Lade Inhalt...

Tisiphones Tochter

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Tisiphone – eine der drei Rachegöttinnen aus der griechischen Mythologie Ihr erstes Opfer: ihr eigener Vater. Sie hat das Vertrauen in das Rechtssystem verloren. Sie tötet Männer, die sich mit Geld und Lügen von ihren Verbrechen freigekauft haben. Sie glaubt, für Gerechtigkeit zu sorgen, bis sie erkennen muss, dass auch sie nur ein Werkzeug ist. Mitten aus dem Leben gerissen. Ein schneller Tod ohne Schmerzen. Er kennt all ihre Gewohnheiten, hinterlässt keine Spuren. Wer steckt hinter den Morden an reichen und bekannten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Religion? Dr. Rees Stancell, Psychologiedozent beim FBI und spezialisiert auf Gewaltverbrechen, ahnt, dass er es hier mit einem ganz besonderen Killer zu tun hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Der Tritt traf Skylar knapp unterhalb ihrer Rippen und schleuderte sie durch die Küche, bis der Tisch ihrem Flug ein Ende setzte. Anders als in den Actionfilmen, die sie wie süchtig in sich einsaugte, brach das Holz nicht, als sie mit dem Rücken darauf auftraf. Der Aufprall raubte ihr die Luft, und für einen Moment war sie wie gelähmt. Am liebsten wäre sie liegen geblieben. Vor ihren Augen verschwamm der Raum, dafür schärfte sich ihr Gehör, und was sie hörte, ließ das Adrenalin in einer neuen Woge durch ihre Adern pulsieren. Dumpfes Platschen von Haut auf Haut. Schreie.

Ihre Sicht festigte sich. Sie sah ihre Mum, deren Gesicht von den Schlägen geschwollen und grotesk verformt wirkte. Nur ihre blauen Augen, die sonst immer Sanftmut ausstrahlten, wenn sie sich um die Zwillinge kümmerte, waren vor Angst weit aufgerissen. Sie starrte sie an und ihr Mund bewegte sich, doch es kam kein Laut hervor. Blut suchte sich einen Weg über ihre vollen Lippen.

Skylar wusste auch so, was ihre Mum ihr sagen wollte. Hör auf, dich zu wehren. Verrat es ihm. Lass es ihn haben, dann verschwindet er und alles ist vorbei.

Nein, diesmal nicht. Diesmal würde sie Mums Worte ignorieren. Sie wusste, dass es niemals enden würde, weder für sie noch für ihn. Die Drogen vernebelten ihm die Sinne, verlangsamten seine Körperkoordination, aber sie hatten ausgereicht, um Mum zu verprügeln, weil sie sich schützend vor sie gestellt hatte. Er wollte das Geld, das Skylar sich mit Nebenjobs verdiente und mit dem sie die Familie die letzten Monate über Wasser gehalten hatte. Selbst Mum wusste nicht, wo im Haus sie das Geld versteckte, durfte es nicht wissen, denn sie hätte es ihm sofort ausgehändigt, sobald er es verlangte.

Dieser Mann dort war nicht mehr der Dad, der mit ihr im Wald zelten gegangen war. Der Alkohol, die Tabletten, die Drogen – das alles hatte aus ihm einen anderen Menschen gemacht, erst langsam, nur an Kleinigkeiten merkbar, und dann steigerte es sich immer weiter. Heute hatte er eine unsichtbare Grenze überschritten. Noch nie war er derart gewalttätig gegen seine Familie geworden. Später, wenn er wieder zu sich käme, würde er es bereuen, das wusste sie. Gracies angstvolles Wimmern und Flehen weckte ihren Kampfgeist. Skylar rappelte sich auf, schüttelte die Benommenheit ab. Er hatte Toby am Kragen gepackt und hochgehoben und schüttelte ihn.

»Wo ist es, du verdammter Bastard, sag schon!«

Nein, er würde nicht aufhören. Diesmal nicht. Skylar wandte sich um und zog das Fleischmesser aus dem Messerblock. Sie hatte nur einen einzigen Versuch.

»Lass ihn los. Er weiß nicht, wo das Geld ist. Nur ich weiß es.«

Er schmiss Toby in die Ecke. Ihr kleiner Bruder landete auf einem Holzstuhl, der durch den Schwung nach hinten kippte. Sie hörte ein furchtbares Krachen, als sein Körper mitsamt dem Stuhl auf dem Boden landete. Dann wurde es gespenstisch still.

Skylar knirschte vor Anstrengung mit den Zähnen, um den Impuls zu unterdrücken, Toby zu Hilfe zu eilen. Langsam kam ihr Dad auf sie zu. Aus seiner Nase tropfte Blut, tiefe Kratzer von ihren Fingernägeln zogen sich über seine Wange. Seine Augen waren gerötet. Sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel.

»Du bösartige kleine Giftschlange«, zischte er. »Du glaubst wohl, du bist klüger als dein Daddy.« Er hielt auf dem Weg zu ihr inne, machte eine Geste, die das gesamte Chaos in der Küche umfasste. Von der Wand tropfte die Kartoffelsuppe, wo der Topf mit der heißen Brühe auf die Wand getroffen war. Das Geschirr lag in Scherben über den Boden verteilt. Stühle waren umgeworfen, von ihm und von ihr, als sie versucht hatte, vor seinem Gewaltausbruch zu flüchten. »Sieh dir an, was du gemacht hast. Wozu mich deine Sturheit getrieben hat. Schau deine Mum an. Du hast mich dazu gebracht, ihr wehzutun. Du hättest mir nur das Geld geben müssen. Das alles ist ganz allein deine Schuld.«

Er versuchte sie mit seinem weichen, vorwurfsvollen Ton einzulullen, als wäre er das unschuldige Opfer. Aber das war er nicht. Er war der Angreifer, der Täter – und sie war nicht ihre Mum. Sie brachte sich in Angriffsposition, so wie er es ihr beigebracht hatte. Ihre Hände hingen an den Seiten herab, sie beugte die Schultern, ging weich in die Knie, ihre Füße standen einen Schritt weit auseinander fest und ausbalanciert auf dem Boden. Alles, was sie über das Kämpfen mit Fäusten, Messern und Schusswaffen wusste, hatte sie von ihm. Das war auch ihm bewusst. Er fixierte den Blick auf ihre Augen, weil er ihr beigebracht hatte, dass man dort sah, wann der Gegner sich entschied anzugreifen. Sie behielt den angstvollen, demutsvollen Ausdruck bei und hütete sich, ihm ihre wahren Gefühle der kalten Wut und des Widerstandswillens zu offenbaren. Den Fehler hatte sie zuvor gemacht. Jetzt war da nur noch ihr Hass auf den Mann, zu dem er geworden war, der sie zwang zu tun, was sie tun musste, nicht für sich, sondern vor allem für ihre Mum und ihre Geschwister.

»Wo ist das Geld? Hol es mir und alles ist vorbei!« Er blieb stehen, musterte sie mit schmalen Augen.

Etwas an ihrer Haltung musste seinen jahrelang antrainierten Instinkt für eine drohende Gefahr geweckt haben, trotz der Drogen, die durch sein Blut zirkulierten. Oder deren Wirkung ließ nach.

Sie knirschte mit den Zähnen. Dann musste sie eben besser sein als er. Von der Straße drangen die Sirenen von Polizeiautos in die Wohnung. Blaues Licht flackerte über die Wände. Einer der Nachbarn hatte wohl die Polizei alarmiert. Kein Wunder bei dem Lärm, den sie veranstalteten. Es hatte eine Zeit gegeben, da lag ihre ganze kindliche Hoffnung in diesem Geräusch, aber das war vorbei. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass Mum ihren Dad niemals anzeigen würde.

»Fuck, fuck, fuck«, fluchte ihr Dad. Er vergaß sein Misstrauen, ignorierte seine Instinkte und überwand die Distanz zu ihr, wollte sie packen. »Gib mir das Geld, du verfluchte kleine Mistratte, oder …« Verblüfft riss er die Augen auf. Seine Hände fielen kraftlos herunter, sein Blick ging nach unten.

Entschlossen führte sie das Messer weiter, quer durch den Bauchraum. Einen raschen Tod, das wollte sie für ihn. Sie hatte nicht den Fehler gemacht, auf das Herz zu zielen, das von den Rippen geschützt wurde. Das Messer glitt mühelos durch die Haut und die darunterliegenden Muskeln und die Fettschicht. Nicht, dass sie es anders erwartet hätte. Mum hielt ihre Küchenmesser scharf. Sie hatte als Köchin in einem feinen Hotel gearbeitet, bevor sie, noch sehr jung, unerwartet mit ihr schwanger geworden war. Aber Skylar musste sich eingestehen, dass sie erwartet hatte, die Muskeln würden einen größeren Widerstand leisten. Andererseits hatte die Figur ihres Vaters durch den Alkohol, das fette Essen und die Drogen im letzten halben Jahr gelitten. Obskur, was ihr in den wenigen Sekunden alles durch den Kopf ging.

Warm floss das Blut über ihre Hände. Sie verstärkte den Griff um den Schaft, um zu verhindern, dass das Messer ihr aus der Hand glitschte. Ein ekelerregender Geruch kroch ihr in die Nase. Sie ließ ihn außer Acht. Ihre Augen, blieben auf die ihres Dads gerichtet. Der legte die Hände auf seinen Bauch, als wollte er zusammenhalten, was dort herausquoll. Wie rasch das herausfließende Blut ihm die Kraft nahm!

Sie ließ das Messer los, sprang zurück, als er in die Knie sackte. Seine Muskeln zitterten jetzt, er kippte zur Seite, und sie wich rasch weiter zurück, als er versuchte, ihr Fußgelenk zu packen.

Sie hörte die Türklingel, das Klopfen, die Rufe der Polizei, das Stimmengewirr von den Nachbarn. Sie blickte zu den Zwillingen. Gracie war aus ihrer Ecke zu ihrem Zwillingsbruder hinübergerutscht. Tobys Kopf ruhte an ihrer Brust. Mit der einen Hand stützte sie seinen Hals wie bei einem Baby, als hätte er nicht mehr die Kraft, ihn zu halten. Das Chaos vor der Tür außer Acht lassend, hockte Skylar sich zu ihrer Schwester. Ein Blick in Tobys glasige Augen reichte, und sie wusste, dass für ihn jede Hilfe zu spät kam. Das Schluchzen und der vibrierende Rücken ihrer kleinen Schwester zeigten ihr, dass auch sie es wusste. Sanft streichelte sie über Gracies blonde Locken, und es war ihr egal, dass das Blut ihres Vaters sie rosa färbte.

»Schscht, Püppilein, schuhschuh, es ist vorbei«, flüsterte sie. »Nie wieder wird dir jemand wehtun, nie wieder, versprochen.«

1

Wieder nüchtern

Rees blinzelte und stöhnte. Er wollte seinen Arm heben, doch etwas lag darauf. Langsam, jede schnelle Bewegung vermeidend, drehte er den Kopf zur Seite. Seine Nase landete in seidig weichem Haar.

Verfluchter Mist, verfluchter, wie viele Gläser Rotwein hatte er gestern Abend getrunken? Oder lag es an dem Whisky? Er drehte den Kopf wieder zurück und schloss die Augen. Fünf Minuten Konzentration. Er machte einen zweiten Anlauf und hob den Kopf. Diesmal war es einen Hauch besser. Er zog den Arm unter der Frau hervor. Verdammt, wer war sie noch mal? Die Sängerin mit diesem klangvollen griechischen Namen? Odessa, ja richtig. Oder war es doch die Tochter des schwedischen Botschafterehepaars, Malin, die in seinem Bett lag? Wenigstens sein Namengedächtnis ließ ihn nicht im Stich.

Schwer zu sagen. Beide Frauen hatten lange blonde Haare. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, da es in den vielen Kissen vergraben war. Vorsichtig zog er sein Bein unter dem nackten Körper hervor. Ein Murmeln. Er hielt den Atem an. Das Letzte, was er wollte, war, sie zu wecken. Die Erinnerung an das, was er gestern mit ihr angestellt hatte, fehlte ihm keineswegs …

Er grinste. Oh ja, daran erinnerte er sich sogar ziemlich genau. Ein wenig dünn und kantig war sie für seinen Geschmack, der Busen zu klein, doch das hatte sie mit ihrer Leidenschaft wettgemacht. Sie waren nicht gerade leise gewesen. Sein Blick wanderte zum Nachttisch. Er atmete erleichtert auf. Zwei leere Kondomhüllen zeugten von der nächtlichen Aktivität. Er hatte doch wohl zwei Male? Oder drei …? Nein, definitiv zweimal, zu mehr war er selbst in nüchternem Zustand nicht in der Lage. Achtsam arbeitete er sich aus dem Bett, tunlichst darauf bedacht, die Frau – jetzt konnte er ihr Profil erkennen, und es war die Sängerin Odessa – nicht zu wecken. Offensichtlich hatte ihn sein Urteilsvermögen trotz der Menge an Alkohol nicht im Stich gelassen. Die Sängerin war für ein amouröses Abenteuer eine wesentlich unkompliziertere Variante, als es die Tochter eines Botschafterehepaars gewesen wäre. Er musste wirklich aufhören, sich bei offiziellen Anlässen zu betrinken.

Nach dem Duschen ging es ihm besser. Er überlegte kurz, ob er eine Tablette gegen die Kopfschmerzen einnehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Wer saufen kann, kann auch leiden. Eigentlich lautete es im Spruch seines Vaters »kann auch arbeiten«, doch in diesem Fall musste er es abwandeln. Immerhin war heute Sonntag und er würde sich ausschließlich Dingen widmen, die ihm Spaß machten, auch wenn sie in diesem Fall Arbeit beinhalteten.

Auf leisen Sohlen durchquerte er die Küche und hielt am Kühlschrank. Seine Gelüste nach etwas Salzigem und Fettigem mussten befriedigt werden, aber bevor er den Kühlschrank öffnen konnte, ließ ihn ein dezentes Räuspern innehalten. Er straffte die Schultern und drehte sich um. »Guten Morgen, Fitzgerald.«

»Dr. Stancell …« Sein Butler deutete auf ein Glas auf der Küchentheke.

Er kannte den Inhalt, der aus püriertem Gemüse, Salz, Pfeffer sowie einigen geheimen Zutaten bestand, die tatsächlich einen Kater im Nu vertreiben konnten, wenn man es schaffte, das Getränk im Magen zu behalten. Er hob das Glas, schnupperte daran und verzog das Gesicht.

»Trinken Sie. Sie wissen, dass es Ihnen danach besser gehen wird. Eigentlich dachte ich, wir hätten Ihre wilde Zeit hinter uns gelassen.«

»Das dachte ich auch, Fitzgerald.« Er hielt sich mit einer Hand die Nase zu und kippte den Inhalt des Glases hinunter, wartete einen Moment, indem er flach atmete und damit rechnete, brechen zu müssen, aber dann beruhigte sich sein Magen schnell.

Fitzgerald schob ihm ein Glas Wasser sowie einen Becher schwarzen Kaffee hin. Dankbar trank er erst das Wasser, bevor er sich auf den Barhocker setzte und den heißen, aromatischen Kaffee Schluck für Schluck genoss. Die Kopfschmerzen – eben noch hämmernd – verebbten, und er fühlte, wie sein natürlicher Tatendrang zurückkehrte.

»Was täte ich nur ohne Sie, Fitzgerald?«

»Mit Verlaub, Sir – in der Gosse landen.«

Rees schmunzelte. So unrecht hatte sein Butler gar nicht. Er war dankbar gewesen, als Fitzgerald sich entschieden hatte, ihn in die USA zu begleiten. Seit er denken konnte, hatte der Mann im Dienst seiner Familie gestanden. Es war beruhigend, ein Stück Heimat dabeizuhaben, und es erdete ihn. Dummerweise fiel ihm in diesem Moment ein, dass es noch etwas gab, was er ihm beichten musste. Besser, man packte den Stier direkt bei den Hörnern. »Mr. Fitzgerald, in meinem Zimmer befindet sich eine Dame, die noch nicht ganz wach ist. Es wäre nett, wenn Sie sich, während ich mein Training beginne, darum kümmern würden, dass sie etwas zu essen bekommt, und ihr dann ein Taxi rufen. Selbstverständlich übernehme ich die Kosten.« Er drehte sich rasch um, in der Hoffnung, so der zweifellos gleich erfolgenden Standpauke zu entgehen.

»Einen Moment, Sir, nicht so eilig.«

Rees zog die Schultern hoch und den Kopf ein.

»Was hatte ich Ihnen über derlei Situationen gesagt?«

»Schon gut, Fitzgerald, ich verspreche Ihnen, es wird nicht wieder vorkommen. Wie vereinbart weiche ich in Zukunft auf die Wohnung oder das Hotelzimmer der Dame aus. Allerdings lagen hier besondere Umstände vor.«

»Vermutlich so wie auch in den letzten einundzwanzig Fällen. Und jedes Mal versprachen Sie mit einem überaus reuevollen Gesichtsausdruck, es werde nicht wieder vorkommen.«

»Wie gesagt, es waren besondere Umstände. Die Dame lebt nicht allein in ihrem Apartment, und ich bin aus dem Alter raus, in dem man auf der Toilette oder in einem Auto kopuliert. Ganz abgesehen davon hätte ich gestern gar nicht mehr fahren können. Das bedeutet auch, dass ich das Auto noch holen muss, sobald mein Alkoholspiegel es zulässt. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen.«

»Nein, das will ich nicht«, lautete die ungewohnt scharfe Antwort des Butlers. »Sie haben sich in diese Situation hineinmanövriert, also werden Sie sich auch wieder herausmanövrieren müssen. Es ist an der Zeit, dass Sie lernen, die Konsequenzen Ihres Verhaltens zu tragen.«

»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

»Ich richte Ihnen ein Tablett für die Dame her, das Sie höchstpersönlich hochtragen. Nachdem Sie Ihren Übernachtungsgast so rücksichtsvoll, wie es sich für einen Gentleman gehört, geweckt haben, servieren Sie ihr das Frühstück. Und danach erklären Sie ihr, weshalb Sie diesen One-Night-Stand nicht zu etwas Dauerhafterem zu verlängern gedenken.«

»Mr. Fitzgerald, wer sagt, dass ich es bei der einen Nacht belassen möchte? Ms. Odessa Flemming ist eine ungewöhnlich begnadete Sängerin. Sie ist intelligent, humorvoll und …« Er hielt inne, suchte nach weiteren Adjektiven, die für ihn eine interessante Frau charakterisierten.

»Überraschen Sie mich, Dr. Stancell, und gehen Sie mit dieser ungewöhnlichen Dame eine längere Beziehung ein.« Fitzgerald drehte sich um und zauberte ein Tablett hervor. Sein spezieller Gemüsesaftmix, ein Vollkorntoast mit Avocadocreme sowie Gurken- und Tomatenscheiben, eine filetierte Orange, ein Thermobecher mit Kaffee, ein Kännchen Milch und eine langstielige rote Rose hatten darauf einen Platz gefunden. »Ich war so frei«, sagte er und drückte ihm das Tablett in die Hände. Mit einer Geste, die ihn aus seiner eigenen Küche hinauskomplementierte, machte er Rees deutlich, dass er entlassen war.

Während er die Stufen in die erste Etage hochging, kam Rees sich vor, als wäre er von einem Hochgeschwindigkeitszug mitgerissen worden. Mit dem Ellenbogen öffnete er die Tür.

