielleicht müssen wir lernen, uns ihnen anzupassen«, lenkte Finis ein.

»Also gut, lasst uns zu diesem Thema am Jahrestag des Bündnisses zwischen Chandini und Lishar eine große Versammlung abhalten«, schlug Petur vor.

»Das ist erst im nächsten Herbst«, protestierte Kimir. »Damit verlieren wir ein weiteres Jahr.«

»Das gibt uns allen genügend Zeit, um die Argumente für und wider zu überdenken, und es ist ein besonderer Tag, der uns mit der Energie der Weisheit, der inneren Einkehr und Meditation zu einer Entscheidung führen wird.«

Der strenge Ton in Peturs Stimme erstickte Kimirs Widerspruch, und die anderen Ältesten schwiegen ebenfalls. Überrascht zog Leila die Augenbrauen hoch, denn sie hatte eine endlose Debatte erwartet. Wann war Peturs Ansehen so gestiegen, dass sich sogar Kimir fügte? Sie war jemand, der die bestehenden Regeln immer wieder infrage stellte und dazu aufrief, zu überlegen, ob sie weiterhin zeitgemäß waren.

»Gibt es sonst noch etwas, worüber wir sprechen sollten?«

Stille breitete sich aus.

Leila zögerte. Die Stimmung hatte sich nach Peturs Worten merklich geändert. Gerade als der Sprecher des Ältestenrates Anstalten machte, die Versammlung aufzuheben, stand eine Frau aus den Dörfern jenseits des Asambra auf. Zwei andere versuchten, sie aufzuhalten, indem sie ihren Hosensaum festhielten.

In jedem Dorf gab es jemanden, der die Anliegen der Bewohner vor dem Ältestenrat vertrat und als Ansprechpartner fungierte, um die Umverteilung der Vorräte zu organisieren oder andere strukturelle, gesellschaftliche Aufgaben wahrzunehmen. Das war ein Ehrenamt, letztlich nicht anders als beim Ältestenrat. Auch wenn jeder Mintraner das Recht hatte, sein Anliegen dem Ältestenrat vorzutragen, geschah es doch häufig, dass die Ehrenamtlichen es zur Sprache brachten. Leila wusste, dass die Frau das Amt innehatte. Ihr Dorf lag linker Hand der Burg Hodlukay, zwar weit entfernt, aber doch eingerahmt von der Grenze zu Forran und der Küstenlinie von Mintra.

»Komm in die Mitte, Sybille, und erzähle uns von deinem Anliegen«, forderte Elisabeth sie freundlich auf.

Einen Moment zögerte die Frau, dann gab sie sich einen Ruck, ging entschlossen die vier Stufen hinunter und trat in die Mitte. Rasch warf sie einen schüchternen Blick auf Petur, der sich daraufhin ein Lächeln auf die Lippen zwang. Erst heute fiel Leila auf, wie sehr er sich seit Sigrids Verschwinden verändert hatte. Er strahlte Autorität und eine gewisse Unruhe aus, die sie nie bei ihm vermutet hätte.

»Vor ein paar Tagen ging Maria, eine Tochter des Elementes Luft, mir ihren zwei Freundinnen nahe der Grenze Pramplons sammeln.«

Petur sprang auf die Füße. »Wir hatten doch ausdrücklich gesagt, dass keine Mädchen mehr allein in die Nähe der Grenze gehen sollen!«

Sybille senkte den Kopf und starrte auf ihre Füße.

»Sie waren ja zu dritt«, brachte sie leise hervor.

»Und jetzt sind sie verschwunden, nehme ich an?«

»Wir schickten unsere Jäger los, die ihre Spur bis zu einer Stelle verfolgen konnten, an der in rauen Mengen Pramplonbüsche wachsen. Die Büsche hingen voller Früchte. Auf einer Seite wird diese Stelle von Klippen begrenzt, dort verläuft die Grenze. Jedes Kind kennt bei uns die Gefahr, weil es dort abrupt in die Tiefe geht. Ein schmaler Pfad führt zum Strand hinunter, doch auch dieser ist inzwischen zu einem Teil der Grenze zum Meer hin geworden. Ab da verlor sich ihre Spur, ganz so, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.«

»Und was erwartest du jetzt von mir? Soll ich erneut vor den Burgherrn treten und mir anhören, dass ein Mädchen ohnehin wertlos sei? Er selbst hat eine Tochter großgezogen und an den Hohen Lord übergeben, wohl wissend, dass es ihren Tod bedeuten konnte. Aber nicht nur das. Er hat auch gleich mit dafür gesorgt, dass Levarda unser Land verließ und sich derselben Gefahr aussetzte.«

Elisabeth erhob sich. »Beruhige dich, Petur. Wir wissen, wie sehr du unter Sigrids Verschwinden leidest. Niemand verlangt, dass du erneut vor Lord Blourred trittst.«

Sie wandte sich Sybille zu, während Petur sich auf die Steinbank setzte, den Rücken gekrümmt, und sein Gesicht in den Händen verbarg.

»Wie alt waren die Mädchen?«, fragte nun Elisabeth.

»Zwei waren neun und das dritte acht Jahre alt. Kein Alter, in dem Kinder sich entscheiden, Mintra zu verlassen.«

»Manchmal ist es für uns Ältere schwer, zu verstehen, was in den Köpfen der Kinder vorgeht.«

»Nein!« Alle Blicke richteten sich überrascht auf Leila. Sie war aufgesprungen. Das Blut stieg ihr so rasch ins Gesicht, dass sie dieses am liebsten verborgen hätte. Sie nahm die Unterlippe zwischen die Zähne, biss darauf und schmeckte Blut.

Bernadette sah sie mit kühlem Blick an. Zwischen ihnen schwelte ein alter Konflikt, darum gingen die beiden sich, soweit möglich, aus dem Weg. Insgeheim gab Leila ihr die Schuld, dass ihre Mutter und Vivien ihre Heimat verlassen mussten. Bernadette hingegen rieb es ihr, wann immer möglich, unter die Nase, dass die beiden mit ihrer Flucht gegen mintranisches Gesetz gehandelt hatten.

Aber es war zu spät. Sie konnte ihren Ausruf, der ihr direkt vom Herzen auf die Lippen gekommen war, nicht zurücknehmen.

»Ich meine, auch ich bin eine junge Frau und habe mich nie mit dem Gedanken getragen, unser Land zu verlassen. Wieso sollten es diese Mädchen tun? Was erwartet eine Frau denn jenseits der Grenze? Sie verliert die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, selbst für ihr Leben verantwortlich zu sein, ihre Aufgabe in der Gemeinschaft zu übernehmen, die ihr Freude macht und ihren Begabungen entspricht. Wer würde das freiwillig aufgeben?«

»Und das kommt ausgerechnet von dir? Deine Schwester war gerade mal acht Jahre, als sie aus Mintra flüchtete.«

»Sie verließ das Land nicht allein.«

»Oh nein, sie hatte Hilfe von deiner Mutter und ihrer Meisterin, die damit beide gegen die Entscheidung des Ältestenrates handelten.«

»Bernadette«, mahnte Vasna ein zweites Mal an diesem späten Nachmittag die Heilerin, »du solltest die Vergangenheit ruhen lassen.«

»Ach ja? Ist es nicht gerade die Vergangenheit, aus der wir unsere Lehren ziehen?«

»Bernadette«, appellierte nun auch Elisabeth, »es bedeutet einen großen Kummer für eine Familie, ein Kind zu verlieren. Das sollten wir alle im Kopf behalten.«

Betroffenes Schweigen breitete sich in der Versammlung aus. Zu deutlich war noch die Erinnerung an die Beisetzung von Samin, der trotz seines jungen Alters ein sehr präsenter Teil der Gemeinde gewesen war. Ihn hatten sie wenigstens beerdigen können. Dagegen blieb Sigrids Schicksal ungewiss.

»Du sagtest, es habe keinerlei Spuren gegeben? Keine Stiefelabdrücke oder solche von beschlagenen Pferden?«, brachte Elisabeth das Gespräch wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Nein. Gar nichts. Noch nicht mal ein gebrochener Zweig bei den Pramplonbüschen.«

»Wir müssen auf die Kinder in unserem Volk achtgeben. Jemand bedroht sie, und wir verschließen unsere Augen davor.«

Erneut richteten sich die Blicke aller Anwesenden auf Leila. Sie senkte den Kopf, rieb die schweißnassen Hände an ihrer Hose ab. Die Eindringlichkeit, mit der Vivien zu ihr gesprochen hatte, ihr Drängen, das Thema vor den Ältestenrat zu bringen, bestimmte die Wahl ihrer Worte. Durch die Schilderung des abermaligen Verschwindens von Mädchen verstärkte sich noch ihr Eindruck, als zöge eine bedrohliche dunkle Wolke am Himmel von Mintra auf. Die Temperatur im Raum schien spürbar zu sinken.

»Wir werden diese Angelegenheit überdenken, besprechen und euch sagen, wie wir weiter vorgehen werden. Derweil sollten wir Leilas Rat beherzigen. Behaltet die Kinder in euren Dörfern, begleitet sie, wenn sie Aufgaben außerhalb zu verrichten haben. Das dürfte im Winter leicht zu bewerkstelligen sein.«

»Ist das alles?« Mit großen Augen sah Sybille Elisabeth an.

»Ich wünschte, es gäbe mehr, was ich dir sagen könnte.«

»Aber wie kann es sein, dass die Mädchen einfach verschwinden? Ist es nicht die Aufgabe der Grenze, die wir zu den anderen Ländern errichtet haben, gerade so etwas zu verhindern?« Die Dorfbewohnerin drehte sich einmal im Kreis, um die Frage an alle zu richten. »Unsere Kinder befanden sich nicht wie Sigrid außerhalb der Grenze, sondern auf mintranischem Boden. Wie erklärt ihr euch das?«

»Sybille, wir sind Menschen, genauso wie du. Nur weil wir unser Leben in den Dienst unseres Volkes stellen, uns mit den Schriften befassen und unser Wissen erweitern, heißt das nicht, dass wir auf jede Frage eine Antwort haben. Glaub mir …«, Elisabeth blickte hinüber zu Petur, der sein Gesicht weiterhin in den Händen verbarg, »… wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um herauszufinden, weshalb die Mädchen verschwinden und wohin – und was mit ihnen geschehen ist. Unwissenheit ist die furchtbarste Qual für die Familien. Daran kann eine Seele zerbrechen.«

9

Marek

In der Hütte empfing sie Kälte. Das Feuer war heruntergebrannt. Leila baute in der Asche ein neues auf, verwendete das Anmachholz und sah zu, wie sich die Flammen langsam durch das Holz fraßen, bis sie lustig herumflackerten und sich die Wärme auszubreiten begann. Die Hände nah an die Flammen haltend ließ sie sich auf dem Bärenfell vor der Feuerstelle nieder. Sie dachte an die vier verschwundenen Mädchen, hörte Viviens Stimme und griff in ihre Tasche, um den schwarzen Stein hervorzuziehen. Nachdenklich betrachtete sie ihn, als er unscheinbar auf ihrer Handfläche lag.

»Hast du keinen Hunger?«

Sie schreckte zusammen, verbarg hastig den Stein in ihrer Hand. Der traurige Ausdruck in Mareks Augen zeigte, dass er ihre Reaktion sehr wohl bemerkt hatte. Sie war nicht die Einzige, deren Gedanken bei Ricarda und Vivien weilten.

»Ich bin eben erst von der Versammlung zurückgekehrt.«

»Es sollte kein Vorwurf sein, eigentlich wollte ich heute das Abendessen vorbereiten. Kanincheneintopf, so wie du ihn am liebsten magst.«

Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich neben ihr auf das Fell.

»In der Versammlung hat Sybille erzählt, dass drei Mädchen aus ihrem Dorf verschwunden sind.«

Marek nickte düster. »Das ist auch der Grund, weshalb ich so spät dran bin. Ich war an der Stelle, wo die Mädchen verschwanden.«

»Und?«

»Für mich schwer zu beurteilen, nachdem die Suchtrupps aus dem Dorf alles zertrampelt haben. Zwar konnte ich keine schweren Stiefelabdrücke und keine Spuren von beschlagenen Pferden ausmachen, die Frage ist aber, ob das nun den Schluss zulässt, dass wirklich keine dort waren.«

»Aber wie sollte es möglich sein? Jemand müsste unsere Grenze überschritten haben. Die Mädchen waren nicht auf forranischem Boden.«

»Nein, das waren sie nicht.«

»Könnten sie die Klippen hinuntergestürzt sein?«

»Alle drei? Und keine Leiche zu finden? Der alte Pfad zur Bucht hinunter wird kaum noch verwendet. Der Nebel der Grenze scheint sich vom Meer zu den Klippen verlagert zu haben. Die Dorfbewohner meiden diesen Bereich. Welchen Grund sollten die Mädchen gehabt haben, diesen Weg zu wählen? Aber wir zogen die Möglichkeit in Betracht. Eine Dorfbewohnerin ist eine Tochter des Elementes Erde, und sie half mir. Sie war eiskalt, als wir wieder nach oben kamen. Manchmal frage ich mich, ob diese Grenze nicht ein großer Fehler ist und uns mehr schadet als nützt.«

»Waren vielleicht irgendwo Kampfspuren zu sehen?«

»Nein. – Wie haben die Versammlung und der Ältestenrat auf die Nachricht vom Verschwinden der Mädchen reagiert?«

»Petur hat die Fassung verloren.«

»Verständlich. Sigrid war das einzige Kind der Elemente in seiner Familie. Es werden immer weniger Kinder mit dieser Fähigkeit geboren. Sie war sein ganzer Stolz. Wenn ich daran denke, dass er nicht einmal weiß, was mit ihr geschehen ist …« Er brach ab.

Eine Weile starrten sie beide ins Feuer, lauschten dem Prasseln und Knacken, mit dem sich die Flammen durch das Holz fraßen. Marek fasste nach Leilas Hand und nahm sie in seine.

»Solange wir keine Ahnung haben, was vor sich geht, werde ich dich bei deinen Aufgaben begleiten.«

»Ich bin weder ein kleines Mädchen noch eine Tochter der Elemente.«

»Das ist mir egal. Dich zu verlieren, würde mich umbringen.«

Sie lächelte ihn zaghaft an und drückte seine Hand. »Du verlierst mich schon nicht. Ich verspreche es dir.«

»Es ist mein Ernst, Leila.«

Bevor sie weiter mit ihm über sein Vorhaben diskutieren konnte, klopfte es an der Tür.

Marek stand auf und öffnete.

»Du bist wieder zurück.«

Überrascht sprang Leila von dem Fell auf, als sie Elisabeths Stimme hörte.

»Noch nicht lange. Kommt rein. Ich kann euch leider nichts zum Essen anbieten, weil noch keiner von uns Zeit zum Kochen hatte.«

»Mach dir keine Gedanken, deshalb sind wir ja nicht hier.« Hinter Elisabeth trat Vasna in die Stube.

Sie setzten sich auf die Stühle am Esstisch. Leila kramte eine Schüssel mit kandierten Samen hervor, stellte vier Becher auf den Tisch, einen Krug mit Wein und einen mit Wasser. Mehr konnte sie den beiden nicht anbieten. Vasna lächelte ihr zu, mischte sich einen Becher Wasser mit Wein.

»Und?«, fragte Elisabeth vorsichtig nach.

Die Bewegung, die ihr Vater machte, um die Ältesten auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, war nur für Leilas geübtes Auge sichtbar. Wer intensiv mit Pferden arbeitete, achtete auf jedes winzige Zeichen des Körpers, denn auf diese Weise kommunizierten die Fluchttiere miteinander.

»Ich glaube, wir können beruhigt vor deiner Tochter sprechen, nicht wahr, Leila? Dir ist klar, dass alles, worüber wir heute reden, erst einmal unter uns bleiben muss? Du hast gesehen, wie verängstigt unser Volk ist.«

»Ich werde nichts weitersagen. Versprochen.«

Marek seufzte. Sie wusste, dass ihr Vater sie beschützen wollte, aber er musste lernen, dass sie kein kleines Kind mehr war. »Ich kann euch unmöglich sagen, ob das, was die Dorfbewohner erzählen, stimmt. Zu viele andere Menschen haben den betreffenden Bereich durchsucht und ihre Spuren hinterlassen. Wenn jemand aus Mintra dahintersteckt, war die Suche eine äußerst günstige Gelegenheit, um mögliche Spuren zu verwischen.«

»Ihr glaubt, dass jemand von hier hinter dem Verschwinden der Mädchen steckt?«, stieß Leila hervor und starrte Elisabeth an.

»Mein Kind, vergiss nicht, dass kein Forraner, Eldemarer oder Tarieke unsere Grenze überschreiten kann. Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, und bei diesem neuen Vorfall drängt sich diese Deutung als die offensichtlichste auf. Drei Kinder können sich nicht mir nichts dir nichts in Luft auflösen.«

»Also wussten die Ältesten schon vom Verschwinden der Kinder?«

»Nicht alle. Dein Vater hat es uns berichtet, als er am Mittag mit den Informationen über die Vorräte bei uns eintraf.«

»In der Versammlung machtest du den Eindruck, als würdest du das erste Mal davon hören.« Ihre Stimme beinhaltete einen Vorwurf.

Vasna neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie aus ihren gütigen hellgrauen Augen. »Wenn jemand sein Anliegen vor den Ältestenrat bringt, ist es wichtig, dass er das Gefühl hat, uns eine Neuigkeit zu unterbreiten. Nur so weiß er, dass wir ihm unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Er fühlt sich ernst genommen, und so können wir ihm Wertschätzung gegenüber seiner Person, seinen Ängsten, Sorgen oder Beschwerden entgegenbringen. Was bewegte dich, heute das Wort zu ergreifen, Leila?«

Sie rutschte auf die Vorderkante ihres Stuhls.

Aufmerksam ruhte der Blick ihres Vaters auf ihr.

»Die Sache mit den verschwundenen Mädchen beschäftigt mich«, brachte sie schließlich heraus.

»Du wusstest aber bis zu diesem Zeitpunkt nur von Sigrid, oder?« Die wache Intelligenz in Elisabeths Augen gab ihr das Gefühl, ertappt worden zu sein.

»Dein Anliegen betraf diese Sache?«, fiel Marek überrascht ein.

»Ja«. Bei Lishar, wie sollte sie sich hier herausreden? Sie hatte das Gefühl, ein offenes Buch für die Ältesten zu sein. Unwillkürlich steckte sie ihre Hand in die Hosentasche und umschloss damit den Stein. Tröstende Wärme kroch direkt über die Haut durch ihre Adern. Ihre Ängstlichkeit verschwand. Sie war nicht allein.

»Gibt es einen Grund, warum es dich beschäftigt?«, fragte Vasna nach.

»Ja. Menschen, dir mir viel bedeuten, gehen zum Jagen über die Grenze. Wenn ihnen von dort Gefahr droht, möchte ich es wissen.«

»Und das ist der einzige Grund?«

Leilas Herzschlag beschleunigte sich, und rasch senkte sie den Blick auf die Tischplatte. Weder konnte sie lügen noch die Wahrheit erzählen. Sie entschied sich für den einzigen Weg, der ihr blieb. Einen Pfad, der so nahe wie möglich an der Wahrheit blieb.

»Ich träumte gestern davon.«

Nur das Knistern der Flammen war zu hören. Immerhin war es das, was sie bei ihrer ersten Begegnung mit Viviens Geist gedacht hatte.

»Erzähl uns von deinem Traum«, bat Vasna sanft.

»Meine Schwester erschien mir darin. Sie fragte mich, ob in Mintra Kinder verschwinden würden. Als ich es bejahte, trat ein sorgenvoller Ausdruck in ihr Gesicht. Sie bat mich in einem eindringlichen Tonfall, dass ich vor den Ältestenrat treten und ihm sagen solle, dass wir unbedingt auf die Kinder von Mintra aufpassen sollen.«

»Alle Kinder oder nur die Kinder der Elemente?«

Leila runzelte die Stirn, versuchte, sich an den genauen Wortlaut von Viviens Anweisung zu erinnern. »Nein, sie meinte alle Kinder.«

»Ist es das erste Mal, dass dir deine Schwester im Traum begegnete?«

Die Frage aus Elisabeths Mund klang harmlos, aber Leila stieg Hitze ins Gesicht. Am liebsten hätte sie sich das Band an ihrem Hemd geöffnet. Sie nahm ihren Becher, trank einen Schluck Wasser, froh, dass sie keinen Wein beigemengt hatte. Sie spürte den bohrenden, nachdenklichen Blick ihres Vaters auf sich.

»Nein.«

»Wie oft geschieht es?«

»Ein- bis zweimal im Jahr.« Schweiß trat ihr auf die Stirn. Angestrengt studierte sie die Maserung des Holztisches.

»Wir danken dir, Marek, dass du es auf dich genommen hast, noch einmal den Weg ins Dorf zu machen – und danke für den Wein.«

Die drei erhoben sich. Leila blieb sitzen, aus Angst, dass ihr die Knie versagen würden, wenn sie aufstand. Ihr Vater begleitete die Ältesten zur Tür und verabschiedete sich von ihnen. Sie hörte das Ächzen des Stuhls, als er sich neben ihr niederließ.

»Du hast mir nie davon erzählt.«

»Ich dachte, es würde dich traurig machen.«

»Leila, würdest du mir den Stein zeigen, den du von Vivien bekommen hast?«

Zögernd holte sie ihre Hand, die den Stein umschlossen hielt, aus der Hosentasche hervor, legte sie auf den Tisch und öffnete langsam die Faust. Nichts deutete darauf hin, dass der Stein kurz zuvor Hitze ausgestrahlt hatte. Glatt und kühl lag er auf ihrer Handfläche. Die Röte auf ihrer Handfläche konnte auch daher stammen, dass sie ihn fest umklammert gehalten hatte.

Behutsam nahm Marek den Stein, legte ihn in seine eigene Handfläche und betrachtete ihn eine Weile. Dann schloss er langsam die Hand zur Faust.

Leila hielt die Luft an.

Die Stirn nachdenklich gerunzelt gab er ihr schließlich den Kiesel zurück. »Ein ganz gewöhnlicher schwarzer Kiesel vom Ufer des Sees Luna.«

»Was dachtest du?«

Er blickte ihr direkt in die Augen. »Eine Art Amulett, das zwei Schwestern über Zeit und Entfernung miteinander verbindet.«

Sie fühlte sich gefangen. Ertappt.

Ihr Vater nahm ihre Hand, legte ihr den Stein wieder auf die Handfläche und bog ihre Finger um ihn herum. »Du solltest weiterhin gut auf ihn achtgeben.«

10

Erwachen

So konnte es nicht weitergehen. Die magere Wölfin verlor weiter an Gewicht, weil sie sich weigerte, Leonora von der Seite zu weichen. Das Tier bot einen erbärmlichen Anblick.

Eiméar fütterte die Wölfe grundsätzlich nicht. Sie mussten ihren Instinkten folgen und selbst für sich sorgen. Es war falsch, sich in den Lauf der Natur, so wie Gott ihn vorgesehen hatte, einzumischen. Und doch hatte sie es bereits zweimal getan, das erste Mal, als sie Ashra vor dem sicheren Tod rettete, und dann bei Gigi.

Während sie noch ihren inneren Kampf ausfocht, griff das Alphatier ein. Mit wütendem Knurren und Bissen jagte Ashra die Wölfin aus der Höhle. Draußen kam es zu einer Rauferei, bis Gigi schließlich nachgab und mitsamt dem Rest des Rudels in die Wildnis davontrottete.

Seufzend machte sich Eiméar an die Aufgabe, ein Mahl für sich und Leonora zu kochen, die mal langsamer, mal schneller, aber kontinuierlich mit dem Schaukelstuhl auf und ab wippte. Inzwischen ging ihr das Geräusch des knarzenden Stuhls gehörig auf die Nerven, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Bewegung, die sie, egal, wo sie sich in der kleinen Höhle aufhielt, immer in den Augenwinkeln wahrnahm. Kurz überlegte sie, das Möbelstück zu Kleinholz zu verarbeiten und ins Feuer zu werfen, hielt sich aber zurück. Ihre Mutter hatte sie beide in dem Schaukelstuhl gestillt.

Was das Kochen betraf, beherrschte Eiméar nur die einfachen Gerichte, da sie oft nur an einem Lagerfeuer kochte. Sie hängte den gusseisernen Topf an das Dreibein, das sie über dem Herdfeuer aufgebaut hatte. Ein wenig Schmalz, klein geschnittene Kartoffeln und Wurzelgemüse, Wasser sowie getrocknete aromatische Kräuter – mehr gab es nicht in der Suppe. Sie zog Leonora von dem Schaukelstuhl weg und brachte sie zu dem Stuhl am Esstisch, wo sie ihr die Schüssel unter die Nase schob. Sie war überrascht, als sie bemerkte, dass ihre Schwester zum ersten Mal seit der schicksalhaften Nacht selbst den Löffel ergriff und sich den Eintopf einverleibte.

Eine Weile sah sie ihr zu, suchte in ihrem Gesicht nach Erkennen, doch Leonoras Blick war weiterhin auf etwas gerichtet, das nicht von dieser Welt zu sein schien.

»Vielleicht macht das Rudel gute Beute und sie geben uns davon etwas ab. Das wäre mal eine echte Abwechslung von dem eintönigen Essen, so ein gutes Stück Fleisch. Was meinst du?«

Wie erwartet erhielt sie keine Antwort. Sie plauderte weiter, von Kajas Besuch, dem Wetter, darüber, wie viele Pfeile sie angefertigt hatte, dass ihr die Federn langsam ausgingen und sie neue suchen musste.

Später fiel sie völlig erschöpft von den Selbstgesprächen, aber auch vom Kochen und Abwaschen todmüde ins Bett. Auch hatte sie ihre Schwester noch gewaschen. Bevor sie die Kerze ausblies, sah sie, wie Leonora bereits die Augen schloss.

Würde ihr Leben von jetzt an immer so aussehen? Sie dachte an Haman, der von Ricarda, der Mutter ihrer besten Freundin Vivien, versorgt worden war. Oft hatten Vivien und sie Ricarda zu zweit begleitet. Der Anblick seines hageren Gesichts und der verkrüppelten Hand war gleichzeitig mitleiderregend und gruselig gewesen.

