Kaum hatten sie das Haus der Heilung betreten, kam ihnen die oberste Heilerin entgegengeeilt, als hätte sie sie erwartet. Leonora hatte ihr silbernes Haar sorgfältig unter der Wollmütze verpackt und zusätzlich das Band der Kapuze ihres Umhangs fest unter dem Kinn verschnürt. Es herrschte emsige Geschäftigkeit, kein Wunder bei dem Wetter und den dürftigen Vorräten.
Leonora hoffte, dass Eiméar, Marek und der Rest des Trupps mit der Jagd erfolgreich sein würden.
»Weißt du etwas Neues?«, fragte Kaja.
Elija seufzte. »Nein, nur das, was auch du weißt. Es gibt keine Spuren, die von der Bucht wegführen. Es ist, als wären sie vom Erdboden verschluckt. Wäre Bea nicht unter ihnen – ich würde denken, dass sie ertrunken sind.«
»Aber Bea nie und immer«, stimmte ihr Leonora entschieden zu. »Wovon redet ihr überhaupt?«
»Bea und Achat sind gestern zum Fischen an die Bucht gegangen. Nachmittags wollte Jared, ihr Vater, ihnen etwas zu essen bringen, doch als er dort ankam, fand er nur ihre Angelruten und zwei Körbe mit gefangenem Fisch, von den Mädchen aber keine Spur.«
Eine Gänsehaut kroch Leonora bei Elijas Worten über den Rücken. Rasch unterdrückte sie die aufkommenden Bilder aus den Visionen, die Lishar ihr gezeigt hatte. Ohne dich kann nicht beendet werden, was begonnen hat. Deine Seele wird verdammt sein wie die der ganzen Menschheit. Sklaven werden alle sein, bis ans Ende der Zeit. Es war, als wollte eine Stimme in ihrem Kopf es ihr wispernd und eindringlich ins Gedächtnis rufen.
»Lasst uns in meinen Raum gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können. Es scheint, als würden nicht nur Mädchen verschwinden, sondern Krankheiten sich in einem nie da gewesenen Tempo ausbreiten.«
Leonora folgte Kaja und Elija zögernd. Es gab einen Raum im Haus der Heilung, der der obersten Heilerin als Rückzugsort zur Verfügung stand. Das Zimmer beherbergte eine kleine Anzahl ausgewählter wertvoller Bücher, Aufzeichnungen von Rezepten für Heilmittel, Abwandlungen mit sorgsamer Erfassung ihrer Wirkungsweise, einen Schreibtisch und einem Stuhl, aber auch eine kleine Sitzecke mit vier bequemen Sesseln sowie einem Bett. Nicht jeder oberste Heiler verbrachte sein Leben im Haus der Heilung. Elija jedoch traf man selten woanders an.
Ein munteres Feuer prasselte im Kamin, sodass der Raum angenehm warm war. Eine Kanne mit gewürztem Tee und ein Teller mit Haferkeksen standen auf dem kleinen Tisch, der zwischen den Sesseln platziert war.
Leonora löste das Band unter ihrem Kinn, zog ihren Umhang aus und nahm die Mütze vom Kopf. Ein erstickter Überraschungsruf ließ sie zusammenfahren. Elija starrte sie mit großen Augen an, die Hand vor den Mund geschlagen.
»Bei Lishar, ich dachte immer, es wäre nur ein Märchen«, wisperte sie und trat ehrfurchtsvoll näher an sie heran, streckte die Hand aus, wagte es aber nur mit den Fingerspitzen die silbernen Haare zu berühren.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, warf Leonora hastig ein. Scham stieg in ihr auf, dass ein Mensch, den sie bewunderte und respektierte, sie mit einer solchen Ehrfurcht behandelte. Sie hatte nichts geleistet, nichts getan. Im Gegenteil. Sie hatte Lishar enttäuscht mit ihrer Feigheit, den für sie bestimmten Weg einzuschlagen. Dabei wusste sie nicht einmal, welcher Pfad das war, den sie beschreiten sollte. Nur eines wusste sie: Es war Liebe gewesen – die ihrer Schwester und die der Wölfin –, die sie aus der Dunkelheit rettete, der sie sich widerstandslos ergeben hatte.