Odessa lag quer im Bett. Die Bettdecke verhüllte nur wenig von ihrem nackten Körper. Sie war definitiv viel zu dünn. Er konnte auf ihrem Rücken die einzelnen Wirbel erkennen. Nein, auf keinen Fall war sie etwas für eine längere Beziehung, die er bisher immer erfolgreich vermieden hatte, kein leichtes Unterfangen, stellte er doch mit seinem attraktiven Äußeren und seinem üppig gefüllten Bankkonto eine fette Beute für die Damenwelt dar. Er wusste sehr wohl, wer bereits plante, ihn an den Haken zu nehmen, und mied tunlichst die saftigen Köder, die man ihm hinhielt. Diese Frau hier zählte jedoch nicht zu den Anglerinnen. Sie wusste nur wenig von ihm, nur dass er Professor für Psychologie war. Er hatte das Gespräch bewusst auf ihren Beruf gelenkt. Sängerinnen redeten gern über sich, und Odessa war da keine Ausnahme, zumal sie gerade am Beginn ihrer Karriere stand. Wie alt war sie? Vierundzwanzig? Oder jünger? Sie blinzelte, als hätte sie seine Gedanken gehört oder seinen kritischen Blick gespürt. Einen Moment betrachtete sie ihn verwirrt, dann richtete sie sich mit einem breiten Lächeln auf.

»Hallo, Seemann.«

Fast wäre ihm das Tablett aus der Hand gerutscht. Verflucht, das hatte er völlig verdrängt. Er war für sie in die Rolle des Piratenkapitäns geschlüpft, in Anlehnung an einen Hollywoodfilm, den sie sehr mochte und der ihre sexuelle Fantasie anheizte. Er wurde wirklich zu alt für derartige Spielchen. Als würde sie sich ihrer Blöße gerade erst bewusst, zog sie die Bettdecke über sich und nahm gleichzeitig die Mitte seines Queensize-Betts ein. Erst die verführerische Nymphe, dann die scheue Frau. Oh ja, Odessa wusste, wie man einen Mann verführte. Nur ließ ihn das kalt.

»Ich muss furchtbar aussehen«, sagte sie und schenkte ihm ein gekonnt scheues Lächeln.

Er verzog den Mund. »Hunger?«

Sie blickte auf das Tablett. »Du hast dir wirklich Mühe gegeben.«

»Nach dieser Nacht war ich dir das schuldig«, log er, ohne rot zu werden.

Sie klopfte auf die Bettkante, und er folgte ihrer Aufforderung, klappte den Fußstand des Tabletts auf und platzierte es auf ihrem Schoß, bevor sie auf dumme Gedanken kommen konnte.

»Hmh, mein Lieblingsfrühstück. Du hast meinen neuesten Blogbeitrag gelesen. Bis auf das da.« Sie deutete auf das Glas mit Gemüsesaft und runzelte die Stirn.

»Tatsächlich?« Dieser Fitzgerald! Diesmal würde er ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Er brachte ihn noch in Teufels Küche. Er nahm das Glas hoch. »Nun, dies, meine Sexgöttin, ist ein Wundermittel. Eine geheime Rezeptur meiner Familie, die nicht nur jegliche inneren Folgen eines übermäßigen Alkoholkonsums eliminert, sondern dich auch von innen heraus strahlen lässt. Probier es aus.«

Skeptisch betrachtete sie ihn.

Er behielt seinen unschuldigen Gesichtsausdruck bei. Niemand schaffte es, hinter seine Fassade zu blicken, wenn er es nicht zuließ. Außer Fitzgerald. Der hatte einen siebten Sinn dafür.

Sie nahm das Glas, schnupperte daran, verzog das Gesicht, nippte und spuckte den Schluck umgehend ganz undamenhaft wieder aus.

»Soll das heißen, es schmeckt dir nicht?« Er verzog enttäuscht die Mundwinkel.

Sie versuchte ein tapferes Lächeln. »Na ja, es war lieb von dir gemeint, aber erstens habe ich gestern längst nicht so viel Alkohol getrunken wie du und zweitens gehöre ich zu der ungewöhnlichen Kategorie von Menschen, die nie unter einem Kater zu leiden haben.« Sie nahm den Kaffeebecher, nippte daran und schenkte ihm einen Augenaufschlag, der bei ihren langen Wimpern diesmal seine Wirkung auf ihn nicht verfehlte. »Ich würde mich dafür gern erkenntlich zeigen.«

Er war ein rational denkender Mann, der sich nicht allein von seinem Geschlechtsorgan leiten ließ. Noch einmal mit ihr zu schlafen, würde das Ende dieses Stelldicheins nur unnötig hinauszögern.

»Odessa, du warst heute Nacht himmlisch, doch sieh mich an. Ich bin viel zu alt für dich.«

Ihr Lachen war glockenhell und reizvoll. Er erinnerte sich, dass ihn das gestern am meisten angelockt hatte.

»Ich verstehe«, gab sie zurück. »Du suchst nach einem Ausweg. Keine Sorge, ich bin nicht auf der Suche nach einer langfristigen Beziehung. Damit würde ich sogar den Vertrag mit meiner Entertainment Company brechen. Du weißt, die Fans müssen glauben, dass ich Single und noch zu haben bin. Genau genommen muss ich dich sogar bitten, dass dieses kleine Tête-à-Tête unter uns bleibt.«

Er führte die Finger über seine Lippen, als würde er einen Reißverschluss zumachen. »Ich werde schweigen wie ein Grab.«

»Und, bereit mein Angebot anzunehmen?« Sie stellte das Tablett zur Seite, ließ die Decke herunterrutschen, rückte an ihn heran und schlang ihm die Arme um den Hals. »Oder bist du zu alt für eine dritte Runde?«

Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen.


Rees hockte auf den Unterschenkeln am Boden. Mit geschlossenen Augen vollzog er die Atemübungen des Aikido. Er mochte diese defensive japanische Kampfsportart, die von den Samurai stammte und viele Bewegungsabläufe des Schwert- und Stockkampfes beinhaltete. Im Prinzip ging es darum, den Angriff eines Gegners anzunehmen oder diesem auszuweichen. Ziel war es nicht, den Gegner zu vernichten, sondern ihn zu neutralisieren. Ueshiba Morihei, der Begründer des Aikidos formulierte es in The Art of Peace so treffend: »Aggressionen zu kontrollieren, ohne Verletzungen zuzufügen, das ist der friedvolle Weg.«

Seine Eltern hatten Rees auf Anraten von Fitzgerald gezwungen, diesen Kampfsport zu erlernen, nachdem er wegen ungewohnt aggressiven Verhaltens auch von dem dritten Internat geflogen war. In den Jahren darauf hatte er viele Kampfsportarten erlernt, war aber immer wieder zu dieser zurückgekehrt.

Er begann mit den Aufwärmübungen, vollführte die Bewegungsabläufe und Kombinationen zuerst ohne Hilfsmittel, nahm dann das Shinai dazu. Wie bei vielen anderen Dingen hatte Fitzgerald richtig erahnt, was er für sein Leben brauchte. Er hatte sogar drei Monate zur Verfeinerung seiner Technik bei einem Lehrmeister in einem japanischen Kloster verbracht. Nach nur wenigen Wochen war er vollkommen mit sich im Einklang gewesen. Daraus war am Ende der Wunsch erwachsen, Psychologie zu studieren, und zwar einen ganz speziellen Zweig der Psychologie, der sich bestimmten Fragen widmete, nämlich was Menschen dazu bewog, Gewalt auszuüben, und was sie zu einem Serienmörder oder einem Terroristen machte. Wie immer, wenn Rees sich mit Leidenschaft einer Sache hingab, galt er in seinem Fachgebiet rasch als Experte. Es folgte der Ruf in die USA. Inzwischen lehrte er seit vier Jahren an der National Defense University in Washington und beim FBI in Quantico. Amerika war in seinen Augen ein Eldorado für Forschungen in seinem Fachgebiet.

»Und?« Fitzgerald baute sich in seiner traditionellen Aikidoka-Tracht vor ihm auf.

Rees hatte die Jacke ausgezogen. Sein Oberkörper war mit Schweiß bedeckt. Er schenkte seinem Gegenüber ein süffisantes Lächeln. »Eine ausgezeichnete Lektion, die Sie mir erteilt haben. Ich denke, ich weiß jetzt, worauf ich achten muss.«

Fitzgerald fixierte ihn. »Mein ›und‹ bezog sich nicht auf die letzte Aikido-Lektion, die ich Ihnen nahelegte, sondern auf den Damenbesuch.«

»Ich weiß, und meine Antwort bezog sich exakt darauf.«

»Sie haben noch einmal mit ihr geschlafen.« Missmutig musterte ihn sein Butler.

Sein Lächeln wurde eine Spur breiter. »Ein Gentleman genießt und schweigt. Womit trainieren wir?«

»Da Sie das Shinai bereits in der Hand halten …«

Eine Stunde später war Rees das Lächeln vergangen. Fitzgerald hatte lediglich einen dünnen Schweißfilm auf der Stirn und trug noch immer Jacke, Hose und Hakama. Er würde dem Alkohol entsagen und sich ab jetzt nur noch gesund ernähren, das schwor sich Rees.

»Wird Miss Flemming in Zukunft häufiger Gast in diesem Hause sein?«, fragte Fitzgerald und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht, bevor er aus einem Krug Ingwer-Orangen-Wasser in zwei große Gläser füllte und Rees eines davon reichte.

»Nein, wird sie nicht. Wir waren uns einig, dass dies eine einmalige Begegnung war. Immerhin beträgt der Altersunterschied dreizehn Jahre.«

»Was Sie noch nie davon abgehalten hat, mit einer Frau intim zu werden.«

Rees schaffte es nicht, das zufriedene Grinsen zu verbergen. Nein, es schien, als würde seine Anziehungskraft vor allem auf jüngere Frauen mit jedem Jahr, das er älter wurde, steigen. Eigentlich hatte er gedacht, dass er sich spätestens mit fünfunddreißig für eine Ehefrau entscheiden müsste, um in den Genuss von regelmäßigem Sex zu kommen. Doch bisher konnte er sich nicht beklagen. Er mochte die Abwechslung und Unverbindlichkeit seiner Beziehungen.

»Ich fürchte, Fitzgerald, Sie haben sich die falsche Dame ausgesucht, um mir eine Lektion zu erteilen. Wussten Sie, dass die Entertainment Company ihre Sänger und Sängerinnen vertraglich verpflichtet, keine feste Beziehung einzugehen? Ein interessantes Jagdgebiet.«

Das abgrundtiefe Seufzen seines Butlers ließ Rees in Lachen ausbrechen. »Keine Sorge, ich werde in Zukunft darauf achten, das Apartment der Dame zu nutzen, um Ihr Anstandsgefühl nicht weiter zu strapazieren. Es birgt auch für mich gewisse Vorteile, wenn ich mich am nächsten Morgen davonschleichen kann.«

Er trank das Glas leer, stellte es auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. Nach dem morgendlichen Sex und der Aikido-Stunde fühlte er sich frisch und fit genug, um sich seinem Verstand zu widmen.

»Eines Tages treffen Sie noch auf eine Frau, die Sie Demut lehren wird. Und ich werde diesen Tag mit einer Flasche Champagner feiern, das verspreche ich Ihnen.«

»Fitzgerald, ich fürchte, darauf werden Sie bis an Ihr Lebensende warten.«

»Wir werden sehen.«

2

Sekretärin

Ihre Finger flogen über die Tastatur, während die Stimme in ihrem Kopfhörer den Text diktierte. Sie druckte den Brief aus und legte ihn in die Unterschriftenmappe. Als Nächstes arbeitete sie die Termine ihres Chefs durch, ergänzte, stornierte, prüfte, ob sie alle Flüge und Hotels gebucht hatte. Perfekt. Gerade wollte sie sich zufrieden zurücklehnen, um sich den wohlverdienten Kaffee zu holen, als die Tür aufging. Rasch beugte sie sich wieder über die Tastatur und starrte konzentriert auf den Bildschirm.

»Ms. Tyler, immer noch fleißig, wie ich sehe.«

Das war das Schwerste an ihren wechselnden Jobs, dass sie die verschiedenen Namen im Kopf behalten und darauf reagieren musste. Mit dem Zeigefinger schob sie ihre dicke Hornbrille hoch. Ein flüchtiges, schüchternes Lächeln, nicht mehr. Sie klickte mit der Maus auf das E-Mail-Programm, das sie bereits geschlossen hatte.

Sein moschusartiger Duft verstärkte sich, als er sich an ihren Schreibtisch lehnte. »Habe ich Ihnen schon gesagt, was für eine hervorragende Arbeit Sie leisten?«

»Ja, Mr. Timberland.«

»Sie sind die beste Sekretärin, die ich je hatte.«

»Danke.« Sie wich seinem Blick aus. Es fiel ihr nicht schwer, nervös zu wirken. Seine Nähe, die selbstbewusste Haltung, die Tatsache, dass er sie, da sie auf ihrem Bürostuhl tiefer saß, überragte, das alles trug dazu bei, dass sie sich in ihrer Haut unwohl fühlte.

»Ts, ts, Ms. Tyler«, sagte er in einschmeichelndem Ton, »hatten wir beide nicht vor Kurzem ein Gespräch über Ihre Arbeitskleidung?«

Oh ja, das hatten sie, und selbstverständlich ging sie nicht auf seine Vorgaben ein. Schließlich hätte die gewünschte Änderung nicht zu ihrer Rolle gepasst und die Gefahr mit sich gebracht, dass die Lage eskalierte.

»Sehen Sie, Ms. Tyler, wenn meine Kunden und Lieferanten zu einem Termin bei mir kommen, sind Sie die erste Person, die sie zu Gesicht bekommen. Was sollen sie davon halten, wenn sie von einer Frau begrüßt werden, die bis oben hin zugeknöpft ist?«

Er beugte sich vor und sie hielt die Luft an, als er die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse öffnete und dabei mit den Fingerknöcheln bewusst über ihre Haut strich. Sie wurde stocksteif.

»Wo Sie doch einen so schönen Anblick zu bieten haben. Wissen Sie, Ms. Tyler – ich weiß, Sie mögen es nicht, wenn ich Sie Kira nenne –, mit ein paar kleinen Änderungen …« Er nahm ihr die Brille ab, bevor sie ihn daran hindern konnte. »… würde aus dem kleinen grauen Mäuschen eine attraktive Frau werden.«

Sie rollte mit ihrem Bürostuhl zurück, schnappte sich die Brille aus seiner Hand, setzte sie auf und knöpfte die Bluse wieder zu.

»Hoppla, entdecke ich da gerade eine widerspenstige Seite an Ihnen, Ms. Tyler? Wissen Sie, was man mit unartigen Kindern macht?«

Die Tür ging auf, und geschmeidig wie eine Katze erhob sich Mr. Timberland von der angelehnten Position an ihrem Schreibtisch. Er rückte seine Krawatte zurecht und machte einen Schritt in den Raum, um den Ankömmling zu begrüßen.

Erleichtert atmete Skylar auf, als er mit dem Besucher in sein Büro ging. Ihr Chef war ein echtes Schwein. Fast hätte er sie dazu gebracht, ihre Tarnung auffliegen zu lassen. Sie gab sich drei Minuten, bevor sie anklopfte und den Gast nach seinem Getränkewunsch fragte.


Das Einzimmerapartment war klein, stickig und laut. An der Wand hatte sie Schimmel entdeckt. Eine echte Zumutung, diese Bruchbude, und sie durfte gar nicht daran denken, was sie dafür bezahlte. Sie packte ihre Matte aus und begann mit dem Training. Am liebsten wäre sie eine Runde gerannt, doch das konnte sie sich nicht erlauben, wenn sie einen Auftrag übernommen hatte. Diesmal hatte sie einige Äußerlichkeiten an sich verändert, und zum Image der schüchternen, zugeknöpften Ms. Tyler passte es nun mal nicht, wenn sie in einem Jogging-Outfit die Straßen von Chicago entlangjoggte. Sie wärmte sich mit dem Springseil auf und machte Dehnübungen, bevor sie mit dem Muskelaufbautraining anfing. Zum Ausklang hängte sie Tai Chi dran. Die langsamen, fließenden Bewegungen lösten die innere Anspannung des Tages. Nachdem sie geduscht hatte, kochte sie sich eine frische Gemüsepfanne mit Kräutern. Sie nahm das Essen mit zu ihrem Laptop.

Als Erstes ergänzte sie die Ereignisse des heutigen Tages in der Akte von Mr. Timberland. Eigentlich, das hatte die Ehefrau versichert, ließ ihr Mann die Hände von seinen Sekretärinnen. Sie hatte keine Ahnung, weshalb er ausgerechnet bei ihr eine Ausnahme machte. Sie hatte sich bewusst für eine unscheinbare Aufmachung entschieden und achtete bei der Arbeit auf möglichst züchtige Kleidung. Es war, als würde er die wahre Frau hinter der Fassade wittern. Sie konnte nur hoffen, dass das Konzil rasch zu einem Ergebnis kam. Bisher war der Fall für die Mitglieder noch nicht eindeutig gewesen, deshalb ihre täglichen Berichte an ihre Kontaktperson. Seit heute war ihr klar, dass die Entscheidung positiv ausfallen würde. Also beschäftigte sie sich mit der Ausarbeitung verschiedener Angriffspunkte zur Ausübung der Tat. Sie sah sich die Bilder des Hauses, des Wegs zur Arbeit, des Freizeitklubs und des Wochenendhauses am See an. Letzteres wäre der ideale Platz, um ihn zu beseitigen. Das Gelände bot mehrere mögliche Positionen, von denen aus sie ihn mit einem Scharfschützengewehr ins Visier nehmen konnte.

Es war die Waffe ihrer Wahl. Die große Entfernung bot ihr die nötige Distanz zum Opfer, die sie immer mehr brauchte, je länger sie in diesem Job arbeitete, wenn man es denn als Job bezeichnen konnte. Mit dem Messer hatte sie nur einmal getötet, und sie würde es nie vergessen. Es war eine sehr persönliche Mordmethode, eine, die der Nähe zum Opfer bedurfte und des Kontakts. Nein, sie bevorzugte das Scharfschützengewehr oder, wenn es sein musste, auch eine Pistole. Manchmal ließ es sich jedoch nicht vermeiden, dass sie aus der Nähe tötete. In dem Fall griff sie auf die Tötungstechniken der Kampfsportarten zurück. Wenn sie tötete, dann sollte es schnell und schmerzlos geschehen.

Als Nächstes nahm sie sich die Karten vor, maß Distanzen, nutzte das Internet, um sich Satellitenaufnahmen der Gebiete anzusehen. Das ersetzte selbstverständlich nicht die Überprüfung vor Ort, grenzte jedoch die Anzahl der Plätze ein, die sie sich ansehen musste. Der Wecker an ihrem Smartphone klingelte. Zeit für ihren ersten Anruf.

»Hi, alles klar bei dir?«, fragte sie.