Nachdem Ricarda, Sanira und Vivien weggegangen waren, hatte Marek sich um Haman gekümmert, bis zu einem Tag, der noch gar nicht so lange zurücklag, an dem auch Haman Mintra den Rücken gekehrt hatte.

Seltsam, dass sie ausgerechnet heute an ihn denken musste. Leonora war es gewesen, die ihn aus seiner selbst gewählten Isolation herausholte. Seine verkrüppelte Hand konnte sie zwar nie heilen, doch nahm sie ihm den Schmerz und die Trauer, ja brachte die Hoffnung zurück in sein Leben, sodass schließlich ein Licht in seiner Seele zu glimmen begann.

Eiméar wusste, dass Leonora ein weiches Herz hatte wie sie auch. Aber ihre Schwester empfand es als ihre Lebensaufgabe, sich um verlorene Seelen zu kümmern, und es traf sie hart, wenn sie dabei versagte.

»Als Kaja heute hier war«, flüsterte sie in die Dunkelheit, »sagte sie, dass du keine Schuld auf dich geladen hast, indem du das Leben von Samin beendetest. Einer Seele den Übergang in den Tod zu ermöglichen, gehört, wenn jemand unter schlimmen Schmerzen leidet, zu den Aufgaben einer Heilerin, solange dies aus selbstloser Liebe geschieht. Und bei dir war es so. Bitte Leo, komm zu mir zurück. Ich brauche dich doch. Was soll ich ohne dich machen?«

Eiméar schämte sich ihrer Tränen und war froh, dass die Nacht sie verbarg. Sie bemühte sich, still zu weinen, damit ihre Schwester ihre Verzweiflung nicht spürte – ein sinnloses Unterfangen. Zwischen ihnen gab es ein Band, das im Bauch ihrer Mutter gewoben worden war und sie auf eine andere Weise miteinander verband, als normale Geschwister miteinander verbunden waren. Es war eine Verbindung ihrer Seelen durch den Blutstrom, der sie in der Zeit genährt hatte, als ihre Existenz kaum mehr war als ein Versprechen.


Unbewusst vernahm Eiméar das leise Winseln von Gigi. Sie schob ihren Kopf unter das Kissen, wollte das Aufwachen so lange wie möglich hinauszögern.

Es dämmerte. Ein neuer Tag begann, der vierte Tag, und damit das Ende der Zeit, die sie sich von Kaja erkauft hatte. Nichts hatte sich an Leonoras Zustand verändert, und obwohl sie wie ein Stein geschlafen hatte, fühlte sie eine bleierne Müdigkeit in ihren Knochen. Sie wusste, es war ihr fehlender Wille, sich aufzuraffen und der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Wieder winselte die Wölfin und jaulte dann auf.

»Pst, halt endlich still, du dummes Mädchen. Wie soll ich dir den Dorn aus der Tatze entfernen, wenn du dich anstellst wie ein Mann? Du bist doch meine tapfere, große Gigi und kein kleiner Welpe mehr.«

»Dir ist aber schon klar, dass sie dich nicht versteht?«, murmelte Eiméar verschlafen.

»Siehst du, jetzt haben wir sie aufgeweckt.«

»Nein, nein, ich war schon …«

Ruckartig richtete Eiméar sich im Bett auf. Die Wölfin lag auf der Seite. Leonora hockte vor ihr, die rechte Wolfstatze auf ihrem Schoß, neben sich eine Kerze und aufgereiht mehrere Tiegel mit Salben aus ihrem Heilerinnenbeutel. Mit konzentrierter Miene zog sie sachte an einem langen Dorn, der sich in den Ballen hineingebohrt hatte.

Eiméar kannte die Pflanze. Die Dornen besaßen Widerhaken, die böse Wunden rissen, wenn man versuchte, sie aus der Haut zu ziehen. Blieb nur ein kleines Stück darin stecken, verursachte es üble Entzündungen. Es war eine Kunst, diese Dornen zu entfernen, eine Arbeit, die von einer Heilerin größte Sorgfalt erforderte und vom Patienten absolutes Stillhalten.

Eiméar kroch aus dem Bett, hockte sich bei der Wölfin hin und nahm ihren Kopf in den Schoß.

»Du musst jetzt schön stillhalten«, wisperte sie.

Gigis Zunge kam hervor, sie leckte ihr über die Hand und winselte leise. Leonora wandte ihren Blick nicht von der Pfote. Ganz langsam zog sie am Dorn, machte dabei kleinste Bewegungen nach oben, unten, rechts und links.

Endlich hielt sie das spitze Etwas triumphierend zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Da haben wir den Bösewicht. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinbekommen hätten.«

Der feine Widerhaken saß noch am Dorn und war nicht abgebrochen. Gigi zuckte mit der Pfote, doch Leonora hielt sie mit der freien Hand unerbittlich fest. »Gleich hast du es geschafft.«

Sie legte den Dorn auf ein helles, kleines Tuch, tauchte zwei Finger erst in den einen Tiegel, dann in den zweiten, und schmierte die wunde Stelle mit beiden Salben ein. Die Salbe im zweiten Gefäß war von einer festeren Konsistenz. Mit geschickten Händen verband sie zuletzt die Tatze.

»Fertig.« Sie strahlte ihre Schwester mit breitem Grinsen an und kraulte der Wölfin durch das Fell. »Sie ist wirklich ganz schön mager. Meinst du, du kannst einmal über deinen Schatten springen und mir erlauben, sie zu füttern?«

Stumm wischte sich Eiméar die Tränen von der Wange. Wie albern, dabei gab es doch gar keinen Grund mehr für sie zu weinen.

Die Wölfin sprang auf, ohne die verletzte Pfote zu belasten. Stattdessen hielt sie sie in die Höhe, hüpfte auf drei Beinen zu ihrer Wohltäterin und leckte ihr einmal quer über das Gesicht.

Statt die zudringliche Liebeserklärung durch Wegschieben oder Aufstehen zu beenden, lachte Leonora nur, legte ihre Stirn auf die der Wölfin und hielt ihren Kopf fest, indem sie ihr alle Finger in den Halskragen grub.

»Gern geschehen, und ich liebe dich auch. Aber jetzt muss ich nach meiner heulenden Schwester sehen. Ich glaube, die braucht auch mal eine Umarmung.«

Kaum hatte Leonora die Arme um sie geschlungen, musste Eiméar noch mehr heulen.

»Hey, hey, was ist den los? War es so schlimm?«

»Du hast ja keine Ahnung.«

»Was erwartest du von mir? Auch ich brauche meinen Schlaf. Es hat mich viel Energie gekostet, die Sauerstoffblase um uns herum zu schaffen. Das war selbst für mich anstrengend.«

»Anstrengend? So anstrengend, dass du drei Tage und vier Nächte wie ein seelenloses Stück Fleisch dasitzt, nicht sprichst, nicht isst, nicht reagierst, mich glauben lässt, du wärst mehr tot als lebendig?« Sie ließ ihre Schwester los und gab ihr einen Schubs.

Mit großen Augen starrte Leonora sie an. »Vier Nächte? Drei Tage? Das ist unmöglich!«

Energisch schüttelte Eiméar den Kopf. »Ganz gewiss nicht. Es waren die längsten Tage meines Lebens. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.«

»Aber, das kann nicht sein. Es war doch nur ein kurzer Moment, bis ich mich entschied. Das kann nicht so lange gedauert haben.«

»Doch, glaub mir. Kaja war hier und wollte dich in das Haus der Heilung bringen lassen.«

Benommen schüttelte Leonora den Kopf.

Eiméar seufzte. »Was ist überhaupt geschehen? Du wärest fast ertrunken. Wie eine Leiche lagst du auf dem Grund des Sees Luna, gefangen gehalten von schwarzen Schlieren. Kaja sagte, dass eine Tochter des Elementes Wasser nicht ertrinken kann, aber für mich sah das anders aus. Wäre Gigi nicht gewesen …« Sie streichelte der Wölfin über den Kopf. »Die ganze Zeit, seit du in diesem …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »… Zustand warst, ist sie an deiner Seite geblieben. Sie hat dir das Leben gerettet. Wäre sie nicht zurückgekehrt und hätte Ashra alarmiert, der mich dann weckte … Ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dich im Wasser zu suchen. Was hast du da draußen gemacht?«

»Ich konnte nicht schlafen. Du warst so erschöpft, und ich wollte dich nicht wecken, aber meine Schuldgefühle machten mir zu schaffen. Mir war klar, dass ich mich dem Urteil des Ältestenrates stellen und die Konsequenzen für mein Handeln tragen muss. Ich suchte Trost, deshalb ging ich zum See.«

»Du darfst dir keine Vorwürfe mehr machen. Du hast das Richtige getan. Kaja dachte, du wüsstest es und Elija hätte dich längst in diese schwerste Aufgabe einer Heilerin eingeweiht. Deine Seele ist jedenfalls nicht der Dunkelheit geweiht. Es gibt nichts, was du dem Ältestenrat beichten müsstest. Bitte, hör auf, dich darüber zu grämen.«

Ein wehmütiges Lächeln erschien auf dem Antlitz ihrer Schwester, und Tränen traten ihr in die seegrünen Augen, blieben wie kleine, glitzernde Diamanten in den dichten Wimpern hängen.

»Niemand kann mir die Schuldgefühle für mein Handeln nehmen, nur ich selbst, wenn ich bereit bin, es mir zu verzeihen. Aber so weit bin ich nicht, Eiméar. Und ich bin unsicher, ob ich jemals so weit sein werde.«

Eiméar nahm die Hände ihrer Schwester und hob sie an ihre Wange.

»Ich bin froh, dass du es gemacht hast, und Kaja ist es auch. Sprich mit ihr. Ich bin mir sicher, dass es dir helfen wird.«

»Das mache ich. Und ich spreche mit Elija. Sie muss wissen, was ich getan habe.«

Gigi ließ sich nieder und legte ihren Kopf auf Leonoras Schoß. Die entzog Eiméar ihre Hände und begann, die Wölfin hinter den Ohren zu kraulen.

Eiméar seufzte. »Sie ist ein Wolf und gehört in die Wildnis, vergiss das bitte nicht.«

»Du meinst, so wie Ashra?«

»Ich kraule und füttere ihn nicht.«

»Stimmt, dass machst du alles nur heimlich.«

Erst grinsten sie sich gegenseitig an, dann kicherten sie, absurd in diesem Moment, doch es nahm ihnen ein Stück weit die Last von der Seele.

Dann wurde Eiméar wieder ernst. »Der See glich einem schwarzen Abgrund, als ich Gigi über das Eis bis zu seiner Mitte folgte, wo du ein Loch im Eis geformt hattest. Ich habe solch eine tiefschwarze Dunkelheit noch nie zuvor gesehen. Mein Amulett reagierte und scheuchte sie davon. Erst da sah ich dich in ein silbernes Licht getaucht auf dem Grund. Was ist geschehen?«

»Lishar ist mir erschienen und machte mir heftige Vorwürfe. Sie sagte, ich weigerte mich, meine Bestimmung anzunehmen. Ich wäre ängstlich, selbstgerecht und eitel. Und sie hat recht. Ich bin blind für meine Schwächen und meine eigenen Unzulänglichkeiten. Wenn es aber um die Fehler anderer geht … Oh ja, die erkenne ich gut und reibe sie ihnen unter die Nase.«

»Hör auf, Leo! Du zerfließt vor Selbstmitleid, das kenne ich von dir gar nicht.«

»Nein, ich bin ehrlich. Das ist ein Unterschied. Du liebst mich ohne Vorbehalte.«

»Deshalb weiß ich, dass du mutig bist und immer versuchst, deinem Gewissen zu folgen. Vivien hat das nie anders gesehen, glaub mir. Du hast uns dauernd an unsere Fehler erinnert, damit wir aus ihnen lernen, die Konsequenzen unseres Handelns zu tragen und über uns selbst hinauswachsen können.«

»Oh, Mea, du lässt mich in einem so strahlenden Licht erscheinen, aber ich sehe die Schatten, die das Licht wirft: meine Arroganz, meine Selbstgerechtigkeit, und dass ich die Augen vor meinen eigenen Schwächen verschließe.«

Eiméar nahm eine Strähne des silbernen Haars ihrer Schwester mit drei Fingern auf. »Sieh, Leo. Es ist nicht eine einzelne Strähne von der Begegnung mit der Göttin. Dein ganzes Haar hat die Farbe angenommen. Glaubst du wirklich, dass es geschehen wäre, wenn du es in ihren Augen nicht wert wärest?«

»Was, wenn es kein Zeichen der Ehre, des guten Charakters oder der Weisheit ist, sondern eines der Strafe dafür, dass ich zu feige bin, ihrem Weg zu folgen?«

»Die Dunkelheit ist von dir gewichen. Du lebst, du bist immer noch eine Tochter des Elementes Wasser, und es sind deine Zweifel, die dich zu einem besseren Menschen werden lassen, weil du deine Fehler erkennst und aus ihnen lernen kannst.«

»Nein, Mea, die Dunkelheit ist nicht von mir gewichen. Du hast sie vertrieben. Es waren deine Liebe und deine Fähigkeit, mit dem Element Feuer umzugehen, was mich gerettet hat. Deine Kräfte sind tief in dir verwurzelt, sie sind unglaublich stark. Du hast über all die Jahre mit so viel Diziplin und unendlicher Geduld an ihrer Kontrolle gearbeitet. Du bist deinem Herzen gefolgt und hast deine Angst vor der Dunkelheit und dem Wasser überwunden. Wenn jemand eine Ehrenauszeichnung zusteht, dann dir.«

Ihre Worte lösten einen sanften Energiestrom in Mea aus, der sich von ihrem Innersten rasch durch ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie lächelte ihre Schwester an, und diese erwiderte ihr Lächeln. Sie verschlangen ihre Hände ineinander, so wie sie es immer taten, wenn sie sich gegenseitig einen Schwur leisteten.

»Weder Licht noch Dunkelheit können uns jemals trennen. Wir sind eins vom Anbeginn des Lebens bis zum Ende. Dein Blut fließt durch mich und mein Blut durch dich. Gemeinsam werden wir auch dieses tiefe Tal durchwandern.«

Bei ihren Worten fing Eiméars Amulett an zu leuchten, Flammen züngelten über ihre Haut, trafen sich über die vereinten Hände mit dem Wasser ihrer Schwester und hüllten sie beide in dichten Dampf.

11

Geheimnisse

Gigi sprang knurrend auf, alle Haare in ihrem Nacken gesträubt. Sie lösten ihre Hände voneinander. Eiméar drehte sich zu dem Ankömmling um.

Kaja war stocksteif am Eingang stehen geblieben und ließ die Wölfin nicht aus den Augen. Auch wenn sie ein mageres Tier war, beeindruckte sie einen dennoch mit ihrem Anblick, vor allem das schneeweiße Raubtiergebiss mit den blitzenden, dolchartigen Reißzähnen sah bedrohlich aus.

»Gigi, lass das, du brauchst mich nicht mehr beschützen.« Leonora erhob sich, trat zu der Wölfin und legte ihr eine Hand auf den Kopf.

»Ich glaube, damit wird sie nie mehr aufhören. Kannst du sie rausschicken? Ich muss gestehen, sie macht mir Angst.«

»Geh, troll dich zu deinem Rudel.« Kaum hatte Eiméar die Worte gesprochen, erschien Ashra und stieß einen kurzen Laut aus, Gigi leckte noch einmal Leonoras Hand und folgte ihm nach draußen. Aufmerksam ließ Kaja ihren Blick über Leonora wandern, und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen.

»Es scheint, als wärest du wieder bei uns.«

»Ja, und es tut mir leid, dass ich euch beiden Kummer bereitet habe. Mir war nicht bewusst, dass ich so lange zum Nachdenken brauchte.«

»Nein, ich muss mich bei dir entschuldigen. Es war unfair von mir, zu erwarten, dass du Samins Leiden ein Ende bereitest. Ich hätte wissen müssen, dass es deine Kräfte überfordert. Dabei dachte ich nur an Samin und daran, dass er sich in deinen Händen sicher fühlen würde, weil du ihm die Angst nehmen konntest. Hätte ich nur im Entferntesten geahnt, dass Elija dich überhaupt nicht in das letzte Geheimnis der Heilerinnen eingeweiht hat … Dabei warst du die ganze Zeit wie ein Fels in der Brandung für uns, diejenige, die uns durch unseren Schmerz getragen hat und uns half, uns dem unausweichlichen Ende zu stellen. Bei Lishar, allein der Gedanke, welche Schuldgefühle du mit dir herumgetragen hast, macht mich wütend auf mich selbst und meinen Egoismus.«

Rasch trat Leonora zu Kaja und nahm ihre Hände. »Ihr alle lasst mich und mein Handeln in einem reinen Licht erscheinen, aber ihr seid einem großen Irrtum verfallen. Ich bin der unvollkommenste Mensch auf dieser Welt.«

Kaja schmunzelte. »Allein diese Worte bestätigen meine hohe Meinung von dir.«

»Was kann ich tun, damit du dein Urteil über mich revidierst?«

Kaja schaute auf ihre miteinander verschränkten Hände, dann wanderte ihr Blick hoch zu Leonoras silbernem Haar.

»Ich fürchte, mein Kind, dafür ist es zu spät. Jemand anders hat entschieden, dass dein Lebensweg für unser Volk bedeutsam ist.«

Eiméar konnte regelrecht sehen, wie ihre Schwester unter der Last der Worte zusammensackte. Ich werde ihr helfen, diese zu tragen, schwor sie sich stumm.

»Möchtest du mit uns frühstücken, Kaja?«, fragte sie rasch. Sie hatte Angst, dass Leonora wieder in den vorherigen Zustand zurückverfallen würde, und wollte gern, dass Kaja eine Weile bei ihnen blieb, nur zur Sicherheit.

»Nein, danke, ich habe bereits mit meiner Familie gefrühstückt. Aber zu einem Kräutertee aus Leonoras Spezialmischung für den Morgen sage ich nicht Nein.«

Als Eiméar sich daran begeben wollte, hielt Leonora sie fest.

»Lass mich den Tee zubereiten, und weiche du das Getreide ein. Nimm auch Nüsse, Honig und Winteräpfel dazu. Ich brauche heute etwas Nahrhaftes.«

Kaja nahm an dem Holztisch platz. Eiméar spürte, wie sie Leonora und sie aufmerksam beobachtete, während sie gemeinsam das Mahl zubereiteten. Auch sie erschien skeptisch, was Leonoras Zustand betraf. Die Normalität darin, wieder gemeinsam mit ihrer Schwester den häuslichen Pflichten nachzugehen, erfüllte sie mit tiefer Freude. Der Vorgang glich einem Tanz, hatte einen eigenen Rhythmus und eine Harmonie, die sie die letzten verzweifelten Tage vergessen ließ.

»Wenn man euch beiden zuschaut, bekommt man das Gefühl, es würde nur ein einziger Mensch statt zweier Personen agieren.«

»Ich denke, das wird bei dir und Rai nicht anders sein«, merkte Leonora an.

»Oh, da irrst du dich aber, er würde nie die Äpfel finden. Selbst wenn ich ihm sage, wo sie sind, scheint er für das, was vor seiner Nase steht, völlig blind zu sein. Aber das ist etwas, das auf alle Männer zutrifft.«

»Dafür besitzen sie eine Scharfsichtigkeit, um die ich sie bei der Jagd beneide. Egal wie lange ich übe, Marek schlägt mich immer in der Zielsicherheit mit Pfeil und Bogen«, verteidigte Eiméar die Männerwelt.

»Du darfst dich auch nicht mit ihm vergleichen. Er ist der beste Jäger, den ich kenne. Apropos, er lässt dich fragen, ob du ihn morgen mit dem Rudel begleiten kannst«, plauderte Kaja munter weiter.

Rasch warf Eiméar ihrer Schwester einen Blick zu.

Ihre sorgenvollen Gedanken lesend nickte Leonora. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, wieder in schweigendes Grübeln zu verfallen. Ich habe lange genug meine Pflichten vernachlässigt.«

»Nachdem du ausgiebig gefrühstückt hast, gehen wir gemeinsam zum Haus der Heilerinnen. Elija erwartet uns bereits.«

Leonora stellte den Tonkrug mit dem dampfenden Tee auf den Tisch. Eiméar reichte ihr die Schüssel mit dem Getreidebrei, den sie ausnahmsweise mit Ziegenmilch statt mit Wasser angerührt hatte.

»Soll ich euch begleiten?«

»Nein, das ist nicht nötig. Wie ich bereits sagte, hat Leonora nichts falsch gemacht. Wir möchten nur wissen, was in der Nacht genau geschehen ist. Es gibt auch bei uns im Haus der Heilung ein Wissen, über das wir nur selten reden. Du hingegen wirst bei den Jägern gebraucht. Das Fleisch ist wichtig, damit wir für unsere Kranken eine kräftige, nahrhafte Brühe ansetzen können.«

Erneut wechselte Eiméar einen Blick mit ihrer Schwester. Sie hatte Kaja nur erzählt, was sie gesehen hatte. Es war an Leonora zu entscheiden, was genau sie über die Ereignisse in der Nacht preisgeben wollte. Ohne Worte verstanden sie sich.

»Ich werde gerade das Gefühl nicht los, dass hier eine zweite Unterhaltung stattfindet, ohne dass ich einen Laut höre.«

Eiméar spürte, wie Hitze ihr in die Wangen kroch. Kaja hatte schon damals diese Fähigkeit besessen, in ihre, Viviens und Levardas Gedanken einzutauchen, wenn sie in ihrer Kindheit etwas angestellt hatten.

Leonora reichte Kaja einen ledernen Trinkbeutel.

»Was ist das?«, fragte Kaja, die ihn entgegennahm.

»Eine weitere Spezialmischung von mir für Jolanda, Ruth und Alvar. Das Wasser stammt aus der Mitte des Sees Luna, von dort, wo seine Heilkräfte am ausgeprägtesten sind.«

»Das hast du mitten im Winter geholt? Oh, Leonora, das war wirklich leichtsinnig von dir. Das Wasser mag dir nichts anhaben können, aber bei der Kälte kannst du von Glück reden, dass Eiméar eine Tochter des Feuers ist.«

»Wie geht es Ruth?«

Sorgenfalten erschienen auf Kajas Stirn, und sie seufzte tief.

»Jolanda ist derzeit der einzige Mensch, der Ruth erreicht. Gäbe es sie nicht, ich fürchte, wir hätten Ruth schon längst an die Dunkelheit verloren. Manchmal vergesse ich, dass sie gerade mal acht Jahre alt ist. Es ist kaum zu glauben, wie sie mit der Situation umgeht. Als wäre sie die Erwachsene in der Familie. Alvar geht Ruth aus dem Weg. Ihr Anblick ist für ihn eine bleibende Erinnerung daran, dass sie Samin für immer verloren haben. Das hindert seine Seele daran, die Wunde zu schließen, damit er das Leben wieder annehmen kann. Ich weiß, ich höre mich an wie eine böse Schwiegermutter, wenn ich darüber nachdenke, dass die beiden erst einmal getrennte Wege gehen müssen. Rai und ich haben uns die letzten Tage mehrfach darüber gestritten. Aber ich denke, es ist das Beste, wenn Alvar zu uns zieht.«

Leonora hielt mit dem Essen inne.

»Auf keinen Fall. Es wird Jolanda das Herz brechen, wenn ihr Vater die Familie verlässt. Was wollt ihr dem armen Mädchen noch zumuten?«

»Der Vorschlag stammt von Jolanda, die damit zu mir kam.«

Betroffenheit überzog Leonoras Gesicht.

»Aber weshalb, in Lishars Namen?«

»Weil sie glaubt, dass es für die beiden das Beste ist. So wie Ruth ihren Mann an den Verlust erinnert, so ist es umgekehrt genauso. Manchmal braucht Liebe Abstand, um nach einem Schicksalsschlag erneut wachsen zu können.«

»Du sprichst aus Erfahrung«, stellte Leonora leise fest.

»Damals, als Elija mir sagte, dass das Kind in meinem Bauch gestorben sei, da wollte sie es direkt herausholen, damit der absterbende Körper mich nicht vergiftet. Ich bat sie um etwas Zeit, um Abschied nehmen und es Rai selbst erzählen zu können, dass unser Kind nicht mehr lebt. In Wahrheit aber wollte ich sterben. Zum Glück hielt damals Lishar ihre Hände über mich. Als Rai mich fand, war die Geburt bereits in vollem Gang.«

Ein seliges Lächeln erschien auf Kajas Gesicht. Ihre Aura begann sanft zu schimmern.

»Levarda lebte. Sie war nicht gestorben. Ihr Herz liegt auf der anderen Seite, und deshalb unterlief Elija der Fehler. Rai hingegen konnte ich nichts vormachen. Er kennt mich einfach zu gut. Es dauerte, bis er bereit war, mir zu verzeihen, dass ich ihn mit seinem Kummer hatte allein lassen wollen, sodass ihm nicht nur das Kind, sondern auch ich genommen worden wäre.«

Noch nie hatte Eiméar Kaja über die Geburt von Levarda reden hören. Die innige Beziehung zwischen Kaja und Rai hingegen bekam jeder mit, der das Haus der Familie betrat.

»Ich kann mir Alvar ohne Ruth nicht vorstellen«, sagte sie entschieden. »Die beiden gehören einfach zusammen. Alles andere wäre falsch, und nicht nur das. Es würde Samin zutiefst verletzten, wenn sein Tod daran schuld wäre, dass die Familie auseinanderbricht. Habt ihr daran einmal gedacht? Ein Mädchen von acht Jahren besitzt nicht die Weitsicht für so eine Entscheidung.«

»Da irrst du dich gewaltig. Neben all dem Licht, das Samin verbreitet hat, nahmen nur wenige wahr, was für ein ganz besonderes Kind auch Jolanda ist. Sie ist diejenige, die für ihre Eltern da ist, und sie ist es auch, die sie wieder zusammenführen wird. Da bin ich mir ganz sicher.«

Eiméar hörte den Zweifel in ihren Worten. Konnte man einen Menschen dazu zwingen, wieder zu lieben? Konnte man eine Mutter zwingen, ins Leben zurückzukehren, nachdem sie einen so großen Verlust hatte hinnehmen müssen?