»Nicht so, wie du denkst?«
»Elija, wir sollten uns erst einmal in Ruhe hinsetzen. Und bevor wir darüber sprechen, was in der Nacht am See geschehen ist, solltest du nachholen, was du versäumt hast – uns die schwerste Aufgabe, die Lishar uns Heilerinnen anvertraute, zu erklären.«
Elija riss erschrocken die Augen auf. »Du glaubst, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt?«
»Die Frage kann uns wohl nur Leonora beantworten.«
Beide richteten den Blick auf sie. Wie sollte sie es wissen? Waren die beiden nicht die Älteren und Weiseren? Als könnte sie ihre Gedanken lesen, nahm Kaja mit einem sanften Lächeln ihre Hand.
»Ich weiß, dass du dich kein bisschen anders fühlst als vor deiner Begegnung mit der Göttin, kein Stück weiser, sondern eher verwirrt, vielleicht sogar verängstigt. So hat es mir Levarda damals geschrieben, als bei ihr die weiße Strähne im Haar auftauchte. Das ist für uns andere schwer zu verstehen, weil eine Begegnung mit der Göttin, ganz zu schweigen von der mit Gott, so selten vorkommt. Es gibt einen Grund, weshalb du auserwählt wurdest, Leonora. Wir alle wissen – ob du es wahrhaben möchtest oder nicht –, dass deine Fähigkeiten, das Element Wasser zu beeinflussen, unsere Talente alle in den Schatten stellt. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du diese Erkenntnis, diese Begabung, die dir geschenkt wurde, annimmst.«
Leonoras Augen füllten sich mit Tränen. Ohne dass sie es verhindern konnte, begann sie zu weinen. Die weise Kaja hatte mit ihrem Herzen erkannt und in Worte gefasst, was die Göttin von ihr erwartete. Tröstend nahm Kaja sie in die Arme und bettete ihren Kopf an ihre Brust. Es war lange her, dass sie Schwäche zugelassen hatte.
Nachdem sie sich ausgeheult hatte, reichte ihr Elija ein Tuch, mit dem sie sich die Nase putzen konnte. Sie sah das Mitleid in ihren Augen, und obwohl ihr dieses mehr behagte als die Ehrfurcht, wusste sie, dass es genauso falsch war.
Sie setzten sich hin, jede in einen Sessel, nahmen sich alle einen Becher mit gewürztem Tee und Kekse. Es war ein Ritual, das Leonora oft pflegte, vor allem, wenn das Haus der Heilung mal wieder überquoll. Und das war ein Zustand, der normal geworden zu sein schien.
Als wären die Mintraner verdammt, huschte es Leonora durch den Kopf, und der Gedanke verursachte ihr Unbehagen.
»Lass mich beginnen, mein Kind. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Bestimmt bin ich dir in deiner Ausbildung oft hart erschienen, unnachgiebig und streng, vor allem im Umgang mit dir. Ich forderte mehr von dir als von allen anderen Schülerinnen und Schülern. Dir ließ ich nie einen Fehler durchgehen, und mir ist bewusst, dass du oft zornig auf mich warst und dich ungerecht behandelt fühltest.«
»Es stimmt, aber ich wusste immer, dass du nur wolltest, dass ich mein Bestes gebe.«
Seufzend lehnte sich die oberste Heilerin in ihrem Sessel zurück. »Dein Herz ist groß, Leonora, und es ehrt dich, dass du es auf diese Weise betrachten kannst. Sicherlich hast du recht, doch es steckt auch ein klein wenig Neid dahinter. Weshalb schenkte die Göttin ausgerechnet dir diese Fähigkeit?«
»Glaub mir, ich wünschte, es wäre anders.«
»Das sehe ich ja, mein Kind, und es tut mir leid, dass ich dir eine so schlechte Lehrerin war.«
»Nein, sag das nicht. Du warst mir ein großes Vorbild. Ich bewunderte dich, als du bereit warst, die Führung des Hauses der Heilung zu übernehmen. Das ist eine große Verantwortung. Dafür hast du viele Opfer gebracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass du seitdem je einen Tag der Muße eingelegt hättest. Du hast dein Leben in den Dienst unseres Volkes gestellt, und das völlig selbstlos.«
»Und wieder unterstellst du mir nur ehrenhafte Beweggründe. Du vergisst, welche Achtung das Volk einer obersten Heilerin entgegenbringt. Stolz, ja vielleicht sogar ein wenig Hochmut zählten genauso zu den Gründen.«
»Elija, ich bitte dich, hör auf, dich in einem schlechten Licht darzustellen, nur weil du einen Fehler gemacht hast«, entgegnete Kaja. »Wir alle sind am Ende nur Menschen mit Stärken und Schwächen. Also genug mit dem Selbstmitleid, ihr zwei. Das ist übrigens auch eine Schwäche.« Sie zwinkerte ihnen zu.