»Ja.«

»Bist du noch im Krankenhaus?«

»Nein. Mein Dienst war vor zwei Stunden zu Ende. Wie geht es dir?«

»Ich wünschte, ich wäre bei dir.«

»Wie lange noch?«

Skylar schaute auf das Bild von Derek Timberland. »Drei, vier Wochen.«

»Ich vermisse dich.«

»Ich dich auch. Und – Gracie?«

»Ja?«

»Pass auf dich auf.«

»Das mache ich, versprochen.«

Sie beendete das Gespräch. Sie achtete darauf, die Gespräche kurz zu halten und nie über Orte, Städte oder sonst ein Detail zu reden. Man wusste nie, ob nicht jemand mithörte. Irgendwann würde ihre Glückssträhne enden. Irgendwann würde jemand Zusammenhänge sehen, wo es scheinbar keine gab. Irgendwann würde sich jemand an ihre Fersen heften. Sie hoffte, dass ihr noch ein wenig mehr Zeit bliebe, wenigstens bis Gracie jemanden fand, der sie liebte und auf sie aufpassen würde, wenn sie es nicht mehr konnte.

Skylar stand auf, ging vorsichtig ans Fenster. Statt frontal stellte sie sich seitlich und schaute auf die schmale Straße mit ihren Geschäften. Sie betrachtete die Menschen, die die Straße entlangliefen. Touristen mit Rucksäcken schauten die Häuserwände hoch und machten Fotos von den Feuertreppen. Im Hintergrund blickte man auf die Skyline der Hochhäuser, die sich den Fluss entlang hinzog. Sie konnte den beleuchteten Willis Tower sehen. Nicht weit von ihrem Apartment lag der Millennium Park, der sich direkt am Ufer des Michigansee entlangzog. Sie fand es herrlich, am Wochenende dort spazieren zu gehen. Der See kam einem vor wie das Meer, und im Park waren jede Menge Familien unterwegs, Kinder mit ihren Müttern und Vätern, die mit ihnen spielten, ihnen ein Eis kauften und sie trösteten, wenn sie hingefallen waren.

Sie wandte sich wieder vom Fenster ab. Genug geträumt. Sie hatte einen Job zu erledigen. Gestern war die Freigabe vom Konzil gekommen. Derek Timberland war einstimmig zum Tode verurteilt worden. Nächstes Wochenende würde seine Frau mit den Kindern zu ihren Eltern fahren. Sein Schwiegervater hatte Geburtstag, aber Derek würde zu Hause bleiben, weil sein Terminkalender angeblich zu voll war. Das Verhältnis zwischen Timberland und der Familie seiner Frau war angespannt, was vermutlich noch nett formuliert war, wie Skylar aus dem wenigen, was sie mitbekommen hatte, annahm. Es war der perfekte Zeitpunkt, um seinem Treiben ein Ende zu setzen. In den letzten Wochen war er von Tag zu Tag aufdringlicher geworden, bis die Personalabteilung ihr vor zwei Tagen diese Praktikantin Vanessa Bruce aufgedrückt hatte. Mit ihrem Erscheinen hatte sich sein Fokus verändert. Statt die Gefahr zu spüren, fühlte sich der Neuzugang von der Aufmerksamkeit des Chefs geschmeichelt. Für Skylar stellte es eine echte Herausforderung dar, darauf zu achten, dass Vanessa nie mit ihm allein war. Vanessa nutzte jede Gelegenheit, mit ihrem Chef zu flirten, und Skylar kam sich langsam tatsächlich wie die alte Jungfer vor, die sie spielte. Heute war Vanessa in einem Rock zur Arbeit gekommen, der nicht länger als eine Hand war, und ihre Bluse präsentierte mit drei geöffneten Knöpfen mehr von ihrem Dekolleté, als sie verdeckte. Kurzerhand nahm sie sich das Mädchen vor und schickte es zum Umziehen nach Hause. Das war selbstverständlich mit einem riesigen Aufstand von Vanessas Seite einhergegangen, doch Skylar hatte genug Erfahrung und Autorität im Umgang mit einer bockigen jungen Frau, um die Szene schnell zu beenden. Dummerweise hatte Timberland es trotzdem mitbekommen.

Wenn sie Pech hatte, würde man sie morgen früh feuern. Grundsätzlich käme ihr das entgegen, weil sie dann aus dem Weg wäre, wenn die polizeilichen Nachforschungen in Gang kämen. Allerdings hätte sie dann keinen Zugriff mehr auf Timberlands Kalender. Wenn er am Ende plante, das Wochenende zum Arbeiten zu nutzen oder es aus einem anderen Grund in dem Häuschen am See zu verbringen, bekäme sie es nicht rechtzeitig mit. Büro und Haus zu überwachen wäre aufwendig und es barg die Gefahr, dass sie jemanden auffiel. Vertieft in ihre Gedanken fuhr sie den Laptop hoch. Sie konnte sich eine Kopie anlegen. Kaum hatte sie ihr Kommunikationsprogramm geöffnet, poppte die Erinnerung an eine Aufgabe auf. Geschäftsbericht des Vorjahres für die Unternehmensleitung. Shit, shit, shit, das hatte sie in dem Drama von heute total vergessen. Wie konnte ihr nur so was passieren? Sie stellte sich für alle Aufgaben rechtzeitig einen Alarm. Moment. Vanessa! Das war der schuldbewusste Ausdruck in ihrem Gesicht gewesen, nachdem sie sie an ihrem Arbeitsplatz erwischt hatte. Vermutlich war es ihre Rache für die von ihr empfundene Demütigung. Mist, jetzt musste sie noch mal zurück ins Büro. Sie brauchte den Zugriff auf die Zahlen der Bereichsleiter, und die lagen gesichert auf dem internen Netzwerk, auf das sie von extern keinen Zugriff hatte.

Im Geist ging sie bereits die einzelnen Arbeitsschritte durch. Die Highlights der Zahlen hervorheben, die Texte übernehmen, prüfen und gegebenenfalls ergänzen. Das Ganze in dreifacher Ausfertigung ausdrucken, binden und den Raum für das Meeting der Geschäftsführung morgen vorbereiten. Kurz überlegte sie, ob sie nicht morgen zwei Stunden früher anfangen sollte, verwarf den Gedanken aber direkt wieder. Erstens hasste sie es, Aufgaben in letzter Sekunde zu erledigen, und zweitens reichte ein kleines technisches Problem oder eine fehlende E-Mail, und die knappe Zeitplanung würde alles den Bach runterschicken. Nein, es kratzte an ihrer Ehre. In jedem Job, den sie annahm, gab sie ihr Bestes. Darum hatte die Personalabteilung ihr auch Vanessa Bruce zugeordnet, damit sie von ihr lernen konnte, vor allem, wie man es längere Zeit als Sekretärin von Mr. Timberland aushielt. Nun, das Geheimnis war recht simpel: indem man seinem Drängen nicht nachgab. Es wunderte sie, dass keine ihrer Vorgängerinnen ihn wegen sexueller Belästigung oder Vergewaltigung angezeigt hatte. Die Überzeugung seiner Frau, dass er nie eine seiner Sekretärinnen als Opfer auswählte, war definitiv falsch.

Keine Stunde später parkte sie ihr Auto in der Tiefgarage. Die längste Zeit hatte sie damit verbracht, sich wieder in Kira Tyler zurückzuverwandeln. Sie nickte dem Sicherheitsdienst zu, drückte auf den Aufzugknopf und fuhr hoch in die zehnte Etage. Die Stille und die Dunkelheit der Flure und Büros, in denen sonst Hektik und Lärm herrschten, entspannte sie. Sie mochte keine Menschenmengen. Das fand sie manchmal am härtesten in ihrem Job.

Sie blieb irritiert stehen, als sie sah, das ihr Bürostuhl nicht exakt unter dem Schreibtisch, sondern weiter hinten stand, als wäre sie eben erst aufgestanden. Auch ihre Tastatur lag schräg auf dem Tisch. Sie griff sich automatisch an die linke Achsel und fluchte. Natürlich hatte sie als Kira Tyler ihre Sig Sauer nicht dabei.

Zunächst löschte sie das Licht im Raum. Verflucht, sollte nicht der gesamte Bereich überwacht werden? Nein, natürlich nicht, nur die Flure. Die Büros waren wegen der persönlichen Rechte der Mitarbeiter ausgenommen worden. Überaus fortschrittlich, allerdings fragte sie sich, ob man nicht einfach vermeiden wollte, dass die Angestellten protestierten, wenn nur die Büros der Geschäftsleitung von der Sicherheitsüberwachung ausgenommen wurden.

Alle ihre Sinne waren in Alarmbereitschaft. Sie lauschte. Nichts. Konnte es sein, dass sie selbst heute in der Hektik ihren Platz so verlassen hatte? Immerhin hatte sie auch vergessen, den Geschäftsbericht vorzubereiten. Nein.

Sie öffnete die Tür zum Büro ihres Chefs. Das Licht der Stadt flutete durch die Fenster herein. Das übliche Chaos auf dem Schreibtisch von Derek Timberland fehlte. Stattdessen war alles schön sauber und ordentlich an seinen Platz geräumt. Ungewöhnlich. Ihre Nasenflügel blähten sich auf. Es roch penetrant nach Raumspray. Ein Smartphone fing an zu vibrieren. Skylar folgte dem Geräusch. Sie umrundete den Schreibtisch und sah das Leuchten des Displays. Nicht das Smartphone ihres Chefs. Der Anruf ging zur Mailbox. Sie hob das Gerät auf. Vanessa war eine typische Vertreterin ihrer Zeit. Sie ging nirgendwo ohne ihr Smartphone hin. Skylar aktivierte das Display. Der Meldebildschirm zeigte drei Anrufe, vier Nachrichten und alle möglichen weiteren Meldungen von sozialen Plattformen an. Rasch scannte sie die Uhrzeiten. Die erste Nachricht war von 10:23 p.m. Jetzt war es 00:17 Uhr a. m. Vanessa hätte ihr Smartphone niemals liegen gelassen, und wenn, dann wäre sie längst wieder ins Büro gekommen, um es zu holen. Ihr stellten sich alle Nackenhaare auf. Was war hier passiert? Weshalb roch es dermaßen nach Raumspray und wieso war der Schreibtisch fein säuberlich aufgeräumt? Sie ging zu der hinteren Tür im Raum, die zu einem kleinen Bad führte. Schließlich konnte der Geschäftsführer sich nicht die Toilettenräume mit dem Personal teilen. Timberland hatte ihr angeboten, dass auch sie das Bad benutzen könne, was sie dankend abgelehnt hatte.

Auch hier herrschte klinische Sauberkeit. Klinisch, weil es nach Desinfektionsmittel roch. Die Handtücher fehlten. Kein Wassertropfen haftete am Waschbecken. Sie hob den Toilettendeckel an. Nichts. Langsam ging sie zurück in ihr Büro. Hier fand sie nichts Auffälliges außer der Position des Bürostuhls und der verschobenen Tastatur. Das Smartphone in ihrer Hand vibrierte erneut. Sie nahm den Anruf an.

»Vanessa, endlich«, sagte eine Frauenstimme. »Herrgott noch mal, wo steckst du denn? Du hast mir vor fast drei Stunden geschrieben, dass du später kommst, aber diesen Bericht wirst du doch inzwischen wohl fertig haben. Es ist fast halb eins!« Endlich holte die Anruferin Luft.

»Mein Name ist Kira Tyler. Ich bin die Sekretärin von Derek Timberland. Vanessa scheint ihr Smartphone im Büro vergessen zu haben. Mit wem spreche ich?«

Am anderen Ende blieb es eine Zeit lang still, bis die Anruferin sagte: »Vanessa würde nie ihr Smartphone irgendwo liegen lassen.«

»Hat sie aber, sonst hätte ich den Anruf nicht angenommen«, erläuterte Skylar sanft den Umstand. Sie konnte die Sorge aus der Stimme der Anruferin hören. »Sagen Sie mir Ihren Namen?«

»Louis Andrews. Vanessa und ich teilen uns ein Apartment. Ich verstehe das nicht.«

»Ms. Andrews, oder darf ich Sie Louis nennen?«

»Ja, bitte.«

»Louis, sagen Sie mir, wo Sie wohnen, und ich bringe Ihnen das Smartphone. Vielleicht können wir dann zusammen herausfinden, wo sie ist.«

Die junge Frau am anderen Ende der Leitung gab ihr die Adresse und Skylar machte sich auf den Weg.


»Das nächste Mal erwarte ich, dass Sie für den Geschäftsbericht unser Unternehmensfarbschema verwenden.«

»Sehr wohl, Mr. Timberland.«

Sein Gesicht glättete sich und er schenkte ihr ein feines Lächeln. »Ansonsten gute Arbeit, Ms. Tyler, wie immer.«

»Nun, um ehrlich zu sein, ich war es nicht, die den Geschäftsbericht geschrieben hat.«

»Ach nein?« Dieser verfluchte Scheißkerl schaffte es tatsächlich, seinem Gesicht einen überraschten Ausdruck zu verleihen.

»Nein. Ms. Bruce hat den Großteil geschrieben. Ich habe dem Ganzen lediglich den letzten Schliff verpasst.«

»Nun, dann sagen Sie bitte Ms. Bruce …« Er sah sich um. »Wo ist sie überhaupt? Ich habe sie den ganzen Vormittag noch nicht gesehen. Hat sie sich krank gemeldet?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Ich habe bei der Personalabteilung nachgefragt, und sie hat sich dort nicht gemeldet.«

»Sehen Sie, das ist das Problem mit den jungen Leuten von heute. Sie werden immer unzuverlässiger. Zum Glück habe ich Sie, Ms. Tyler. Streichen Sie meine Termine für heute Nachmittag. Meine Tochter hat eine Ballettaufführung, die ich unter keinen Umständen verpassen möchte.«

»Was ist mit dem Termin mit den Banken?«

»Auch den.«

»Mr. Timberland«, hakte sie nach. Immerhin war dieser Termin als äußerst wichtig markiert worden.

»Lassen Sie sich etwas einfallen. Ich weiß, Sie bekommen das hin.« Damit entschwand er aus ihrem Büro in den Flur.

Skylar ließ die verspannten Schultern und den Kopf kreisen. Bis in die frühen Morgenstunden war sie mit Louis in der Stadt unterwegs gewesen, ohne ein Ergebnis. Gemeinsam hatten sie Vanessas Zimmer durchsucht. In dem Chaos aus Papieren, Klamotten, halb gegessenen Fertiggerichten und leeren Pappschachteln von Fast-Food-Ketten hatten sie nicht den geringsten Hinweis gefunden. Louis hatte ihr versichert, dass Vanessa nie einfach nur wegbleiben würde, ohne ihr Bescheid zu geben. Sie waren seit der High School beste Freundinnen. Erst hatte Louis sich geweigert, zum Chicago Police Department, dem CPD, zu gehen. Doch mit viel Fingerspitzengefühl war es Skylar gelungen, sie von dem Schritt zu überzeugen. Vor allem schaffte sie es, dass Louis allein zur Polizei ging. Sie hatte nicht die Absicht, auf dem Radar der CPD zu erscheinen.

Danach hatte sie kurz in ihrem Apartment vorbeigeschaut, sich frisch gemacht, um dann wieder ins Büro zu fahren. Dort hatte sie den angefangenen Geschäftsbericht gesehen, als sie den Rechner hochfuhr. Darauf hätte sie auch schon gestern kommen können. Natürlich hatte er einen Grund gebraucht, damit die Praktikantin im Büro bleiben musste, oder hatte Vanessa es aus eigener Initiative gemacht? Verdammt, sie vergaß normalerweise nie etwas. Der Gedanke, dass ihre Schlampigkeit dazu geführt hatte, dass Timberland das Mädchen … Sie musste aufhören, daran zu denken. Es führte zu nichts. Abgesehen davon konnte Vanessa jeden Moment putzmunter wieder auftauchen – nur glaubte sie nicht wirklich daran.

Skylar schaffte es, den Banktermin zu verschieben, musste sich dafür aber ein langes Lamento anhören. Als wäre es ihre Schuld, dass ihr Chef den Termin nicht wahrnahm. Auch die unterschwelligen Drohungen der Bank, die Kreditlinie zurückzufahren, ließen sie kalt. Rasch lief sie in die Kantine hinunter. Sie hatte nicht vor, auch heute wieder Überstunden zu machen.


Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete. Die zwei Männer erhoben sich aus den Besucherstühlen.

»Ms. Kira Tyler?«

»Ja.«

Der ältere der beiden kam mit ernstem Gesichtsausdruck auf sie zu und hielt ihr einen Ausweis hin. »Detective Lancy, und das ist mein Kollege Johnson.«

Skylar hatte sich wieder gefasst und nahm die dargebotene Hand des Detectives an.

»Es tut mir leid, Detective Lancy, doch ich muss Sie enttäuschen. Mr. Timberland ist vor zwei Stunden nach Hause gefahren, und wir erwarten ihn heute nicht mehr im Büro.«

»Woraus schließen Sie, dass wir zu ihm möchten?« Der Polizeibeamte musterte sie eindringlich.

Ihr rutschte das Herz in die Hose, doch äußerlich blieb sie gelassen. Ja, sie spürte beinahe etwas wie Erleichterung, wäre da nicht noch dieser eine Job, den sie unbedingt durchziehen wollte – und würde.

»Weil Sie in diesem Büro sitzen und warten.«

Detective Johnson zog einen kleinen Notizblock hervor. »Ist es korrekt, dass Sie heute gegen null Uhr neunzehn einen Anruf auf Ms. Vanessa Bruce’ Smartphone angenommen haben?«

»Ja, das ist korrekt.«

»Wo genau haben Sie das Smartphone her?«

»Im Büro gefunden«, wich sie einer direkten Antwort aus, während ihr Gehirn fieberhaft arbeitete. Wenn das CPD Timberland festnahm, würde er sich einfach wieder einen Anwalt nehmen und irgendwie den Kopf aus der Schlinge ziehen. Nein, sie brauchte erst alle Informationen, bevor sie entschied, wie sie weiter vorgehen würde. Ein Smartphone unter dem Schreibtisch ihres Chefs war kein Indiz, das ein cleverer Anwalt nicht entkräften konnte. Für die Polizei hingegen wäre es womöglich ein Grund, ihn festzunehmen, und damit wäre er außerhalb ihrer Reichweite.

»Wo genau im Büro?«

»Unter dem Schreibtisch, in der Nähe des Stuhls.« Sie richtete den Blick bewusst auf ihren Bürostuhl und konnte sehen, zu welcher Schlussfolgerung der Beamte kam. Erschreckend, wie leicht Menschen durch Körpersprache zu manipulieren waren.

»Seit wann arbeitete Ms. Bruce mit Ihnen zusammen?«

»Seit Montag, also eigentlich drei Tage, da sie ja heute nicht im Büro war.«

»Warum haben Sie Ms. Andrews gedrängt, zur Polizei zu gehen?«

»Weil sie sich offensichtlich große Sorgen um den Verbleib ihrer Freundin machte. Sie sagte, es sei weder ihre Art, unter der Woche über Nacht fortzubleiben, noch sich nicht bei ihr zu melden.«

»Stimmt es, dass sie beide in ihrem Auto herumgefahren sind, um zu prüfen, ob sich Ms. Bruce in einem ihrer Stammlokale aufhielt?«

Innerlich fluchend, nickte sie. »Ja, das haben wir gemacht.«

»Wieso?«, schoss er die nächste Frage auf sie ab.

»Wie ich bereits sagte, machte sich Ms. Andrews große Sorgen. Auch war es ungewöhnlich für Ms. Bruce, ihr Smartphone am Arbeitsplatz liegen zu lassen.«

»Nun, meine Frage bezog sich eher auf Sie, Ms. Tyler. Sie kannten Ms. Bruce gerade mal drei Tage.«

»Kannten?«, hakte sie ein.

Detective Lancy warf seinem Kollegen einen bösen Blick zu, und dieser räusperte sich verlegen.