»Ich werde heute Abend bei Ruth und Jolanda nach dem Rechten sehen und ihnen selbst das Wasser bringen«, verkündete Leonora und tauchte ihren Löffel in den Getreidebrei.

12

Jagd

Eiméar stieß einen leisen Pfiff aus. Kaum war er verklungen, tauchte ihr schwarzer Hengst aus dem Unterholz auf. Er nickte mit dem Kopf, machte den Hals lang und nahm mit seinen weichen Lippen den Apfel aus ihrer flachen Hand.

Sie bildete mit beiden Händen eine Schale, als er ihn zermalmte, sodass die herunterfallenden Stücke nicht im Schnee landeten. Dichtes, seidiges Winterfell bedeckte den muskelbepackten Körper von Ignis und glänzte tiefschwarz wie die Nacht mit einem leichten Blaustich. Es gab nicht ein einziges weißes Haar in seinem Fell oder auch nur die Nuance eines dunklen Grautons. Bei seiner Geburt hatte sie, kaum dass er auf seinen langen Beinen wackelig zum Stehen gekommen war und mit einem kräftigen Stups den Milchfluss seiner Mutter in Schwung gebracht hatte, gewusst, dass sie beide zusammengehörten. Selbst Leila hatte es gespürt, als sie ihren Blick zwischen ihr und dem Fohlen hatte schweifen lassen.

»Ihr zwei seht aus wie Zwillinge«, hatte sie gesagt. »Er gehört dir, wenn du es möchtest. Wie soll er heißen?«

»Ignis – das Feuer.«

»Ich wusste schon immer, dass es dir an Fantasie fehlt, aber von mir aus. Dann heißt er ab heute Ignis.«

Eiméar kraulte die Stirn des Hengstes und seine Lieblingsstelle hinter den Ohren, erst dann legte sie ihm ein geknüpftes Halfter an und führte ihn zu der Stelle an einem Baumstamm, wo sie ihren Sattel sowie Pfeil und Bogen abgelegt hatte.

Erstaunlich geduldig ließ Ignis sich die Mähne entwirren und bürsten. Sein Fell prüfte sie nur in der Sattellage nach verklumpten Stellen. Es brauchte das Fett, damit es den Pferdekörper vor der Feuchtigkeit schützen konnte.

Schneeflocken tanzten durch die Luft, als sie Ignis zu der Hütte von Marek und Leila lenkte. Auf leisen Tatzen, verborgen vom Gehölz, folgte ihr das Wolfsrudel.

Zwei Pferde standen gesattelt vor der Hütte. Das eine Tier, eine kastanienbraune Stute, gehörte Marek. Sie hieß Cecil. Das andere war ein kräftiger, karamellfarbener Wallach, Leilas bevorzugtes Arbeitspferd mit dem Namen Bons.

»Da bist du ja.« Marek tauchte warm verpackt und mit vollen Satteltaschen und seinem Bogen in der Hand in der Tür auf. »Wo ist das Rudel?«

Sie grinste. »Sag bloß, dein Augenlicht ist schon deinem Alter zum Opfer gefallen, dass du nicht einmal mehr ein Wolfsrudel im Wald erkennen kannst.«

»Blödsinn«, knurrte er. »Ich sehe ausgezeichnet. Dein Ashra hat seine Meute nur gut im Griff.«

»Er ist nicht mein Ashra.«

»Ja, ja, schon gut. Lass uns losreiten, damit wir rechtzeitig wieder nach Hause kommen, bevor die Dämmerung hereinbricht.«

Leila kam ebenfalls mit ihrem Bogen in der Hand aus der Hütte.

Eiméar runzelte die Stirn. »Du willst mit auf die Jagd kommen?«

Leila verabscheute es, Tiere zu töten, weshalb sie normalerweise ihren Vater nie begleitete. Sie war eine hervorragende Bogenschützin, kein Wunder bei dem Vater. Sie hatte nur deswegen ohne Murren all die Jahre trainiert, weil sie, wenn sie einmal töten musste, es so rasch und schmerzfrei wie möglich für das Tier tun wollte.

»Papa hat mich gebeten, eine Ausnahme zu machen. Drei Bögen verschaffen uns rascher die dringend benötigte Beute als zwei.«

Bei den Worten rümpfte sie ihre kleine Stupsnase, die trotz des Winters über und über mit Sommersprossen übersät war. Das erinnerte Eiméar schmerzlich an Leilas Schwester Vivien, ihre beste Freundin. Oft sehnte sie sich nach deren Art, das Leben einfach leichtzunehmen, es anzunehmen, wie es war, sehnte sich nach dem Unfug, den sie andauernd ausheckte, und vor allem nach ihrem Lachen. Leila kam mehr nach ihrem Vater, dem stillen, ruhigen Marek, der eine tief verwurzelte Beständigkeit und Geborgenheit ausstrahlte. Dabei war sie als Kind ein ausgemachter Wirbelwind gewesen. Das hatte sich jedoch schlagartig gelegt, als Vivien mit ihrer Mutter fortgegangen war.

Leila und Marek hatten beide dunkelbraunes Haar, das, wenn die Sonne darauf schien, einen dunklen Rotton annahm. Aber der war noch nichts im Vergleich zu dem knalligen Rotton von Viviens Haaren. Die kringeligen Locken hatte Vivien wiederum von Marek geerbt, Leilas Haar fiel in weichen Wellen bis zu ihrer Hüfte.

Je älter sie wurde, desto mehr kamen in Leila die Sanftmütigkeit und unendliche Geduld zum Vorschein. Sie war ausgezeichnet im Zuhören und sogar noch besser im Lesen von Körpersprache. Die Art, wie sie mit Pferden umging, hatte Eiméar schon oft glauben lassen, dass sie ein Kind der Erde sei.

Die Kinder der Erde besaßen die engste Bindung zu allem, was sich auf und unter dem Boden bewegte. Die Talentiertesten von ihnen konnten sogar mit Tieren sprechen. Leila war kein Kind der Elemente, und dennoch besaß sie dieses Talent. Jeder in Mintra ließ seine Reittiere von ihr ausbilden. Gab es Probleme mit den Tieren, so ging man zu ihr.

Inzwischen hatte Leila die Pferdezucht vollkommen übernommen. Eiméar erinnerte sich noch, wie Sita, Levardas Pferd, auf die Welt gekommen war. Es war das erste Fohlen gewesen, das Leila mit gerade mal zwölf Jahren gezogen hatte. Jeder hatte Petur für verrückt erklärt, dass er ein kleines Mädchen entscheiden ließ, welche Paarung geeignet sei. Das Ergebnis hatte ihm recht gegeben.

»Und warum kommen nicht Jared und Gustav an deiner statt mit?«

Überrascht hob Leila die Augenbrauen. »Soll das heißen, du hast es noch nicht gehört?«

»Was habe ich noch nicht gehört?«

»Die Töchter von beiden sind gestern verschwunden. Alle, die sich auf das Spurenlesen verstehen und die wir an anderer Stelle entbehren können, sind auf der Suche nach ihnen. Auch wir sollten die Augen offen halten.«

Marek warf einen Blick auf Ashra, der aus dem Wald herausgekommen war und jetzt offen sichtbar am Rand saß.

»Schade, dass wir ihm nicht sagen können, dass er sie suchen soll. Er würde die Spuren bestimmt auch unter dem frisch gefallenen Schnee finden.«

»Aber ich dachte, kein Mädchen würde mehr allein über die Grenze treten?«

»Erstens waren sie zu zweit«, warf Marek ein, »und zweitens warst du auch nie ein Vorbild, wenn es darum ging, die Regeln der Erwachsenen einzuhalten. Und auch jetzt würdest du ohne mit der Wimper zu zucken allein über die Grenze reiten. Drittens –«

»Ich bin auch kein Mädchen, sondern eine Frau«, empörte sich Eiméar. Außerdem kann ich mit dem Bogen umgehen und mit dem Schwert kämpfen, und ich bin nie ganz allein. Das Wolfsrudel begleitet mich.«

»Und dennoch kannst auch du nicht gegen eine Übermacht ankämpfen. Also solltest du dich ebenso an den Rat halten und keinesfalls mehr die Grenze ohne mich überschreiten. Und hör auf, die Augen zu verdrehen! Leila stellt sich genauso bockig an. Akzeptiert es und lebt damit, bis wir wissen, was hinter dem Verschwinden der Mädchen steckt.«

»Papa, ehrlich, fang jetzt nicht auch noch an, Eiméar mit deinen Beschützerinstinkten zu nerven. Außerdem – was sollte jemand von mir wollen?«

»Was will jemand von den Mädchen?«

»Und drittens?«, unterbrach Eiméar die beiden.

»Drittens waren sie nicht einmal außerhalb der Grenze.«

»Und das weißt du woher?«

»Weil sie zur Bucht gegangen sind, um zu angeln. Von da ist es ein weiter Weg zu irgendeiner Grenze, der außerdem durch eines der Dörfer geführt hätte. Und im Winter über die Grenze im Wasser zu schwimmen – welchen Grund gäbe es dafür?«

»Dennoch kann man es nicht wissen.«

»Ja, mag sein. Allerdings fanden wir ihre Angeln und zwei Körbe mit Fisch am Strand.«

»Könnte es sein, dass sie ertrunken sind?«

»Das halte ich eher für unwahrscheinlich. Zu zweit? Außerdem ist Jareds Tochter eine Tochter des Elementes Wasser. Ihr Talent ist nur schwach ausgeprägt, aber sie hat genug von der Fähigkeit, um sich oder ihre Freundin vor dem Ertrinken zu bewahren.«

»Es ist in der Tat ein Rätsel. Kaja hat von all dem gar nichts erzählt, als sie heute Morgen zu uns kam.«

Marek seufzte tief. »Sie hat momentan genug andere Sorgen – um Ruth, die den Tod von Samin nicht verwindet, und um Leonora, weil sie wohl krank ist. Wie geht es ihr eigentlich?«

»Es geht ihr gut.« Eiméar merkte an dem aufmerksamen Blick, den er ihr zuwarf, dass ihre Antwort zu rasch gekommen war.

»Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie es ist, einen kleinen Jungen in den Tod zu begleiten.« Leila erschauerte bei ihren eigenen Worten. »Zum Glück bin ich keine Heilerin.«

Sie schwang sich auf Bons. »Lasst uns aufbrechen, umso schneller bin ich wieder zurück bei meinen Pferden. Die brauchen bei dem Wetter auch ihr zusätzliches Futter.«

»Wenn du möchtest, kann ich dir später helfen.«

»Danke für das Angebot, aber die Wölfe würden mir die Herde nur verängstigen und die Arbeit erschweren. Außerdem muss jemand Papa helfen, die Beute auseinanderzunehmen. Du bist mit deinen Messern viel geschickter als ich.«

13

Heilerin

Kaum hatten sie das Haus der Heilung betreten, kam ihnen die oberste Heilerin entgegengeeilt, als hätte sie sie erwartet. Leonora hatte ihr silbernes Haar sorgfältig unter der Wollmütze verpackt und zusätzlich das Band der Kapuze ihres Umhangs fest unter dem Kinn verschnürt. Es herrschte emsige Geschäftigkeit, kein Wunder bei dem Wetter und den dürftigen Vorräten.

Leonora hoffte, dass Eiméar, Marek und der Rest des Trupps mit der Jagd erfolgreich sein würden.

»Weißt du etwas Neues?«, fragte Kaja.

Elija seufzte. »Nein, nur das, was auch du weißt. Es gibt keine Spuren, die von der Bucht wegführen. Es ist, als wären sie vom Erdboden verschluckt. Wäre Bea nicht unter ihnen – ich würde denken, dass sie ertrunken sind.«

»Aber Bea nie und immer«, stimmte ihr Leonora entschieden zu. »Wovon redet ihr überhaupt?«

»Bea und Achat sind gestern zum Fischen an die Bucht gegangen. Nachmittags wollte Jared, ihr Vater, ihnen etwas zu essen bringen, doch als er dort ankam, fand er nur ihre Angelruten und zwei Körbe mit gefangenem Fisch, von den Mädchen aber keine Spur.«

Eine Gänsehaut kroch Leonora bei Elijas Worten über den Rücken. Rasch unterdrückte sie die aufkommenden Bilder aus den Visionen, die Lishar ihr gezeigt hatte. Ohne dich kann nicht beendet werden, was begonnen hat. Deine Seele wird verdammt sein wie die der ganzen Menschheit. Sklaven werden alle sein, bis ans Ende der Zeit. Es war, als wollte eine Stimme in ihrem Kopf es ihr wispernd und eindringlich ins Gedächtnis rufen.

»Lasst uns in meinen Raum gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können. Es scheint, als würden nicht nur Mädchen verschwinden, sondern Krankheiten sich in einem nie da gewesenen Tempo ausbreiten.«

Leonora folgte Kaja und Elija zögernd. Es gab einen Raum im Haus der Heilung, der der obersten Heilerin als Rückzugsort zur Verfügung stand. Das Zimmer beherbergte eine kleine Anzahl ausgewählter wertvoller Bücher, Aufzeichnungen von Rezepten für Heilmittel, Abwandlungen mit sorgsamer Erfassung ihrer Wirkungsweise, einen Schreibtisch und einem Stuhl, aber auch eine kleine Sitzecke mit vier bequemen Sesseln sowie einem Bett. Nicht jeder oberste Heiler verbrachte sein Leben im Haus der Heilung. Elija jedoch traf man selten woanders an.

Ein munteres Feuer prasselte im Kamin, sodass der Raum angenehm warm war. Eine Kanne mit gewürztem Tee und ein Teller mit Haferkeksen standen auf dem kleinen Tisch, der zwischen den Sesseln platziert war.

Leonora löste das Band unter ihrem Kinn, zog ihren Umhang aus und nahm die Mütze vom Kopf. Ein erstickter Überraschungsruf ließ sie zusammenfahren. Elija starrte sie mit großen Augen an, die Hand vor den Mund geschlagen.

»Bei Lishar, ich dachte immer, es wäre nur ein Märchen«, wisperte sie und trat ehrfurchtsvoll näher an sie heran, streckte die Hand aus, wagte es aber nur mit den Fingerspitzen die silbernen Haare zu berühren.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, warf Leonora hastig ein. Scham stieg in ihr auf, dass ein Mensch, den sie bewunderte und respektierte, sie mit einer solchen Ehrfurcht behandelte. Sie hatte nichts geleistet, nichts getan. Im Gegenteil. Sie hatte Lishar enttäuscht mit ihrer Feigheit, den für sie bestimmten Weg einzuschlagen. Dabei wusste sie nicht einmal, welcher Pfad das war, den sie beschreiten sollte. Nur eines wusste sie: Es war Liebe gewesen – die ihrer Schwester und die der Wölfin –, die sie aus der Dunkelheit rettete, der sie sich widerstandslos ergeben hatte.

»Nicht so, wie du denkst?«

»Elija, wir sollten uns erst einmal in Ruhe hinsetzen. Und bevor wir darüber sprechen, was in der Nacht am See geschehen ist, solltest du nachholen, was du versäumt hast – uns die schwerste Aufgabe, die Lishar uns Heilerinnen anvertraute, zu erklären.«

Elija riss erschrocken die Augen auf. »Du glaubst, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt?«

»Die Frage kann uns wohl nur Leonora beantworten.«

Beide richteten den Blick auf sie. Wie sollte sie es wissen? Waren die beiden nicht die Älteren und Weiseren? Als könnte sie ihre Gedanken lesen, nahm Kaja mit einem sanften Lächeln ihre Hand.

»Ich weiß, dass du dich kein bisschen anders fühlst als vor deiner Begegnung mit der Göttin, kein Stück weiser, sondern eher verwirrt, vielleicht sogar verängstigt. So hat es mir Levarda damals geschrieben, als bei ihr die weiße Strähne im Haar auftauchte. Das ist für uns andere schwer zu verstehen, weil eine Begegnung mit der Göttin, ganz zu schweigen von der mit Gott, so selten vorkommt. Es gibt einen Grund, weshalb du auserwählt wurdest, Leonora. Wir alle wissen – ob du es wahrhaben möchtest oder nicht –, dass deine Fähigkeiten, das Element Wasser zu beeinflussen, unsere Talente alle in den Schatten stellt. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du diese Erkenntnis, diese Begabung, die dir geschenkt wurde, annimmst.«

Leonoras Augen füllten sich mit Tränen. Ohne dass sie es verhindern konnte, begann sie zu weinen. Die weise Kaja hatte mit ihrem Herzen erkannt und in Worte gefasst, was die Göttin von ihr erwartete. Tröstend nahm Kaja sie in die Arme und bettete ihren Kopf an ihre Brust. Es war lange her, dass sie Schwäche zugelassen hatte.

Nachdem sie sich ausgeheult hatte, reichte ihr Elija ein Tuch, mit dem sie sich die Nase putzen konnte. Sie sah das Mitleid in ihren Augen, und obwohl ihr dieses mehr behagte als die Ehrfurcht, wusste sie, dass es genauso falsch war.

Sie setzten sich hin, jede in einen Sessel, nahmen sich alle einen Becher mit gewürztem Tee und Kekse. Es war ein Ritual, das Leonora oft pflegte, vor allem, wenn das Haus der Heilung mal wieder überquoll. Und das war ein Zustand, der normal geworden zu sein schien.

Als wären die Mintraner verdammt, huschte es Leonora durch den Kopf, und der Gedanke verursachte ihr Unbehagen.

»Lass mich beginnen, mein Kind. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Bestimmt bin ich dir in deiner Ausbildung oft hart erschienen, unnachgiebig und streng, vor allem im Umgang mit dir. Ich forderte mehr von dir als von allen anderen Schülerinnen und Schülern. Dir ließ ich nie einen Fehler durchgehen, und mir ist bewusst, dass du oft zornig auf mich warst und dich ungerecht behandelt fühltest.«

»Es stimmt, aber ich wusste immer, dass du nur wolltest, dass ich mein Bestes gebe.«

Seufzend lehnte sich die oberste Heilerin in ihrem Sessel zurück. »Dein Herz ist groß, Leonora, und es ehrt dich, dass du es auf diese Weise betrachten kannst. Sicherlich hast du recht, doch es steckt auch ein klein wenig Neid dahinter. Weshalb schenkte die Göttin ausgerechnet dir diese Fähigkeit?«

»Glaub mir, ich wünschte, es wäre anders.«

»Das sehe ich ja, mein Kind, und es tut mir leid, dass ich dir eine so schlechte Lehrerin war.«

»Nein, sag das nicht. Du warst mir ein großes Vorbild. Ich bewunderte dich, als du bereit warst, die Führung des Hauses der Heilung zu übernehmen. Das ist eine große Verantwortung. Dafür hast du viele Opfer gebracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass du seitdem je einen Tag der Muße eingelegt hättest. Du hast dein Leben in den Dienst unseres Volkes gestellt, und das völlig selbstlos.«

»Und wieder unterstellst du mir nur ehrenhafte Beweggründe. Du vergisst, welche Achtung das Volk einer obersten Heilerin entgegenbringt. Stolz, ja vielleicht sogar ein wenig Hochmut zählten genauso zu den Gründen.«

»Elija, ich bitte dich, hör auf, dich in einem schlechten Licht darzustellen, nur weil du einen Fehler gemacht hast«, entgegnete Kaja. »Wir alle sind am Ende nur Menschen mit Stärken und Schwächen. Also genug mit dem Selbstmitleid, ihr zwei. Das ist übrigens auch eine Schwäche.« Sie zwinkerte ihnen zu.

Damit brachte sie beide zum Lächeln.

»Und wie immer hat meine gute Freundin recht. Also, Leonora, lass mich dir die Aufgabe erklären. Du kennst ja die Geschichte von dem Geschenk, das uns Lishar machte.«

»Du meinst, als Chandini der Göttin Lishar ihr Leben darbot, in der Hoffnung, dass dieses Opfer sie bewegen würde, ihre Aufmerksamkeit auf die sterbenden Menschen zu richten?«

»Genau. Das Flehen erreichte sie, sie rettete die Menschen und segnete Chandinis Kinder mit der Fähigkeit, die Elemente zu beeinflussen, damit sie in Zukunft ohne ihre Hilfe in der Lage wären, Katastrophen von der Menschheit fernzuhalten, die sie ausrotten könnten.«

Jedes Kind in Mintra kannte diese Geschichte und viele andere, die sich alle immer wieder um die Fähigkeit und die Liebe von Lishar und Lethos drehten. Denn für Chandini hatte Lishar Lethos verlassen, und seine bittere Enttäuschung hatte sie verfolgt.

»Es ist wichtig zu begreifen, dass dieses Geschenk in den Dienst der Menschen gestellt werden muss, dass wir das Gleichgewicht erhalten müssen und uns niemals über das Leben selbst stellen dürfen. Geboren zu werden, zu leben und zu sterben ist ein Kreislauf, durch den jede Seele geht, oft über den Verlauf vieler Leben lang, bis sie endgültig eins wird mit dem Licht. Genauso wenig dürfen wir uns in den freien Willen der Menschen einmischen, den uns Gott selbst als wertvollstes Geschenk gab. Wir erblicken das Licht der Welt und bekommen alles mit, was wir in unserem Leben brauchen. Doch manchmal vergessen wir das, wandeln auf anderen Pfaden als denen, die Gott für uns gedacht hat. Die Bereitschaft, aus unseren Fehlern zu lernen, gehört genauso zu der Entwicklung unserer Seelen wie die Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umzugehen.«

Elija machte eine Pause, aß einen Keks und trank ihren Tee. Leonora verschränkte ungeduldig die Finger ineinander. Das alles wusste sie, es gehörte zu den Grundlagen der Ausbildung eines Heilers. Krankheiten entstanden dadurch, dass das Gleichgewicht in einem Menschen gestört war. Ihre Aufgabe bestand darin, dieses Gleichgewicht herzustellen. Die Heilung der Symptome war nur ein erster Schritt. Den zweiten musste der Patient aus eigenem Willen selbst zu gehen bereit sein, und hier bestand die Aufgabe des Heilers darin, zuzuhören.

Eine Lösung der Ursache der Krankheit geschah auf drei Ebenen. Die erste Ebene umfasste die Sinne, vor allem das Hören und Sprechen, wobei die Emotionen im Mittelpunkt standen. Auf der zweiten Ebene ging es um das Durchleben, die Begleitung des Patienten durch das Ereignis, welches das Ungleichgewicht und damit die Krankheit auslöste. Dieser Schritt war häufig auch mit körperlichen Schmerzen verbunden, die beide miteinander teilten. Die dritte Ebene, die schwierigste von allen, lag beim Geist. Der Patient musste bereit sein, das Ereignis loszulassen.

Erreicht der Körper die Grenze seiner Lebenszeit, so nimmt die Seele Abschied. Manchmal jedoch entscheidet sie, den Körper zu verlassen, bevor dieser seine Lebensgrenze erreicht hat. Das war bei Samin der Fall gewesen. Seine Seele hatte aus einem für Leonora unerfindlichen Grund beschlossen, ins Jenseits zu gehen, und zwar gegen den Widerstand des Geistes. Um frei zu sein, zerstörte die Seele den Körper mit einer Krankheit, die niemand heilen konnte – auch Leonora nicht.

»Es gibt immer einen Grund, nur erschließt er sich uns nicht, weil wir nie das Gesamte sehen, sondern lediglich ein winziges Staubkorn des Ganzen.« Es war, als hätte die oberste Heilerin ihre Gedanken gelesen. »Wenn die Seele beschließt, den jungen, gesunden Körper zu verlassen, dann ist das mit unermesslichen Schmerzen verbunden. Der innere Kampf von Geist und Seele kann dazu führen, dass die Seele gezwungen ist, auf der Erde zu verweilen, statt in das Licht zu gehen, wohin sie gehört. Um das zu verhindern, beenden wir den Kampf, indem wir den Körper sterben lassen. Sofern dies aus einem Akt der puren Liebe geschieht und frei von jeglichem Eigennutz, handeln wir im Sinne von Lishar.«

»Das trifft bei mir nicht zu«, wandte Leonora ein. »Ich wollte, dass sein Leiden ein Ende hat. Die Familie hatte die Grenze des Erträglichen überschritten. Ihr Schmerz erreichte Samin und machte den Kampf in ihm noch heftiger. Das ertrug ich nicht länger.«

»Glaub mir, Leonora, als du bewusstlos warst, prüfte ich deinen Zustand, weil ich mir große Vorwürfe machte. Ich hatte gehofft, dass Samins Seele, so wie sie für uns leuchtete, die Kraft besitzen würde, den Kampf zu gewinnen. In dir ist eine außergewöhnliche Stärke. Ich dachte, du würdest den Schmerz aushalten. Beide Annahmen waren falsch. Doch in einem irrte ich mich nicht. Deine Liebe reichte am Ende aus, um im Moment der Entscheidung den richtigen Weg für euch beide zu wählen.«

Nachdenklich ließ sich Leonora ihre Worte durch den Kopf gehen. Ihr Körper war nicht krank geworden. Sie hatte ihre Emotionen durchlebt, sie nicht unterdrückt. Ihr Geist war mit der Seele im Einklang geblieben, obwohl sie gelitten hatte.

»Ich hätte dir spätestens bei deinem Erwachen von dieser Aufgabe erzählen sollen, doch du warst so erschöpft. Später nahm ich mir jeden Tag vor, in die Kräuterküche zu gehen, um das Gespräch mit dir zu suchen. Es tut mir leid, dass ich es versäumte und du meinetwegen ein tiefes Tal durchwandern musstest.«

»Ich glaubte, dass ich vor den Ältestenrat treten und mich für meine Tat verantworten müsse. Meine Angst vor dem Urteil, vor dem Prozess der Loslösung von meinem Element hinderte mich daran. Ich war nicht bereit, dieses Opfer zu bringen.«

»Gegen die Durchführung dieses Loslösungsprozesses kämpfen wir seit langer Zeit, weil wir sie für falsch halten. Ja, es stimmt, dass wir den Prozess selbst schmerzfrei gestalten können. Jedoch gelingt es uns nicht, die Leere zu füllen, die dabei entsteht. Auch wenn nur eines von hundert Kindern der Elemente daran zerbricht, ist das eines zu viel.« Düster blickte Kaja in ihren Tee.

»Leider ist eine der leidenschaftlichsten Befürworterinnen unter den Heilerinnen inzwischen ein Teil des Ältestenrates«, ergänzte Elija traurig.