Damit brachte sie beide zum Lächeln.
»Und wie immer hat meine gute Freundin recht. Also, Leonora, lass mich dir die Aufgabe erklären. Du kennst ja die Geschichte von dem Geschenk, das uns Lishar machte.«
»Du meinst, als Chandini der Göttin Lishar ihr Leben darbot, in der Hoffnung, dass dieses Opfer sie bewegen würde, ihre Aufmerksamkeit auf die sterbenden Menschen zu richten?«
»Genau. Das Flehen erreichte sie, sie rettete die Menschen und segnete Chandinis Kinder mit der Fähigkeit, die Elemente zu beeinflussen, damit sie in Zukunft ohne ihre Hilfe in der Lage wären, Katastrophen von der Menschheit fernzuhalten, die sie ausrotten könnten.«
Jedes Kind in Mintra kannte diese Geschichte und viele andere, die sich alle immer wieder um die Fähigkeit und die Liebe von Lishar und Lethos drehten. Denn für Chandini hatte Lishar Lethos verlassen, und seine bittere Enttäuschung hatte sie verfolgt.
»Es ist wichtig zu begreifen, dass dieses Geschenk in den Dienst der Menschen gestellt werden muss, dass wir das Gleichgewicht erhalten müssen und uns niemals über das Leben selbst stellen dürfen. Geboren zu werden, zu leben und zu sterben ist ein Kreislauf, durch den jede Seele geht, oft über den Verlauf vieler Leben lang, bis sie endgültig eins wird mit dem Licht. Genauso wenig dürfen wir uns in den freien Willen der Menschen einmischen, den uns Gott selbst als wertvollstes Geschenk gab. Wir erblicken das Licht der Welt und bekommen alles mit, was wir in unserem Leben brauchen. Doch manchmal vergessen wir das, wandeln auf anderen Pfaden als denen, die Gott für uns gedacht hat. Die Bereitschaft, aus unseren Fehlern zu lernen, gehört genauso zu der Entwicklung unserer Seelen wie die Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umzugehen.«
Elija machte eine Pause, aß einen Keks und trank ihren Tee. Leonora verschränkte ungeduldig die Finger ineinander. Das alles wusste sie, es gehörte zu den Grundlagen der Ausbildung eines Heilers. Krankheiten entstanden dadurch, dass das Gleichgewicht in einem Menschen gestört war. Ihre Aufgabe bestand darin, dieses Gleichgewicht herzustellen. Die Heilung der Symptome war nur ein erster Schritt. Den zweiten musste der Patient aus eigenem Willen selbst zu gehen bereit sein, und hier bestand die Aufgabe des Heilers darin, zuzuhören.
Eine Lösung der Ursache der Krankheit geschah auf drei Ebenen. Die erste Ebene umfasste die Sinne, vor allem das Hören und Sprechen, wobei die Emotionen im Mittelpunkt standen. Auf der zweiten Ebene ging es um das Durchleben, die Begleitung des Patienten durch das Ereignis, welches das Ungleichgewicht und damit die Krankheit auslöste. Dieser Schritt war häufig auch mit körperlichen Schmerzen verbunden, die beide miteinander teilten. Die dritte Ebene, die schwierigste von allen, lag beim Geist. Der Patient musste bereit sein, das Ereignis loszulassen.
Erreicht der Körper die Grenze seiner Lebenszeit, so nimmt die Seele Abschied. Manchmal jedoch entscheidet sie, den Körper zu verlassen, bevor dieser seine Lebensgrenze erreicht hat. Das war bei Samin der Fall gewesen. Seine Seele hatte aus einem für Leonora unerfindlichen Grund beschlossen, ins Jenseits zu gehen, und zwar gegen den Widerstand des Geistes. Um frei zu sein, zerstörte die Seele den Körper mit einer Krankheit, die niemand heilen konnte – auch Leonora nicht.