»Würden Sie bitte meine Frage beantworten?«

»Nur weil man einen Menschen erst kurze Zeit kennt, bedeutet das nicht, dass man sich keine Sorgen um ihn macht.«

»Ms. Tyler, wir möchten Sie bitten, uns aufs Revier zu begleiten.«

»Weshalb?«

»Ms. Andrews sieht sich außerstande, die weibliche Leiche zu identifizieren, die seit heute Morgen bei uns in der Pathologie liegt. Je eher wir wissen, ob es sich um Ms. Bruce handelt, desto höher sind unsere Chancen, die Spur des Verbrechens zu verfolgen.«

Skylar verschränkte die Arme und umfasste ihre Taille. Innerlich breitete sich eisige Kälte in ihr aus.

»Ms. Tyler?«, hakte Johnson nach.

Sie atmete tief durch und nickte. »Ich muss einer Kollegin Bescheid sagen und das Telefon umstellen. Geben Sie mir bitte einen Moment.«


Rechts und links von den Detectives flankiert betrat Skylar den Kühlraum der Pathologie. Einer der Mitarbeiter erwartete sie, vor sich eine Stahlliege, auf der ein Körper mit einem Tuch abgedeckt lag. Er blickte Detective Lancy an, der wiederum auf Skylar schaute. Sie nickte und stellte sich so hin, dass sie das Gesicht ansehen konnte, das unter dem Tuch zum Vorschein kam. Sie erinnerte sich an einen Tag vor achtzehn Jahren, an dem sie in einem ähnlichen Raum mit zwei anderen Detectives an ihrer Seite die Leiche ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders hatte identifizieren müssen. Ihre Mutter, die an den Folgen der Faustschläge ins Gesicht gestorben war. Der Anblick ihres Vaters war ihr erspart geblieben.

Unterhalb von Vanessas Haaransatz befand sich eine Blutkruste. Die Augen hatte man ihr geschlossen, dennoch glaubte Skylar, die Angst unter den Lidern sehen zu können. Das Gesicht wies noch weitere Spuren von Gewalt auf. Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte sie die junge Frau gezwungen, nach Hause zu fahren, um sich etwas Anständiges anzuziehen.

»Ms. Tyler?«

Das Gesicht der Toten verschwamm vor ihren Augen. Jemand packte sie sanft an den Schultern. Der Mitarbeiter der Pathologie deckte Vanessa wieder zu, und er tat es in einer derart respektvollen Weise, dass sie dem Mann dankbar zunickte.

Nachdrücklich schob man sie aus dem Raum. Draußen wurde ihr ein Stuhl hingestellt, und Detective Lancy nötigte sie nachdrücklich, sich zu setzen.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«, fragte Johnson und reichte ihr ein Papiertaschentuch, das sie dankbar annahm.

»Nein.« Sie atmete durch. »Ja, es ist Vanessa Bruce«, bestätigte sie, was die Polizeibeamten ohnehin bereits anhand ihrer Reaktion ahnten.


Sie lag unter dem Gebüsch und blickte durch das Nachtsichtzielfernrohr ihres Scharfschützengewehrs, eines McMillan Tac-50. Für jeden Auftrag verwendete sie eine neue Waffe. Die Seriennummer war sorgfältig abgeschliffen worden. Das Gewehr war in schlechtem Zustand gewesen, aber sie hatte es gepflegt, geölt und damit trainiert. Niemanden aus dem Konzil interessierte es, wie sie ihren Auftrag ausführte. Das alte Fahrzeug, das sie bei einem Autohändler für 660 Dollar in bar erstanden hatte, parkte in einer Straße einen Block entfernt. Die letzten Spaziergänger hatten den Park vor einer knappen Stunde verlassen. Dann war doch noch ein Jogger mit einer Stirnlampe gekommen und zuletzt ein Hundebesitzer, der zum Glück zu sehr in das Telefongespräch mit seiner Freundin vertieft war, als dass er auf das Schwanzwedeln seines Hundes geachtet hätte, als das Tier sie im Gebüsch witterte. Solche Dinge waren einfach nicht kalkulierbar. In ihrer Ausbildung hatte ihr Trainer sogar einmal eine Schlange über sie kriechen lassen. Dennoch bedeuteten Hunde eine ungleich größere Gefahr, entdeckt zu werden.

Die Timberland-Mädchen lagen im Bett. Das Ehepaar hatte sich gestritten. Durchs Zielfernrohr hatte sie hilflos mitangesehen, wie Timberland seine Frau schlug. Zu dem Zeitpunkt war der Jogger im Park aufgetaucht, und sie hatte nicht schießen können. Auch wäre es gefährlich gewesen, denn bei dieser Distanz war es durchaus möglich, dass sie, wenn sich ihr Ziel beim Kampf nur leicht aus der Schusslinie bewegte, die Frau treffen würde. Geduldig harrte sie weiter aus.

Johnson war ein aufmerksamer, ehrgeiziger Detective, der seiner Arbeit leidenschaftlich nachging. Egal wie gut ihre Vita war, sie war sich nicht sicher, wie lange sie seinen Nachforschungen standhalten würde. Sie wusste, ihr blieb keine Zeit mehr, dabei hasste sie es, ihrem eigenen Plan zuwider zu handeln. Als sie im Büro der Detectives kurz allein gelassen worden war, hatte sie den auf dem Schreibtisch liegenden Bericht des Pathologen überflogen. Nein, Vanessa Bruce war keinen leichten Tod gestorben.

Sie sah, wie Derek Timberland in sein Arbeitszimmer ging. Perfekt. Einen besseren Platz hätte er sich für sein Ableben nicht aussuchen können. Er ließ ein Glas mit Whisky und Eis in seiner Hand kreisen, während er nachdenklich an die Decke starrte. Skylar warf einen letzten Blick auf ihre Instrumente. Windgeschwindigkeit, Windrichtung und sicherheitshalber noch einmal die Distanz. Sie korrigierte die Position des Laufs minimal, dann drückte sie ab. Der Schuss schreckte die tierischen Parkbewohner auf. Ein Karnickel sprang aus seinem Bau, dessen Eingang in ihrer Nähe lag, und jagte über die Rasenfläche. Skylar beobachtete ihre Umgebung, aber nichts wies darauf hin, dass jemand ihren Schuss bemerkt hatte. Ein kurzer Kontrollblick durch das Zielfernrohr – über der Nasenwurzel direkt zwischen den Augen befand sich ein kreisrundes Loch in Timberlands Kopf. Er würde nie wieder seine Frau schlagen oder eine seiner Angestellten belästigen. Bisher hatte er noch nie eines seiner Opfer getötet. Sie hatte gelesen, dass Vanessa sich heftig gewehrt haben musste. Vermutlich Panik von seiner Seite, diesmal das falsche Opfer gewählt zu haben, eines, das ihn anzeigen würde.

Sorgfältig packte sie die Patronenhülse ein und machte sich daran, die Mordwaffe zu verpacken und die Spuren zu beseitigen. Ihr Auftrag war erledigt und die Welt um ein Schwein ärmer.

3

Die Jagd beginnt

»Bisher ging man davon aus, dass Gewaltverbrecher zumeist unsichere Menschen sind, die die Unterlegenheit, die sie gegenüber anderen Menschen empfinden, durch die Ausübung von Gewalt wettmachen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Gewaltverbrecher sind der Überzeugung, das Richtige zu tun, die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren. Sie glauben daran, dass alle anderen nur nicht bereit sind, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und das Notwendige zu tun. Das ist selbstverständlich nur ein Aspekt. Ja, Mr. Duncan, Sie haben eine Frage?«

»Warum gibt es eigentlich mehr Serienkiller als –killerinnen?«

»Nun, weil Letzteren der Schwanz fehlt.«

Einen Moment herrschte Totenstille im Saal. Er konnte sehen, wie sich der weibliche Teil seiner Zuhörerschaft empört aufrichtete, lächelte und hob beschwichtigend die Hände.

»Testosteron, meine Damen und Herren. Die Hormone steuern unser Verhalten. Oder aber Frauen sind geschickter darin, ihre Spuren zu verwischen.«

Rees fuhr mit der Vorlesung fort und öffnete das klinische Gutachten aus der Akte eines Serienmörders auf seinem Laptop, dessen Bildschirm auf die Leinwand projiziert wurde. Er erläuterte und stellte Fragen. Es war ihm wichtig, seinen Studenten klarzumachen, dass es nicht um das eine Muster und den bestimmten Menschen ging, wenn man die Neigung zu Gewaltverbrechen untersuchte. Es gab ein komplexes Gebilde, das einen Ermittler dazu zwang, ständig außerhalb des gesteckten Rahmens zu denken.

In der letzten halben Stunde beantwortete Rees die Fragen seines Auditoriums, bevor er die Vorlesung abschloss.

»Professor Dr. Stancell?«

Überrascht wandte er sich der letzten verbliebenen Person im Hörsaal zu, einem Mann, der sich ihm näherte. Er lächelte erfreut und streckte die Hand aus. »Agent Gilmore, was treibt Sie zurück in meine Vorlesung?«

»Wir alle können ab und an eine Auffrischung gebrauchen.«

»Allein Ihre Antwort bestätigt mir wieder einmal, dass Sie einer meiner besten Studenten sind. Also, weshalb sind Sie wirklich hier?«

»Scheint, als hätten Sie das Gedankenlesen noch nicht verlernt, Professor. Hätten Sie etwas Zeit für mich?«

Rees packte seinen Laptop zusammen. »Den ganzen restlichen Tag. Für heute habe ich meine Veranstaltungen beendet.«

»Was halten Sie von einem Steak?«

»Ich hoffe, Sie meinen das essenstechnisch.« Rees verzog die Nase. Manchmal fragte er sich selbst, warum er sich mit den tiefen Abgründen des menschlichen Geistes beschäftigte.

»Im ›Outback‹, oder möchten Sie woanders essen?«

»Lassen Sie mich nur kurz Fitzgerald Bescheid geben.«

Gilmore erstarrte. »Ihrem Butler? Er arbeitet noch für Sie?« Rees fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ein Afroamerikaner überhaupt erröten konnte. »Verzeihen Sie, Professor Dr. Stancell. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Rees. Bitte, Brock, nenn mich einfach Rees. Wir können uns doch duzen. Du bist schließlich nicht mehr einer meiner Studenten.«


Sie bestellten ihr Essen und erhielten ihre Getränke, bevor Brock so weit war, mit der Sprache herauszurücken.

»Vor drei Jahren gab es kurz hintereinander zwei Morde an bekannten Geschäftsleuten, in beiden Fällen durch einen Schuss aus weiter Entfernung …«

»Wie weit?«

»Einmal 2.178 Meter, das andere Mal 1.934 Meter. Beide Einschüsse lagen oberhalb der Nasenwurzel etwa zwischen den Augenbrauen. Es wurde ein kleines Kaliber verwendet, das im Gehirn seine Spuren zieht wie eine Billiardkugel.«

»Mit anderen Worten, der Schütze wusste, was er tat.«

»Absolut. Charles Dixon …«

»Du meinst Dixon, der vor drei Jahren als Senator für den Staat Virginia ins Rennen ging und die Wahl so gut wie in der Tasche hatte, als er ermordet wurde?«

»Genau der. Seinetwegen wurden wir überhaupt zu dem Fall hinzugezogen.«

Rees pfiff leise durch die Zähne, lächelte dann die Kellnerin an, die errötete, als sie ihm den Teller mit seinem Steak Diana hinstellte.

»Vielen Dank, …« Er schaute rasch auf ihr Namensschild. »… Shenea. Ein wunderschöner Name.«

»Danke, Sir.« Sie schmolz regelrecht dahin.

Er nahm ihr den Teller für Brock aus der Hand, damit er nicht auf dem Boden landete.

»Verzeihung, Sir.«

»Kein Problem«, brummte Brock und nahm den Teller aus Rees’ Hand.

Sie warteten, bis die Kellnerin außer Hörweite war.

»Sie können es nicht lassen.«

»Glaub mir, eine Frau glücklich zu machen, ist mit nichts zu vergleichen.«

»Weshalb brechen Sie ihnen dann regelmäßig das Herz?«

Rees deutete mit der Gabel auf sein Gegenüber. »Wollen wir über den Fall reden oder über mein Liebesleben? Letzteres geht dich nämlich nicht das Geringste an.«

»Der andere Mord war der an Spencer Moore. Beide Opfer wurden im Abstand von sechzehn Stunden getötet. Die räumliche Distanz betrug 239 Meilen. Die Tötungsmethode war exakt dieselbe. Schuss aus weiter Entfernung mit Kleinkaliber und direkt durch die Nasenwurzel. Typ und Marke des Scharfschützengewehrs waren identisch, allerdings handelte es sich nicht um dieselbe Waffe. Aus dem Grund wurden die Morde zuerst zwei Tätern zugeordnet.«

»War Moore nicht der Hauptsponsor für die Wahlkampagne von Dixon?«

»Sie erinnern sich verdammt gut an die Fälle.«

»Noch mal, Brock, du kannst mich duzen, und ich hoffe, du zählst mich jetzt nicht zu den Verdächtigen. Auch wenn ich in der SAS gedient habe, bedeutet das nicht, dass ich eine Scharfschützenausbildung hätte.«

»Ich nehme an, dass die Briten mir keinen Einblick in Ihre – Verzeihung, deine – Akte geben werden, damit ich mich selbst davon überzeugen kann?«

Rees grinste. Er mochte Brock wegen seiner Geradlinigkeit und weil er eine ehrliche Haut war, erfrischend anders als viele der Menschen, mit denen er es sonst zu tun hatte. Statt ihm zu antworten trank er einen Schluck von seinem Tee.

»Zuerst konzentrierte sich unsere Ermittlungsarbeit einzig und allein auf die Wahlkampagne.« Brock schnitt sich ein Stück von seinem Steak ab.

Rees folgte seinem Beispiel. Das Fleisch war hervorragend zubereitet und von ausgezeichneter Qualität. »Aber es gibt noch einen anderen Zusammenhang.«

»Wie kommen Sie – ich meine, wie kommst du darauf?«

»Du hast nicht weitergeredet, sondern angefangen zu essen. Das ist eine Art Übersprungshandlung. Du überlegst, ob du mir den nächsten Fakt anvertrauen kannst oder nicht. Dementsprechend muss es sich um etwas handeln, von dem die Öffentlichkeit nichts weiß.«

Er genoss den verdatterten Gesichtsausdruck des FBI-Agenten. Auf der anderen Seite fühlte er sich leicht gekränkt. Immerhin war er ein Spezialist auf seinem Fachgebiet, was also hatte sein Gegenüber erwartet?

Brock sah sich um. Zur Lunchzeit war das Lokal kaum belegt. Er beugte sich vor. »Beide Männer misshandelten Frauen. Moores erste Ehefrau hatte Anzeige erstattet, sie später aber zurückgezogen. Sie ließ sich dann scheiden und bekam eine großzügige Abfindung. Bei Dixon war es die Leiterin seines Wahlbüros, die ihn angezeigt hatte. Auch dieses Verfahren war im Sande verlaufen, da die Glaubwürdigkeit der Frau angezweifelt wurde. Sie nahm Drogen.«

»Fanden sich später Beweise für einen Missbrauch?«

»Wir sicherten einiges an Material auf Dixons Rechner. Glaub mir, der Mann war ein echtes Dreckschwein.«

»Warum kam es dann weder zu einer Verhaftung noch später zu einer Verurteilung? Ich meine, schließlich existierten die Beweise ja nicht erst nach seinem Tod.«

»Nein. Formulieren wir es mal vorsichtig. Dixon verfügte über Kontakte in ganz hohen Kreisen. Erst durch meine Nachforschungen wurde das Material ans Tageslicht befördert. Das Federal Bureau wurde aufgefordert, die Ermittlungsarbeiten in dieser Richtung einzustellen. Offensichtlich war man bemüht, die Toten nicht im Nachhinein in ein schlechtes Licht zu rücken. Was dazu führte, dass auch eine Aufklärung der Tathintergründe verhindert wurde.«

»Was dich nicht davon abhielt, in eben dieser Richtung weiterzuforschen.«

Brock verzog das Gesicht. »Nicht ganz. Eine Zeit lang glaubte ich, dass es sich bei den Morden um einen Racheakt handelte. Die erste Mrs. Moore schien nicht sonderlich überrascht vom Tod ihres Mannes. Im Gegenteil, sie feierte seinen Tod mit einer Party.«

»In Anbetracht des Sachverhalts kannst du ihr das vermutlich nicht verdenken.«

»Hätte sie die Anzeige nicht zurückgezogen, wäre er hinter Gittern gelandet.«

»Du weißt, dass solche Fälle nicht ganz einfach sind. Hüte dich davor, Position gegen etwas zu beziehen, was du als Mann nur schwer beurteilen kannst. Frauen wurden jahrhundertelang unterdrückt und missbraucht, und ein Ende davon ist noch lange nicht in Sicht. Jetzt schau mich nicht so überrascht an. Ich liebe Frauen, würde ich mich sonst ständig um sie bemühen?«

Der düstere Ausdruck seines Gegenübers verwandelte sich in ein Lächeln. Rees fand, dass die Welt bereits viel zu traurig war, um beständig schweren Gedanken nachzuhängen. »Also gehst du von einer Frau als Täterin aus. Interessant.«

»Ja, zuerst tat ich das, doch dann fing ich an, unaufgeklärte Mordfälle mit männlichen Opfern in unserer Datenbank zu suchen, die durch einen Kopfschuss zu Tode gekommen waren. Ich fand siebenunddreißig Fälle, davon sechsundzwanzig in den USA, neun in Europa und zwei in den skandinavischen Ländern. Drei davon waren Briten.«

Rees stieß einen leisen Pfiff aus. »Beeindruckend. In welchem Zeitraum?«

»In den letzten vierzehn Jahren.«

»Keine Verstümmelungen, keine Briefe, Bekennerschreiben oder sonst irgendetwas?«

»Nichts.«

»Wurden Personen beschützt?«

»Sie hatten private Sicherheitsfirmen beauftragt, einige leisteten sich Bodyguards oder sie standen unter dem Schutz des Secret Service.«

»In dem Fall würde ich auf einen Mann tippen, der das Töten zu seinem Beruf gemacht hat und in keiner Beziehung zu den Mordopfern steht.«

Ein feines, zufriedenes Lächeln lief über Brocks Lippen. »Das Interessante an der Sache ist, dass ich das Gefühl nicht loswerde, mir würden mehr Steine in den Weg gelegt, je näher ich der Person auf den Pelz rücke. Oder anders ausgedrückt – mir fehlen inzwischen die Ressourcen für den Fall.«

»Weshalb du zu mir gekommen bist.«

»Es ist immer wieder erfrischend, dass man dir nie erklären muss, was man will.«

»Oh, das war nun wirklich nicht schwer. Ich halte Vorlesungen beim FBI, unterliege aber nicht euren Vorschriften. Es ist nicht das erste Mal, dass man mich zu kniffligen Fällen hinzuzieht, und der große Vorteil ist, dass das FBI mich in diesem Fall nicht bezahlen wird.«

Jetzt erschien auf dem Gesicht seines Gegenübers ein schiefes Grinsen. Rees hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

»Ich muss gestehen, dass mich der Fall interessiert.«

»Auf diese Antwort hatte ich gehofft.«

»Okay, wie bekomme ich Zugang zu den bisherigen Ergebnissen deiner Ermittlungsarbeit?«

»Du erhältst wie üblich einen befristeten Zugang.«

»Aus wie viel Mann besteht die Truppe?«

Brock deutete mit seiner Messerspitze erst auf sich, dann auf ihn.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Wie gesagt, ich bewege mich aktuell unter dem Radar. Nur ein paar Leute wissen überhaupt, dass ich weiterhin an dem Fall arbeite.«

»Und wie willst du die ganze Arbeit bewältigen?«

»Je nachdem, was wir brauchen, können wir unter dem Deckmantel eines anderen Falls auf verschiedene Ressourcen zugreifen. Nur nicht offiziell.«

»Ich verstehe.« Rees lehnte sich zurück. Er konnte fühlen, wie Adrenalin in seinen Kreislauf strömte. Er genoss solche Aufträge, weil sie ihm denselben Kick gaben wie erstklassiger Sex. Mit dem Unterschied, dass sie länger anhielten.