»Bernadette.« Dafür brauchte Leonora nicht lange zu überlegen. Nachdem Ricarda und Sanira mit der achtjährigen Vivien aus Mintra geflohen waren, hatte Bernadettes Einsatz für die Loslösung über zwei Jahre regelrecht fanatische Züge angenommen. Inzwischen war sie älter und ruhiger geworden. Sie war einer der wenigen Menschen, die Leonora nicht mochte, ohne dass sie ihr jemals etwas getan hätte. Eine Zeit lang hatte Bernadette in ihr sogar eine Verbündete in ihrem Kreuzzug gesehen. Immerhin war Leonora diejenige gewesen, die Vivien beim Ältestenrat angeklagt hatte. So oft hatte sie ihr Handeln bereut und sich gefragt, warum sie nicht zu Kaja anstatt zu Amara, der Vorsitzenden des Rates, gegangen war.

Hastig schob sie den Gedanken beiseite, weil er sie nur an die beste Freundin ihrer Schwester erinnerte. Vivien war der einzige Streitpunkt, den es je zwischen ihr und Eiméar gegeben hatte. Es hatte lange gedauert, bis sie bereit gewesen war, ihr den Verrat an Vivien zu vergeben.

»Kannst du mir verzeihen, dass ich dir mit meinem Schweigen so viel Kummer bereitete?«, fragte Elija.

»Das habe ich bereits. Aber ich weiß nicht, ob ich es mir selbst verzeihen kann, sein Leben beendet zu haben.«

Kaja rutschte an den Rand des Sessels, hielt beide Hände mit den Handflächen nach oben.

Skeptisch blickte Leonora sie an.

»Keine Sorge, du weißt, dass du geschickt genug bist, um die Dinge vor mir zu verbergen, die du nicht mit mir teilen möchtest. Vielleicht verlange ich zu viel von dir. Wenn du deine Hände auf meine legst, zeige ich dir, was ich gesehen habe, und dann begreifst du vielleicht, was du für uns und für Samin getan hast.«

Kälte, so eisig wie das Wasser des Sees Luna, kroch durch ihre Adern. Sie atmete mehrmals tief durch. Den Tod von Samin ein zweites Mal erleben – aus der Sicht seiner Großmutter? Etwas Schlimmeres konnte sie sich nicht vorstellen. Das überstieg ihre Kräfte. Sie brauchte Zeit, um seinen Tod zu verarbeiten.

»Du brauchst keine Angst davor zu haben, Leonora. Sei mutig.«

Mutig? – Lishars Worte der Enttäuschung hallten in ihrem Kopf wider. Du hast dich hinter deiner Angst verkrochen, hinter dem Rücken deiner Schwester. Willst du für immer dort verharren oder bist du bereit, endlich den Mut aufzubringen, um deinen vorherbestimmten Weg zu gehen?

Zögernd streckte sie ihre Hände aus. Sie zitterten, als sie sie auf Kajas Hände legte. Sanft nahm Kaja sie in ihre Erinnerung mit.


Da saß Leonora, die treue Seele, am Bett ihres Enkels. Ob sie ahnte, wie wichtig es für Samin und Jolanda war, dass sie das tat? Dass sie, indem sie den Schmerz ertrug und damit Samins Schmerzen linderte, Jolanda ein Vorbild war, für ihn da zu sein, ihr die Kraft gab, mit dem Tod ihres geliebten Bruders fertigzuwerden, sie bestärkte, in dieser furchtbaren Zeit sogar für ihre Eltern da zu sein?

Sie bezweifelte es. Es lag einfach nicht in Leonoras Natur. Sie handelte aus ihrem Herzen, selbstlos, oft zu selbstlos für ihr Empfinden. Kurz legte sie Leonora die Hand auf die Schulter, gab ihr Energie, achtete aber sorgfältig darauf, sich vor dem, was diese durchlebte, abzuschirmen. Sie kannte ihre Grenzen, wusste, dass sie selbst diesen Dienst für ihren Enkel nicht übers Herz gebracht hätte.

Alvar, ihr baumstarker, fröhlicher Sohn, war ein einziges Häufchen Elend. Rasch ging sie zu ihm, zog ihn in ihre Arme. Es erschütterte sie, dass er sich wie damals als kleiner Junge an sie lehnte und schluchzte. Wie gern hätte auch sie sich der Trauer hingegeben, doch es schien, als würden die Männer ihrer Familie eher sie zum Anlehnen brauchen. Samins Tod würde für immer Spuren in den Seelen seiner Familie hinterlassen. Vor allem Ruth bereitete ihr Sorgen. Sie blickte zu der murmelnden, sich hin- und herwiegenden Gestalt hinüber. Sie war nur noch ein Schatten der Frau, die in ihre Familie eingeheiratet hatte.

Eine Mutter sollte niemals ihre Kinder überleben müssen. Sie konnte nur hoffen, dass Alvar sie im Schmerz über den Verlust auffangen und für sie da sein konnte – wenn nicht, wäre Ruths Seele verloren, und in den letzten Jahren hatten sie schon zu viele Mintraner verloren.

Leise begann Jolanda, mit ihrer wunderschönen, klaren Stimme die Lieblingslieder ihres Bruders zu singen. Kaja seufzte, und wie immer stellte Alvar ihr seine Frage, die sie ein weiteres Mal deutlich und klar beantwortete. Nur die Wahrheit, nichts sonst konnte die Familie zusammenhalten und heilen.

Leonora begann zu zittern wie Espenlaub. Die Schmerzen mussten unvorstellbar sein. Warum beendete sie sein Leben nicht? Warum hielt sie den Tod zurück? Hatte er noch nicht genug gelitten? Oder war seine Seele gefährdet, weil sie zu sehr vom Kummer der Umstehenden festgehalten wurde? Nur die Heilerin, die im Kontakt mit dem Sterbenden stand, konnte den richtigen Zeitpunkt bestimmen. Verlangte sie zu viel von der jungen Frau, die ihre Eltern mit zwölf Jahren verloren hatte? Dies war nicht der erste Mensch, den sie in den Tod begleitete. Ihre Seele war kräftig, hielt den Schmerzen stand, sie nahm den Sterbenden die Angst, hielt ihre Seelen, bis sie bereit waren, ins Licht zu gehen. Ob sie ahnte, was für eine wichtige Rolle sie für das Gleichgewicht der Welt spielte?

Leonora begann trocken zu würgen. Bevor sie zu ihr eilen konnte, legte Jolanda ihre kleine Hand auf Leonoras Hand, die direkt über der Stelle lag, von der der Tod ausging.

Ihre kleine Jolanda. So oft hatte sie im Schatten ihres Bruders gestanden. Nie war sie deshalb neidisch gewesen, stattdessen liebte sie ihn wie alle anderen auch. Dieses ernste, nachdenkliche und stille Mädchen sog alles auf, was um es geschah und gesprochen wurde.

Samins Gesicht veränderte sich. Der entspannte Ausdruck wich.

Bitte Leonora, hilf ihm endlich auf seinem Weg ins Licht, flehte sie selbst still in Gedanken. Sie widerstand der Versuchung, es laut auszusprechen oder ihre Hand an Leonoras Hals zu legen, um mit ihr zusammen in Samins Körper hinabzutauchen. Sie vertraute den Instinkten der jungen Heilerin, die sie nie trogen und immer sicher führten.

Sie sah, wie Jolanda Leonora etwas zuwisperte. Tränen, die wie Diamanten funkelten, hingen in den dichten Wimpern des Mädchens. Daraufhin erstarrte Leonora. Bei Lishar, was hatte das Mädchen ihr gesagt?

Voller Besorgnis ließ sie ihren Sohn los, machte einen Schritt auf das Sterbebett zu, und dann geschah es. Samins Gesichtszüge entspannten sich. Seine Seele löste sich vom Körper. Ein silbernes Licht erfüllte mit seinem Strahlen den ganzen Raum. Es schnürte ihr die Kehle zu und sie musste schlucken.

Sie fühlte sich unendlich einsam, der Abschiedsschmerz brach in einer heftigen Woge über sie herein, und gleichzeitig erfüllte sie unendliche Dankbarkeit gegenüber der jungen Heilerin, die diese kostbare Seele gerettet und unversehrt ins Jenseits gebracht hatte.


Leonora hatte Tränen in den Augen, als sie Kaja ansah.

»Warum muss er so leiden? Warum beendest du es nicht? Ich weiß, du kannst es. Bitte, Leonora, ich flehe dich an, tu es für Samin, für Mama, Papa und Oma. Keiner von ihnen erträgt es mehr, das war es, was Jolanda zu mir sagte. In Wahrheit war sie es, die Samins Seele bewahrte. Ich war nur ausführendes Element.«

Kaja löste den Griff ihrer Hände, fasste Leonoras Gesicht und küsste sie auf die Stirn. Tränen liefen ihnen beiden über das Gesicht.

»Ich danke dir, dass du mir die Last abgenommen hast und für uns da warst.«

Leonora schlang die Arme um sie, ließ sich von ihr halten, streicheln, trösten, wie es eine Tochter bei ihrer Mutter macht. Sie konnte spüren, wie die Last, die seit Samins Tod auf ihrer Seele gelegen hatte, leichter wurde. Die Heilung konnte beginnen. Sie würde mutig sein und den Weg, den Lishar für sie vorhergesehen hatte, beschreiten.

Langsam löste sie sich von Kaja, schnäuzte sich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, holte tief Luft. Der erste Schritt bestand in der Selbsterkenntnis und der Offenbarung.

»Lishar begegnete mir, weil sie zornig mit mir war«, begann sie. »Sie sagte, dass sie mir ein unsagbar wertvolles Geschenk habe zuteilwerden lassen und dass ich es, statt es anzunehmen, vergeuden würde. Ich sei feige, lasse mich von meiner Angst leiten und andere für mich die Entscheidungen treffen. Dennoch nahm die Göttin sich Zeit für mich, um mir die Wahrheit zu sagen. Sie reichte mir ihre Hand für eine zweite Chance, und erneut lehnte ich ab. Ich war bereit, zu sterben und meine Seele der Dunkelheit zu überlassen, nur weil ich mich vor meiner Bestimmung drückte. Es war Eiméar, die um mich kämpfte, deren Liebe mich erreichte und mich rettete.«

»Sie gab dir keine Vision?«, klang Elijas Stimme in die Stille hinein, die sich nach ihrem Geständnis ausgebreitet hatte.

»Doch, aber es war nicht eine, es waren viele Visionen, denn was geschieht, das hängt von unseren Entscheidungen ab.«

Das sorgenvolle Gesicht der obersten Heilerin hellte sich auf. »Was für ein Glück. Dann wissen wir, welche Entscheidungen wir treffen müssen.«

»Nein, denn erstens weiß ich nicht, welche Entscheidung zu welchem Ergebnis führt, und zweitens bestimmt die Summe dessen, wofür wir Menschen uns entscheiden, den Lauf der Zeit. Meine Hoffnung ist, dass wir den Untergang der Menschheit aufhalten und es schaffen, die Erinnerung der Lehren Lishars in das kommende Zeitalter zu überführen. Aber auch das liegt nicht allein in meiner, sondern in unser aller Hand. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Rolle ich dabei spielen soll.«

Leonora konnte sehen, wie das Leuchten aus Elijas Gesicht schwand. Ihre Pupillen weiteten sich und ihr Mund klappte auf, bevor ein Ruck durch ihren Körper ging.

»Du kennst deine Bestimmung nicht?«, fragte Kaja voller Erstaunen.

Leonora schüttelte wehmütig den Kopf. »Nein, doch es wird kein leichter Weg sein, sondern einer, der Opfer erfordert, womöglich nicht nur von mir, sondern von uns allen.«

»Ich spreche mit Petur. Der Ältestenrat wird dir Fragen stellen wollen. Die Last der Entscheidung sollst du auf keinen Fall allein tragen. Außerdem ist das Wissen eines einzelnen Menschen längst nicht so groß wie das der vielen Weisen unseres Volkes zusammen, die wiederum auf das Wissen unserer Vormütter und -väter zurückgreifen können.«

Leonora nickte zum Einverständnis auf Elijas Vorschlag. Sie brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie bezweifelte, dass sie eine Lösung finden würden, und vielmehr fürchtete, dass ihre Stimme sie verraten würde. Was sie lernen musste, war, auf ihre innere Stimme zu hören und ihr zu folgen, denn diese kam von Gott.

»Derweil sollten wir deine Haare flechten, hochstecken und unter einem Tuch verstecken. Das Verschwinden der Mädchen hat alle schon genug in Aufregung versetzt. So geben wir dem Ältestenrat noch etwas Zeit, bis wir erklären müssen, welche Bewandtnis es damit hat, dass deine Haare über Nacht silbern geworden sind.«

Leonora war zutiefst dankbar für den Rückhalt. So bekäme auch sie die Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass man ihr in Zukunft gleichermaßen mit Ehrfurcht und Angst begegnen würde. Sie konnte nur hoffen, dass ihr ein paar Menschen blieben, die sie weiterhin als das sahen, was sie wirklich war – eine verängstigte junge Frau, die den Mut aufzubringen versuchte, ihr Schicksal anzunehmen.

14

Grenze

Eiméar schwang ein Bein über den Hals von Ignis und ließ sich auf den Boden gleiten. Marek und Leila folgten ihrem Beispiel. Sie hatten die Grenze von Mintra erreicht. Aufmerksam lauschten sie in den Nebel. Es war schwer, darin Geräusche auszumachen, weil er alles zu verschlucken schien. Dicht und undurchdringlich baute er sich einer Mauer gleich vor ihnen auf. Kein Jahr war es her, dass sie noch durch die feuchten Schwaden auf die andere Seite hatten sehen können. Heute war selbst das nicht mehr möglich.

Ashra kam auf leisen Tatzen neben Eiméar. Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf. Gemeinsam verharrten sie lauschend, witternd, auf ihre Instinkte achtend. Der Wolf erhob sich, lief auf die Nebelwand zu und verschwand. Eiméar folgte ihm. Eisige Kälte umschloss sie, kaum dass sie im Nebel war. Sie ließ die Energie des Feuers über ihre Haut kriechen. Um ihren Körper herum entstand ein handbreiter Schimmer. Nach einer Zeit hatte sie den Eindruck, seit einer Ewigkeit durch den Nebel zu laufen. Sie ging bewusst langsam, in der Hoffnung, dass Leila und Marek sie sehen und ihr folgen konnten. Ein neuer Gedanke keimte in ihr auf. Verschwanden so die Mädchen aus ihrem Land? Indem sie sich im Nebel verirrten? Ein kalter Schauer lief ihr bei der Vorstellung über den Rücken, dass sie an der Grenze von Mintra umherwandern würde, bis die Müdigkeit sie übermannte, Hunger und Durst ihren Körper schwächten – bis sie starb.

Wie aus dem Nichts tauchte Ashra an ihrer Seite auf. Dankbar krallte sie ihre Finger in sein Nackenfell und ließ sich von ihm das letzte Stück auf dem Weg begleiten. Sie schritt aus der Nebelwand, verschmolz mit dem Gehölz, das hier dicht stand und Deckung gab. Aus diesem Grund hatte sie die Stelle zur Überquerung der Grenze gewählt. Aber man konnte sich niemals sicher sein, was man auf der anderen Seite vorfinden würde.

Erleichtert atmete sie auf, als sie Leila und Marek sah, wie sie Hand in Hand aus dem Nebel traten. Die Pferde waren drüben geblieben. Je dichter die Nebelwand war, desto nervöser machte sie die Fluchttiere. Es war ein viel zu hohes Risiko, dass eines der Tiere samt Reiter panisch durch die Nebelwand galoppieren und drüben unverhofft auf eine Wachgarde von Lord Blourred treffen würde. Es erschwerte die Jagd, weil sie nur so viel Beute von jenseits mitnehmen konnten, wie sie zu tragen vermochten. Heute, ohne Gustav und Jared, würde es noch weniger sein als sonst.

Kaum hatten sie die Nebelwand hinter sich, wurden auch Leila und Marek eins mit dem Gehölz. Sie verbargen sich dort, bis sie sicher waren, dass niemand außer ihnen im Wald herumschlich. Marek und Eiméar begannen mit der Spurensuche, Leila übernahm die Aufgabe, die Umgebung weiterhin im Auge zu behalten. Das Rudel begann mit der Jagd. Keine zwei Stunden später hatten die Jäger vier Rehe erlegt, das Wolfsrudel zwei weitere gerissen. Während die Wölfe ihre Beute direkt verspeisten, half Eiméar erst Marek, zwei der toten Tiere zu schultern, bevor sie Leila das leichteste aufbürdete.

Marek reichte ihr ein Lederband. »Binde es um deine Taille, dann machen wir es an Leila fest und zuletzt an mir.«

»Das ist gefährlich. Wenn wir auf einen Jäger oder Soldaten von Lord Blourred stoßen, wird es uns bei der Flucht behindern.«

»Der Nebel ist dichter geworden. Selbst dein Schimmer, dem wir sonst leicht folgen konnten, ist für uns vorhin kaum erkennbar gewesen. Ich möchte auf keinen Fall eine von euch im Nebel suchen müssen, wenn wir uns verlieren.«

»Der Gedanke kam mir auch, als ich den Streifen durchquerte. Kann es nicht sein, dass die Mädchen unbeabsichtigt die Grenze überschritten und in der undurchdringlichen Suppe die Orientierung verloren?«

»Die Grenze wurde vom Ältestenrat geschaffen, um uns zu beschützen, nicht um uns gefährlich zu werden«, mischte sich Leila ein.

»Ja schon, aber warum wird der Nebel dichter und kälter, warum gibt er einem das Gefühl, in Traurigkeit zu versinken? Oder geht es dir da anders als mir?«

Marek warf ihr einen tadelnden Blick zu, aber das war ihr egal. Sie lebte in einem Land, in dem jeder seine Meinung frei äußern durfte, auch Kritik am Ältestenrat. Sie schulterte das letzte Reh.

»Bei der Bucht verläuft die Grenze aber im Meer, hinter dem Riff«, entgegnete Marek. »Sie hätten dafür rausschwimmen müssen. In den Hügeln liegt sie über zwei Stunden Fußmarsch entfernt.

Eiméar sah, wie Leila, die das Lederband bereits um ihre Taille geschnürt hatte, die Hand in die Hosentasche steckte. Das machte sie immer, wenn etwas sie beunruhigte. In der Tasche war der schwarze Stein verborgen, den ihr einst Vivien zum Abschied geschenkt hatte. Er war zu einem Talisman geworden, den sie wachsamer hütete als jede andere Kostbarkeit, ganz so, als würde ihr Leben davon abhängen. Leila bemerkte ihren Blick, lächelte verschämt und zog die Hand wieder heraus. Dann korrigierte sie den Sitz des erlegten Rehs auf ihrer Schulter.

»Lasst uns gehen, bevor uns jemand hier erwischt. Das hier ist unser verwundbarster Moment«, mahnte Marek überflüssigerweise.

Eiméar wusste, wie exponiert sie waren, solange sie das Wild, das Lord Blourred als persönliches Eigentum erachtete, erlegt bei sich hatten. Auf Wilderei stand der Tod durch Köpfen.

»Was ist mit Ashra und seinem Rudel?« Leila warf einen besorgten Blick auf die Wölfe zurück, die sich knurrend und beißend um die jeweils ihrer Rangfolge entsprechenden Fleischstücke stritten.

»Keine Sorge, sie finden den Weg zurück. Ihnen droht auch kein Todesurteil, wenn sie erwischt werden.«

»Es sei denn, jemand macht Jagd auf sie.«

»Ashra ist ein kluger Anführer.«

Der Alphawolf, dem der Magen der Beutetiere zugestanden hatte, saß abseits an einem Baum und beobachtete aufmerksam die Umgebung.

»Wieso kann er eigentlich über die Grenze?«

Eiméar, die bereits losgegangen war, hielt inne. Der Gedanke war ihr noch nie gekommen, dass der Wolf mit seinem Rudel eines Tages auf der anderen Seite der Grenze festsitzen könnte. Sie blickte zurück. Seine Ohren kreisten und richteten sich dann auf einen Punkt jenseits von ihnen.

»Jemand nähert sich«, flüsterte sie.

»Dann los.«

Marek übernahm die Führung, dicht gefolgt von Leila. Ihre Spuren konnten sie nun nicht mehr verwischen, also machten sie sich erst gar nicht die Mühe. Die Wölfe würden sie mit ihren Tatzen unkenntlich machen. Ihr Mahl hinterließ ohnehin genug Spuren. Aber selbst für einen ungeübten Spurenleser war erkennbar, dass auch Menschen an der Jagd beteiligt gewesen waren. Eiméar hoffte, dass niemand darauf achtete, weil es keinen Grund gab, danach zu suchen. Andernfalls würde sich Petur womöglich vor dem Gerichtshof von Lord Blourred rechtfertigen müssen.

Sie erreichten das dichte Gehölz. Leila ging in die Knie, und besorgt trat ihr Vater an ihre Seite.

»Nur ganz kurz verschnaufen.«

Eiméar lauschte in den Wald. Sie hatte nicht gehört, dass ihnen jemand gefolgt wäre. Das Wolfsrudel war einen Bogen gelaufen, nachdem es bis zum Bach ihrer Spur gefolgt war. Ashra versuchte offenbar, die Verfolger von ihrer Fährte abzulenken. Dennoch wollte sie sich nicht länger als unbedingt notwendig auf dieser Seite der Grenze aufhalten. Leila war es nicht gewohnt, eine solche Last zu tragen. Immerhin wog das Tier an die zwanzig Kilogramm.

Langsam kam sie wieder hoch. »Wir können weiter.«

Es geschah so rasch, dass Eiméar am Ende nicht mehr sagen konnte, was genau der Auslöser gewesen war. Hatte sie tatsächlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen? Ein Geräusch gehört? Sie reagierte, bevor sie dachte. Der Pfeil surrte durch die Luft und fand sicher sein Ziel. Ohne einen Laut kippte der Soldat vom Baum. Geistesgegenwärtig ließ Marek die Rehe von seinen Schultern rutschen und fing ihn auf. Die Spitze des Pfeils, der in seiner Brust steckte, ragte aus dem Rücken des Mannes hervor. Seine Augen starrten in den Himmel.

»Er ist tot.« Marek blickte sie an. Das wusste sie selbst. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihn nur zu verletzten, damit der Mann womöglich andere Soldaten, die sich in der Nähe befanden, alarmieren konnte. Langsam ging Marek in die Knie und legte den Leichnam auf den Boden.

Eiméar ging zu ihm und zog ihren Pfeil aus seiner Brust. »Los, bevor die übrigen hier auftauchen«, befahl sie barsch. Er konnte ihr später einen Vortrag halten.

Marek runzelte die Stirn. »Das ist kein Soldat von Lord Blourred.«

»Hier, nimm die Rehe, wir brauchen sie.« Rasch half sie Marek, die Tiere wieder auf die Schultern zu nehmen.

Stumm, mit leichenblassem Gesicht und großen Augen fixierte Leila den Toten. Ihr Vater packte sie am Arm und zog sie mit sich. Eiméar folgte ihnen rückwärtsgehend, den nächsten Pfeil im Bogen gespannt und die Beute geschickt frei auf den Schultern ausbalancierend. Alle Sinne hatte sie auf die Umgebung gerichtet. Marek und Leila verschwanden in der Nebelwand. Eiméar wartete, so weit es das Lederband zuließ, und betete stumm, dass Ashra mit seinem Rudel auftauchen möge, doch nichts geschah. Der Wald lag still da, nichts deutete darauf hin, dass kurz zuvor hier ein Mensch gestorben und drei andere Menschen geflüchtet waren. Kälte kroch ihr die Beine entlang. Sie schaute nach unten und erstarrte. Wie Meereswellen schwappte schwarze Finsternis über den schneebedeckten Waldboden auf sie zu. Ihr Amulett begann zu leuchten, heiß loderten die Flammen auf, züngelten ihren Körper hinab zu ihren Füßen. Der Schnee schmolz, ein Halbkreis aus Feuer, der an der Nebelwand begann und endete, breitete sich aus. Es ruckte sanft an ihrer Taille. Sie löste sich aus ihrer Erstarrung, hob den Blick und sah eine dunkle Gestalt in schwarzem Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, im Gehölz auftauchen, als wäre sie aus der Finsternis auferstanden. Ihr blieb keine Zeit herauszufinden, was hier geschah. Marek und Leila brauchten ihre Hilfe, um den Weg über die Grenze zu finden. Sie machte einen Satz in den Nebel, der sie sofort umschloss. Das Letzte, was sie vernahm, war der lang gezogene Ruf eines Alphawolfes, der sein Rudel zur Eile antrieb. Sie versuchte erst gar nicht, sich mit den Augen in der dichten Suppe zu orientieren. Das Feuer auf ihrer Haut brannte heiß, schenkte ihr Wärme, und der Geruch von angekokeltem Fell stieg ihr in die Nase.

»Eiméar?« Geisterhaft hallte Mareks tiefe Stimme durch die feuchte Luft.

»Ich komme.« Ihr Herz raste, sie musste sich zwingen, langsam zu gehen. Erst einen halben Schritt vor ihr konnte sie die beiden erkennen. Sie standen dicht beieinander.

»Ich habe die Orientierung verloren. Weißt du, in welche Richtung wir müssen?«, fragte Marek.

Sie schloss die Augen, nahm wieder Verbindung mit ihrem Element auf. Ein leuchtender Pfad erschien vor ihren Augen. Ohne die Lider zu öffnen, schritt sie voran und folgte dem inneren Bild ihrer Erinnerung.

»Bleibt dicht bei mir.«

Kaum waren sie aus der Nebelwand heraus, brach Leila auf dem Boden zusammen. »Bei Lishar, in mir waren nur noch Verzweiflung und Traurigkeit, so wie ich mich damals fühlte, als Mama und Vivien Mintra verließen.«

Verschämt wischte sich Marek mit dem Ärmel über die Augen. Beginnend mit dem Reh von Leilas Schulter reihte er die Tiere sorgfältig auf und kniete sich hin. Eiméar folgte seinem Beispiel.

»Verzeih, dass wir dein Leben nahmen«, sprachen sie gemeinsam. »Dein Fleisch nehmen wir in Achtung an als ein Geschenk von Lethos und Lishar, uns zu nähren.« Alle vier Lebewesen, deren Leben sie genommen hatten, baten sie eines nach dem anderen um Vergebung.