»Es gibt immer einen Grund, nur erschließt er sich uns nicht, weil wir nie das Gesamte sehen, sondern lediglich ein winziges Staubkorn des Ganzen.« Es war, als hätte die oberste Heilerin ihre Gedanken gelesen. »Wenn die Seele beschließt, den jungen, gesunden Körper zu verlassen, dann ist das mit unermesslichen Schmerzen verbunden. Der innere Kampf von Geist und Seele kann dazu führen, dass die Seele gezwungen ist, auf der Erde zu verweilen, statt in das Licht zu gehen, wohin sie gehört. Um das zu verhindern, beenden wir den Kampf, indem wir den Körper sterben lassen. Sofern dies aus einem Akt der puren Liebe geschieht und frei von jeglichem Eigennutz, handeln wir im Sinne von Lishar.«
»Das trifft bei mir nicht zu«, wandte Leonora ein. »Ich wollte, dass sein Leiden ein Ende hat. Die Familie hatte die Grenze des Erträglichen überschritten. Ihr Schmerz erreichte Samin und machte den Kampf in ihm noch heftiger. Das ertrug ich nicht länger.«
»Glaub mir, Leonora, als du bewusstlos warst, prüfte ich deinen Zustand, weil ich mir große Vorwürfe machte. Ich hatte gehofft, dass Samins Seele, so wie sie für uns leuchtete, die Kraft besitzen würde, den Kampf zu gewinnen. In dir ist eine außergewöhnliche Stärke. Ich dachte, du würdest den Schmerz aushalten. Beide Annahmen waren falsch. Doch in einem irrte ich mich nicht. Deine Liebe reichte am Ende aus, um im Moment der Entscheidung den richtigen Weg für euch beide zu wählen.«
Nachdenklich ließ sich Leonora ihre Worte durch den Kopf gehen. Ihr Körper war nicht krank geworden. Sie hatte ihre Emotionen durchlebt, sie nicht unterdrückt. Ihr Geist war mit der Seele im Einklang geblieben, obwohl sie gelitten hatte.
»Ich hätte dir spätestens bei deinem Erwachen von dieser Aufgabe erzählen sollen, doch du warst so erschöpft. Später nahm ich mir jeden Tag vor, in die Kräuterküche zu gehen, um das Gespräch mit dir zu suchen. Es tut mir leid, dass ich es versäumte und du meinetwegen ein tiefes Tal durchwandern musstest.«
»Ich glaubte, dass ich vor den Ältestenrat treten und mich für meine Tat verantworten müsse. Meine Angst vor dem Urteil, vor dem Prozess der Loslösung von meinem Element hinderte mich daran. Ich war nicht bereit, dieses Opfer zu bringen.«
»Gegen die Durchführung dieses Loslösungsprozesses kämpfen wir seit langer Zeit, weil wir sie für falsch halten. Ja, es stimmt, dass wir den Prozess selbst schmerzfrei gestalten können. Jedoch gelingt es uns nicht, die Leere zu füllen, die dabei entsteht. Auch wenn nur eines von hundert Kindern der Elemente daran zerbricht, ist das eines zu viel.« Düster blickte Kaja in ihren Tee.
»Leider ist eine der leidenschaftlichsten Befürworterinnen unter den Heilerinnen inzwischen ein Teil des Ältestenrates«, ergänzte Elija traurig.
»Bernadette.« Dafür brauchte Leonora nicht lange zu überlegen. Nachdem Ricarda und Sanira mit der achtjährigen Vivien aus Mintra geflohen waren, hatte Bernadettes Einsatz für die Loslösung über zwei Jahre regelrecht fanatische Züge angenommen. Inzwischen war sie älter und ruhiger geworden. Sie war einer der wenigen Menschen, die Leonora nicht mochte, ohne dass sie ihr jemals etwas getan hätte. Eine Zeit lang hatte Bernadette in ihr sogar eine Verbündete in ihrem Kreuzzug gesehen. Immerhin war Leonora diejenige gewesen, die Vivien beim Ältestenrat angeklagt hatte. So oft hatte sie ihr Handeln bereut und sich gefragt, warum sie nicht zu Kaja anstatt zu Amara, der Vorsitzenden des Rates, gegangen war.