»Die Vorlesungen in Quantico kann Agent Bristol übernehmen. Wie sieht es mit deinen Veranstaltungen bei der National Defense University aus?«

»Das kläre ich mit Colonel Graham.«


Rees ließ sich in den Bürostuhl zurückfallen und wippte vor und zurück, während er auf seine Notizen starrte. Er hatte in den letzten sechs Tagen sämtliche Fälle durchgearbeitet. Mehrere Aspekte fand er interessant. In den meisten Fällen war die Person allein gewesen, abgesehen von den Bodyguards. Nie war der Mord vor breitem Publikum geschehen, obwohl viele der Zielpersonen im Fokus des öffentlichen Interesses gestanden hatten. Es handelte sich ausschließlich um einflussreiche Männer, sei es auf politischer, wirtschaftlicher, karitativer, künstlerischer oder religiöser Ebene. Eines der britischen Opfer war ein bekannter Pop-Sänger gewesen, der bereits zweimal wegen Vergewaltigung angeklagt worden war. Beide Prozesse waren aus Mangel an Beweisen zu seinen Gunsten entschieden worden. Im Verlauf des zweiten Prozesses war die Glaubwürdigkeit der Anklägerin in einer systematischen Schlammschlacht der Presse untergraben worden. Ein halbes Jahr später hatte die Frau Selbstmord begangen. Dieser Hergang war kein Einzelfall. Nur bei fünf Anschlagsopfern gab es keine ähnliche Vorgeschichte.

Der zweite auffällige Aspekt an den Morden war, dass sie kühl und strategisch berechnet waren. Der Tod erfolgte rasch. Die Schüsse waren immer präzise, jeweils nur ein Schuss. Jede militärische oder polizeiliche Einheit würde sich die Finger nach einem derartigen Scharfschützen lecken. Rees hatte einen alten Freund aus seiner SAS-Zeit angerufen und ihm ein paar Daten von seiner Ansicht nach besonders herausfordernden Schüssen übermittelt. Auch war nie eine andere Person verletzt worden. Obwohl bei einigen der Opfer die Sicherheitsleute rasch reagiert hatten, war man dem Täter nicht einmal ansatzweise nahe gekommen. Die DNA-Spuren an den Tatorten ließen auf einen hellhäutigen Mann von kaukasischem Typus schließen. Sie hatten jedoch zu keinem Treffer in der Verbrecherdatenbank geführt. Die Kugeln am Tatort stammten jeweils aus einer anderen Waffe. Auch bei dem Abgleich der Waffen mit der Datenbank gab es keine Übereinstimmungen. Aufgrund der Spuren, der verwendeten Munition, der Distanz und der Präzision der Schüsse ging das FBI davon aus, dass es sich in allen Fällen um ein McMillan Tac-50 handelte, ein Scharfschützengewehr, das in der NATO verwendet worden war und auf das die kanadischen Scharfschützen weiterhin schworen. Das Gewehr war die bisher heißeste Spur, die Brock verfolgte. Alles andere, auch die Suche in üblichen Internetforen, in denen man Auftragskiller beauftragen oder hohe Geldtransferleistungen vornehmen konnte, von denen man entsprechend dem Reichtum und der Stellung der Zielpersonen ausgehen musste, waren im Sande verlaufen.

Das war der dritte Aspekt, der Rees persönlich am meisten faszinierte. Wie schaffte es jemand, in vierzehn Jahren siebenunddreißig Menschen zu töten und keine brauchbaren Spuren zu hinterlassen? Viele der DNA-Spuren waren unspezifisch und ergaben keine Treffer in der DNA-Analyse-Datei. Man konnte fast meinen, jemand lege es bewusst darauf an, die Tatorte zu verunreinigen.

Rees klappte den Laptop zu, dehnte und streckte sich. Sein Blick fiel auf das Fenster und er erschauderte. Der Gedanke, dass dort draußen jemand frei herumlief, der in der Lage war, ihm mit einem Schuss aus über einem Kilometer Entfernung das Leben zu nehmen – und er würde es nicht einmal merken, wenn er ihn in diesem Moment im Visier hatte –, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er zuckte zusammen, als sein Smartphone klingelte. Es war Brock.

»Ich bin eben erst mit dem Material durch. Gib mir die Nacht, damit ich darüber schlafen kann«, sagte er, indem er ihn erst gar nicht zu Wort kommen ließ.

»Und wie schnell kannst du am Flughafen sein?«

»Bitte?« Rees hatte einige Mühe, sich von den Informationen, die noch in seinem Kopf herumschwirrten, zu lösen, um sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Wir haben zum ersten Mal eine heiße Spur.«


Rees schätzte Detective Lancy auf Mitte vierzig, seinen Kollegen Johnson auf Anfang dreißig. Beiden gefiel es nicht, dass sich das FBI in ihren Fall einmischte. Das Mordopfer war Derek Timberland, der mit einem präzisen Kopfschuss, wie er dem Profil ihres Täters entsprach, zur Strecke gebracht worden war. Interessant daran war, dass einen Tag zuvor die Leiche einer vergewaltigten Frau mit schweren Abwehrverletzungen gefunden worden war, die drei Tage zuvor im Sekretariat von Derek Timberland ein Praktikum begonnen hatte. Die junge Frau war von ihrer Mitbewohnerin Louis Andrews als vermisst gemeldet worden. Eigentlich hatte das CPD Zeit verstreichen lassen wollen, bevor man der Vermisstenanzeige nachging. Immerhin war die junge Frau vierundzwanzig und es konnte viele Gründe geben, weshalb sie über Nacht nicht zu Hause war. Doch dann wurde eine Leiche in die Pathologie eingeliefert, und anhand der Beschreibung und Bilder war rasch klar, dass es sich bei ihr um die vermisste Vanessa Bruce handelte. Zu guter Letzt wurde auch die Sekretärin von Derek Timberland vermisst, die durch das Auffinden von Ms. Bruce’ Smartphone im Büro die Suche erst in Gang gesetzt und später die Leiche identifiziert hatte.

»Um sechs Uhr sechs erhielten wir den Anruf der Ehefrau des Verstorbenen. Sie hatte die Leiche ihres Mannes entdeckt, war völlig aufgelöst und hysterisch. Wir erreichten das Haus eine knappe Dreiviertelstunde später. Trotz Schminke sah man deutlich, dass die Frau misshandelt worden war. Als wir nachfragten, behauptete sie, sie habe sich gestoßen«, sagte Lancy am Ende der Schilderung des vergangenen Tages.

»Gab es Anzeigen gegen Derek Timberland? Wegen sexueller Belästigung oder Vergewaltigung?«, klinkte sich Brock ein.

»Vor vier Jahren beschuldigte ihn eine Frau, sie sexuell belästigt zu haben, doch sie war kurz zuvor wegen Betrugs entlassen worden. Man wertete die Anzeige als Racheakt. Später zog die Frau sie zurück.«

Rees und Brock wechselten einen kurzen Blick. Auch das passte zum Opferprofil. Ein unbestraftes Sexualverbrechen.

»Sie meinen, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Tod von Vanessa Bruce und dem Mord an Derek Timberland?«, fragte der FBI Agent. Diesmal sahen sich die beiden Polizisten an.

»Auf jeden Fall ist die zeitliche Nähe beider Todesfälle bemerkenswert. Die Frau, die uns vermutlich mehr hätte sagen können, zumindest, was das Verhältnis zwischen Ms. Bruce und Mr. Timberland betrifft, ist verschwunden.«

»Sie fürchten, dass sie ebenfalls getötet wurde?«

»Wir fanden es zumindest befremdlich, dass Ms. Tyler das Mädchen zusammen mit der Mitbewohnerin so hartnäckig suchte, obwohl sie Ms. Bruce gerade erst zwei Tage kannte. Laut Ms. Andrews hatte sie darauf bestanden, dass diese zur Polizei geht. Sie habe sie regelrecht dazu gedrängt und beschworen, sich auf keinen Fall von uns abwimmeln zu lassen. Sie selbst ist dagegen nicht mitgegangen. Warum das alles?«

»Sie halten Ms. Tyler für die Todesschützin?«, fragte Rees neugierig, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.

Der ältere Detective schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, nein, keinesfalls. Sehen Sie, Dr. Stancell, Ms. Tyler ist eine Frau vom alten Schlag. An dem Tag, als Ms. Bruce verschwand, war es laut einer anderen Angestellten zwischen den beiden Frauen zu einem Streit gekommen. Ms. Tyler hielt Ms. Bruce für unpassend gekleidet zur Büroarbeit. Sie schickte sie nach Hause, weil sie darauf bestand, dass sie sich umziehen sollte.«

Rees musste schmunzeln. Auch er fühlte sich ab und an versucht, eine seiner Studentinnen nach Hause zu schicken, damit sie sich ›züchtiger‹ anzog. Nicht, dass er persönlich ein Problem mit aufreizender Kleidung gehabt hätte, doch die männlichen Vertreter seiner Studentenschaft ließen sich durch die leichte Bekleidung ihrer Kommilitoninnen nun mal gern ablenken.

»Und hat Ms. Bruce dem Folge geleistet?« In diesem Fall hätte er gern gewusst, wie die Sekretärin das durchgesetzt hatte.

Johnson runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt haben wir das nicht gefragt.«

»Lag es nur an der unterschiedlichen Auffassung der zwei Frauen, wonach die Kleidung jeweils als passend oder unpassend fürs Büro gewertet wurde?«

»Das ist nur eine der Fragen, die wir Ms. Tyler gern stellen würden. Eine andere wäre, wo genau sie das Smartphone von Ms. Bruce gefunden hat.«

»Soll das heißen, Sie haben sie das nicht gefragt?«, übernahm Brock wieder das Wort.

Johnson bekam hektische Flecken auf den Wangen. Lancys Haltung versteifte sich.

»Selbstverständlich haben wir Sie danach gefragt. Immerhin war das ein wichtiger Hinweis. Sie sagte, es sei unter dem Schreibtisch gewesen. Wir gingen zu dem Zeitpunkt davon aus, dass sie von ihrem eigenen Schreibtisch sprach. Die Spurensicherung stellte jedoch anhand von Teppichfasern fest, dass das Handy unter Mr. Timberlands Schreibtisch gelegen haben muss. Warum also hat sie uns das nicht gesagt?«

»Wenn sie eine Sekretärin der alten Schule ist, wollte sie vielleicht ihren Chef schützen?«, mutmaßte Rees.

»Waren Sie schon in Ms. Tylers Wohnung?«, wollte Brock wissen.

»Dorthin wollten wir eben, als uns der Chief Inspektor aufhielt«, gab Johnson gereizt zurück.

»Worauf warten wir dann noch?« Mit einem Grinsen versuchte Rees, die Spannung zwischen den Männern aufzulockern.


Das kleine Ein-Zimmer-Apartment befand sich in Chinatown oberhalb eines Ladens. Eine Bruchbude, in der Rees keine Nacht verbracht hätte. Allerdings war alles penibel sauber. Im Kühlschrank befanden sich überwiegend frische Produkte, vollwertige Lebensmittel, alles von Bioqualität. Mit einem Magneten war eine Einkaufsliste am Kühlschrank befestigt. In einer klaren, geradlinigen Schrift stand dort: Tomaten, Fenchel, Auberginen, Zucchini, Vollkornreis. Die Aufzählungsstriche standen perfekt untereinander, und die ersten Buchstaben bildeten ebenfalls eine senkrechte Linie. Rees machte ein Foto. Ein Blick in den dürftig ausgestatteten Kleiderschrank von Ms. Tyler reichte Rees, um zu verstehen, was Detective Lancy mit seiner Bemerkung vom alten Schlag implizieren wollte. Hochgeschlossene Blusen, Rollis, knielange Röcke und weit geschnittene Hosen, Schuhe mit Keilabsatz und einer maximalen Höhe von zweieinhalb Zentimetern. Die Unterwäsche sah praktisch und komfortabel aus.

Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die beiden Frauen aneinandergeraten waren. Im Bad herrschte dieselbe Ordnung wie überall in der Wohnung. Das Make-up war überschaubar. Das Bett war ordentlich gemacht, und alles wirkte so, als wäre jemand morgens zur Arbeit aufgebrochen und nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Was ihn hingegen irritierte, war das Fehlen persönlicher Gegenstände in der Wohnung. Immerhin hatte Ms. Tyler drei Monate in dem Apartment gelebt. Die Beschreibung des Vermieters hätte auf jede durchschnittliche Frau mittleren Alters gepasst. Oder auch nicht, denn er betonte, Ms. Tyler sei überaus freundlich, zuvorkommend und ordentlich gewesen. Sie hätte sich im Gegensatz zu den anderen Mietern nie beschwert und immer pünktlich die Miete bezahlt. Bar. Zuletzt hatte der Vermieter sie am gestrigen Morgen das Haus verlassen sehen. Auch die Befragung der anderen Mieter führte zu keinem anderen Ergebnis. Die Hornbrille wurde als einziges auffälliges Detail an Ms. Tyler erwähnt. Niemand schien in der Lage zu sein, die Frau eindeutig zu beschreiben.


Erst nachdem das CPD den Staatsanwalt einschaltete, rückte die Personalabteilung des Unternehmens Kira Tylers Personalakte heraus. Drei Tage später gab es noch immer keine Spur von der Frau. Weder war sie in ihrem Apartment gewesen, noch hatte sie sich bei der Arbeit zurückgemeldet. Die Art, wie sie von Personen, die mit ihr Kontakt hatten, beschrieben wurde, war beinahe unheimlich gleichartig. Das Foto in ihrer Bewerbung zeigte – anders konnte es auch Rees nicht ausdrücken – tatsächlich eine Frau mittleren Alters, durchschnittlich, unauffällig bis auf – wie es auch die Nachbarn erwähnt hatten – die altertümliche Hornbrille. Für ihn wirkte sie eigenartig ostentativ, fast künstlich, als wollte sie ein Klischee bedienen und damit bewusst den Fokus des Betrachters darauf lenken. Ihre Zeugnisse klangen genau so, wie alle Ms. Tyler beschrieben hatten: zuverlässig, kompetent, gewissenhaft, fleißig und belastbar. Niemand lobte sie über den grünen Klee, jedoch wirkte sie interessant genug, dass man sie zur Probe einstellte. Nach einer Woche Arbeit war klar gewesen, dass Ms. Tyler die Stelle zur Zufriedenheit aller Beteiligten ausfüllte, einschließlich der ihres Chefs Derek Timberland.

»Es ist zum Verrücktwerden«, brummte Brock, der sich durch die Gesprächsprotokolle arbeitete. »Ich hatte gehofft, dass ich endlich mal eine heiße Spur hätte, und jetzt ist sie kalt, bevor sie überhaupt etwas bringen konnte.«

»Du denkst, der Killer, der Timberland auf dem Gewissen hat, hat auch Ms. Tyler beseitigt?«

»Was sonst?«

»Die Frau ist wie vom Erboden verschluckt.« Rees runzelte nachdenklich die Stirn.

»Man könnte beinah glauben, sie wäre nur ein Geist gewesen. Ihr Schreibtisch ist vorbildlich aufgeräumt. Sie hat systematische Stapel mit Notizen hinterlassen, sodass sich jemand anderes zurechtfinden kann. Wer macht so etwas?«, fragte sich Brock laut.

»Niemand. Aber vielleicht ist genau das der Punkt.«

Verwirrt hob Brock den Kopf. Rees verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Das Foto von Ms. Tyler nahm seinen Bildschirm komplett ein. Er studierte es eingehend. »Sie wäre perfekt.«

»Perfekt?« Brock stellte sich hinter ihn.

»Ja. Niemand käme auf die Idee, in dieser Frau eine Auftragskillerin zu vermuten, die siebenunddreißig – pardon, achtunddreißig – Tote auf dem Gewissen hat.«

»Und warum sollte sie dreieinhalb Monate für den Mann arbeiten, bevor sie ihn tötet?«

»Um ihm nahe zu sein. Um seinen Tagesablauf kennenzulernen, den besten Zeitpunkt herauszufinden, an dem sie zuschlagen muss. Sie will nur ihre Zielperson töten. keine der Sicherheitskräfte kam je zu Schaden, und wenn es Familie gab, war niemand davon bei der Durchführung der Tat anwesend. In dieser Hinsicht ist der Mord an Derek Timberland tatsächlich eine Neuheit. Wahrscheinlich wollte sie eigentlich am Wochenende zuschlagen.«

»Am Wochenende?« Brock hob die Augenbrauen.

»Mrs. Timberland wollte mit den Kindern ihre Eltern besuchen, du hast es mir vorhin noch vorgelesen.«

»Ich weiß nicht. Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt. Das McMillan Tac-50 bringt gut zwölf Kilo auf die Waage. Sieh dir die Frau an, sie ist zwar stabil gebaut, aber nicht durch Muskeltraining, sondern eher vom Essen.«

»Klar, deshalb gab es auch nur Gemüse in der Wohnung, und keine Schokolade, keine Chips oder Eis. Nenn mir eine Frau, die weder Schokolade noch Eis im Haus hat.«

»Der Schuss erfolgte nachts«, warf Brock ein und rümpfte die Nase.

»Und du meinst, eine Frau sei nicht dazu in der Lage? Denk an den Zweiten Weltkrieg – Ljudmila Michailowna-Pawlitschenko. Man schätzt, dass sie in dem Jahr, in dem sie der 25. Schützendivision zugeteilt war, dreihundertneun Feinde getötet hat. Damit belegt sie bis heute Platz drei der zehn tödlichsten Scharfschützen.«

»Ja, aber schau dir die Frau auf dem Bild an.«

Rees beugte sich vor. »Exakt. Wie fit bist du in der griechischen Mythologie?« Er unterdrückte ein Schmunzeln, als ihn Brock ansah, als hätte er ihm gerade ein unanständiges Angebot gemacht.

»Also sagen dir die drei Rachegöttinnen nichts?«

Brock schüttelte den Kopf.