Eiméar wechselte einen Blick mit Marek, und er nickte. Sie rief sich das Bild des von ihr getöteten Soldaten ins Gedächtnis. »Verzeih, dass ich dir einen Pfeil durch die Brust schoss und dich tötete. Ich nahm dir gewaltsam das Leben und lud damit Schuld auf mich. Vergib mir.«

Der Mann in ihrem geistigen Bild erhob sich von der Erde und blickte sie an. Ich vergebe dir, erklang es in ihrem Kopf. Die Kälte wich aus ihren Knochen, und ihr beschleunigter Herzschlag verlangsamte sich.

»Und?«, fragte Marek.

»Er hat mir vergeben.«

»Warum hast du ihn überhaupt getötet? Bist du von Sinnen? Du hast ihm nicht mal eine Chance gelassen, sich zu erklären!«, fauchte Leila sie an. Erbost boxte sie Eiméar auf den Arm.

»Dafür hatte sie nicht die Zeit«, ging Marek dazwischen. »Entweder er oder du.

»Ich?«

»Sein Pfeil zeigte auf dich.«

»Aber –«

»Er hat auf uns gewartet. Er wusste, wo wir die Grenze überqueren würden. Statt uns hinterherzulaufen, umrundete er uns und lauerte uns dort auf.«

Marek machte sich daran, das erste Reh auf seinen Wallach zu packen. Langsam fing sich Eiméar wieder. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass er ihr Handeln rechtfertigte. Immerhin hatte sie einen Menschen getötet.

»Du machst mir keinen Vorwurf?«

»Nein, nur mir. Ohne dich hätte ich gerade meine zweite Tochter verloren.«

»Wir werden hier nicht mehr jagen können.«

Marek seufzte tief. »Ich fürchte, da hast du recht. Es war das letzte Fleisch für diesen Winter.«

»Wir könnten weiter nördlich die Grenze überqueren und um Burg Hodlukay herumlaufen.«

»Das wäre ein strammer Fußmarsch von zwei Tagen, und das, ohne dass du ein erlegtes Wildtier mit dir herumschleppst. Petur muss mit Tibana reden. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«

Grimmig presste Eiméar die Lippen zusammen. »Er würde es sich reichlich entlohnen lassen. Wir besitzen kein Gold, keine Edelsteine oder worauf sonst die anderen Länder von Alurin Wert legen.«

»Jedes Volk braucht Wissen.«

Sie schnaubte und wuchtete ihr Reh auf den Rücken von Ignis.

»Pferde. Wir können ein Teil unserer Pferde verkaufen«, schlug Leila vor. Sie half ihrem Vater, die Beute am Sattel zu befestigen. Ihr Wallach bekam zwei der Rehe zum Tragen. Das Tier war kräftig gebaut und Leila eine leichte Reiterin.

»Und weshalb sollten sie das, zumal sie selbst Pferde züchten?«, warf Eiméar ein.

»Auch wieder wahr.«

»Hey, ihr zwei, es gibt einen Ältestenrat, der sich über solcherlei Dinge den Kopf zerbricht.«

Sie schwangen sich in die Sättel. Während Marek und Leila losritten, blieb Eiméar zurück und wendete Ignis zur Grenze. Wie ein Wasserfall schien die Nebelwand vom Himmel herabzufließen. Wieso war die Dunkelheit ihr nicht gefolgt? Hatte sie nicht auch Leonora im See Luna auf dem Grund festgehalten? Warum war sie überhaupt aufgetaucht? Den Soldaten hatte sie nicht mit dem Element getötet, sondern mit einem Pfeil. Das Gesicht des toten Mannes, die starren Augen – es war kein Bedauern, das sie empfunden hatte, nur einen schalen, bitteren Geschmack in ihrem Mund. Und wer war der Mann im Umhang gewesen? Auf seltsame Weise war ihr seine Aura vertraut vorgekommen, und doch auch wieder nicht. Unruhig stampfte der Hengst mit den Vorderhufen. Sie gab ihm die Zügel und folgte den anderen.

15

Suche

Eiméar hielt Ashra das Hemd der verschwunden Bea vor die Nase. Der Wolf starrte sie mit einem indignierten Gesichtsausdruck an.

Sie seufzte. »Ich weiß, es ist unter deiner Würde. Aber hey, Kumpel, ich brauche deine Hilfe. Schau, du bist so ein kluger Wolf, und dein Geruchssinn übertrifft meinen um Längen. Folge einfach nur der Spur, und ich folge dir. Na, was sagst du?«

Leonora mischte sich ein: »Gib mir mal das Hemd.«

Sie reichte es ihr. »Und du glaubst, auf dich würde er hören?«

»Nein, schließlich ist er ein Mann.«

Eiméar runzelte die Stirn. »Was hat das damit zu tun?«

»Alles. Männer sind stolz und denken nur an sich und ihre Bedürfnisse. Alles andere ist ihnen egal.«

»Papa ist anders«, verteidigte Leila entschieden das männliche Geschlecht. »Er sorgt sich um mich, erfüllt mir jeden Wunsch, sofern es in seiner Macht liegt, und möchte, dass ich glücklich bin.«

»Zugegeben, Marek und Rai bilden eine Ausnahme.« Der geflochtene Haarzopf rutschte Leonora aus der Kapuze. Sie versuchte rasch, ihn zu verbergen. Zu spät. Leila hatte ihn gesehen.

»Bei Lishar! Was ist geschehen? Deine Haare waren wunderschön weizenblond. Warum sind sie auf einmal schneeweiß?«

»Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, etwas über das Verschwinden der Mädchen herauszufinden.«

»Die Spuren sind längst verwischt oder werden von denen der Suchtrupps überlagert«, erklärte Leila.

»Für uns Menschen vielleicht, aber nicht für einen Wolf«, widersprach ihr Eiméar.

»Oder eine Wölfin.« Leonora hielt Gigi das Hemd hin. Mit klugen, warmen Augen fixierte das Tier sie. Dann senkte es die Nase, schnüffelte. Mit einem Lächeln strich ihr Leonora über den Kopf. Das Band zwischen den beiden war stark. Nach und nach schien sich die junge Wölfin aus dem Rudel zu ziehen. Eiméar war unsicher, ob sie die Entwicklung gutheißen sollte. Das dunkle Grollen aus Ashras Brust zeigte ihr, dass auch dem Alphawolf die enge Verbindung zwischen Gigi und Leonora missfiel.

»Zeig uns Beas Weg.«

Die Wölfin senkte den Kopf und begann, um sie herum zu kreisen. Leila umfasste die Zügel von Bons und Luna fester. Luna war Leonoras weiße Stute mit dichtem, silbrig glänzendem Schweif und langer, welliger Mähne, ein sensibles Tier, das sich leicht aus der Ruhe bringen ließ. Ihre Reiterin schenkte ihr jedoch Sicherheit, deshalb hatte Leila ihr das Pferd überlassen.

Eiméar spürte die Blicke, die sich aus der Hütte von Jareds Familie auf sie richteten. Als sie am frühen Morgen zu dritt dort angekommen waren, war man ihnen mit deutlicher Skepsis begegnet. Nur zögernd hatte man ihnen ein gebrauchtes Hemd von Bea gegeben. Sie hatte auch keine Ahnung, weshalb ausgerechnet Leonora glaubte, etwas über die verschwundenen Mädchen herausfinden zu können, obwohl sie keine Jägerin oder Spurenleserin war, und sicher hatten sowohl Jared als auch Gustav alles getan, um ihre Töchter wiederzufinden. Andererseits folgte sie immer ihrer Schwester. Leila hatte sich ihnen direkt angeschlossen, als sie ihr auf dem Weg zu ihren Pferden über den Weg gelaufen war und erfahren hatte, wohin sie unterwegs waren. Das kam überraschend, denn Leila hielt sich normalerweise tunlichst bedeckt, wann immer es um eine Angelegenheit ging, in die der Ältestenrat involviert war.

Gigi hielt inne, schnüffelte intensiver und begann dann, den Pfad in Richtung Bucht entlangzutraben. Wen überraschte das? Jeder wusste, dass die Mädchen diesen Weg genommen hatten. Dennoch spürte Eiméar, wie ihr Blut schneller durch ihre Bahnen zirkulierte, merkte, wie ihre Spannung stieg, genau wie bei einer Jagd. Leonora folgte Gigi zu Fuß. Ihre Stute überließ sie Leila. Da Bons ihr ohnehin hinterherlief, hielt Leila nur Lunas Zügel in der Hand, die in ihrer Nähe die Ruhe selbst war. Ignis hingegen kehrte mal wieder den Hengst heraus, weshalb Eiméar ihn kurz hielt.

Mit einigen Schlenkern zu Büschen mit Winterbeeren kamen sie schließlich auf den Strand der Bucht. Zielgerichtet lief die Wölfin zu dem Felsen, der ins Wasser ragte und den besten Platz zum Angeln bot. Dort hatte man die zwei Körbe mit Fischen gefunden. Gigi setzte sich und blickte zu Leonora zurück. Diese kam zu ihr, hielt ihr erneut das Hemd unter die Nase und legte die andere Hand auf den Kopf des Tieres.

»Wohin ist Bea gegangen? Such!«

Eiméar schüttelte den Kopf. Was erwartete ihre Schwester von dem Tier? Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch, als die Wölfin tatsächlich erneut lostrabte. Nachdem sie eine Weile im Kreis herumgeschnüffelt hatte, lief sie in das dichtere Gebüsch.

Besorgt um Leonora drückte Eiméar jetzt Leila auch noch die Zügel ihres Hengstes in die Hand. »Pass auf ihn auf.«

Sie folgte ihrer Zwillingsschwester und der Wölfin. Das Tier blieb an einer platt getrampelten Stelle stehen und scharrte mit den Pfoten am Boden.

Eiméar wandte sich Leonora zu, die sich hingehockt hatte, und rümpfte die Nase. »Exkremente. Bea hat sich hier erleichtert«, stellte sie fest.

»Ja. Fein gemacht. Such weiter.«

Auf demselben Weg lief Gigi wieder zurück zur Bucht und auf den Felsen zu. Die Nase im Wind legte sie sich hin. Leonora hockte sich zu ihr und ließ die Füße baumeln.

»Was habt ihr entdeckt?«, wisperte Leila.

Eiméar antwortete ihr genauso leise. »Bea hat sich in den Büschen erleichtert.«

»Was machen die zwei auf dem Felsen?«

»Keine Ahnung.« Sie übernahm Ignis und führte ihn weg von Luna, die nach ihm auskeilte, weil er sie mit seinen Avancen nervte. Leonora kehrte mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zu ihnen zurück.

»Lasst uns zum Dorf reiten.«

»Aber die anderen Mädchen sind noch früher verschwunden als Bea und Achat«, wandte sie ein. »Was versprichst du dir davon? Du bist doch genauso schlau wie zuvor.«

Ein trauriges Lächeln erschien in Leonoras zartem Gesicht, doch der wissende Ausdruck in ihren seegrünen Augen jagte ihr unwillkürlich einen kalten Schauer über den Rücken.


Es war ein schweigsamer Ritt. Eiméar führte mit Ignis die Gruppe an, Leonora ritt in der Mitte, und Leila bildete mit Bons den Abschluss. In angemessener Distanz folgte ihnen das Wolfsrudel, unsichtbar im Wald verstreut, nur Ashra und Gigi bekamen sie ab und an zu Gesicht. Als sie den Pfad erreichten, der in das Dorf führte, blieben die Wölfe auf ein Zeichen von Eiméar hin zurück. Hier war im Gegensatz zum Hauptdorf der Schnee nur knöcheltief. Die Senke mit der Ansiedlung, in der die Hütten sich drängten, war auf einer Seite von den steil ansteigenden Ausläufern des Asambra und auf zwei Seiten von dichten Wäldern umgeben. Der letzte Weg führte zu einer weitläufigen Fläche, auf der Seegras und Büsche wuchsen und die am Horizont abrupt zu enden schien. Tatsächlich brach hier die Küstenlinie steil zum Meer ab, dessen Rauschen selbst auf die Entfernung zu hören war.

Leila rutschte von Bons’ Rücken und klopfte an einer der Hütten. Durch ihre Arbeit mit den Pferden verfügte sie über eine Reihe von Kontakten mit den Bewohnern der Dörfer.

Nach einem kurzen Austausch deutete der Mann, der vor die Tür getreten war, auf eine der Hütten, die um einen zentralen Platz standen, in dessen Mitte sich der Dorfbrunnen befand. Eiméar schwang ihr Bein über Ignis’ Hals und sprang federnd auf den Boden. Luna tänzelte unter Leonora, die ihr beruhigend den Mähnenkamm massierte, bevor auch sie abstieg.

Sie folgten Leila. Erneut übernahm diese die Aufgabe der Kontaktaufnahme und klopfte.

»Kommt herein, die Brote sind fast fertig«, ertönte es aus dem Inneren der Behausung.

Dichter Rauch kam aus einem Schornstein im hinteren, gemauerten Bereich der Hütte. Der Duft von frischem Brot, durchsetzt mit Kräutern, und von Kuchen ließ Eiméar das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Magen knurrte. Leonora hob fragend die Augenbrauen.

Sie seufzte. »Also gut, ich bleibe draußen und passe auf die Pferde auf.«

Es dauerte nicht lange, und sie kamen zu dritt aus der Hütte, in der Mitte eine Frau, die Eiméar ein kleines Brot reichte. Auch die anderen beiden hielten je einen Laib in den Händen.

»Ihr müsst Hunger haben, wenn ihr den ganzen Tag unterwegs seid. Geht rein, wärmt euch ein wenig auf. Ich hole euch ein getragenes Hemd von einem der Mädchen.«

»Mach dir keine Gedanken, Sybille, wir warten hier draußen auf dich. Und danke für das Brot«, erwiderte Leonora.

»Ich danke euch, dass ihr euch die Mühe macht herauszufinden, was geschehen ist.« Sybille war im Ältestenrat. Sie warf einen raschen Blick auf sie. »Die Jägerin und die Heilerin, wie unterschiedlich Zwillinge sein können.«

Während Sybille davoneilte, verputzte Eiméar das Brot. Kauend warf sie einen sehnsüchtigen Blick zur Tür. »Meinst du, sie kann uns noch ein Stück Kuchen geben?«

»Wir haben unseren eigenen Proviant.«

»Aber er duftet so gut, und wann haben wir zuletzt Kuchen gegessen? Du backst keinen, und ich bin nur im Fleischbraten gut.«

Leila schmunzelte. »Arme Mea, ich dachte, du magst kein süßes Gebäck.«

»Kuchen ist kein süßes Gebäck.«

»Morgen backe ich dir einen Kuchen«, versprach ihr Leila schmunzelnd.

»Sie könnte es lernen, wenn sie es wollte«, tadelte Leonora.

»Ich mache es gern. Papa liebt meinen Kuchen mit kandierten Früchten.«

Sybille kehrte mit einem Hemd zurück. »Hier, es gehörte Tronja. Wenn ihr noch ein wenig Zeit habt, dann backe ich die restlichen Kuchen zu Ende. Die Restwärme im Ofen ist genau richtig dafür. Es wäre eine Schande, ihn ungenutzt ausbrennen zu lassen. Dann zeige ich euch die Stelle, wo die Mädchen verschwunden sind.«

»Mach dir keine Gedanken um uns. Sag uns nur, welchen Weg sie aus dem Dorf genommen haben«, lehnte Leonora mit einem freundlichen Lächeln ab.

Sybille zeigte auf den Pfad, der zur Steilküste führte. »Folgt dem Weg. Er macht eine Biegung um die Felsen, die dort vorne ansteigen. Später geht es wieder in eine Senke, und das ist die Stelle, wo wir die letzten Spuren von ihnen fanden, ganz so, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.«

»Ist der Küstenpfad in der Nähe, der zum Meer hinabführt?«

Sybille stutzte, runzelte die Stirn und sah Leonora an. »Ja. Aber niemand benutzt ihn mehr, und die Mädchen hätten ihn unter keinen Umständen betreten.«

»Warum?«, hakte Eiméar überrascht nach.

»Es war schon immer ein gefährlicher Weg, schmal, mit Geröll, und manchmal löste sich auch ein Stück Fels. Er liegt dicht an der Grenze, und seit dem Winteranfang ist er völlig vom Nebel verschluckt. Es ist lebensbedrohlich geworden, ihn zu begehen.«

»Aber kann es nicht sein, dass die Neugierde die drei übermannte, sie den Weg einschlugen und dort hinunterstürzten?«

»Wieso sollten sie ihr Leben riskieren? Es gibt dort unten nichts. Schon früher gingen wir nur bei Ebbe hinunter, um Krebse und Muscheln zu sammeln. Es ist alles felsiger Boden, mit tiefen Wasserlöchern, kein Strand wie bei euch in der Bucht. Es ist ein schroffes Stück Natur, in dem wir hier leben.«

»Danke für das Brot, es hat vorzüglich geschmeckt«, bedanke sich Eiméar artig.

Sybille schmunzelte über ihren sehnsüchtigen Blick in das Innere der Hütte.

»Wartet.«

Sie kam mit drei großen Stücken trockenen Kuchens zurück.

»Ich bin berühmt für meinen Früchtekuchen.«

Eiméar grinste, nahm ihr Stück entgegen und machte einen großen Bissen. »Mhm, lecker.«

»Hab Dank für deine Gastfreundschaft, Sybille. Wir müssen los, sonst wird es zu dunkel, um heute noch zurückzureiten«, drängte Leo.

»Ihr könnt bei mir übernachten.«

»Das ist sehr freundlich von dir, aber es war schon schwer genug für mich, mir einen Tag freizunehmen. Im Haus der Heilung wird jede Hand gebraucht.«

»Vor allem deine fähigen Hände.« Respektvoll neigte Sybille den Kopf, und Leonoras Wangen färbten sich zart.

Eiméar fragte sich, wie sie erst mit der Ehrerbietung umgehen würde, die ihr die Mintraner nach der Entdeckung ihrer silbernen Haare zuteil werden lassen würden.


So wie zuvor in ihrem Dorf gab Leonora Gigi den Auftrag, Tronjas Spuren zu folgen. Diesmal dauerte es länger, bis die Wölfin die Witterung aufnahm. Immer wieder lief sie im Zickzack, mal hierhin, mal dorthin. Leonora hielt sich möglichst fern, um ihr die Arbeit durch ihren Geruch nicht noch zusätzlich zu erschweren. Nach einer Weile wurde für Eiméar offensichtlich, dass die Ausbrüche zur Seite keine Irritation von Gigi darstellten, sondern der Bewegung des Mädchens folgten.

In ihrer Erinnerung stieg das Bild von fünf Mädchen auf, die trotz ihres unterschiedlichen Charakters und Temperaments wie Pech und Schwefel zusammenhielten: Leo, sie, Levarda und Vivien, immer mit der kleinen Leila im Schlepptau. Auch sie waren durch die Wälder, Auen und Wiesen gestrolcht, immer auf der Suche nach Abenteuern, immer auf der Schwelle zu dem, was verboten und was erlaubt war. So wie Tronja wäre Vivien durch diese Büsche gezogen. Sprunghaft, abgelenkt von jeder winzigen Kleinigkeit, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie musste bei dem Gedanken lächeln, dass dies auch ein einfacher Schmetterling hatte sein können, dessen flatternde Flügel eine kaum spürbare Vibration in Viviens Element auslöste. Als sie damals über Vivi spottete, hatte sie es ihr verdeutlicht, indem sie ihr mit ihren langen Wimpern mit schnellem Lidschlag über die Wange strich. Das hatte sie verstanden. Feuer war kraftvoll, hitzig und lodernd, aber durch das, was ihr Vivien verdeutlichte, hatte sie gelernt, dass eine kleine Flamme sogar zart, ja sanft sein konnte.

»Worüber denkst du nach?«

Leila hatte Bons neben Ignis gelenkt.

»Unwichtig.«

»Bist du verliebt?«

»Nein«, stieß Eiméar entsetzt aus. »Wie kommst du auf so einen Blödsinn?«

»Weil der Ausdruck in deinem Gesicht ungewöhnlich sanft ist. Dein mürrischer Mund hat sich zu einem versonnenen Lächeln aufgeworfen. Deshalb. Also, wer ist es?«

»Ich bin nicht verliebt. Brrr.« Sie schüttelte sich bei dem Gedanken. »Und das werde ich auch nie sein.«

»Soll das heißen, du hast noch nie mit einem Mann geschlafen?«

Sie schaffte es nicht, ihr schmutziges Grinsen zu verbergen. »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Na, alles. Ich würde niemals mit einem Mann schlafen wegen dem …« Leila pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht, suchte nach Worten.

»… körperlichen Akt?«, ergänzte Eiméar vergnügt angesichts Leilas Verschämtheit gegenüber dem Thema. »Jetzt sag nicht, du hast es noch nie gemacht.«

Leila versteifte den Oberkörper, dass selbst der sonst so entspannte Bons kurz unter ihr ins Straucheln kam.

»Wie ich schon sagte …«

»Leila, ausgerechnet du! Wo du doch ständig darüber nachdenkst, welchen Hengst du mit welcher Stute zusammenbringen kannst, um charakterstarken, ausdauernden und arbeitswilligen Nachwuchs für uns zu züchten. Bei Lethos, alle hier bewundern deine Fähigkeit, die richtigen Paarungen zu finden. Ich glaube, ich hörte erst neulich Cecilia darüber reden, dass sie überlegt, dich um Rat zu fragen, welcher Mann zu ihr passt.«

»Das hat sie nicht!«

Eiméar zuckte mit den Achseln. »Glaub es mir oder lass es bleiben. Also, wo ist dein Problem? Sex ist unglaublich entspannend, lässt dich deine Sorgen vergessen, und danach bist du mit einer Energie angefüllt, dass ich mich frage, ob darin auch eine besondere Form der Quelle liegt.«

Leila war tiefrot im Gesicht und schnappte nach Luft, doch bevor sie antworten konnte, sahen sie beide, wie Leonora vor ihnen Luna durchparierte und vom Pferderücken glitt.

Die Wölfin war stehen geblieben, lief mit einem leisen Winseln und eingezogener Rute zu Leonora und fletschte die Zähne, den Kopf an ihr Bein gedrückt.

Alarmiert drückte Eiméar ihrem Hengst die Schenkel in die Flanken. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Leila dasselbe machte. Kurz bevor sie Leonora erreichten, legte Ignis eine Vollbremsung ein, die sie beinahe über seinen Kopf auf den Boden katapultiert hätte. Schrill wiehernd stieg er. Leilas Wallach machte einen Satz zur Seite. Sie sprangen von den Pferden ab, und bevor es eine von ihnen verhindern konnte, galoppierten Ignis und Bons von den Büschen weg und nahmen gleich die nervös tänzelnde Luna mit sich.

»Bei Lethos, was ist in sie gefahren?«

Leila starrte mit offenem Mund zu den Pferden, die sich jetzt auf einer Fläche jenseits der Büsche gruppiert hatten. Bons fing an, mit dem Huf zu scharren, versenkte die Nüstern im harschen Schnee und rupfte Moos hervor, auf dem er kaute.

Eine Ersatzhandlung. Selbst Eiméar wusste, dass das Kauen Pferde beruhigte. Die anderen zwei folgten seinem Beispiel. Sie wandte sich zu ihrer Zwillingsschwester und erstarrte. Eisige Kälte kroch ihr durch die Adern.

Den Blick in die Ferne gerichtet schaute Leonora über die Büsche zur Klippe hinüber. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Langsam setzte sie ein Bein vor das andere, verharrte lauschend, bevor sie weiterging. Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihre Wange hinab. Gigi blieb bei ihr, eng an ihr Bein gepresst.

Eiméar löste sich aus der Erstarrung, wollte ihre Schwester packen und schütteln, aber mit einem erstaunlich kraftvollen Griff hielt Leila sie fest.

»Nicht«, wisperte sie.

»Lass mich sofort los, bevor ich dir eine verpasse!«, grollte sie.

Die Finger bohrten sich fest in ihren Oberarm. Wann hatte dieses zarte kleine Mädchen so viele Muskeln entwickelt?

»Sie ist in Trance. Sie sieht es. Die Pferde spüren es auch, merkst du es denn gar nicht?«

»Was?«

Mit großen Augen schaute Leila sie an. »Kälte, Traurigkeit, Hass, Wut und abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit über einen Verlust.«

Verblüfft blickte sie ihre Freundin an. Nein, sie spürte nur brennenden Zorn, das Bedürfnis zu beschützen, zu bewahren oder, wenn notwendig, zu zerstören. Doch mit einem Mal begriff sie, was vor sich ging. »Nein, aber ich verstehe, was du meinst. Lass mich los. Es ist für dich anders als für mich und Leo.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Leonora weitergegangen war. Zielgerichtet strebte auf die Kante zu, dorthin, wo die Klippen abrupt abbrachen. Panik flutete in einer Welle durch sie hindurch. Sie sah wieder ihre Schwester auf dem Grund des Sees Luna, gefangen in den Tentakeln der Dunkelheit.

»Sie ist das Licht, kannst du es sehen?«, sagte Leila. »Sie nimmt den Schmerz, lindert die Gefühle von Hass, Wut und Traurigkeit. Stattdessen gibt sie Liebe und bietet Vergebung an.«

»Lass mich endlich los, Leila. Wenn sie weitergeht, wird sie die Klippe hinunterstürzen!« Mit einem Ruck befreite sie sich aus dem Griff und sprintete los. Leonora hatte den Rand der Klippe erreicht, wo wie aus dem Nichts eine dichte Nebelwand emporstieg.

»Nicht!«, schrie sie voller Angst. »Leonora! In Lethos’ Namen, bleib verflucht noch mal stehen! Gigi!«

Leonora hob den Zeigefinger an ihre Lippen, machte eine abwehrende Bewegung mit der anderen Hand, dass sie still sein sollte, und neigte lauschend den Kopf zum Nebel. Mit rasendem Herzen kam sie neben ihr zum Stehen und packte sie am Arm. Kurz darauf tauchte Leila neben ihnen auf. Langsam drehte sie Leonora zu sich um. Mit der freien Hand wischte sie ihr die Tränen von der Wange.