Hastig schob sie den Gedanken beiseite, weil er sie nur an die beste Freundin ihrer Schwester erinnerte. Vivien war der einzige Streitpunkt, den es je zwischen ihr und Eiméar gegeben hatte. Es hatte lange gedauert, bis sie bereit gewesen war, ihr den Verrat an Vivien zu vergeben.
»Kannst du mir verzeihen, dass ich dir mit meinem Schweigen so viel Kummer bereitete?«, fragte Elija.
»Das habe ich bereits. Aber ich weiß nicht, ob ich es mir selbst verzeihen kann, sein Leben beendet zu haben.«
Kaja rutschte an den Rand des Sessels, hielt beide Hände mit den Handflächen nach oben.
Skeptisch blickte Leonora sie an.
»Keine Sorge, du weißt, dass du geschickt genug bist, um die Dinge vor mir zu verbergen, die du nicht mit mir teilen möchtest. Vielleicht verlange ich zu viel von dir. Wenn du deine Hände auf meine legst, zeige ich dir, was ich gesehen habe, und dann begreifst du vielleicht, was du für uns und für Samin getan hast.«
Kälte, so eisig wie das Wasser des Sees Luna, kroch durch ihre Adern. Sie atmete mehrmals tief durch. Den Tod von Samin ein zweites Mal erleben – aus der Sicht seiner Großmutter? Etwas Schlimmeres konnte sie sich nicht vorstellen. Das überstieg ihre Kräfte. Sie brauchte Zeit, um seinen Tod zu verarbeiten.
»Du brauchst keine Angst davor zu haben, Leonora. Sei mutig.«
Mutig? – Lishars Worte der Enttäuschung hallten in ihrem Kopf wider. Du hast dich hinter deiner Angst verkrochen, hinter dem Rücken deiner Schwester. Willst du für immer dort verharren oder bist du bereit, endlich den Mut aufzubringen, um deinen vorherbestimmten Weg zu gehen?
Zögernd streckte sie ihre Hände aus. Sie zitterten, als sie sie auf Kajas Hände legte. Sanft nahm Kaja sie in ihre Erinnerung mit.
Da saß Leonora, die treue Seele, am Bett ihres Enkels. Ob sie ahnte, wie wichtig es für Samin und Jolanda war, dass sie das tat? Dass sie, indem sie den Schmerz ertrug und damit Samins Schmerzen linderte, Jolanda ein Vorbild war, für ihn da zu sein, ihr die Kraft gab, mit dem Tod ihres geliebten Bruders fertigzuwerden, sie bestärkte, in dieser furchtbaren Zeit sogar für ihre Eltern da zu sein?
Sie bezweifelte es. Es lag einfach nicht in Leonoras Natur. Sie handelte aus ihrem Herzen, selbstlos, oft zu selbstlos für ihr Empfinden. Kurz legte sie Leonora die Hand auf die Schulter, gab ihr Energie, achtete aber sorgfältig darauf, sich vor dem, was diese durchlebte, abzuschirmen. Sie kannte ihre Grenzen, wusste, dass sie selbst diesen Dienst für ihren Enkel nicht übers Herz gebracht hätte.
Alvar, ihr baumstarker, fröhlicher Sohn, war ein einziges Häufchen Elend. Rasch ging sie zu ihm, zog ihn in ihre Arme. Es erschütterte sie, dass er sich wie damals als kleiner Junge an sie lehnte und schluchzte. Wie gern hätte auch sie sich der Trauer hingegeben, doch es schien, als würden die Männer ihrer Familie eher sie zum Anlehnen brauchen. Samins Tod würde für immer Spuren in den Seelen seiner Familie hinterlassen. Vor allem Ruth bereitete ihr Sorgen. Sie blickte zu der murmelnden, sich hin- und herwiegenden Gestalt hinüber. Sie war nur noch ein Schatten der Frau, die in ihre Familie eingeheiratet hatte.
Eine Mutter sollte niemals ihre Kinder überleben müssen. Sie konnte nur hoffen, dass Alvar sie im Schmerz über den Verlust auffangen und für sie da sein konnte – wenn nicht, wäre Ruths Seele verloren, und in den letzten Jahren hatten sie schon zu viele Mintraner verloren.