»Alektos, Megaira und Tisiphone, drei Schwestern – die niemals Rastende, die Beneiderin und die Mordrächerin. Tisiphone bestraft die Mörder und rächt somit die Opfer. Wie würdest du von Chicago flüchten, ohne aufzufallen?«

»Am schnellsten mit dem Flugzeug.«

»Neue Identität, anderes Aussehen. Die Haare. Sie könnte auf dem Foto eine Perücke tragen.«

Nun beugte sich auch Brock vor, um das Bild zu betrachten. »Müsste man da nicht etwas sehen?«

»Ich hatte mal eine Affäre mit einer Theaterschauspielerin. Sechsundzwanzig, bildhübsch, strohblondes langes Haar und unglaublich talentiert. Ich sah sie in Les Misérables, als Cosette. Du hättest glauben können, dass es sich um zwei unterschiedliche Frauen handelt. Nein, du solltest Kira Tyler unbedingt auf die Liste der Verdächtigen setzen.«

4

Wer Zweifel sät

Skylar schloss die Tür auf und schlich sich ins Haus. Ihre Tasche mit den wenigen Habseligkeiten brachte sie in den Keller, wo der Waschraum war. Der größte Teil des Kellers diente ihr als Trainingsraum. Die eine Seite wurde von einer Spiegelfront eingenommen. Sie betrachtete ihre Gestalt. Nach acht Tagen auf der Straße sah sie zerlumpt und müde aus. Sie war querbeet durch die USA gefahren, abwechselnd mit Autos, Greyhound-Bussen und dem Zug. Dabei verwendete sie unterschiedliche Identitäten und änderte ihr Aussehen. Gerade weil sie den Auftrag außerplanmäßig ausgeführt hatte und verschwinden musste, war sie besonders sorgfältig darauf bedacht gewesen, ihre Spuren zu verwischen.

Erst vor zwei Tagen war sie in New York in einem Internet-Café gewesen und hatte eine kurze verschlüsselte Nachricht an Lindsay geschickt. Die wiederum antwortete so prompt, als hätte sie nur auf ihre Nachricht gewartet. Die vor drei Jahren gebildete FBI-Einheit zur Aufklärung der angeblich politisch motivierten Morde an Charles Dixon und Spencer Moore war aufgelöst worden. Niemand ermittelte mehr, wie sie ihr mitteilte. Aber ihre Freude über die Nachricht verflog, als sie weiterlas. Niemand, mit Ausnahme von Agent Brock Gilmore, der offensichtlich einen externen Berater hinzugezogen hatte, einen britischen Gastprofessor, der an der FBI-Akademie in Quantico und an der National Defense University lehrte. Militär und FBI. Nur kurz war sie auf die verlinkte Biografie gegangen. Damit würde sie sich später auseinandersetzen.

Sie ging noch ein Stück dichter an den Spiegel heran, taxierte die Ränder unter ihren Augen. Sie sah alt und verbraucht aus. Zweiunddreißig. Ihre Mutter war einunddreißig Jahre alt geworden. Sie riss sich von ihrem Spiegelbild los und stieg die Treppe hoch.

Gracie saß in der Küche und hielt einen Becher Tee in der Hand. Sie schob ihr den anderen Becher rüber.

Skylar nahm ihn entgegen. »Hi, bist du gerade eben vom Krankenhaus gekommen?«

»Ja, eigentlich wäre meine Schicht schon vor zwei Stunden um gewesen, doch es gab einen Unfall auf der Interstate. Du siehst müde aus.«

»Du auch.«

»Skylar, findest du nicht, dass es an der Zeit wäre aufzuhören?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Du weißt, dass mein Job als Journalistin es nun mal mit sich bringt, viel zu reisen. Von den Artikeln über Ausstellungen hier am Ort könnte ich nicht leben.«

Einen Moment schien es, als wollte Gracie etwas sagen, aber dann schloss sie den Mund und schüttelte nur müde den Kopf.

»Hey, Püppilein.« Skylar legte ihrer Schwester den Arm über die Schulter und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komm klar.«

»Du glaubst ernsthaft, ich wüsste nicht, weshalb du ständig unterwegs bist?« Gracie entzog sich ihrer Umarmung und stand auf. »Ich weiß, dass du mich beschützen willst. Dass du möchtest, dass ich ein normales Leben führe, aber wie soll das funktionieren, wenn ich doch weiß, welchen Preis du dafür zahlst?«

»Ich will nicht mit dir darüber reden, das weißt du. Und jetzt erzähl mir lieber von dem jungen Assistenzarzt, der dich um ein Date gebeten hat.«

»Lenk nicht ab. Das hast du schon immer gemacht. Du warst immer gut darin, die Aufmerksamkeit auf andere zu lenken. Aber diesmal klappt es nicht. Du hast gesagt, dass sich alles ändert, wenn wir wieder zusammen sind, aber du hast gelogen. Du bist noch genauso oft unterwegs wie früher. Ach was, du bist sogar noch viel mehr weg. Ich bedeute dir nichts. Für dich zählt nur noch dein Job.«

»So ist es nicht, das weißt du. Du bist für mich der wichtigste Mensch auf der Welt.«

»Ach wirklich? Warum hörst du dann nicht auf damit?«

»Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Ich arbeite daran, aber ich brauche noch etwas mehr Zeit.«

»Wofür, Sky? Wofür? Was um alles in der Welt macht denn einen Auftrag wichtiger, als wir einander sind? Ich habe mein Versprechen gehalten. Jetzt bist du an der Reihe, deines zu halten.«

Skylar funkelte Gracie an. »Ich habe dir nie ein Versprechen gegeben. Ich lebe, und selbst damit konnte ich kaum rechnen. Das muss dir doch auch klar sein, Gracie. Ich kann für dich da sein, kann Zeit mit dir verbringen und dich beschützen, und das ist mehr, als ich mir jemals erhoffen durfte. Dafür bin ich dankbar.«

»Dankbar? Ist das dein Ernst?«

Skylar verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«

Gracie warf die Hände in die Luft. »Oh, natürlich, jetzt kommst du wieder damit! Dass ich das alles nicht verstehe und dass es komplizierter ist. Weißt du, was ich glaube? Du kennst die Wahrheit, aber du bist zu feige, ihr ins Gesicht zu sehen, weil du dann zugeben müsstest, dass du bist, wer du nie sein wolltest.« Wütend wischte sich Gracie die Tränen vom Gesicht.

Skylar wollte einlenken. Sie hasste es, sich mit ihrer kleinen Schwester zu streiten. »Und wer sollte das sein?«

»Dad. Du bist wie Dad, mit einem Unterschied, denn er wusste, dass es falsch ist. Er hat unter seinem Job so sehr gelitten, dass er am Ende daran zerbrochen ist und sein Leben nur noch mit Drogen und Alkohol ertrug.«

Damit ließ Gracie sie in der Küche stehen und rannte die Treppe hoch. Skylar rutschte an der Wand entlang zu Boden und senkte die Stirn auf die Knie. Sie war müde, so unendlich müde.


»Wonach suchen wir?«, stöhnte Brock mit einem Blick auf die Uhr. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten sie damit verbracht, mit jeder Person zu reden, die mit Kira Tyler in Kontakt gestanden hatte. Rees führte die Gespräche, machte sich Notizen und stellte die Fragen. Fragen, die nach Brocks Auffassung nicht das Geringste mit dem Fall zu tun hatten. Es ging um ihre Gewohnheiten, ihre Ausdrucksweise, ihre Mimik und Gestik, die Art, wie sie sich jemand anderem gegenüber verhalten und welchen Eindruck sie gemacht hatte. Am Ende ging er mit seinen Gesprächspartnern einen psychologischen Fragebogen durch. Der ein oder andere war davon irritiert, doch niemand hatte Rees einen Korb gegeben. Allein das fand Brock beeindruckend. Bei den Frauen konnte er es noch nachvollziehen. Professor Dr. Stancell hatte schon immer eine magische Anziehungskraft auf Frauen ausgeübt. Oft genug hatte Brock mit seinen Kommilitonen darüber spekuliert, ob ein psychologischer Trick dahintersteckte. Selbst in der Beobachterrolle und geschult, konnte Brock jedoch etwas Derartiges nicht feststellen. Der Mann schien, wenn er es darauf anlegte, einfach unwiderstehlich zu wirken, und zwar nicht ausschließlich auf den weiblichen Teil der Befragten.

Es hatte eine Zeit in Brocks Leben gegeben, da hatte er Professor Stancell für diese Fähigkeit im Umgang mit Frauen verachtet. Irgendwann war ihm klar geworden, dass er schlicht und ergreifend neidisch auf ihn war. Brock war eher vom schüchternen Typ, vor allem gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Seine Kommilitoninnen sahen in ihm den beständigen besten Freund, nie ein Objekt der Begierde. Nach und nach hatte er erkennen müssen, dass Dr. Stancell eine klare moralische Linie zwischen seinem beruflichen und seinem privaten Leben zog. Seines Wissens war er nie auf die sexuellen Offerten seiner Studentinnen eingegangen. Interessanterweise schaffte er es mit der Zeit sogar, den Widerstand und die Abwehrhaltung seiner männlichen Hörerschaft zu durchbrechen, spätestens wenn er anfing, sie geistig richtig zu fordern. Noch heute profitierte Brock bei seiner Arbeit von den Vorlesungen des Professors. Vor allem von dessen Forderung, Naheliegendes und logisch Erscheinendes immer zu hinterfragen. Diesmal jedoch hatte er den Verdacht, dass Stancell sich in eine seiner fixen Ideen verrannt hatte.


Mit Zeigefinger und Daumen massierte sich Rees die Nasenwurzel. Er wurde alt. Nur von Kaffee und Donuts konnte man auf Dauer nicht leben. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte es ihm nichts ausgemacht.

Er erhob sich von seinem Stuhl in dem Besprechungsraum, den ihnen das CPD zur Verfügung gestellt hatte. Er reckte und streckte sich, krempelte die Ärmel seines Hemds hoch und verzog die Nase. Er musste dringend duschen und ein neues Hemd anziehen. Langsam dehnte er seine müden Muskeln und brachte den Kreislauf mit weiteren Übungen in Schwung.

Brock löste den Blick vom Laptop und hob die Augenbrauen. »Das meinst du jetzt nicht im Ernst?«

»Schließ dich an. Wenn ich deinen Bauch so ansehe, würden dir ein paar Trainingseinheiten guttun. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich muss eine Pause einlegen.«

»Dem stimme ich zu. Ich brauche dringend eine Dusche und eine Mütze voll Schlaf.«

»Agent Gilmore?« Ein junger Detective hatte die Tür geöffnet und streckte den Kopf herein.

»Ja, haben Sie etwas für uns?«

Kurz schaute der Mann auf Rees, doch der ließ sich nicht von seinen Liegestützen ablenken. Brock forderte den Störenfried ungeduldig winkend auf hereinzukommen.

»Wir haben wie von Ihnen gewünscht Züge, Busse, Autoverleihfirmen und Autohändler mit dem Foto von Ms. Kira Tyler konfrontiert.«

Rees beendete seine Übungen und erhob sich. Er konnte spüren, wie das Jagdfieber die restliche Müdigkeit aus seinem Körper vertrieb.

»Und?«, drängte Brock den Mann.

»Ein Autohändler hat sie erkannt. Sie hat einen Kia Sportage Modelljahr 2008 gekauft und bar bezahlt.«

»Hat sie das?« Rees konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und sah hinüber zu Brock. »Und ich nehme an, der Autohändler kann sich deshalb so gut an sie erinnern, weil er sie über den Tisch gezogen hat – bei ihrer naiven Art, oder? Eine alte Jungfer mit hochgeschlossener Bluse, schwarzer Tuchhose und Tweedmantel …« Verunsichert blickte ihn der Detective an. »Vergessen Sie’s. Fahren Sie fort. Welcher Tag, welche Uhrzeit?«

Der Detective schaute auf seinen Block. »Mittwoch, 5:48 Uhr p. m.«

»Bingo. Sechs Stunden und sechzehn Minuten vor dem Mord an Derek Timberland. Starten Sie eine Fahndung nach dem Fahrzeug.« Rees verdrehte die Augen, als der Polizist diesmal Brock ansah.

»Mann, tun Sie gefälligst, was er sagt, und zwar pronto.«

»Okay, lass uns hier abbrechen. Ich brauche eine Mütze voll Schlaf und eine Dusche«, gab sich Rees geschlagen.

Brock folgte ihm aus dem Besprechungszimmer. »Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen. Wonach genau suchen wir bei dieser Kira Tyler?«

»Ich dachte, das wäre inzwischen klar. Du warst bei den Gesprächen dabei.«

»Also gut, wir suchen eine Frau, die in ihrer Vergangenheit mit männlicher Gewalt konfrontiert und vergewaltigt worden ist und die sich jetzt wie Tisiphone nicht nur an dem Mann rächen will, der ihr das angetan hat, sondern auch an allen anderen Männern?«

»Nein, Brock.« Rees bewegte sich auf die Beifahrertür des Leihwagens zu und überließ seinem Begleiter das Steuer. »Versuch es noch mal.«

Ein Stöhnen entwich dem FBI-Agenten.

Rees musste sich das Lachen verkneifen. »Ich helfe dir. Dein Vergleich mit Tisiphone war nicht schlecht, aber worum ging es der Göttin genau?«

»Um Rache.«

»Ja, aber für wen? Für sich?« Mahnend hielt er den Finger hoch, als Brock es bejahen wollte.

Daraufhin hielt dieser inne, fädelte sich zunächst in den Verkehr ein und fuhr den ersten Block entlang, bevor er antwortete: »Nein, sie will alle Opfer rächen.«

»Exakt. Abgesehen davon glaube ich, dass die Sache mehr als einen Aspekt birgt.«

»Was meinst du damit?«

»Ich glaube, dass hinter den Morden viel mehr steckt, als man auf den ersten Blick annimmt.«


Konzentriert tippte Skylar an ihrem Laptop. Das passierte, wenn man monatelang in einem anderen Job arbeitete und dabei seinen eigentlichen Beruf negierte. Sie feilte bereits seit zwei Stunden an einem Artikel über den neuen Avantgarde-Künstler und war immer noch nicht zufrieden. Das konnte sie besser. Als es an der Haustür klingelte, beachtete sie es nicht. Nach ihrem Streit gestern Abend hatte sie sich mit Gracie zwar versöhnt, doch die Worte ihrer kleinen Schwester waren nicht vergessen. Es hatte mehr wehgetan, als sie zugeben wollte. Vor allem, weil Gracie ihre eigenen Befürchtungen laut ausgesprochen hatte. Nein, sie hatte keinen Spaß am Töten. Sie erledigte die Fälle schnell und schmerzlos. Ihre Opfer wurden mitten aus dem Leben gerissen. Weder hatte sie etwas für Gewalt übrig, noch ging sie darin auf. Skylar stöhnte innerlich, weil dies genau die Gedanken waren, die sie bei ihrer Arbeit beständig störten. Sie musste den Artikel fertig schreiben, denn sie brauchten das Geld. Im Moment bestritten sie die Kosten für das Haus vor allem aus Gracies Gehalt als Assistenzärztin. Sie wusste, es war Irrsinn, dass sie das Geld für ihre speziellen Aufträge für gute Zwecke spendete und allein ihre Kosten abzog. Aber sie brachte es nicht über sich, von dem Blutgeld in Saus und Braus zu leben. Nun ja, vielleicht sollte sie das nächste Mal wenigstens tausend Dollar für die Reparatur an der Heizung abzwacken. Nein. Sie presste die Lippen zusammen. Sie würde das Geld mit ihren Artikeln verdienen, nicht mit Blut.

»Hi.«

Sie hob den Kopf und musste ein paar Mal blinzeln. Jeder Muskel in ihr spannte sich an, ungeachtet des breiten, freundlichen Grinsens des Mannes vor ihr. Sein Körperbau, der Dreitagebart, das lockere Shirt mit den langen Ärmeln und die Jogginghose mochten suggerieren, dass er ein normaler Typ war, aber das war er nicht. Schon seine Haltung und die Ausstrahlung schrien es ihr regelrecht entgegen, das Wort »Soldat«. Skylar hatte für diese Art Männer einen siebten Sinn. Genauso wie für Polizisten. Und der Mann hier war kein einfacher Soldat, dafür hätte sie die Hand ins Feuer gelegt.

»Du musst Skylar sein. Gracie hat mir viel von dir erzählt.«

»Hat sie das?« Sie versuchte, durch ruhiges Atmen die mahnende Stimme in ihrem Kopf zum Verstummen zu bringen. Sie stand nicht zum ersten Mal vor dem Problem. Gracie hatte noch nie ein gutes Händchen bei der Auswahl ihrer Freunde bewiesen. Dieser Typ jedoch schlug dem Fass den Boden aus. Aus langjähriger Erfahrung mit ihrer Schwester wusste sie, dass sie jetzt besser Vorsicht walten ließ. Natürlich wollte Gracie sie provozieren.

»Kaum zu glauben, dass ihr Schwestern seid«, sprach der Mann weiter und ließ den Blick ungeniert über ihren Körper wandern.

Skylar fletschte die Zähne. »Mach nicht den Fehler, meine kleine Schwester zu unterschätzen.«

»Tue ich nicht. Sie kennt keine Gnade in ihrem Job. Ich befürchtete schon, sie würde mir den Splitter ohne Betäubung aus dem Arm ziehen. Ich weiß, dass sie nicht zerbrechlich ist.« Sein Grinsen wurde eine Spur anzüglicher. Skylar meinte, das Testosteron in der Luft riechen zu können.

»Dave, wo bist du?«, hörte sie Gracie rufen.

»In der Küche bei deiner Schwester.«

Gracie kam herein, verschränkte die Arme vor der Brust, schob das Kinn vor und sah sie mit blitzenden Augen an.

»Willst du uns nicht vorstellen?«, fragte Skylar und bemühte sich um einen beiläufigen Ton.

»Skylar – Dave Stuart. Dave – meine Schwester Skylar. Können wir jetzt gehen?«

Er schlang einen Arm um Gracies Taille und zog sie ruckartig an sich heran, sodass Gracie ins Stolpern kam. »Babe, du bist süß. Du weißt hoffentlich, dass du nicht eifersüchtig sein musst.« Er küsste Gracie in einer Art und Weise, die Übelkeit in Skylar hochkommen ließ.

Sie sprang auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Im letzten Moment bremste sie sich. Innerlich verfluchte sie Gracie. Sie wusste genau, weshalb sie etwas mit dem Mann angefangen hatte. Verdammt, sie war doch kein pubertierendes Balg mehr!

Gracie leckte sich über die Lippen, als er von ihr abließ. Jetzt roch es nicht mehr nur nach Testosteron.

»Wenn ihr die Küche für eure Spielchen braucht …« Skylar drehte sich von den beiden weg und packte ihren Laptop und die Notizen zusammen. »Ich schreibe oben in meinem Zimmer weiter.«

»Nicht nötig«, wandte Gracie ein. »Wir waren sowieso auf dem Sprung zu Dave. Du brauchst mit dem Essen nicht auf mich zu warten.« Die beiden waren schon auf dem Weg zur Tür.

»Hatte ich nicht vor«, murmelte Skylar einen Moment später, während sie aus dem Fenster lugte und zusah, wie Dave ihrer Schwester die Beifahrertür seines Honda öffnete und ihr einen Klaps auf den Hintern gab, bevor er halb über die Motorhaube hechtend auf die Fahrerseite wechselte. Sie schnaubte. Angeber!

Als hätte er ihre Worte gehört, schaute er direkt zum Fenster und schenkte ihr ein breites Grinsen.

Arschloch!