»Die Mädchen sind nicht nur verschwunden, Mea. Sie sind tot. Wir haben sie für immer verloren.«

Sie sah aus wie ein Geist. Eiméar zog sie in ihre Arme. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Eisblock. Jegliche Wärme schien aus ihm gewichen zu sein. Leonoras Kopf sank an ihre Brust, und sie begann hemmungslos zu schluchzen. Langsam ließ sie das Feuer aus ihrem Innern über Leonoras Haut fließen, umschlang mit ihrer Aura die ihrer Schwester. Sie würde kämpfen und wenn es sein musste töten, um sie zu beschützen.

16

Marek

Eine der Eigenschaften, die Leila an ihrem Vater liebte, war seine unendliche Geduld. Statt sie mit Fragen zu bombardieren, setzte Marek wortlos einen Kessel mit heißem Wasser auf und holte eine Dose mit Haferkeksen aus einem Schrank. Überrascht blickte Leila ihn an.

Er zuckte mit den Achseln. »Kaja hat sie am Nachmittag vorbeigebracht. Sie meinte, ich könnte das heute gebrauchen. Du weißt, ich bevorzuge ein Stück Fleisch, aber vielleicht ahnte sie, dass jemand anderer sie brauchen könnte.«

Eiméar und Leonora saßen dicht beieinander am Esstisch. Inzwischen war die Farbe in Leonoras Gesicht zurückgekehrt.

Sie hatten sicherheitshalber auf dem Ritt von den Klippen zurück die Pferde getauscht, sodass Leonora auf dem duldsamen Bons reiten konnte. Marek war draußen gewesen und hatte Holz gehackt, als Leila mit den Zwillingen eingetroffen war. Sie hatte mit ihm die Pferde versorgt und in den Stall gebracht, während die Schwestern in die Hütte vorgegangen waren.

Leila steckte sich hungrig einen Keks in den Mund. Er war knusprig, und zimtige Süße breitete sich in ihrem Mund aus. Kaja backte die besten Haferkekse im ganzen Land. Auch Eiméar griff beherzt zu, kaum dass die Dose auf dem Tisch stand. Nur Leonora knabberte lustlos vor sich hin, während sie ins Feuer starrte.

Marek gab eine Handvoll getrocknete Kräuter in den Krug, füllte ihn mit heißem Wasser auf und ließ alles zusammen eine Weile ziehen. Er schüttete die Flüssigkeit durch ein grobes Tuch, um die Kräuter auszusieben. Aromatischer Duft zog durch die Stube und weckte in Leila Kindheitserinnerungen von Wärme und Geborgenheit. Wann immer sie sich verletzt hatte, ein Pferd verloren oder einfach nur traurig gewesen war, hatte ihr Vater genau diese spezielle Kräuterteemischung für sie aufgebrüht. Kekse hatte es allerdings selten dazu gegeben.

Sofort fühlte sie sich besser und stärker. Die Trostlosigkeit, die sie auf dem Heimritt begleitet hatte, wich aus ihren Knochen und machte Platz für Zuversicht. Auch wenn ihr bewusst war, dass es nicht ihre eigenen Gefühle gewesen waren, die sie übermannt und gefangen gehalten hatten, so hatte sie es dennoch nicht geschafft, sie abzuschütteln. Bevor die Empfindung sie in ihren Bann ziehen und die Todessehnsucht weiterwachsen konnte, hatte Eiméar sie gepackt und zusammen mit Leonora zu den Pferden geschleift. An der Stelle, wo Eiméar sie gehalten hatte, hatte ihre Haut gebrannt, als würde sie in Feuer gehalten. Flammender Zorn und ruchlose Entschlossenheit hatten in Eiméars Augen gestanden. Ohne Widerspruch war sie ihren knappen Anweisungen gefolgt, dankbar, keine eigenen Entscheidungen treffen zu müssen.

Im Gegensatz zu ihr hatte ihr Vater nur kurz innegehalten, als Leonora sich die Kapuze ihres Umhangs vom Kopf zog und die weiß-silbrige Haarpracht, zu einem Zopf geflochten, zum Vorschein kam. Es war so typisch für ihn, dass er niemanden mit Fragen bedrängte. Stattdessen füllte er ihre Becher mit dem heißen Getränk, setzte sich und wartete darauf, dass sie anfingen zu reden.

Leila trank in winzigen Schlucken, schloss dabei halb die Lider, spürte dem Weg nach, den der Tee durch ihren Hals hinunter in ihr Inneres nahm. Die Aromen breiteten sich in ihrem Mund aus, stiegen ihr in die Nase, der Schlag ihres Herzens verlangsamte sich, und die letzten Reste von Furcht schwanden.

»Danke.«

Den ganzen Rückweg über hatte keine von ihnen gesprochen. Es war Leonora, die jetzt das Schweigen brach.

»Ich sehe dir deine Fragen an, Marek, aber gib mir noch einen Moment Zeit, mich zu sammeln«, bat sie.

»Nimm dir die Zeit, die du brauchst«, brummte Marek.

Leonora schenkte ihm ein Lächeln.

Geduldig warteten sie, nippten an dem heißen Tee, und nur das knusprige Knacken der Kekse durchbrach die Stille. Schließlich begann Leonora mit leiser Stimme zu sprechen.

»Eine Begegnung mit Lishar ist kein Geschenk, sondern eine Forderung, eine Bitte, den Weg zu gehen, der einem vorherbestimmt ist. Sie öffnet einem die Augen für die eigenen Fehler, Schwächen und Versäumnisse. Macht einen das weiser?« Leila wusste, sie wollte auf ihre Frage keine Antwort. »Was einen selbst betrifft, ja – was die Welt betrifft, nein. Es macht mir eine Heidenangst, wie die anderen wohl auf mein silbernes Haar reagieren werden. Ich bin ein Mensch, keine Göttin – und selbst eine Göttin macht Fehler.«

»Es wird eine Zeit dauern, bis sie es verstehen«, sagte Marek. »Zu viele Veränderungen liegen in der Luft, und es wird für sie sein wie ein von Lishar gesandtes Zeichen. Du darfst nicht vergessen, dass wir das von Lishar auserwählte Volk sind.«

Aus diesem Grund also war Leonora so seltsam gewesen, und Eiméar hatte sich deswegen solche Sorgen gemacht. Ihr ganzes Haar hatte seine Farbe verändert, nicht nur eine Strähne, wie sie es bei Kaja und Rai gehört hatte, als sie über Levarda sprachen. Was hatte das zu bedeuten?

»Sind wir das?« Die Schärfe in Leonoras Ton ließ Marek aufhorchen. Ein müdes, trauriges Lächeln huschte über Leonoras Gesicht. »Ich habe damals Vivien vor dem Ältestenrat verpetzt.«

Eine eiserne Faust schloss sich um Leilas Herz. Das Blut rauschte ihr auf einmal laut durch die Adern. Ihr Vater legte eine Hand auf ihre.

»Wenn es an dem Tag nicht herausgekommen wäre, dann an einem anderen«, entgegnete er. »Es war von Anfang an unvermeidlich. Ihre Kräfte sind zu außergewöhnlich, und sie besaß weder die Disziplin noch die Kontrolle, die notwendig gewesen wären, um ihre Fähigkeiten zu bändigen.«

Seine Worte schmerzten Leila noch mehr. Vivi war sein Sturmvogel gewesen, wie konnte er an ihrer Gutherzigkeit zweifeln? Kein einziges Mal hatte sie willentlich ein Lebewesen verletzt. Leila öffnete den Mund, doch Leonora kam ihr zuvor.

»Wie kannst du so etwas sagen? All die Jahre, die sie schon dort draußen lebt … Sind Menschen wegen ihr gestorben? Städte zerstört oder Küsten überflutet worden?« Leonora beugte sich vor, und ihre Augen leuchteten wie grünlich schimmernde Glühwürmchen in einer Nacht über dem See.

Unruhig rutschte Marek auf seinem Stuhl hin und her. »Nein, jedenfalls nicht, soweit ich es weiß.«

»Glaub mir, wir wüssten es. Sanira schreibt sich regelmäßig mit Elisabeth. Von ihr bekommen wir die speziellen Kräuter im Haus der Heilung, die Vivien jenseits der Meere entdeckte. Ich weiß, dass sie dir von deiner Familie erzählt.«

Er senkte den Blick, und eine feine Röte stieg ihm in die Wangen.

Leila drehte ihre Handfläche zu seiner und verschränkte ihrer beider Finger miteinander. Sie überlegte fieberhaft, wie sie es vermeiden konnte, dass seine Schwäche, weder lesen noch schreiben zu können, Gegenstand des Gesprächs wurde. Gleichzeitig ärgerte es sie maßlos, dass ausgerechnet Leonora, die Vivien angeschwärzt hatte, nun diejenige war, die ihren Vater in Verlegenheit brachte.

Der Ausdruck in Leonoras Gesicht veränderte sich, als hätte jemand ein Kerzenlicht angezündet. »Wovor hattet ihr Angst? Weshalb glaubst du von deiner eigenen Tochter, sie sei gefährlich?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Zum ersten Mal klang seine Stimme brüsk.

»Es ist wichtig, dass wir anfangen, ehrlich miteinander zu sein. Wenn wir weiterhin die Augen vor der Wahrheit verschließen, sind wir verloren, bevor wir bereit sind, das Schicksal zu wenden«, drängte Leonora jetzt mit sanftem Nachdruck.

Marek nahm den Becher und trank. Leila hielt die Luft an. Noch nie hatte sie es gewagt, ihrem Vater diese Frage zu stellen. Die Stille lastete wie ein schweres Tuch auf ihnen. Schließlich seufzte er abgrundtief auf, und aus diesem einen Laut klang all der Kummer der letzten Jahre.

»Kennt ihr den Wortlaut der Prophezeiung, mit der Lishar den Pakt mit Chandini besiegelte?«, fragte er.

»Die Prophezeiung kennen wir schon, aber nicht den genauen Wortlaut«, sagte Leonora.

Er trank einen großen Schluck Tee, als müsste er für seine nächsten Sätze Kräfte sammeln.

»Gott schenkte den Menschen den freien Willen, damit sie sich jeden Tag aufs Neue für seine Liebe entscheiden können.

Das Vertrauen in Gott ist die Quelle der selbstlosen Liebe, die  allen Menschen offenbart wird. Sie zu finden, danach wird das Leben allzeit streben. Neues kann entstehen, wenn Altes stirbt. Dein Vertrauen und deine Liebe, Chandini, ließen mich erkennen, dass ich meine Verantwortung, die ich gegenüber meinen Kindern trage, in meiner Liebe zu Lethos vernachlässigte. Gott vergibt uns, wenn wir echte Reue zeigen und uns selbst verzeihen. Mein Geschenk an dich, deine Kinder und Kindeskinder ist die Fähigkeit, sich mit den Elementen zu verbinden, und sie darf niemals missbraucht werden.

Die vier Elemente – Erde, Wasser, Luft und Feuer – sind der Ursprung des Lebens und des Todes. Das Leben zu erhalten und zu zerstören, liegt beides in der Natur der Elemente. Dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist die Pflicht und Verantwortung der Kinder der Elemente. Das ist der Eid, den du mir gegenüber leisten sollst.

Dunkelheit wird über Alurin hereinbrechen, wenn Kinder der Elemente mein Geschenk missbrauchen. Das Leben wird gleich dem Tod sein. Das Ende ist gekommen, wenn die Tochter geboren wird, deren Kräfte alles Bisherige übersteigen. Gemeinsam mit denen, die die Elemente hüten, wird sie vernichten, was war.

Licht und Dunkelheit – das eine kann ohne das andere nicht sein. In dem Meer der Nacht leuchten winzige Flammen, von der Liebe entfacht. Sie sind die Hoffnung und zeigen den Pfad in die Zukunft, wenn ein neues Opfer gebracht wird.«

Als besäßen sie eine eigene Energie, so hingen die Worte in der Luft. Aus dem Gesicht der Zwillinge war jede Farbe gewichen. Sie wechselten einen raschen Blick miteinander, den Leila nicht verstand. Auch ihr hatten die Worte einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Aber das Ende zeigte doch, dass es Hoffnung gab.

Leise sprach Marek weiter: »Wenn eine Tochter der Elemente mit ihren Fähigkeiten den Tod von Menschen verursacht, dann wird sie zu einem Teil der Dunkelheit. Davor hatte der Ältestenrat schreckliche Angst. Die Ältesten glaubten, wenn sie verhindern, dass ein Kind der Elemente das Geschenk missbraucht, könnten sie damit der Vernichtung von allem, was war und sein wird, Einhalt gebieten. Vivien hatte von ihrer Geburt an eine außergewöhnliche Begabung gezeigt, mit dem Element Luft umzugehen.« Er hielt inne, erinnerte sich offenbar an etwas, was ihm ein liebevolles Lächeln entlockte. »Man könnte sagen, dass ihre Geburt, die stürmische Leichtigkeit, mit der sie auf die Welt kam, es bereits offenbarte. Sie lachte die anwesende Heilerin an, statt zu schreien.«

»Wie wollen sie verhindern, dass ein Kind der Elemente das Geschenk missbraucht?«

Er sah Leonora direkt in die Augen. »Das weißt du besser als ich, Heilerin.«

»Indem sie ihnen ihre Fähigkeit nehmen, das Element zu beeinflussen.«

Die Lippen grimmig zusammengepresst nickte er. Obwohl Leila nicht verstand, worüber die beiden sprachen, sah sie das Grauen hinter den Worten in den Gesichtern aller drei.

»Vivien war bereit dazu«, sagte Leonora. »Ich weiß noch, wie sie zu uns kam, um es mir zu sagen.« Sie stockte, senkte kurz den Blick. »Sag mir, Marek, weißt du, weshalb sie am Ende geflohen sind? Bernadette erzählte mir, dass Vivien bei der Untersuchung beinahe Kaja und sie getötet hätte.«

»Ich kann dir nur erzählen, was Ricarda mir berichtete, damals, als wir gemeinsam entschieden, dass sie Mintra mit Vivien verlassen würde und ich mit Leila hierbleiben sollte.«

Er runzelte die Stirn und trank seinen Becher leer, bevor er sich neuen Tee nachschenkte. »Ich verstehe nichts von der Heilkunst oder davon, wie der menschliche Körper funktioniert, doch ich glaube, mich zu erinnern, dass sie sagte, es gebe unterschiedliche Lebensbahnen. Eine verarbeite die Nahrung, eine verteile sie und gebe Luft, eine lenke die Bewegungen. Diese Bahnen hat jeder Mensch. Dann gibt es eine weitere, die nur bei den Kindern der Elemente existiert, und das ist die der Energie der Elemente. Bei uns hingegen fehlt diese Bahn. Stattdessen existiert die Lebensenergie überall in uns. Sie hält uns zusammen, und am Ende unseres Lebens kehrt sie so wie die Seele zurück zu Gott. Im Prozess der Loslösung entfernen die Heilerinnen die sichtbaren Energiebahnen im Körper eines Kindes der Elemente und sorgen gleichzeitig dafür, dass eine geistige Bahn entsteht wie bei einem einfachen Menschen. Dieser Prozess dauert seine Zeit. Je älter das Kind der Elemente ist und je stärker seine Fähigkeiten sind, desto ausgeprägter sind die Energiebahnen, die es mit seinem Element und dem Leben verbindet. Selbst ohne diese Verbindung entsteht manchmal ein innerer Widerstand gegen den Verlust, und das Kind der Elemente zerbricht geistig daran. Denk an Zacharias, der es gut überstand, und Haman, der daran zerbrach.«

»Du hast dich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.«

»Mein Verstand sagt mir, dass unsere Entscheidung richtig war, doch mein Herz hat es nie verwunden, sie gehen zu lassen.«

Tränen traten in seine Augen, und seine Stimme klang brüchig. Leonora nahm Mareks freie Hand in ihre. Ein seltsames Bild, fand Leila. Die schwielige Pranke ihres Vaters in der feingliederigen, zarten der Heilerin.

»Ich weiß, es fällt dir schwer, aber ich muss es wissen. Vivien war gerade mal acht Jahre alt, als man den Prozess an ihr vollführen wollte. Er mag schmerzhaft sein, doch die meisten Kinder überwinden die Umstellung in diesem jugendlichen Alter rasch.«

»Die meisten Kinder? Willst du sagen, es wird inzwischen häufiger durchgeführt? Auch von dir?« Entsetzt blickte Marek Leonora an.

»Nein, Bernadette übernimmt diese Aufgabe gerne. Ich hingegen …« Leonora brach ab. »Es gibt andere Aufgaben, die niemand gerne übernimmt und die ich im Gegenzug wahrnehme. Aber ja, es wird inzwischen bei vielen Kindern der Elemente durchgeführt. Es bedarf dafür nicht einmal eines Urteils durch den Ältestenrat. Es sind die Eltern, die zu uns kommen und uns darum bitten. Bernadette und auch Ceit ermutigen sie dazu.«

»Und das lassen die anderen vom Ältestenrat und Elija zu?«

Diesmal rutschte Leonora unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Die Wahrheit«, mahnte er.

»Ja, wenn es der ausdrückliche Wunsch der Eltern ist. Wie könnten wir den Willen der Eltern nicht respektieren? Aber nicht alle teilen diese Meinung, und es gibt einen Antrag, dass diese Praxis verboten wird. Die eigenständige Entscheidung der Kinder wird schließlich damit unterbunden. Es ist ein Eingriff in ihre Selbstbestimmung.«

Marek sprang auf, rannte in der Küche umher, setzte sich wieder und sprach weiter: »Kaja sagte, dass die Energiebahnen bei Vivien so ausgeprägt seien, dass sie bei dem Prozess sterben würde und genau das geschehen würde, was alle vermeiden wollten. Dass sie zu einem Teil der Dunkelheit würde, was immer diese Dunkelheit auch sein mag.«

»Die Dunkelheit ist eine Macht, die sich der Gefühle eines Menschen bemächtigt. Sie verstärkt Traurigkeit, Angst, Zorn und Hass und weckt die Todessehnsucht in einem.«

Leila bekam das Gefühl, dass die Temperatur im Raum sank.

Eiméar beugte sich vor. »Als ich zu der Stelle kam, an der die Mädchen verschwanden, konnte ich nur wenige Spuren von ihnen ausmachen. Zu viele andere waren in dem Gebiet herumgetrampelt. Mir war kalt. Ich fühlte Mutlosigkeit, eine innere Trauer, die ich mir nicht erklären konnte«, stellte sie nachdenklich fest.

»Das sind die Reste der Dunkelheit, die du verspürtest. Sie sind in diesem Bereich ausgeprägt.« Leonora schaute einmal in die Runde. »Jeder von uns spürte es, selbst die Tiere haben es gemerkt und sind weggelaufen.«

»Die Kinder der Elemente sind es, von denen die Dunkelheit ihre Macht bekommt. Sie macht sich die Kräfte der Mädchen zu eigen. Zu diesem Zweck wurden sie gebraucht und sind deshalb verschwunden. Das hast du an den Klippen gespürt, und darum sagtest du, die Mädchen seien tot. War es die Vision, die du von Lishar erhalten hast?«

»Nein. Ich sah, wie es endet, wenn wir, anstatt zu handeln, die Hände in den Schoß legen. Wenn wir zulassen, dass die Töchter der Elemente missbraucht werden, anstatt sie zu beschützen. Mintra ist nicht das einzige Land, in dem Mädchen verschwinden. Es ist nicht das einzige Land, in dem Töchter der Elemente geboren werden.«

Eiméar atmete durch. »Als wir das letzte Mal auf die Jagd gingen, sah ich eine Gestalt auf mich zukommen. Von ihr ging die pure Dunkelheit aus. So wie damals auf dem Grund des Sees kam sie über den Boden auf mich zugekrochen. Mein Element reagierte in mir wie damals. Das Feuer vertrieb die Dunkelheit, und ich flüchtete in den Nebel.«

»Wer war es?«, wollte Leonora wissen.

»Keine Ahnung, aber etwas an der Gestalt war mir vertraut.«

17

Kiesel

Leila saß mit gekreuzten Beinen auf ihrem Bett. In der rechten Faust lag der schwarze Kieselstein. Sie richtete alle Gedanken auf ihre Schwester. Langsam begann sich der Kiesel zu erwärmen. Sie wartete und wartete, aber nichts geschah. In ihrem Zimmer blieb es dunkel. Kein Wasserdunst zog durch die Holzritzen, um sich zu einer Gestalt zusammenzuballen. Es war zum Verzweifeln. Sie musste mit Vivien sprechen, musste ihr von all den Dingen erzählen, die sie erfahren hatten.


Leila öffnete die Faust mit einem tiefen Seufzer. Ja, der Kiesel verband sie mit Vivien, doch heute zeigte ihr die ausbleibende Hitze, dass ihre Schwester mit den Gedanken woanders war. Sie hatte es jetzt mehrere Abende versucht, wieder und wieder. Was war nur los? Sie wusste, es kostete Vivien eine Menge Energie, aber wenn sie schon nicht erschien, warum sprach sie nicht einmal in Gedanken mit ihr? Manchmal, wenn sie ihre Fragen stellte, hatte sie den Eindruck, Vivien antworte ihr. Es war wie ein innerer Dialog, den sie mit sich selbst führte. Das könnte ihr jetzt zumindest die Sicherheit geben, dass mit Vivien alles in Ordnung war. Je mehr sie versuchte, mit ihrer Schwester in Kontakt zu treten, und daran scheiterte, desto mehr Sorgen machte sie sich.

Erst vor Kurzem war sie aus einem furchtbaren Albtraum aufgewacht. Vivien hatte ein Schiff durch einen furchtbaren Sturm manövriert. Sie hörte die verzweifelten Schreie der Matrosen, die von den berghohen Wellen in die tobende See gespült wurden, spürte die Verzweiflung ihrer Schwester über jedes Leben, das verloren ging, und gleichzeitig bot sie Lethos ihr eigenes Leben an.

Nun reichte es ihr. Sie musste etwas anderes versuchen. Mit jedem Tag, der verstrich, wuchs die Dringlichkeit, zu erfahren, ob es Vivien gut ging, und ihr zu erzählen, was sie wusste.

»Du willst um diese Zeit noch mal raus?«

»Nur zum See, Papa, weiter gehe ich nicht.«

»Du hast in den letzten Tagen abgenommen. Die Ringe unter deinen Augen zeigen mir, dass du wenig schläfst. Leila – du musst auf unseren Ältestenrat vertrauen. Egal, was Leonora sagt, sie sind die Menschen, die wir aus gutem Grund für diese Aufgabe auswählten. Sie werden einen Weg finden, um die Kinder zu schützen.«

»Wie lange willst du darauf warten, dass sie endlich handeln? Die letzte Versammlung ist zehn Tage her.«

»Je schwerer und weitreichender die Entscheidungen sind, die sie treffen müssen, um so wichtiger ist es, sich die Zeit dafür zu nehmen. Aber nicht das bereitet dir Sorgen, oder.«

»Nein.«

»Was ist es dann, mein kleines Mäuschen?«

Ohne es zu wollen, musste sie lächeln, als er den Kosenamen aus ihrer Kleinkindzeit verwendete. Das geschah nur noch selten.

»Ich mache mir Sorgen um Vivien und Mama. Papa, denkst du, es ist an der Zeit, dass auch wir Mintra verlassen? Ich bin kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau.«

»Und genau da liegt das Problem. Du möchtest doch weiterhin deine Pferdezucht betreiben und selbst die Verantwortung für dein Leben übernehmen, oder kannst du dir vorstellen, nur noch von mir oder einem anderen Mann abhängig zu sein? Willst du einem Mann den Haushalt führen?«

Leila verschränkte die Arme vor der Brust. »Mama, Vivien und Sanira stehen seit Jahren auf eigenen Beinen, ohne dass es einen Mann in ihrem Leben gibt.«

»Ja, genau. Sie leben allein. Ist es das, was du möchtest? Allein sein, niemals ein Kind in deinen Armen halten?«

Heiße Röte schoss ihr ins Gesicht. Nein, sie sehnte sich nach einem Mann und eigenen Kindern. Das wusste ihr Papa so gut wie sie. Sie beide sehnten sich nach einer Familie, und er hatte mehr als einmal versucht, sie zu verkuppeln.

»Eines Tages wirst du ihn finden, da bin ich mir sicher.«

Sie hörte die tiefe Sehnsucht in seiner Stimme.

»Papa, ich bin alt genug, um allein in Mintra zu bleiben. Aber dein Platz ist an Mamas Seite, und ich habe schon viel zu lange zwischen euch gestanden. Du bist ein Mann, und für dich verändert sich nichts, wenn du nach Tinau gehst.«

»Da irrst du dich gewaltig. In einer von Männern dominierten Gesellschaft gibt es andere Herausforderungen für mich als hier. Was, wenn man von mir erwartet, in einen Krieg zu ziehen und andere Menschen zu töten, nur weil ich ein guter Bogenschütze bin?«

»Das wäre furchtbar.«

Sie versuchte, sich ihren friedliebenden Vater in einem Zweikampf vorzustellen, wie sie ihn ab und an mit Eiméar trainierte, wobei sie jedoch nie die Absicht hatten, jemanden zu verletzen. Sie wollten nur jede in der Handhabung des Schwertes geschickter sein als die andere.

»Siehst du. Manches ist leichter gesagt als in die Tat umgesetzt.«

Nur eine andere Wortwahl für das, was er über den Ältestenrat gesagt hatte – dass tiefgreifende Entscheidungen wohl überlegt sein mussten. Also hatte auch er bereits darüber nachgedacht. Sie ging auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf seine kratzige Wange.

»Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe. Egal, ob du bleibst oder zu Mama gehst. Ihr beide gehört zusammen.«

Sie machte Anstalten, aus der Tür zu schlüpfen.

»Warte, ich zieh mir nur schnell etwas Warmes an.«

»Ich möchte allein zum See gehen.«

»Auf keinen Fall. Die Mädchen –«

»Waren immer höchstens zwölf, und sie alle waren Kinder der Elemente. Ich bin zweiundzwanzig. Der See befindet sich am Rand des Hauptdorfes, dicht am Haus der Heilung und dem Versammlungshaus, noch dazu von zwei Seiten geschützt durch den Asambra und mitten in Mintra.« Sie sah ihm seinen inneren Kampf an. »Ich brauche diese Zeit am See. Dort fühle ich mich Vivien und Mama am nächsten. Bitte gib sie mir.«

Er nickte, und sie war ihm dankbar, als er nachgab.