Leise begann Jolanda, mit ihrer wunderschönen, klaren Stimme die Lieblingslieder ihres Bruders zu singen. Kaja seufzte, und wie immer stellte Alvar ihr seine Frage, die sie ein weiteres Mal deutlich und klar beantwortete. Nur die Wahrheit, nichts sonst konnte die Familie zusammenhalten und heilen.
Leonora begann zu zittern wie Espenlaub. Die Schmerzen mussten unvorstellbar sein. Warum beendete sie sein Leben nicht? Warum hielt sie den Tod zurück? Hatte er noch nicht genug gelitten? Oder war seine Seele gefährdet, weil sie zu sehr vom Kummer der Umstehenden festgehalten wurde? Nur die Heilerin, die im Kontakt mit dem Sterbenden stand, konnte den richtigen Zeitpunkt bestimmen. Verlangte sie zu viel von der jungen Frau, die ihre Eltern mit zwölf Jahren verloren hatte? Dies war nicht der erste Mensch, den sie in den Tod begleitete. Ihre Seele war kräftig, hielt den Schmerzen stand, sie nahm den Sterbenden die Angst, hielt ihre Seelen, bis sie bereit waren, ins Licht zu gehen. Ob sie ahnte, was für eine wichtige Rolle sie für das Gleichgewicht der Welt spielte?
Leonora begann trocken zu würgen. Bevor sie zu ihr eilen konnte, legte Jolanda ihre kleine Hand auf Leonoras Hand, die direkt über der Stelle lag, von der der Tod ausging.
Ihre kleine Jolanda. So oft hatte sie im Schatten ihres Bruders gestanden. Nie war sie deshalb neidisch gewesen, stattdessen liebte sie ihn wie alle anderen auch. Dieses ernste, nachdenkliche und stille Mädchen sog alles auf, was um es geschah und gesprochen wurde.
Samins Gesicht veränderte sich. Der entspannte Ausdruck wich.
Bitte Leonora, hilf ihm endlich auf seinem Weg ins Licht, flehte sie selbst still in Gedanken. Sie widerstand der Versuchung, es laut auszusprechen oder ihre Hand an Leonoras Hals zu legen, um mit ihr zusammen in Samins Körper hinabzutauchen. Sie vertraute den Instinkten der jungen Heilerin, die sie nie trogen und immer sicher führten.
Sie sah, wie Jolanda Leonora etwas zuwisperte. Tränen, die wie Diamanten funkelten, hingen in den dichten Wimpern des Mädchens. Daraufhin erstarrte Leonora. Bei Lishar, was hatte das Mädchen ihr gesagt?
Voller Besorgnis ließ sie ihren Sohn los, machte einen Schritt auf das Sterbebett zu, und dann geschah es. Samins Gesichtszüge entspannten sich. Seine Seele löste sich vom Körper. Ein silbernes Licht erfüllte mit seinem Strahlen den ganzen Raum. Es schnürte ihr die Kehle zu und sie musste schlucken.
Sie fühlte sich unendlich einsam, der Abschiedsschmerz brach in einer heftigen Woge über sie herein, und gleichzeitig erfüllte sie unendliche Dankbarkeit gegenüber der jungen Heilerin, die diese kostbare Seele gerettet und unversehrt ins Jenseits gebracht hatte.
Leonora hatte Tränen in den Augen, als sie Kaja ansah.
»Warum muss er so leiden? Warum beendest du es nicht? Ich weiß, du kannst es. Bitte, Leonora, ich flehe dich an, tu es für Samin, für Mama, Papa und Oma. Keiner von ihnen erträgt es mehr, das war es, was Jolanda zu mir sagte. In Wahrheit war sie es, die Samins Seele bewahrte. Ich war nur ausführendes Element.«
Kaja löste den Griff ihrer Hände, fasste Leonoras Gesicht und küsste sie auf die Stirn. Tränen liefen ihnen beiden über das Gesicht.