Das Fahrzeug war in einem kleinen Ort in der Nähe von Minneapolis aufgefunden worden. Wieder einmal gab es mengenweise forensisches Material. Auch eine DNA-Spur, identisch mit den Spuren von Ms. Tylers Arbeitsplatz. Doch das war nicht überraschend. Ansonsten war das Auto von innen blitzblank gereinigt worden, hatte eine Außenwäsche erhalten und stand auf dem Parkplatz eines Motels. Es gab keine Zimmerbuchung auf ihren Namen und niemand konnte etwas mit ihrem Foto anfangen. Von da an verlor sich jede Spur von Kira Tyler. Sie hatte sich förmlich in Luft aufgelöst. Auch wenn Brock noch immer nicht vollständig von Rees’ Theorie über eine weibliche Auftragskillerin überzeugt war, war er doch bereit, diesen Ansatz zu verfolgen. Zurück in Washington gingen sie gemeinsam die Mordfälle durch und suchten nach einer Frau, die kurz zuvor in den Dienst des späteren Opfers getreten war. Rees war voller Enthusiasmus an die Aufgabe herangegangen und mit der Sicherheit, dass sie eine Vielzahl neuer Indizien finden würden.

Nach vier Wochen Aktenstudium holte ihn der Frust ein. Nicht dass es an Frauen im Leben der Mordopfer gemangelt hätte. Es gab jedoch keine Frau, die besonders hervorstach, oder anders ausgedrückt, dem Profil entsprach, das Rees aufgrund der Informationen über Kira Tyler entworfen hatte. Entweder war diese Frau tatsächlich so unauffällig und unscheinbar, dass niemand sie erwähnte, oder unglaublich gewitzt. Lediglich in vier Gesprächsprotokollen markierte er die Erwähnung einer Frau, auf die seiner Ansicht nach das Profil von »Tisiphones Tochter«, wie sie die Frau inzwischen nannten, passte. In einem Fall handelte es sich um die PR-Managerin, die zwei Monate zuvor eingestellt worden war, im zweiten Fall um eine Finanzberaterin, die erst drei Wochen bei einer Beratungsfirma gearbeitet hatte, die wiederum von dem Unternehmen des späteren Mordopfers beauftragt worden war. Im dritten Fall war es eine Texterin, die für eine Werbeagentur arbeitete, verantwortlich für die Anzeigenkampagne einer Umweltorganisation. Sie hatte an dem Abend, bevor der Mann getötet wurde, mit ihm zusammen in einem Restaurant gespeist. Im vierten und letzten Fall war eine Freiberuflerin als Fitnesscoach und Ernährungsberaterin von dem Mann engagiert worden, acht Wochen vor dessen Ermordung, auf Empfehlung eines seiner Bekannten.

Diese vier Frauen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Die Bilder aus den Personalakten der drei Angestellten zeigten nicht nur äußerlich verschiedene Personen, sondern diese wichen auch in ihrer Ausstrahlung stark voneinander ab. Persönlich gefiel Rees die Texterin am besten. Sie hatte eine offene, fröhliche Ausstrahlung und das, was man auf dem Foto sehen konnte, sah vielversprechend aus. Nicht unbedingt der Typ Frau, den Rees für ein Abenteuer bevorzugte, jedoch als interessant einzustufen. Die Finanzberaterin war am unscheinbarsten und entsprach vom Typus her am ehesten der Sekretärin von Derek Timberland. Die PR-Managerin war ihm am unsympathischsten. Ein typisches Mannweib mit harten Linien im Gesicht und kalten Augen. Faszinierend fand er, dass die jeweilige Firma die Arbeit der entsprechenden Frau als hervorragend bewertet hatte und sie teilweise gar in den höchsten Tönen lobte. Man hatte ihr Ausscheiden in allen drei Fällen bedauert, wohingegen die Ernährungsberaterin als Freiberuflerin einfach wie vom Erdboden verschluckt war.

»Das hatte ich mir leichter vorgestellt«, brummte Brock.

»Und du erinnerst dich wirklich nicht an dein Gespräch mit der PR-Managerin?«

Brock schüttelte den Kopf. »Nur, dass sie eine unangenehme Person war und ich das Gefühl hatte, mich ständig rechtfertigen zu müssen, wenn ich ihre Zeit in Anspruch nahm. Eine Karrierefrau, die über Leichen geht, wenn es sein muss. Sie hat offensichtlich danach die Werbekampagne der Frau des Senators geleitet, die dann auch prompt in den Senat gewählt wurde.«

»Um danach von der Bildfläche zu verschwinden, als hätte sie nie existiert.«

Eine Weile betrachtete Rees die Pinnwand, die sie in seinem privaten Büro bei ihm zu Hause eingerichtet hatten. Es gab mehr lose Enden als Zusammenhänge. Der Fall drohte ihn mehr und mehr einzusaugen. Es war eine Herausforderung für ihn, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. »Ich vermute, wir gehen die Sache von der falschen Seite an«, stellte er nachdenklich fest.

Brock streckte die Arme auf dem Tisch aus und legte mit einem Stöhnen den Kopf darauf ab. »Nicht schon wieder. Ich kann es nicht mehr hören.«

Amüsiert schüttelte Rees den Kopf. »Was dachtest du? Dass du mich zu dem Fall hinzuziehst und er im Nullkommanichts gelöst ist?«

Brock blinzelte »Willst du eine ehrliche Antwort? Ja. Und ich weiß nicht, was du daran verflucht noch mal so reizvoll findest. Mir steht die Sache bis hier.« Er hielt sich die Hand an den Hals.

»Wie gesagt, ich schätze, es steckt mehr dahinter. Die ermordeten Personen sind viel zu weit gestreut, als dass es einen persönlichen Bezug geben könnte. Deshalb sollten wir uns auf das mögliche Motiv konzentrieren. Was kann einen Menschen dazu bewegen, mit unendlicher Geduld und Ausdauer Männer zu verfolgen, die sich an Frauen vergreifen?«

»Black Widow.«

Verwirrt sah Rees Brock an.

»Na diese Marvel-Figur. Sag bloß, die kennst du nicht?«

»Nein.«

»Na ja, natürlich gibt es mehrere Backgroundstories zu der Figur. Sie kommt aus dem Waisenhaus, wird zu einer Superagentin ausgebildet, die dann als Spionin für verschiedene Organisationen arbeitet. Am Ende wird sie zu einem Teil der Avengers.«

»Avengers?«

»Vergiss es«, erklärte Brock missmutig. »Sollte einfach nur der Auflockerung dienen, aber wenn man dir alles erklären muss …«

»Die Backgroundstory dieser Black Widow …«, sagte Rees nachdenklich und klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch.

»Das ist eine fiktive Figur, die auf einem Comic basiert.«

»Aber die psychologische Komponente ist interessant. Wie schaffe ich die perfekte Killermaschine? Indem ich sie bereits als kleines Kind isoliere und mit Training und Gehirnwäsche zu dem forme, was ich haben will.«

»Das war aber bei deiner russischen Scharfschützin Ljudmila nicht der Fall.«

»Sie tat es aus innerer Überzeugung, für ihr Land, für ihr Volk, für die Menschen, die starben, als die Deutschen in ihr Land einfielen. Vielleicht müssen wir die Sache von einer anderen Seite …«

Brock stöhnte und hielt sich die Ohren zu.

5

Britische Botschaft

Konzentriert wühlte sich Skylar durch die Informationen, die das Internet hergab. Professor Dr. Rees Stancell – ältester Sohn von Jane und Phileas Stancell. Letzterer wiederum galt als der größte Kunst- und Antiquitätenhändler in England. Allerdings streckte Phileas Stancell, seit er das Geschäft an seinen zweiten Sohn Edgar übergeben hatte, seine Fühler in andere Geschäftsbereiche, vornehmlich der kreativen Dienstleistung, aus. Bemerkenswert war, dass das Unternehmen an den jüngeren Sohn gegangen war. Der war mit Heather Albany verheiratet und hatte zwei Kinder. Die Frau weckte eine vage Erinnerung in ihr, die sie nicht zuordnen konnte. Edgar Stancell hingegen war Skylar bereits einmal bei ihrer Arbeit als Kulturjournalistin persönlich begegnet. Sie erinnerte sich an ihn, weil sie den fachlichen Austausch mit ihm genossen und sich für ihre Verhältnisse lange und angeregt mit ihm unterhalten hatte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Rees zu.

Der älteste Stancell-Sohn war offensichtlich auf eine Militärschule gegangen, die auf ihrer Website damit warb, auch schwierigen Kindern Disziplin und Ordnung beizubringen. Tatsächlich hatte er zuerst eine militärische Laufbahn eingeschlagen, bevor er dann nach Cambridge ging, um Psychologie zu studieren. Statt in einer Klinik zu arbeiten oder eine Praxis zu eröffnen, schlug er den Weg in Richtung Forschung und Lehre ein, lebte jetzt seit vier Jahren in Washington und gab Vorlesungen an der FBI-Akademie in Quantico und der National Defense University Washington. Sie fand jede Menge Links zu seinen Forschungsprojekten und Veröffentlichungen. Sein Schwerpunktthema waren Gewaltverbrechen, oder besser gesagt ging es ihm um die Frage, was einen Menschen dazu veranlasste, ein Gewaltverbrechen zu begehen. Sie hatte sich zwei der Bücher gekauft und gelesen. So vielfältig die Informationen über sein öffentliches Leben waren, so wenig Privates fand sie über ihn. Alle seine sozialen Profile im Internet beschäftigten sich mit seiner Forschung. Bilder zeigten ihn immer in Anzug, Hemd und Krawatte und mit verschiedenen Frauen. Er hatte ein anziehendes Lächeln, trug die dunkelblonden Haare etwas länger. Durch eine natürlich Krause hingen sie ihm wirr um die kantigen, sehr markanten Züge und bildeten so einen Kontrast zu der akkuraten Kleidung. Der Mann strahlte selbst auf den Bildern Sex-Appeal aus.

Skylar löste sich von ihrer Recherche und ging in die Küche, um zu kochen. Alle Versuche von ihrer Seite, mit Gracie über deren neuen Freund zu reden, waren im Sande verlaufen. Was der ganzen Sache die Krone aufsetzte, war, dass dieser Typ nicht nur wie von ihr vermutet Soldat war, sondern auch noch unter dem Kommando von General Wilson stand, des Gruppenführers der Einheit ihres Vaters. Es war General Wilson gewesen, der den Mann, statt ihn vom Ärzteteam im Walter-Reed-Militärkrankenhaus behandeln zu lassen, zu Gracie in die Klinik gebracht hatte. Sie sah immer noch die kalte Wut in seinen Augen, als der Richter sein Urteil verkündete. Sie wusste, er würde niemals ruhen, bis sie die Strafe bekommen hatte, die sie seiner Auffassung nach verdiente. Es würde ihn glücklich machen, zu wissen, welche Spannung zwischen ihr und Gracie herrschte. Jeder Versuch, mit ihrer kleinen Schwester zu reden, erweckte in ihr den Eindruck, sich über ein Minenfeld zu bewegen. Sie wusste nie, wann Gracie das nächste Mal explodieren würde. Immerhin, wenigstens brachte sie Dave seit ihrem Zusammentreffen nicht mehr mit nach Hause.

Sie blickte auf, als Gracie in Rock, Bluse und Stöckelschuhen in der Küche erschien. Ihre flachsfarbenen Haare glänzten seidig, als hätte sie sie mit hundert Bürstenstrichen bearbeitet. Ihr Gesicht erinnerte Skylar an die Porzellanpuppe ihrer Mutter, die damals im Wohnzimmer auf einem Regal gesessen hatte, nur zum Ansehen, nie zum Anfassen oder gar Spielen. Sie würde nie den Tag vergessen, an dem sie trotz des Verbots die Puppe vom Regal gehoben hatte, nur um sie anzusehen. Sie war ihr aus den Händen geglitten, und der Puppenkopf war auf den Fliesen zersprungen. Wortlos hatte ihre Mutter die Puppe aufgehoben und in die Mülltonne geworfen, während ihr Tränen über die Wangen gelaufen waren. Drei Tage hatte sie kein Wort mit ihr gesprochen. Von ihrem Taschengeld und dem Geld, das ihr Vater ihr geliehen hatte, hatte sie eine neue Puppe gekauft. Doch die war in einer Pappschachtel im Schrank ihrer Mutter gelandet, statt auf dem Platz im Regal zu stehen. Ein Jahr lang hatte Skylar die Schulden bei ihrem Vater abgearbeitet.

»Du willst weg?«

Gracie musterte das Essen, das sie gekocht hatte. Spinatlasagne, das Lieblingsessen ihrer kleinen Schwester.

»Ja, hatte ich dir nicht gesagt, dass Dave und ich bei seinem Freund zum Geburtstag eingeladen sind?«

»Heute Mittag?«

Gracie zuckte mit den Achseln und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Tut mir leid, pack meine Portion einfach ins Tiefkühlfach, dann nehme ich sie mit zur Arbeit.«

»Was ist mit nächsten Samstag?«

Gracie runzelte die Stirn. »Was soll damit sein?«

»Du hast gesagt, du gehst mit mir in die William-Turner-Ausstellung in der britischen Botschaft. Mrs. Crawford hat mir extra gesagt, dass die Einladung auch für dich gilt.«

Gracie verdrehte die Augen. »Du weißt, dass ich solche Veranstaltungen nicht mag. Dave hat Karten für ein Footballspiel, und danach wollen wir mit Freunden noch etwas essen gehen.«

»Unternehmen wir überhaupt noch mal was zusammen? Nur du und ich?«

»Weißt du, Skylar, ich kann nicht ewig für dich da sein. Schaff dir einen Freund an und leb dein eigenes Leben.«

»Du hast recht, ich bin eifersüchtig auf Dave, und es war dumm von mir, dich das zu fragen.«

Gracie seufzte und verdrehte die Augen. »Also gut, lass uns an meinem nächsten dienstfreien Wochenende grillen. Dave ist verrückt nach Steaks. Sofern du dann nicht bereits für einen neuen Auftrag unterwegs bist und für Monate verschwindest.«

Skylar mühte sich ein Lächeln ab. »Ich freu mich drauf.« Sie hoffte, dass Dave bis dahin Geschichte war. Immerhin hatten Gracies bisherige Beziehungen nie die Zweimonatsgrenze überschritten.


Heather hakte sich bei Rees ein. »Danke, dass du mich nicht allein gehen lässt. Du wirst sehen, der Abend wird viel unterhaltsamer, als du denkst.«

»Heather, nichts für ungut, aber das, was du unter einem unterhaltsamen Abend verstehst, und was ich, dazwischen liegen Welten.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er ihr die Tür seines Mercedes öffnete.

»Ich habe gehört, dass der schwedische Botschafter mit seiner Tochter ebenfalls eingeladen ist. Sie hat einen deiner Vorträge besucht und von dir geschwärmt.«

»Sie ist fünfundzwanzig, da schwärmen Frauen immer für ältere Männer.«

»Tun sie das?«

Rees mochte seine Schwägerin. Sie hatte Humor, war intelligent und hielt ihm im Gegensatz zu seiner Mutter nie Moralpredigten, wenn es um seine Frauengeschichten ging. Selbst als er bei ihrer Hochzeit mit der Brautjungfer geschlafen hatte, verzieh sie es ihm. Ja, sie schaffte es sogar, ihrer Freundin die Schuld zu geben, weil diese es ihm viel zu leicht gemacht habe.

»Du solltest übrigens gewappnet sein, wenn du zum Geburtstag deiner Mutter nach Hause kommst.«

Er verdrehte die Augen. »Willst du damit sagen, dass sie einen weiteren Versuch startet?«

Heather lachte. »Sie wird nie aufgeben, bis du unter der Haube bist. Ich glaube aber, diesmal bist du ernsthaft in Gefahr. Amber ist genau die Frau, von der du heimlich träumst – intelligent, unabhängig und attraktiv.«

»Amber? Interessanter Name, und kommt mir irgendwie bekannt vor. Nun, ich lasse mich überraschen. Allerdings wird es nicht leicht, da ich meine große Liebe bereits verloren habe. Ist dir klar, dass du mir das Herz gebrochen hast, als du meinen Bruder geheiratet hast, anstatt mich?«

Er mochte ihr wohlklingendes Lachen. »Oh, Rees, du alter Charmeur. Ich bezweifle, dass du etwas derart Prekäres wie ein Herz besitzt.«

»Autsch, das tat weh. Vielleicht sollte ich dich nur bei der Botschaft absetzen und wieder nach Hause fahren.«

»Untersteh dich! Du hast Edgar versprochen, den ganzen Abend bei mir zu bleiben.«

»Bist du sicher, dass er wirklich krank ist?«

Statt einer Antwort bekam er lediglich einen strengen Blick. Er wusste, dass sein Bruder nicht freiwillig zu Hause geblieben war. Solche Events waren gesellschaftlich viel zu wichtig für ihn. Immerhin tummelten sich auf der Veranstaltung in der britischen Botschaft jede Menge Kunstliebhaber und damit potenzielle Kunden. Es würde ein todlangweiliger Abend werden, aber immerhin befand er sich in der Gesellschaft einer reizvollen Frau.


Skylar bewegte sich unauffällig durch die Menge. Sie nippte an ihrem Prosecco und wanderte von Bild zu Bild. William Turners Gemälde faszinierten sie. Er hatte sich zeit seines Lebens nie in eine Stilrichtung pressen lassen. Er galt als einer der bedeutendsten Künstler in der Epoche der Romantik, war viel gereist, und vor allem die südlichen Länder hatten es ihm angetan. Dem Fortschritt hatte er offen gegenübergestanden. In seinen Landschaftsbildern arbeitete er mit viel Licht und liebte das Wasser.

Genau dieses Licht war es, das sie in seinen Werken derartig berührte. Das Gelb, gemischt mit den roten und orangen Farbtönen. Einige seiner Bilder strahlten Wärme und Sehnsucht aus, womit sie einen Widerhall in ihr selbst fanden. Eigentlich hatte sie gar nicht mehr zu der Ausstellung gehen wollen. Sie fragte sich, ob es wirklich nur Eifersucht war, was ihre sofortige Abneigung gegenüber Dave Stuart hervorgerufen hatte. Oder lag es einfach an der Tatsache, dass er Soldat war und bei der Delta Force unter General Wilsons Kommando stand. Es kam ihr seltsam vor und keineswegs wie ein Zufall. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was der General damit beabsichtigen sollte. Immerhin konnte er keine Gefühle manipulieren. Andererseits war Gracie damals viel zu klein gewesen, um die Zusammenhänge zu begreifen. Nein, es war sicher nur Zufall. Sie musste einfach abwarten. Nur war da etwas in ihr, was ihr sagte, dass es genau das nicht war. Sie vertraute ihren Instinkten, denn sie hatten sie noch nie im Stich gelassen.

Wie also sollte sie das Problem lösen? Eigentlich gab es eine simple Lösung, doch die kam nicht infrage. Wenn Dave Stuart starb, bedeutete das nicht nur, dass sie Gracie verlor, sondern es war auch wegen des Konzils riskant. Keine Rachefeldzüge! Keine Morde ohne Freigabe! Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie geglaubt, der verlängerte Arm der Gerechtigkeit zu sein. Ja, sie hatte aus Überzeugung getötet. In gewisser Weise tat sie es noch immer, nur dass jeder Mord eine Spur in ihr hinterließ. Eine unsichtbare Narbe. Nach jedem Auftrag flüchtete sie in eine Normalität, die keine war. Am Anfang ihres Jobs – sofern man ihre Aktivitäten überhaupt so bezeichnen konnte – waren ihr trotz der harten Ausbildung viele Fehler unterlaufen. Zweimal wäre sie fast erwischt worden. Doch wie bei ihrem ersten Mord, als sie den Polizisten gesagt hatte, sie selbst habe ihren Vater ermordet, half ihr der Umstand, dass sie ein Kind, später, dass sie eine junge Frau gewesen war. Sie hatte aus jedem Fehler gelernt. Dennoch, irgendwann würde sich jemand nicht mehr davon blenden lassen, dass sie eine Frau war.