»Ich warte hier auf dich. Bleib nicht zu lange.«


Die Nacht war sternenklar und bitterkalt. Die dünne Schneeschicht knirschte unter den Sohlen ihrer Stiefel. Man musste die Uferlinie des Sees sehr genau kennen, um die Eisfläche vom normalen Boden unterscheiden zu können. Leila hatte nicht vor, auf den See zu gehen. Hier, an dieser Stelle, an der Vivien den Stein aufgehoben hatte, war ihr ihr Geist das erste Mal begegnet. Sie hockte sich hin und holte den Kiesel aus ihrer Hosentasche. Ihr Atem bildete weiße Dampfwolken, deutlich erkennbar im Licht der Sterne und des Halbmondes. Statt wie in den Nächten zuvor nur langsam ein wenig an Wärme zu gewinnen, begann der Stein direkt in ihrer Hand zu glühen, sobald sie die Augen geschlossen und ihre Gedanken auf Vivien gerichtet hatte. Rascher als sonst bildete sich ein Nebelfeld vor ihr, verdichtete sich, und Viviens Gestalt zeichnete sich ab.


»Seit Tagen hoffe ich darauf, dass du mit mir Verbindung aufnimmst«, sagte Leila.

»Was ist los? Was macht dir Angst?«

»Ich war beim Ältestenrat und sprach davon, dass wir die Kinder beschützen müssen. Es stellte sich heraus, dass inzwischen insgesamt sechs Mädchen verschwunden sind. Ich wurde befragt. Sie wollten wissen, weshalb ich mir Sorgen mache.«

»Du hast ihnen doch nichts von uns erzählt?«

»Nein. Ich sagte, dass du mir im Traum erschienen wärest. Vivi, jemand möchte sich die Kräfte der Mädchen zu eigen machen.«

Verblüfft sah Vivien ihre kleine Schwester an. »Wie kommst du darauf? Ich habe dir nichts erzählt.«

»Nein, aber Eiméar. Leonora kam vor ein paar Tagen völlig verstört nach Hause. Ihr ganzes Haar ist seitdem schneeweiß. Du weißt, was das bedeutet?«

»Sie ist der Göttin begegnet. Aber eigentlich ist es doch nur eine Strähne, die dann weiß wird.«

»Leonora sprach zwei Tage lang kein Wort, so erschüttert war sie von der Vision, die Lishar ihr schickte. Dann sagte sie, wir seien verloren, weil wir die Töchter der Elemente nicht beschützten, sondern zuließen, dass andere sie für ihre Zwecke missbrauchten. – Vivien, ich habe Angst, furchtbare Angst.«

»Was gedenkt der Ältestenrat zu tun?«

»Das weiß keiner. Sie schweigen, und das Schweigen ist viel beängstigender als jedes Wort, das sie reden. Was soll ich machen?«

»Geh und sprich mit Leonora. Erzähl ihr von unserem Geheimnis. Wir müssen mit ihr reden.«

»Wir?«

»Ja. Levarda und ich.«

»Du bist in Forran?«

»Ja.«

»Und Mama?«

»Sie ist mit Sanira in Eldemar geblieben.«

»Aber warum?«

»Erst mal musste ich aus Tinau verschwinden, so war es besser. Ich baue hier ein neues Schiff, und sobald das Wetter es zulässt, werden wir aufbrechen und herauszufinden versuchen, wer hinter all dem steckt. Aber von einem, der damit in Verbindung stand, wissen wir mit Sicherheit, und das muss Leonora erfahren.«

»Wer? Jemand aus Mintra?«

»Wir müssen aufhören. Meine Kräfte schwinden.«

»Vivien?« Leila versuchte tapfer, ihre Tränen hinunterzuschlucken. »Ich liebe dich, Vivien, pass bitte auf dich auf.«

»Ich liebe dich auch, kleine Schwester.«


Genauso rasch, wie die Nebelgestalt erschienen war, verschwand sie auch wieder. Hatte Leila geglaubt, dass das Gespräch mit Vivien ihr die Last vom Herzen nehmen würde, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Sie hatte das Gefühl, ihr sei eine noch größere Last aufgebürdet worden.

18

Wahrheit

Leila setzte sich auf den Stein vor dem Eingang zur Höhle der Zwillinge. Dicke, dichte Felle von Mutaks verhinderten, dass die Kälte in die Wohnstätte eindrang. Ihr wäre bei dem Gedanken, dass jederzeit jemand in die Wohnstube eintreten konnte, unwohl. Sie liebte die Türen in ihrer Hütte, auch die vor ihrem Zimmer. Niemand verschloss in Mintra seine Haustür, und niemand würde einfach in die Höhle von einem anderen eintreten, ohne sich zuvor bemerkbar zu machen und zu warten, dass man hineingebeten wurde, aber dennoch gab die Haustür zusätzlichen Schutz.

Sie rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel. Den ganzen Tag über verspürte sie schon einen unangenehmen Druck im Kopf. Sie fragte sich, ob es Vivien klar war, dass die Geistwanderung inzwischen in Mintra verpönt, ja sogar mit einer Strafe belegt war. Wusste sie, dass sie es Leonora zu verdanken hatte, dass der Ältestenrat sie dem Prozess der Loslösung hatte unterziehen wollen, als sie noch ein Kind war? Wie würde Leonora darauf reagieren, wenn sie ihr erzählte, dass sie und Vivien in Kontakt standen? Und wäre sie überhaupt bereit, sich darauf einzulassen, sich mit Vivien und Levarda auf diese Art auszutauschen? Der dringende Ton in Viviens Stimme hallte nach, genauso wie das Gefühl, das sie an dem Ort empfunden hatte, an dem die Mädchen verschwunden waren.

»Leila, ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr bei uns vorbeischauen.«

Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Leonora gerade nach Hause kam und zu ihr getreten war.

»Würdest du mit in unsere Höhle kommen, damit ich dir helfen kann?«

»Helfen?«

Ein trauriges Lächeln huschte über Leonoras Gesicht. »Ich kann den Druck in deinem Kopf lindern. An der Ursache dafür kannst allerdings nur du allein etwas bewirken. Aber vielleicht hilft es dir, wenn wir darüber sprechen, oder, wenn du mit mir nicht darüber reden möchtest, dann vielleicht mit Eiméar.«

Ohne es zu wollen, traten Leila Tränen in die Augen. Langsam ließ sich Leonora bei ihr nieder und legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Ist es wegen Vivien?«

»Du hast sie verraten.«

»Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen, um zu verhindern, dass ich einen Fehler mache, den ich dann bereue. Es gibt viele davon, doch den mit Vivi bereue ich am meisten, und das liegt vor allem an meinen Beweggründen damals, die ich mir heute selbst nur schwer eingestehen kann.«

»Unsere Familie ist deinetwegen auseinandergebrochen.«

»Ich weiß, und ich möchte dir deshalb alles erzählen. Es wird nichts an dem ändern, was geschehen ist, und vielleicht werde ich eine wertvolle Freundin verlieren, die ich sehr liebe, doch mir ist in den letzten Tagen klar geworden, dass es wichtig ist, offen und ehrlich mit den Menschen zu sein, die uns nahestehen. Wie können wir auf die Liebe von Lishar und Lethos vertrauen, wenn wir dieses Vertrauen nicht in die Menschen setzen, die wir lieben?«

»Ich habe Angst, auch das Letzte zu verlieren, was mir geblieben ist.«

»Lass uns reingehen. Hier draußen zu reden ist bei der Kälte ungemütlich, und außerdem vermute ich, wenn ich den Himmel betrachte, dass ein Sturm aufzieht.«

Leila sah zum Himmel auf, dessen Wolkenfreiheit den ganzen Tag für bittere Kälte gesorgt hatte. Leo hatte recht. Dunkle Wolken sammelten sich über Mintra.

Eiméar blickte von ihrer Schnitzarbeit auf, als sie zusammen eintraten. Das Aroma von frisch geschältem Holz erfüllte die Luft. Der freudig überraschte Ausdruck in Eiméars Gesicht wandelte sich, als sie die Tränenspuren auf Leilas Gesicht entdeckte.

Sie sprang auf und lief ihnen entgegen. »Was ist passiert? Ist etwas mit Marek?«

»Nein, mit ihm ist alles in Ordnung.«

»Lass sie sich setzen, Mea. Haben wir noch warmen Tee? Ich könnte eine Tasse gebrauchen.«

»Ja, über dem Feuer.«

Leila schälte sich aus ihrer warmen, gefütterten Jacke, der Weste und dem Pulli, zog die Mütze vom Kopf und die Handschuhe aus. Auch Leonora entledigte sich ihrer Kleidung, während Eiméar einen Krug mit heißen Tee füllte und Becher zum Esstisch brachte.

»Also, was ist los?«, drang Eiméar erneut auf Leila ein, nachdem diese ihre ersten Schlucke getrunken hatte.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich anfange«, mischte sich Leonora ein.

»Du?« Eiméar war verblüfft.

»Erinnerst du dich noch daran, wie sie uns immer nannten?«

»Das vierblättrige Kleeblatt«, antwortete sie.

»Die stürmische Vivien, die hitzköpfige Eiméar, die abenteuerlustige Levarda und die vernünftige Leonora.«

Eiméar grinste. »Und wie du dich darüber geärgert hast, dass du immer als die Vernünftige bezeichnet wurdest. Ich weiß noch immer nicht, ob du diese Rolle eingenommen hast, weil alle es von dir erwarteten oder weil sie dir lag.«

»Beides spielte eine Rolle. Zu Anfang fehlte mir oft der Mut, bei euren Unternehmungen mitzumachen, weshalb ich versuchte, euch zu bremsen. Später, nachdem ich meinen Wagemut entdeckt hatte, blieb ich dabei, weil die Erwachsenen es erwarteten. Nie hieß es ›Eiméar, was hast du wieder angestellt?‹, sondern immer ›Leonora, wieso hast du nicht besser auf sie achtgegeben?‹.«

»Das war mir nie bewusst.« Leila entging nicht der betroffene Ausdruck in Eiméars Miene.

»In gewisser Weise fühlte ich mich wohl mit meiner Aufgabe, weil ich mich euch überlegen fühlte.«

»Das wiederum hast du uns häufig spüren lassen«, bestätigte Leila.

»Viele hielten Vivien für verantwortungslos, doch du brauchtest sie nur zu beobachten, wenn sie sich um dich kümmerte. Nie hätte sie zugelassen, dass du zu Schaden kommst.« Leonora lächelte.

»Obwohl sie oft leichtsinnig und übermütig war, da gebe ich Leo recht.«

»Manchmal kam es mir so vor, als verbinde die anderen drei, und vor allem dich, Mea, und Vivi, eine tiefere Freundschaft. So, als würde ich zwar akzeptiert, stünde aber auch irgendwie ein wenig abseits.«

»Blödsinn, das hat nie einer von uns gedacht.«

»Ach nein? Und wie war es, als ihr damals das Buch von Larisan entdeckt habt?«

»Wir wussten, dass du uns zwingen würdest, es zum Ältestenrat zu bringen – was wir dann ja auch taten. Wir wollten es nur vorher lesen.«

»Jedenfalls spürte ich nach und nach eine Eifersucht, vor allem weil sich deine Schwester so gut mit meiner Schwester verstand. Ich hatte Angst, dass sich Mea irgendwann von mir abwenden und nicht mehr so viel Zeit mit mir verbringen würde.«

»So ein –«

»Es waren meine Gefühle«, bremste Leonora ihre Schwester, bevor diese weitersprechen konnte. »Lass es mich bitte Leila erklären. Als es dann zu dem Zwischenfall auf dem Sommerfest kam –«

»Was genau ist damals geschehen?«, unterbrach sie diesmal Leila.

»Du erinnerst dich nicht mehr?«

»Nein.«

»Vivien hatte einen riesigen Drachen aus Seidenstoff für dich gebaut. Die anderen Kinder spotteten, dass er viel zu unhandlich sei, um zu fliegen – was auch stimmte. Also half sie nach. Leider dachte sie nicht darüber nach, dass du zu leicht für die Steigkraft des Drachens sein würdest. Du gingst mit in die Luft. Levarda war geistesgegenwärtig genug, um hochzuspringen und dich zu packen, doch auch zu zweit wart ihr noch zu leicht. Der Drachen gewann rasch mit euch an Höhe. Vivien reagierte ebenfalls blitzschnell, aber in der Panik um dich und Levarda verlor sie die Kontrolle über ihr Element. Während sie euch beide mithilfe der Luft sicher auf die Erde brachte, entstanden an den Rändern dieses Windkokons Luftverwirbelungen, die eine mächtige Windrose entstehen ließen, und diese jagte über das Fest. Drei Kinder des Elementes Luft mussten zusammenwirken, um den schlimmsten Schaden zu verhindern. Es gab viele Verletzte und reichlich Schaden, aber gestorben ist an dem Tag niemand. Die Erwachsenen dachten, die Windrose wäre auf natürliche Weise entstanden, aufgrund der Wetterverhältnisse. Erst durch mich erfuhren sie, dass Vivien dahintersteckte. Dabei wollte sie nur dich und Levarda beschützen.«

»Sie hätte den Wind erst gar nicht in den Drachen lenken sollen, dafür war es an dem Tag viel zu stürmisch«, verteidigte Eiméar sie nach der kurzen Stille.

»Jetzt erinnere ich mich. Ich hatte furchtbare Angst, als mich der Drachen in die Luft hob. Ich klammerte mich an der Schnur fest, doch als Levarda mit ihrem Gewicht an meinen Beinen hing, rutschte sie mir langsam durch die Finger. Seltsam, dass ich das völlig aus meinen Gedanken verdrängt habe.«

»Ich glaube, das ist normal. Manchmal wollen wir uns nicht mehr an Dinge erinnern, die unser Herz schwer werden lassen. Ist es das, was dir so viel Kummer bereitet?«

»Nein. Ich habe Angst, davor, dass du sie ein zweites Mal verrätst.«

Leonora runzelte die Stirn. »Wieso sollte ich das? Es gibt keinen Grund dafür, und selbst wenn, so hätte es keinen Einfluss auf ihr Leben.«

Leila schwieg, senkte den Kopf und starrte auf die Maserung des Holztisches, als stünde dort die Antwort auf ihre Frage. Wie konnte sie es am geschicktesten formulieren?

Sanft legte Leonora eine Hand auf ihre Hand. »Wie ich bereits draußen sagte – ich wünschte, ich könnte mein damaliges Handeln ungeschehen machen, aber das geht nicht. Noch vor ein paar Tagen, bevor ich glaubte, einen kleinen Jungen getötet zu haben …«

Entsetzt riss Leila den Kopf hoch und starrte Leonora in die Augen, in denen das Licht der Flammen zu tanzen schien.

»Ja, Leila, ich beendete Samins Leben. Sein Herz blieb stehen, weil ich den Fluss seines Blutes unterbrach. Niemand außer Eiméar, Kaja und Elija wissen es.«

»Aber …« Sie suchte verzweifelt nach Worten für die furchtbare Tat, sah die gramgebeugte Ruth, die aufgehört hatte, zu sprechen und am Leben teilzuhaben.

»Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass die Situation es erfordern kann, dass die Heilerin einem Körper zu sterben hilft, damit die Seele keinen Schaden nimmt und in das Licht gehen kann.«

»Ich verstehe nicht.«

»Mir fällt es auch sehr schwer, es zu verstehen, obwohl Kaja und Elija es mir ausführlich erklärten. Und es nimmt mir keineswegs die Schuldgefühle, die ich empfinde, weil ich die Verantwortung für seinen Tod trage. Das wird mich für den Rest meines Lebens begleiten.«

Eiméars warme Stimme durchbrach die darauffolgende Stille: »Das ist es, was dich ausmacht, Leo, dass du bereit bist, die Verantwortung zu übernehmen und zu deinen Entscheidungen zu stehen, auch wenn dir die Last unendlich schwer erscheint.«

»Vivien besucht mich«, platzte Leila heraus.

Leonora zog erstaunt die Augenbrauen hoch, und Eiméar verzog verwirrt das Gesicht.

Bevor der Mut sie wieder verlassen konnte, sprach Leila hastig weiter: »Von ihr weiß ich, dass auch in anderen Ländern Mädchen verschwunden sind. Levarda und Vivien versuchen herauszufinden, was geschieht. Sie möchten mit dir sprechen und haben mich gebeten, dir vorzuschlagen, uns gemeinsam zu treffen. Ich weiß, dass es verboten ist, aber ich glaube, und ihr beide habt es an dem Abend ja auch gesagt, dass jemand die Fähigkeiten der Mädchen für seine Zwecke missbraucht.«

»Moment, Moment, Leila. Ich weiß nicht, wie es Leo geht, aber du bist mir gerade viel zu schnell. Eins nach dem anderen. Was meinst du damit, dass Vivien dich besucht?«

»Du meinst, sie kommt mit einem Schiff? Aber wieso weiß Marek das nicht? Ist ihr klar, welches Risiko sie eingeht, wenn jemand sie erwischt, wie sie Mintra betritt?« Leonora stockte plötzlich und riss die Augen auf.

Als Leila den Schock darin sah, wusste sie, dass Leo verstanden hatte, was sie meinte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und kurz schloss sie die Augen, sandte ein stummes Gebet an Lishar. Sie konnte nur hoffen, dass die Zwillinge zu ihr halten würden, wie sie es seit dem Tag, an dem ihre Familie zerbrach, getan hatten.

»Sie kann auf diese Distanz ihren Geist wandern lassen?«

Aus Leos Stimme klang mehr verblüffte Neugierde und Hochachtung als Entsetzen oder Ablehnung darüber, dass sie es praktizierte.

»Wovon sprecht ihr, in Lethos’ Namen? Ich verstehe kein Wort.«

»Kinder des Elementes Luft sind in der Lage, ihren Geist vom Körper getrennt auf eine Reise zu schicken.«

»Und was geschieht in der Zeit mit dem Körper?«

»Der Herzschlag reduziert sich, die Temperatur sinkt, alles verlangsamt sich, bis das Herz schließlich stehen bleibt. Wenn zu viel Zeit vergeht, bevor der Geist in den Körper zurückkehrt, stirbt er.«

»Bei Lethos, und was geschieht in dem Fall mit dem Geist?«

»Er bleibt, kann nicht ins Licht gehen und wird zu einem Teil der Dunkelheit. Doch es gibt noch eine weitere Gefahr. Irgendjemand kann den Körper auch fortbringen, während er wartet, sei es in guter oder in böser Absicht, und der Geist findet ihn nicht. Das Ergebnis ist dasselbe. Darum wurde es inzwischen vom Ältestenrat verboten.«

Ernst und nachdenklich schaute Leonora Leila an. »Ist Vivien klar, wie gefährlich es ist, was sie tut? Es muss sie über die Maßen viel Energie kosten. Wie findet sie dich überhaupt? Ich meine, du bist keine Tochter der Elemente. Es gibt keine Verbindung über eure Energie oder sonst etwas, was ihr als Orientierung dienen kann.«

Zögernd griff Leila in ihre Hosentasche und holte den Stein hervor. Sie öffnete ihre Faust, und die Zwillinge sahen einen Moment den Stein stumm an.

»Das ist ein Stein, und?«, sagte Eiméar.

»Ein schwarzer Kiesel, wie man ihn zuhauf an den Ufern des Sees Luna findet«, präzisierte Leonora.

»Vivi hat ihn mir zum Abschied geschenkt. Sie hob ihn auf und drückte ihn mir in die Hand, dann nahm sie einen weiteren und sagte zu mir, dass diese Steine uns verbinden würden. Wann immer sie ihren in der Hand hielte, würde sie an mich denken, und wann immer ich meinen in der Hand hielte und an sie dächte, würde sie es spüren. Ich war damals ein kleines Mädchen, voller Bewunderung für meine große Schwester, die mich durch die Luft schweben lassen konnte. Nicht einen Augenblick zweifelte ich an ihren Worten. Anfangs hielt ich den Kiesel oft in der Hand. Manchmal war er kühl und glatt, doch dann gab es Augenblicke, da lag er warm in meiner Hand. Hin und wieder glühte er regelrecht, vor allem, wenn ich weinte, weil ich Mama und Vivi so sehr vermisste. Wenn ich abends ins Bett ging, legte ich ihn unter mein Kopfkissen oder hielt ihn fest in der Hand. Eines Morgens konnte ich ihn nicht finden. Ich bekam Panik und wurde hysterisch. Dann kam Papa rein, suchte ihn mit mir, und wir fanden ihn wieder. Er war nur zwischen die Matratze und den Rahmen gefallen.«

Unwillkürlich schloss sie die Faust bei der Erinnerung, wie furchtbar der Gedanke gewesen war, dass sie ihn verloren hatte.

»Papa ging mit mir zu den Ufern des Sees, und wir sprachen lange miteinander. Dort erklärte er mir, dass der Kiesel nur ein Stein sei, so wie die anderen, und dass es keine echte Verbindung wäre, lediglich ein Symbol. Er löste ein Lederband von seinem Hals, an dem eine halbe aus Gold geschmiedete Sonne und ein halber aus Silber geschmiedeter Mond hingen. Er erzählte mir, dass Mama die anderen Hälften um ihren Hals trüge. Ich verstand, was er mir sagen wollte. Dass der Stein für mich einen Wert besitzt, mein Leben aber nicht von ihm abhängt und dass Vivien weiterhin meine Schwester bleibt und an mich denkt, egal ob ich den Stein in der Hand halte oder nicht. Um mich von meiner Abhängigkeit zu heilen, ließ ich den Stein fortan in meinem Zimmer, wenn ich zu den Pferden ging. Doch genauso gut hätte ich versuchen können, meine Hand zu Hause liegen zu lassen. Er war ein Teil von mir. Irgendwann in der Phase des Wechsels vom Kindsein zum Erwachsensein wurde ich furchtbar wütend auf Mama und Vivi, weil sie uns verlassen hatten. Ich ging zum See und warf den Stein in hohem Bogen ins Wasser. In der Nacht bekam ich Albträume. Ich irrte in einer undurchdringlichen Finsternis umher. Es war eiskalt, ich fror, fühlte mich traurig, wütend, hoffnungslos, ängstlich, alleingelassen und verbittert, und das alles zugleich. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd erwachte ich völlig verzweifelt, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich den Stein wiederfinden sollte. Ich hätte ihn unter all den Steinen erkannt, denn nach den vielen Jahren, in denen ich ihn in der Hand gehalten und betrachtet hatte, kannte ich alle seine Rundungen, jedes noch so winzige Detail, das ihn von all den anderen Seekieseln unterscheidet. Aber ich hätte nicht mal annähernd mehr sagen können, an welcher Stelle ich ihn ins Wasser geworfen hatte und wie weit er im See gelandet war.«

Sie öffnete ihre Hand und betrachtete den Stein liebevoll, strich mit dem Zeigefinger sachte über seine Oberfläche, als würde sie über das seidige, knisternde Fell von Bons streichen, nachdem sie ihn gestriegelt hatte. Sie hob den Kopf, sah erst Eiméar in die Augen, dann Leonora. Beide hatten ihrer Schilderung gebannt gelauscht und warteten, dass sie fortfuhr.

»Und da lag er«, wisperte sie, »auf meinem Nachttisch, als wäre alles nur ein Traum gewesen. Vermutlich denkt ihr jetzt, dass ich verrückt bin. Aber ich schwöre euch, es ist der Stein, den mir Vivien damals schenkte. Kurz darauf starb Zissel, mein erstes eigenes Pferd. Ich nahm den Stein in die Hand, weinte bitterlich, und er begann zu glühen, Nebel stieg vom Boden auf, und eine Gestalt bildete sich heraus. Erst waren es nur die groben Züge, die aber feiner und feiner wurden, so detailliert, dass ich Vivien erkannte, obwohl es so lange her war, obwohl sie erwachsener geworden und ihr Bild in meinen Erinnerungen verblasst war.«

»Das liegt daran, dass es die pure Essenz des Menschen ist, den du auf diese Weise siehst. Wenn du eine Tochter der Elemente bist, nimmst du diesen Schein, den wir als Aura bezeichnen, sichtbar wahr. Du hingegen kannst ihn spüren, wenn du bereit bist, dich darauf einzulassen. Darf ich?«

Unwillkürlich schloss Leila die Faust. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Finger für Finger öffnete sie die Hand. Äußerst behutsam nahm Leonora den Stein auf ihre Handfläche. Neugierig betrachtete Eiméar ihn.

»Also für mich sieht er ganz gewöhnlich aus. Kannst du was bemerken?«

»Nein.«

Leila sank das Herz in die Hose. Sie glaubten ihr nicht. Aber es war keine Einbildung. Leonora schloss die Augen, konzentrierte sich und ballte die Hand um den Stein. Leila verspürte den Drang, sich den Kiesel zurückzuholen, beherrschte sich aber.

Die Stirn nachdenklich gerunzelt schüttelte Leonora den Kopf. »Ein ganz normaler Kiesel.«

Erbost schnappte sich Leila den Stein und sprang auf. »Es ist mir egal, ob ihr mir glaubt oder nicht. Ich werde Vivien helfen, und wenn ihr euch lieber hinter dem Ältestenrat verkriechen wollt, dann macht es.«

»Hey, jetzt mal ganz ruhig. Manchmal glaube ich, du bist zu viel mit mir zusammen. Wir glauben dir«, beteuerte Eiméar, und als ihre Schwester nichts sagte, sah sie zu ihr hinüber. »Leo?«

Leonora blickte auf. »Wir glauben dir. Lass uns mal etwas anderes versuchen. Dafür musst du dich aber hinlegen.«

Skeptisch musterte Leila sie.

»Du vertraust mir doch?«

Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie sich die Nasenwurzel, wo der dumpfe Schmerz in ihrem Kopf klopfte.«

»Schau, ich glaube, dass ich die falsche Person bin. Der Stein reagiert auf dich. Vielleicht machst du etwas, ohne es zu wissen, damit die Verbindung entsteht. Wenn du dich hinlegst und es mir erlaubst, werde ich meine Energie in dich einfließen lassen. Ich werde es so machen, dass du mich genau beobachten kannst. Dann konzentrierst du dich auf Vivien, und wir sehen, was geschieht.«

»Also gut.« Sie stand auf und ging zu einer der Schlafstätten.