»Ich danke dir, dass du mir die Last abgenommen hast und für uns da warst.«
Leonora schlang die Arme um sie, ließ sich von ihr halten, streicheln, trösten, wie es eine Tochter bei ihrer Mutter macht. Sie konnte spüren, wie die Last, die seit Samins Tod auf ihrer Seele gelegen hatte, leichter wurde. Die Heilung konnte beginnen. Sie würde mutig sein und den Weg, den Lishar für sie vorhergesehen hatte, beschreiten.
Langsam löste sie sich von Kaja, schnäuzte sich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, holte tief Luft. Der erste Schritt bestand in der Selbsterkenntnis und der Offenbarung.
»Lishar begegnete mir, weil sie zornig mit mir war«, begann sie. »Sie sagte, dass sie mir ein unsagbar wertvolles Geschenk habe zuteilwerden lassen und dass ich es, statt es anzunehmen, vergeuden würde. Ich sei feige, lasse mich von meiner Angst leiten und andere für mich die Entscheidungen treffen. Dennoch nahm die Göttin sich Zeit für mich, um mir die Wahrheit zu sagen. Sie reichte mir ihre Hand für eine zweite Chance, und erneut lehnte ich ab. Ich war bereit, zu sterben und meine Seele der Dunkelheit zu überlassen, nur weil ich mich vor meiner Bestimmung drückte. Es war Eiméar, die um mich kämpfte, deren Liebe mich erreichte und mich rettete.«
»Sie gab dir keine Vision?«, klang Elijas Stimme in die Stille hinein, die sich nach ihrem Geständnis ausgebreitet hatte.
»Doch, aber es war nicht eine, es waren viele Visionen, denn was geschieht, das hängt von unseren Entscheidungen ab.«
Das sorgenvolle Gesicht der obersten Heilerin hellte sich auf. »Was für ein Glück. Dann wissen wir, welche Entscheidungen wir treffen müssen.«
»Nein, denn erstens weiß ich nicht, welche Entscheidung zu welchem Ergebnis führt, und zweitens bestimmt die Summe dessen, wofür wir Menschen uns entscheiden, den Lauf der Zeit. Meine Hoffnung ist, dass wir den Untergang der Menschheit aufhalten und es schaffen, die Erinnerung der Lehren Lishars in das kommende Zeitalter zu überführen. Aber auch das liegt nicht allein in meiner, sondern in unser aller Hand. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Rolle ich dabei spielen soll.«
Leonora konnte sehen, wie das Leuchten aus Elijas Gesicht schwand. Ihre Pupillen weiteten sich und ihr Mund klappte auf, bevor ein Ruck durch ihren Körper ging.
»Du kennst deine Bestimmung nicht?«, fragte Kaja voller Erstaunen.
Leonora schüttelte wehmütig den Kopf. »Nein, doch es wird kein leichter Weg sein, sondern einer, der Opfer erfordert, womöglich nicht nur von mir, sondern von uns allen.«
»Ich spreche mit Petur. Der Ältestenrat wird dir Fragen stellen wollen. Die Last der Entscheidung sollst du auf keinen Fall allein tragen. Außerdem ist das Wissen eines einzelnen Menschen längst nicht so groß wie das der vielen Weisen unseres Volkes zusammen, die wiederum auf das Wissen unserer Vormütter und -väter zurückgreifen können.«
Leonora nickte zum Einverständnis auf Elijas Vorschlag. Sie brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie bezweifelte, dass sie eine Lösung finden würden, und vielmehr fürchtete, dass ihre Stimme sie verraten würde. Was sie lernen musste, war, auf ihre innere Stimme zu hören und ihr zu folgen, denn diese kam von Gott.
»Derweil sollten wir deine Haare flechten, hochstecken und unter einem Tuch verstecken. Das Verschwinden der Mädchen hat alle schon genug in Aufregung versetzt. So geben wir dem Ältestenrat noch etwas Zeit, bis wir erklären müssen, welche Bewandtnis es damit hat, dass deine Haare über Nacht silbern geworden sind.«
Leonora war zutiefst dankbar für den Rückhalt. So bekäme auch sie die Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass man ihr in Zukunft gleichermaßen mit Ehrfurcht und Angst begegnen würde. Sie konnte nur hoffen, dass ihr ein paar Menschen blieben, die sie weiterhin als das sahen, was sie wirklich war – eine verängstigte junge Frau, die den Mut aufzubringen versuchte, ihr Schicksal anzunehmen.