Leonora setzte sich zu ihr ans Bett, während Eiméar, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Rücken an der Höhlenwand daneben stehen blieb. Sachte legte Leonora ihre Zeigefinger auf die Mitte von Leilas Stirn, nahm, die Finger zu den Schläfen bewegend, die anderen hinzu, strich weiter über Wangenknochen und Ohren zum Nacken und zu ihren Schultern, die Arme entlang bis zu den Fingerspitzen. Sie setzte neu an, diesmal direkt beim Übergang vom Hals zum Oberkörper, dort, wo zwei Knochen aufeinandertreffen und es einen münzgroßen Leerraum gibt. Auch hier bewegte sie die Finger von der Mitte weg, an den Seiten des Oberkörpers entlang bis hinunter zu den Fußspitzen. Diese Prozedur wiederholte sie dreimal.

Leila merkte, wie sich ihre Muskeln entspannten. Die Augenlider fielen ihr zu. Alles wurde schwer. Das dumpfe Klopfen in ihrem Kopf, das sie heute den ganzen Tag gespürt hatte, löste sich in Nichts auf. Sie fühlte die Finger an ihrem Hals, fühlte das Pulsieren ihres eigenen Herzens und den Takt eines zweiten, das sich ihrem anpasste, und dann tauchte Leonora in ihren Gedanken auf – mit weizenblondem Haar wie früher, bevor sie Lishar begegnet war.

Die Szene veränderte sich. Leo hielt sie in den Armen, strich ihr tröstend übers Haar. Wärme und Geborgenheit krochen durch ihre Adern. Sie erinnerte sich gut an diesen Moment. Wieder einmal hatte Bernadette, die Heilerin, sie mit Worten malträtiert. Doch diesmal spürte sie keinen Schmerz dabei. Gemeinsam wanderten sie zurück in der Zeit, bis sie bei dem Tag ankamen, an dem Vivien sich am Ufer des Sees Luna von ihr verabschiedete. Die Bilder waren so lebhaft, dass Leila glaubte, wieder vier Jahre alt zu sein. In einem intensiven Türkisblau leuchteten die Augen ihrer Schwester, ihre lockigen Haare waren karottenrot, umrahmten aber anders als damals gepflegt ihren Kopf. Sie konnte jede einzelne der Sommersprossen sehen, die zu Hunderten ihre Nase und ihre Wangen bedeckten, erkannte das vorwitzige Kinn, aber vor allem ihr verschmitztes Grinsen wieder, das sie immer zu begleiten schien, als wollte sie jeden Moment etwas aushecken.

Der Stein in ihrer Hand gewann schlagartig an Hitze und begann zu glühen. Intensiv fing die Gestalt ihrer Schwester an zu leuchten. Ein strahlendes Licht war es, das von innen kam und nach außen strahlte, bis sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können. Unvermittelt verblasste alles. Sie hockte allein, dick vermummt in ihrer Jacke, die sie gestern, bei ihrer Begegnung mit Vivien getragen hatte, am Ufer des Sees. Die Worte ihres Gespräches erklangen noch einmal.

Langsam löste sich Viviens Gestalt auf. Der Finger an ihrem Hals wurde weggenommen. Leila öffnete die Augen.

Ehrfürchtig sah Leonora sie an. »Das ist unglaublich. Noch nie habe ich von etwas Derartigem gehört und auch noch nie darüber gelesen. Ich muss unbedingt mit Elija darüber sprechen.«

»Das wirst du nicht«, sagte Eiméar entschieden.

Leonora atmete tief durch. »Du hast recht. Es wäre mir nur lieber, wenn jemand mit mehr Erfahrung und mehr Wissen uns helfen würde.«

»Wer sagt dir, dass jemand mehr darüber weiß? Was, wenn es zum ersten Mal geschieht? Was, wenn es der Pfad ist, der uns allen vorherbestimmt ist?«

»Mag sein, oder es führt genau zu dem, was wir alle vermeiden wollen. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob wir es wagen können, uns auf diese Weise mit Vivien und Levarda zu treffen. Wir gehen damit ein hohes Risiko ein. Du weißt doch, dass das Ritual inzwischen verboten ist, wenn also jemand vom Ältestenrat davon erfährt –«

»Dann können wir uns damit auseinandersetzen«, unterbrach Eiméar sie. »Vivien mag leichtfertig handeln, aber Levarda? Sie würde es niemals ohne einen triftigen Grund vorschlagen.«

Leonora blies die Wangen auf und stieß die Luft aus. »Gebt mir Zeit. Ich möchte wenigstens ansatzweise verstehen, wie das alles auf diese Distanz und dann noch mit einer weiteren Person dabei funktionieren soll. Keinem wäre damit gedient, wenn einer von beiden etwas passiert.«

In Eiméars Augen begann ein Feuer zu glimmen. »Dann ist es beschlossen.«

Ein Schauer lief Leila bei Eiméars Worten über den Rücken, als hätten sie einen Eid geleistet, der ihrer aller Schicksal besiegelte.

19

Ruth

Langsam ging Leonora den Pfad entlang, der zu dem Haus von Ruth und Alvar führte. Noch immer wohnte Alvar im Haus seiner Eltern in einer kleinen Kammer. Er war nicht zu seiner Familie zurückgekehrt. Jolanda, die vor Samins Tod als ihre Novizin die Heilkunst erlernt hatte, blieb nun dem Haus der Heilung fern. Leonora vermisste das Mädchen, seine Stille und Ernsthaftigkeit. Bisher hatte sie es vermieden, das Haus der Familie zu betreten. Es kam ihr falsch vor, doch die Sorge um Jolanda und Ruth ließ ihr keine Ruhe. Sie fühlte sich verantwortlich für das Wohlergehen der beiden – eine Bürde, die sie auf sich genommen hatte, weil sie wusste, dass Samin es von ihr erwartete.

Die Winterstürme hatten nachgelassen. Die erste wärmere Brise hatte den Schnee schmelzen lassen und die Pfade in schlammige Wege verwandelt. Sorgsam suchte sie Steine oder einigermaßen festen Untergrund für ihre Füße. Als sie vor der Tür der Hütte ankam, klebten an ihren Lederschuhen dicke Lehmklumpen, und ihr Umhang hatte sich mit der dreckigen Feuchtigkeit vollgesogen. Sie holte tief Luft und klopfte beherzt an, bevor der Mut sie verlassen konnte. Sie wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis Jolanda öffnete. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, und ihr längliches Gesicht hatte eine graue Farbe. Ihr kastanienbraunes Haar, das im Sonnenlicht in einem dunklen Rot glänzte, wirkte strähnig und stumpf. Über ihr Gesicht huschte ein freudiges Strahlen, das sofort wieder verblasste.

»Leonora«, sagte sie und warf rasch einen besorgten Blick hinter sich in die Stube.

»Jolanda, darf ich eintreten?«

Das Mädchen blockierte die Tür. »Ich weiß nicht. Mama mag keine Besuche.«

»Ich verstehe. Ich bin gekommen, weil ich ihr helfen möchte.«

»Oma hat alles versucht. Nichts hilft.« Tränen stiegen Jolanda in die Augen. »Oma sagt, manchmal bricht ein Herz vor lauter Kummer, und wir können nichts daran ändern, sondern müssen es akzeptieren.«

»Glaubst du das auch?«

»Ich weiß nicht. Ich dachte, wenn wir beide allein sind, wenn Papa aufhört, sie zu bedrängen und mit ihr zu schimpfen …  Wenn ich sie einfach in Ruhe lasse oder ihr zeige, wie sehr ich sie liebe und brauche, dass sie wieder zu mir zurückkehrt, aber ich erreiche sie nicht.« Sie schluckte hart. »Vielleicht hat Oma recht, und ich muss es akzeptieren.«

Leonora holte ein Fläschchen mit einer hellgrünen Flüssigkeit aus dem Korb. Vor langer Zeit hatte eine Tochter des Elementes Erde gemeinsam mit einer Tochter des Feuers eine Möglichkeit entdeckt, aus einem speziellen Sand und anderen Erdbestandteilen unter Einwirkung von Hitze Glasgefäße herzustellen. Anfangs waren die Mintraner das einzige Volk gewesen, das derartige Gefäße herstellte und für die Aufbewahrung spezieller Heiltränke verwendete. Die Forraner übernahmen als Nächste das Wissen über die Herstellung von Glas, und von Forran pflanzte es sich über ganz Alurin fort. Die Handwerksmeister ließen sich ihre Arbeit gut bezahlen. In den Adelsfamilien galt die Verwendung von Glasgeschirr bei Feiern als Zeichen von Wohlstand. Die Mintraner verwendeten Glas ausschließlich in der Heilkunst, denn für den Hausgebrauch war es zu empfindlich, da es leicht zerbrach.

Leonora blinzelte Jolanda zu. »Die letzten drei Tage habe ich mich ausschließlich mit der Herstellung dieses Heiltranks beschäftigt. Lass uns sehen, ob er etwas bewirken kann.«

Das Mädchen knabberte an seiner Unterlippe.

Sie ließ ihr Zeit, darüber nachzudenken.

»Es ist etwas unordentlich bei uns.«

»Das ist es bei uns auch manchmal.«

Sie folgte Jolanda, die sich umgedreht hatte, in die Stube und schaffte es gerade noch, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern, als diese sich erneut zu ihr umdrehte.

»Ich habe dich gewarnt.«

Gebrauchtes Geschirr stapelte sich auf dem Tisch. Der Boden war mit Essensresten und Staub bedeckt. Schlammspuren breiteten sich vom Eingangsbereich her im gesamten Raum aus. Schmutzige Kleidungsstücke lagen auf einem Haufen, daneben stand ein Bottich mit Seifenlauge und einem Waschbrett darin.

Ruth saß auf einem Hocker, die Arme verschränkt, und wiegte sich langsam hin und her.

»Schau, Mama, wir haben Besuch. Leonora ist gekommen.«

Die junge Frau blickte nicht einmal auf. Ihr Blick war starr auf einen Punkt auf der Wand gerichtet, jedoch nach innen, nicht nach außen. Tränen flossen Jolanda über die Wangen und tropften auf den dreckigen Boden.

Entschlossen stellte Leo ihren Korb ab, befreite sich von ihrem Umhang, hängte ihn an den Haken an der Tür und zog sich die schlammverschmierten Schuhe aus. Sie krempelte die Ärmel ihres Kleides hoch. »Auf geht’s, junge Dame, jetzt schaffen wir hier erst einmal Ordnung.«

Bei Lishar, dachte sie bald darauf, das Mädchen kann arbeiten. Es war, als hätte Jolanda nur darauf gewartet, dass jemand sie aus der Lethargie und Verzweiflung holte. Und darum ging es: Sie musste sehen, dass ihr Handeln etwas bewirkte, und wenn es nur eine saubere Hütte war. Zwischendrin fachte Leonora die Feuerstelle neu an, brachte Wasser zum Kochen und setzte zwei Getränke an. Beide basierten auf einer anregenden Kräutermischung, aber eines davon versetzte sie für Ruth mit dem halben Inhalt des Fläschchens. Das andere war für sie und Jolanda.

Gemeinsam spülten sie das Geschirr, wuschen die Wäsche, wrangen sie aus und hängten sie auf einer Leine quer durch den Raum zum Trocknen auf. Zuvor hatte Leonora den Boden gefegt. Nachdem die Wäsche aufgehört hatte, zu tropfen, wurde der Boden mit Bürsten ordentlich geschrubbt. Je länger sie Hand in Hand arbeiteten, desto ausführlicher antwortete Jolanda auf die Fragen, die Leonora ihr ganz beiläufig stellte. Sie wollte, dass Jolanda aus ihrer Grübelei herauskam und die Last auf ihren Schultern ablegte. Indem sie Jolandas Gedanken auf die alltäglichen Aufgaben des Lebens lenkte, bewirkte sie, dass sie sich nicht mehr endlos um ihre Sorgen drehten. Bei jeder Vollendung einer häuslichen Arbeit, deren Ergebnis sie direkt sehen konnte, bekamen ihre Augen ein wenig von ihrem früheren Glanz zurück. Leonora verstand sie nur zu gut. Selbstzweifel und Hilflosigkeit konnten einen übermannen, wenn man Tag für Tag versuchte, an dem Zustand eines Menschen etwas zu verändern, und es doch Tag für Tag misslang.

Jolanda war immer eine ordentliche, ja penibel auf Sauberkeit bedachte Schülerin gewesen. Der chaotische Zustand der Hütte spiegelte den chaotischen Seelenzustand des Kindes wider. Indem sie in der äußeren Welt Ordnung schafften, setzten sie den inneren Prozess der seelischen Heilung in Gang. Dieser würde sehr viel länger dauern, durch Höhen und Tiefen gehen, die das Mädchen allein bewältigen musste. Aber das hier war der erste Schritt, um Jolanda Zuversicht zu geben, ihr zu zeigen, dass sie etwas tun konnte, statt sich als hilfloses Opfer des Schicksals zu fühlen.

Es war ein harter Tag häuslicher Arbeit. Sie beide waren schließlich verschwitzt, ihre Haare feucht und ihre Wangen gerötet. Es war lange her, dass Leonora körperlich so viel im Haushalt geschuftet hatte, denn meistens übernahm Eiméar diese Aufgaben, weil sie mehr Zeit zu Hause verbrachte und so ihre überschüssige Energie abarbeitete. Immer wieder war sie kurz zu Ruth hinübergegangen und hatte sie sanft gezwungen, drei Becher des Getränks zu trinken.

»Jetzt haben wir uns eine ordentliche Mahlzeit verdient.« Leonora schmunzelte vergnügt, als sie Jolandas Magen knurren hörte, und blinzelte ihr zu.

Jolanda nickte. »Ich setze einen Getreidebrei auf.«

»Das brauchst du nicht. Schau mal in meinen Korb.«

Neugierig ging Jolanda hin und lupfte das Tuch. Ein breites Grinsen erschien in ihrem Gesicht. »Kräuterbrot, Schinken, Hühnchen und Haferkekse!«

»Von deiner Oma, und sie lässt dir ausrichten, dass sie heute Abend mit einem kräftigen Eintopf vorbeikommt.«

»Mama wird immer hektisch, wenn Oma die Hütte betritt. Einmal hat sie sich die Ohren zugehalten und angefangen zu schreien. Es war furchtbar. Seitdem bleibt Oma draußen.«

Sie warfen beide einen Blick hinüber zu Ruth. Diese hatte aufgehört, sich hin- und herzuwiegen. Ihre Hände lagen gefaltet im Schoß, ihre Augen hatte sie auf das Feuer gerichtet, das lustig vor sich hinflackerte.

»Sie sitzt still«, wisperte das Mädchen ehrfürchtig.

»Komm, lass uns was essen.«

»Was ist mit Mama?«

»Ich gebe ihr später etwas, während du mir erzählst, welche Pflanzen zu den Nachtschattengewächsen zählen und welche davon du wie in der Heilkunst einsetzen kannst.«

»Puh, das sind jede Menge, mit vielen Anwendungsmöglichkeiten. Und seit Samin …« Sie brach ab. »Es ist lange her, dass ich das letzte Mal in meine Aufzeichnungen geschaut habe.«

»Deshalb möchte ich wissen, was du noch weißt, und dann frischen wir dein Wissen auf, bevor wir damit beginnen, es zu erweitern.«

Erneut warf das Mädchen der Mutter einen Blick zu. »Ich kann sie nicht alleinlassen.«

»Ich komme jeden Tag zu dir, so lange es notwendig ist.«

Mit großen Augen sah Jolanda sie an. »Das würdest du tun?«

»Für meine begabteste Novizin tue ich alles.«

Das Mädchen lächelte verlegen. Doch Leonora erkannte auch den Stolz in ihrem Gesicht. Lob und Anerkennung, Aufgaben und Herausforderungen, das waren die besten Mittel für den Heilungsprozess dieser verletzten Seele. Verstohlen schaute sie zu Ruth hinüber. Insgeheim hatte sie sich von dem Mittel, in das sie so viel Mühe gesteckt hatte, mehr erhofft. Dieser Fall schien auch von ihr viel Geduld zu erfordern. Sie hätte es wissen müssen, nachdem Kaja ihr gestern die Familiensituation geschildert hatte. Eine so erfahrene Heilerin wie sie stieß selten mit ihrem Wissen an ihre Grenzen. Leonora hatte es auf die familiäre Bindung geschoben, hatte gedacht, dass Kajas Gefühle ihre Objektivität beeinflussten. Nun, sie würde etwas Neues zusammenmischen müssen.

Während Jolanda all die leckeren Sachen bereitstellte, deckte Leonora den Tisch und füllte die Becher mit dem anregenden Getränk auf. Das hatten sie sich beide nach der harten Arbeit verdient. Der Duft von Lavendel, den sie dem Wischwasser hinzugefügt hatte, erfüllte den Raum. Alles glänzte, wirkte freundlich und aufgeräumt.

Sie biss in das Kräuterbrot und verdrehte genussvoll die Augen, während Jolanda sich als Erstes einen Haferkeks einverleibte.

»Du bist wie dein Bruder, der hat auch immer zuerst die Kekse gegessen.« Aufmerksam beobachtete sie Jolandas Reaktion.

Sie lächelte traurig und griff nach einem weiteren Keks. »Und wenn ich nicht schnell genug war, hat er sie mir alle weggegessen.«

»Um dann deiner Oma gegenüber zu behaupten, er hätte nur drei Stück abbekommen.«

»Sie wusste aber genau, dass er schwindelte – ich vermisse ihn sehr.«

»Das wird nie vergehen. Immer wieder wird etwas in deinem Leben geschehen, das dich an ihn erinnert, und das ist gut, denn auf diese Weise lebt er fort. Nicht nur in dir, sondern in uns allen.«

»Ich habe zu Lishar gebetet, dass sie seinem Leiden endlich ein Ende bereitet. Ich wusste nicht, wie lange ich es noch ertragen kann. Dabei habt eigentlich ihr beide gelitten, denn du hast seine Schmerzen geteilt. Als er seinen letzten Atemzug machte, war ich unendlich dankbar. Bin ich ein schlechter Mensch?«

Leonora schwieg, suchte nach den rechten Worten, um Jolanda die Schuldgefühle zu nehmen, ohne dabei die eigenen zu verringern.

»Danke«, erklang es leise.

Sie zuckten beide erschrocken zusammen.

Ruth stand auf, kam zu ihnen an den Tisch und setzte sich neben Leonora.

Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag.

Dicke Tränen hingen in Ruths Wimpern, und ihr Gesicht sah aus, als wäre sie seit dem Tod ihres Sohnes zehn Jahre gealtert. Die Wangen erschienen hohl, die Hand wirkte knöchern, als sie sie hob. Leonora musste sich zurückhalten, um ihren Kopf nicht wegzuziehen, als Ruths Finger durch ihr silbernes Haar strichen.

Jolanda hatte kein Wort über ihre veränderte Haarfarbe verloren. An dem Blick, den sie jetzt darauf warf, erkannte sie, dass es ihr überhaupt nicht aufgefallen war.

»Du bist Lishar begegnet.« Ruths Stimme knisterte wie ein vertrocknetes Blatt im Herbst, auf das man tritt.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jolanda zwischen ihnen beiden hin und her.

»Anda«, sagte Ruth und verwendete den Kosenamen für ihre Tochter, »es ist unhöflich, einen Gast so anzustarren. Klapp den Mund zu, jeder kann sehen, was du isst. Brichst du mir ein Stück Brot ab?«

Einen Moment schien es so, als wäre das Mädchen zu einer Salzsäule erstarrt, dann regte es sich, brach hastig ein Stück des Kräuterbrotes ab und schob es ihrer Mutter hinüber. Die begann, es in kleine Stücke zu zerteilen, schob ein winziges Stück in den Mund, kaute und kaute.

»Ja, das bin ich, und bevor du mich fragst, es macht mich kein bisschen klüger. Ich wünschte, es wäre nie passiert.«

»Früher galten die Götter als hart, aber gerecht. Die Liebe kam erst mit dem Bündnis, das Chandini mit Lishar schloss. Aber sie als liebevoll zu betrachten, wäre trügerisch. Es wiegt dich in Glückseligkeit, bis Gott zuschlägt und dir das Wertvollste aus deinem Leben reißt, von dem du glaubtest, es würde dich weit überdauern.«

Leonora hielt die Luft an. Das Mädchen verhielt sich mucksmäuschenstill.

»Es gibt keine Antwort auf das Warum, egal wie lange ich danach suche. Es gibt keinen Sinn im Tod, so dachte ich.« Eine Träne tropfte auf die Tischplatte, blieb dort wie ein kleiner Kristall liegen. Ruth legte eine zitternde Hand auf eine von Leonoras Händen. »Du hast ihn erlöst. Du hast seiner Seele geholfen, ins Licht zu gehen. Dort wird er auf uns warten, bis unsere Zeit gekommen ist. Er hat Platz gemacht für ein anderes Leben.«

Ruth wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange. Dann richtete sich ihr Blick auf ihre Tochter. »Es tut mir leid, Jolanda, dass ich dir so viel Kummer bereitet und dich mit all dem alleingelassen habe. Du musst ja glauben, ich würde dich nicht lieben.«

Das Mädchen hob zum Protest an, aber die Mutter stoppte sie, indem sie sich über den Tisch beugte und ihr über das Haar strich.

Jolanda begann zu weinen.

Ruth erhob sich, eilte zu ihr, setzte sich auf den Stuhl neben sie und zog sie in ihre Arme. Das Mädchen schmiegte sich an ihre Brust wie ein kleines Kind, das es ja eigentlich auch war.

»Weine ruhig, meine kleine Anda, ich bin für dich da. Ich liebe dich. Ich musste lernen, meine Angst vor dem Schmerz zu überwinden. Dem Schmerz, den es bedeutet, wenn man jemanden verliert, den man so sehr liebt, dass man bereit wäre, sein eigenes Leben für das Leben desjenigen zu opfern. Ich werde nie wieder die sein, die ich war. Es wird weiterhin Momente geben, in denen mich die Erinnerung an Samin überwältigt und mir die Luft zum Atmen nimmt. Aber ich verspreche dir, dass ich fortan schnell zu dir zurückkehren werde. Wir beide werden einen Weg finden, weiterzuleben.«

»Und Papa?«

»Und Papa, wenn er noch will.«

Leise erhob sich Leonora und schlich zur Tür. Sie nahm den feuchten, verschmutzen Umhang und die schmutzigen Schuhe, warf einen letzten Blick in die Stube zu den beiden in Liebe vereinten Menschen. Eine warme Aura leuchtete um sie, die bis zu ihr reichte und sie einhüllte. Jedes Kind, geboren aus der Liebe zweier Menschen, war ein Wunder auf Erden, und manchmal verstanden die Eltern, dass es eine Kostbarkeit ist, die es zu hüten gilt, und keine Selbstverständlichkeit.

20

Liebe

Kaum hatte sie am nächsten Tag das Haus der Heilung betreten, fiel Kaja ihr um den Hals. »Bei Lishar, wie hast du das geschafft? Wir hatten alle bereits jede Hoffnung aufgegeben.«

»Ruth hat sich allein aus der Dunkelheit befreit. Sie war viel zu tief drinnen, als dass jemand von uns sie noch hätte erreichen können. Ich gab ihr nur die Erinnerung an das Licht zurück.«

»Aber wie?«

»Die Grundsubstanz ist das Wasser aus dem See Luna, dazu mischte ich die Sternenblume, die Trauer lindert, du weißt schon, das Zwiebelgewächs mit den sternförmigen, innen weißen Blüten. Außen sind sie grün mit einem weißen Rand. Es wächst nur im Frühjahr.«

»Das hatte ich Ruth in einer hohen Konzentration gegeben, aber es hat nichts bewirkt.«

»Du bist von deinen eigenen Gefühlen ausgegangen. Du hast in deinem Leben viel Tod und Trauer erlebt und weißt, dass sie zum Leben gehören. Wir alle wissen es auch, wollen es aber nicht wahrhaben. Und das ist gut so. Wenn wir nur daran dächten, dass wir die, die wir lieben, verlieren könnten – wer fände jemals den Mut, die Liebe in seinem Leben zuzulassen?«

»Ist das der Grund, weshalb weder du noch Eiméar Anstalten macht, euch einen Partner zu suchen?«

Verlegenheit kroch in ihr hoch. Auch sie hatte gestern darüber nachgedacht, als sie Mutter und Tochter betrachtet und tief in sich den Wunsch verspürt hatte, dieses Wunder auch wenigstens ein Mal zu erleben, ein Kind auf die Welt zu bringen. Sie hatte sogar nachts im Bett gelegen und war die Männer von Mintra im Geist durchgegangen. Es gab jedoch keinen unter ihnen, mit dem sie sich vorstellen konnte, eine Familie zu gründen. Außerdem – was wäre dann mit Eiméar?

Sanft strich ihr Kaja über die Wange. »Der Tag wird kommen, an dem du jemandem begegnest und weißt, dass es der Richtige ist. Glaub mir, ich bin froh, dass du es in Betracht ziehst. Und Mea wird immer deine Schwester bleiben. Du verlierst sie nicht wegen deiner Liebe zu einem Mann, dafür ist das Band zwischen euch viel zu stark. Je mehr du liebst, desto mehr Liebe kannst du geben. Weißt du, ich liebe alle meine Kinder und Enkelkinder.«

»Möchtest du nun das Rezept meines Tranks mit allen Zutaten wissen oder mir eine weitere Lektion über mein Liebesleben erteilen?«

»Dein nicht vorhandenes Liebesleben.«

Erbost drehte sich Leonora um und machte Anstalten weiterzugehen, wurde aber von Kaja festgehalten.

Sie lachte und sagte: »Ich möchte wissen, welche Zutaten du noch beigemischt hast. Ich habe versucht, mit Johanniskraut ihr Gemüt aufzuhellen, aber erfolglos.«

»Das war auch in dem Trank, und außerdem Kalmus.«

»Kalmus? Aber das setzen wir doch bei den Kranken ein, deren Körper Schwierigkeiten hat, die Nahrung zu verarbeiten.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101300
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Heroric Fantasy Magie der Elemente Sword England Low Fantasy All Age Literatur Romantische Fantasy Mittelalter Romantasy Romance Fantasy

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Licht und Dunkelheit: Hüterinnen der Elemente