Gestern hatte sie einen neuen Auftrag erhalten. Diesmal ging es nach Kalifornien, Los Angeles. Ein Filmproduzent, und wenn es stimmte, was in dem Dossier stand, ein echt mieses Schwein. Es gab genug Gerede, auch in der Öffentlichkeit, aber niemand steckte den Mann hinter Gitter. Zu weit reichte sein Einfluss in der Branche. Sie hatte schon mit den Vorbereitungen begonnen. In ihrem Leben war sie in derart viele Rollen geschlüpft, dass es ihr manchmal schwerfiel, eine Grenze zu ziehen. Wenn sie in den Spiegel schaute und ihr eigenes Gesicht darin erblickte, beschlich sie oft das Gefühl, eine Fremde zu sehen. Wer war sie in Wirklichkeit?

Sie blendete die Menschen um sich herum aus. Heute bestand keine Notwendigkeit, höfliche Konversation zu betreiben. Sie war als Journalistin hier. Das nächste Gemälde war »Stürmische See mit Delphinen«. Das aufgewühlte Wasser, die roten Spuren darin, rechts oben das Licht – darin lag die Hoffnung – und die winzigen Punkte in dem aufgewühlten Wasser – die Delphine. Als tanzten sie auf dem Sturm.


Nur mit halbem Ohr hörte Rees dem Gespräch zwischen seiner Schwägerin und einem der Gäste zu. Geschickt war er der Avance der Tochter des schwedischen Botschafters entflohen. Immerhin konnte niemand wissen, dass Ms. Stancell nicht Mrs. Rees Stancell war. Amüsiert und mit einem Kopfschütteln hatte Heather seine Fürsorge hingenommen. Erst als sie ihm zuflüsterte, »Weißt du, Rees, ein Ehemann würde sich niemals dermaßen intensiv um seine Frau kümmern, das macht nur ein Liebhaber«, gab er die Aufmerksamkeiten ihr gegenüber auf.

Er warf einen Blick auf die Uhr und stöhnte innerlich auf, als er merkte, dass gerade mal zwei Stunden vergangen waren. Das könnte in der Tat ein langer Abend werden. Sein Blick schweifte über die Menge und blieb an einer Frau hängen. Es war das zweite Mal an diesem Abend, dass sie seine Aufmerksamkeit erregte. Sie stand vor einem der Bilder. Ihr linker Arm ruhte über ihrem Bauch und diente als Stütze für den rechten Arm. Die rechte Hand lag unter ihrem Kinn und ihrer Wange. Sie war völlig versunken in der Betrachtung, schien ihre Umgebung nicht wahrzunehmen. Es war diese absolut stille Haltung, als wäre sie eine in Marmor gehauene griechische Skulptur. Wie zuvor bei dem anderen Gemälde, vor dem sie in derselben Haltung gestanden hatte, wogte die Menschenmenge um sie herum, als gäbe es eine unsichtbare Barriere, die niemand überschritt. Ihre weibliche Figur stand im Kontrast zu ihren fein modulierten muskulösen Armen. Das war ihm bereits beim ersten Mal ins Auge gefallen. Auch diesmal sah er keinen Begleiter in ihrer Nähe. Dass er einer der Kellnerinnen zwei Gläser Prosecco vom Tablett nahm und auf die Frau zuging, wurde ihm erst bewusst, als er sie schon fast erreicht hatte. Sie zuckte nicht zusammen, zeigte keine Reaktion, als er näher an sie herantrat. Ja, da war definitiv eine unsichtbare Grenze, die er überschritt, eine Ausstrahlung, die die übrigen Besucher auf Distanz hielt. Er erntete sogar einen irritierten Blick von einer älteren Dame, als er der geheimnisvollen Fremden das Glas vor die Augen hielt und damit ihren Blick auf das Gemälde durchbrach.

Langsam drehte sie das Gesicht zu ihm. Da war kein Lächeln, stattdessen hatte sie die Lippen missbilligend zusammengepresst. Auch ihr Gesicht war beherrscht von Kontrasten. Scharfe Linien wechselten mit weichen Formen. Das Beeindruckendste jedoch war die Farbe ihrer Augen, ein Royal-Navy-Blau wie das seiner früheren Uniform bei der Marine. Sie veränderte ihre Haltung nicht einen Millimeter und würdigte das Glas keines Blickes.

»Rees Stancell. Tut mir leid, wenn ich Ihre Betrachtung des Gemäldes unterbreche, aber vielleicht können Sie mir helfen, ein Rätsel zu lösen, das mich seit meiner Kindheit beschäftigt.«

Keine Reaktion.

»Sehen Sie, das ist eigentlich der Moment, in dem Sie mir Ihren Namen sagen müssten.« Er legte eine weitere Pause ein. Ihr Schweigen verunsicherte ihn, stellte jedoch gleichzeitig eine Herausforderung dar. »Dieses Gemälde von William Turner heißt ›Stürmische See und Delphine‹. Doch egal, wie oft ich es als Kind in unserem Wohnzimmer anschaute, mir war nie klar, wo die Delphine sind und weshalb die stürmische See trotz der Bewegung, die die Pinselführung auf dem Gemälde hervorruft, dermaßen golden leuchtet. Können Sie mir das erklären?« Rees glaubte, dass jeder im Raum hören konnte, wie sein Herz hämmerte, während er eine gefühlte Ewigkeit auf irgendeine Reaktion ihrerseits wartete. War die Frau womöglich taubstumm und er machte sich soeben zum kompletten Idioten? Er schien nicht der Einzige zu sein, der die Luft anhielt.

Schließlich nahm sie das angebotene Glas an, nippte und wandte den Blick wieder dem Gemälde zu. »Das ist das Faszinierende an dem Bild, dass es nicht dem Standard entspricht, wie ein Künstler eigentlich eine stürmische See malen würde. Aber ist es nicht so, dass manchmal durch das Aufeinandertreffen zweier Wetterfronten ein Sturm entsteht, der das Wasser aufwühlt, aber den Himmel gleichzeitig in goldenen Tönen leuchten lässt?«

»Ungewöhnlich, aber ja, und die Delphine?«

Diesmal zuckte es um ihre Mundwinkel. »Soll das heißen, Sie sehen sie wirklich nicht?«

»Nein.«

»In dem Fall sollten Sie das Bild vielleicht einfach aus einer anderen Perspektive betrachten. Vergessen Sie, dass Sie es jemals zuvor gesehen haben. Betrachten Sie es mit ganz neuen Augen.«

Er blinzelte. Es war das erste Mal, das ihn jemand mit seiner eigenen Strategie konfrontierte.

Sie nippte noch einmal am Prosecco, gab ihm das Glas zurück. »Entschuldigen Sie, aber ich bin heute noch zu einer weiteren Ausstellung eingeladen.«

Bevor er wusste, wie ihm geschah, war die Frau bereits in der Menge untergetaucht. Jemand schob den Arm unter seinen Ellenbogen und nahm ihm das zweite Glas ab.

Seine Schwägerin lachte. »Zum ersten Mal erlebe ich mit, wie Rees Stancell eine Abfuhr erhält.«

»Ich kenne noch nicht mal ihren Namen.«

»Oh.« Heather grinste und trank einen Schluck aus dem Glas der Fremden. »Den kann ich dir verraten, aber, mein Lieber, es hat seinen Preis.«


Erst als Skylar im Taxi saß, fing sie an zu zittern. Statt dem Taxifahrer die Adresse ihres Zuhauses zu geben, überließ sie ihren Instinkten das Kommando. Noch immer konnte sie nicht fassen, dass sie ausgerechnet Professor Dr. Rees Stancell über den Weg gelaufen war. Verdammt, war sie den ganzen Abend mit Blindheit geschlagen gewesen? Er hätte ihr unter den Gästen gleich auffallen müssen. Wem würde der Mann nicht auffallen? Die Fotos wurden ihm nicht gerecht, ganz zu schweigen von dem britischen Akzent, der für sie ganz klar zu seinem Charme beitrug. Wenn er seine Aufmerksamkeit auf einen richtete, bekam man weiche Knie, und die Welt um einen herum hörte auf zu existieren. Albern. Sie benahm sich wie ein alberner Teenager. Liebe auf den ersten Blick, das gab es nicht. Okay, sie hatte sich in den letzten Tagen ziemlich intensiv mit ihm beschäftigt, aber dennoch. Sie verliebte sich nicht in Männer, sondern tötete welche. War es Zufall gewesen? Hatte sie bei ihrem letzten Auftrag einen Fehler gemacht? Nein. Es gab nichts, was Skylar Hampton mit Kira Tyler in Verbindung brachte. Absolut nichts. Auch wenn sie schneller hatte handeln müssen. Auch wenn sie sich, von der Hoffnung getrieben, Vanessa vielleicht zu retten, auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte, vor allem, als sie Louis, Vanessas Freundin und Zimmergenossin, zu der Vermisstenanzeige bei der Polizei getrieben hatte. Trotz allem war sie in der Rolle der korrekten, konservativen und jungfernhaften Sekretärin geblieben, oder etwa nicht?

»Das macht dreiundzwanzig Dollar, Ms.«

Sie reichte dem Taxifahrer genau so viel Geld, dass er sie weder wegen übermäßiger Großzügigkeit noch wegen Geizes im Gedächtnis behalten würde, stieg aus, betrat die nächstbeste Bar und bestellte sich einen Mojito. Weder suchte sie das Gespräch mit dem Barmann, noch nahm sie Augenkontakt mit irgendeinem der männlichen Gäste auf, die ein nettes Abenteuer suchten. Sie wiederholte den Prozess drei Male. Taxi, Bar, einen Drink und so weiter. Erst dann stieg sie in die Untergrundbahn, wechselte zu einem Bus und war froh, dass die letzte Bushaltestelle nur einen Block von ihrem Haus entfernt lag. Hätte sie gewusst, was für eine Strecke sie heute zurücklegen würde, hätte sie sich nicht für die Schuhe mit Sechs-Zentimeter-Absätzen entschieden. Das hatte sie nun von ihrer Eitelkeit. Sie streifte die Schuhe ab, lief im Dunkeln ins Wohnzimmer und ließ sich erschöpft auf den Sessel fallen. Zufall oder Schicksal? Sie glaubte weder an das eine noch an das andere.


Bevor er Heather hatte festnageln können, waren sie von dem britischen Botschafterpaar abgefangen worden. Der Rest des Abends hatte sich unendlich zäh hingezogen, und Rees war froh, wieder in seinen eigenen vier Wänden zu sein.

»Also, wie heißt sie?«

»Wer?« Heather runzelte verwirrt die Stirn, während sie mit einem genüsslichen Stöhnen aus den Stöckelschuhen stieg und sich auf seiner Couch niederließ.

Er reichte ihr einen Sherry und goss sich einen Whisky ein, bevor er sich neben sie auf die Couch setzte. Er machte eine auffordernde Geste mit einer Hand.

»Das würdest du tun?«

»Für dich tue ich fast alles.«

Heather hob ihre Füße in seinen Schoß und schloss seufzend die Augen, als er sie zu massieren begann. Eine Minute später drang ein tiefes, wohliges Schnurren aus ihrer Brust.

»Irgendwann musst du mir das Geheimnis verraten, warum ihr Frauen euch diese Schuhe antut.«

Heather öffnete die Augen, hob eine ihrer elegant feingezupften Augenbrauen. »Das fragst ausgerechnet du?«

»Ich weiß, sie verlängern die Beine, lassen den Hintern fester erscheinen und, na ja, es ist sexy, aber ist es die Qual wirklich wert?«

»Frag das mal die Tochter des schwedischen Botschafters. Sie hätte noch ein paar Zentimeter draufgelegt, wenn sie damit deine Aufmerksamkeit hätte erregen können.«

»Teenager. Sie kommt darüber hinweg.«

Heather verschluckte sich an ihrem Sherry, als sie lachen musste.

»Also, ich muss gestehen, manchmal kann ich die Frauen verstehen, wenn sie für dich schwärmen. Schon dass du genau weißt, was du zu tun hast, damit ich in eine entspannte, dir wohlgesinnte Stimmung komme. Und das alles nur für den Namen einer Frau. Dabei war sie so …«

»Was? Unscheinbar?«

»Nun, ich finde, sie hat ein interessantes Gesicht, und das Blau ihrer Augen ist ungewöhnlich, doch im Vergleich zu dem, was auf der Veranstaltung noch geboten wurde …«

»Das ist typisch für euch Frauen.«

»Was?«

»Dass ihr auf Feiern die anderen Frauen abscannt, euch vergleicht und einsortiert. Die da ist dünner als ich, die ist dicker. Deren Nase sieht unmöglich aus, dafür sind ihre Lippen voller.«

»Das mache ich überhaupt nicht.«

»Hmhm.« Rees nahm sie amüsiert ins Visier. »Hast du die rothaarige Frau gesehen? Die in dem giftgrünen Kleid?«

»Meinst du die, deren Ausschnitt bis zum Bauchnabel ging? Gut, von der Figur her kann sie sich das auf jeden Fall leisten, aber für eine Veranstaltung in der Botschaft war es doch eine Spur zu gewagt.«

Er schwieg, sah sie nur an. Immerhin hatte sie genug Anstand, zu erröten. »Also, wie heißt sie?«

»Zuerst reden wir über den Preis.«

»Ich dachte eigentlich, die Fußmassage wäre Bezahlung genug.«

Sie schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. »Ms. Valentina Bottom.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Keine Angst, ich würde nie verlangen, dass du mit ihr schläfst. Aber du führst sie zum Dinner aus, gehst anschließend mit ihr ins Theater und erwähnst dabei ganz dezent, dass die zwölf Lithografien der ›Vier Geschichten einer arabischen Nacht‹ von Marc Chagall eine hervorragende Ergänzung zu ihrer bisherigen Sammlung wären.«

»Du bist wirklich schamlos.«

»Möchtest du nun den Namen deiner geheimnisvollen Fremden oder nicht?« Heather klimperte gekonnt mit ihren künstlichen Wimpern, während sie an ihrem Sherry nippte.

»Also gut. Deal.«

»Tja, eigentlich kenne ich nur den Namen ihrer Schwester.«

Er hörte abrupt mit der Massage auf und schob sie weg.

»Autsch!« Heather verzog den Mund. »Da ist aber jemand echt empfindlich. Sie heißt Dr. Gracie Hampton und arbeitet im George Washington University Hospital. Sie war dort Assistenzärztin, als ich mir letzten Herbst den Zeh gebrochen habe. Du erinnerst dich? Fitzgerald war so nett, mich dorthin zu fahren, weil du und Edgar ja noch unbedingt euer Tennismatch zu Ende spielen musstet.«

»Hey, höre ich da einen leichten Vorwurf in deiner Stimme? Es war dein Mann, der meinte, du solltest dich nicht so anstellen. Ich hätte dich selbstverständlich sofort ins Krankenhaus gefahren.«

»Jedenfalls stand Dr. Hampton draußen im Regen, als wir mit allem fertig waren, und wartete auf ihre Schwester, die sie eigentlich von der Arbeit abholen wollte. Fitzgerald hielt an, stieg aus und bot ihr an, sie nach Hause zu fahren, aber just in dem Moment hielt hinter uns das Auto ihrer Schwester, und deine unbekannte Fremde tauchte vor Fitzgerald auf.«

»Und du bist dir sicher, dass sie es war? Nur von der einen Begegnung?«

»Ich dachte im ersten Moment, sie würde sich auf den armen Fitzgerald stürzen, und mit der Meinung war ich nicht allein. Dr. Hampton stellte sich schützend vor ihn, und es gab eine kurze, heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden.«

»Aha. Interessant.«

»Rees, ohne dich demotivieren zu wollen, aber diese Ms. Hampton, wie immer auch ihr Vorname sein mag, scheint mir nicht der Typ Frau zu sein, der sich auf amouröse Abenteuer einlässt.«

Er ließ die Eiswürfel in seinem Whiskyglas kreisen, trank einen Schluck und lächelte Heather an. »Glaub mir, jede Frau ist an amourösen Abenteuern interessiert, wenn man ihre Bedürfnisse versteht, außer sie bevorzugt eine Partnerin.«

»Ohne gehässig klingen zu wollen, doch ich werde mit Freude dabeistehen und zusehen, wie du diesmal an deine Grenze stößt. Vielleicht lehrt es dich, dass du nicht alles auf der Welt haben kannst, ohne dabei ein Stück von dir selbst zu investieren.«

»Wer sagt, dass ich das nicht tue?«

Heather schüttelte den Kopf. »Ich meinte nicht damit.« Sie tippte ihm erst auf die Stirn und deutete dann in Richtung auf sein bestes Stück, bevor sie die Hand auf sein Herz legte. »Sondern damit. Weißt du, entgegen Edgars Überzeugung glaube ich, dass du einer Frau viel zu geben hättest, wenn du bereit wärst, dich auf sie einzulassen.«

Sie stand auf und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Rees, und danke, dass du dich für mich um Valentina Bottom kümmerst.«

Nachdenklich sah er ihr nach und verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Erst Fitzgerald, jetzt Heather. Einen Teufel würde er tun und sich auf nur eine Frau in seinem Leben beschränken, wo es doch jede Menge davon gab.

6

Hausmädchen

Leise schloss Skylar die Haustür auf und machte Licht. Einen Moment blieb sie einfach nur stehen, viel zu geschockt von dem Anblick. Seit sie die Stelle als Hausmädchen bei den Davenports angenommen hatte, war sie bereits einiges gewohnt, doch die gestrige Party war offenbar die Krönung gewesen. Dicker, süßlicher Rauch hing in der Luft. Leere Flaschen, Teller mit Essen und Scherben von Gläsern lagen überall auf dem Boden, den Regalen und Tischen verteilt. Angewidert zog sie die Nase kraus, hielt kurz die Luft an und atmete nur ganz flach, als sie sich über Pfützen von Erbrochenem einen Weg bahnte. Tatsächlich lagen auf den Couchen und Récamieren noch Gäste, mehr oder minder bekleidet. Kein Wunder, dass es das Hauspersonal nie lange bei den Davenports aushielt. Abgesehen von dem Schlachtfeld, mit dem man nach einer Feier in dem Haus konfrontiert wurde, gab es da noch die Wutausbrüche von Gregor Davenport, die seine Art waren, einen mit Worten zu demütigen und einem das Gefühl zu geben, man wäre der letzte Dreck unter seinen Fingernägeln. Laut dem Dossier schlug er seine Frau, vergewaltigte sie und verlangte von den Schauspielerinnen, die in seinen Filmen eine Rolle spielen wollten, dass sie sich mit sexuellen Dienstleistungen erkenntlich zeigten.

Es war ein offenes Geheimnis unter den Künstlern, dass Davenport ein Mistkerl war. Dennoch riss man sich darum in seinen Filmen mitspielen zu dürfen. Nicht eine seiner drei Ehefrauen hatte je Anzeige gegen ihn erstattet. In der Akte über ihn stand, dass er sich ihr Schweigen mit Geld erkaufe. Eines seiner Opfer jedoch hatte das Geld genutzt, um seinen Fall vor das Konzil zu bringen. Der Fall hatte zu einer überraschend schnellen Einigung im Konzil geführt. Man wollte das Ergebnis ihrer Vor-Ort-Recherche nicht abwarten. Was sie bisher bestätigen konnte, war sein übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum. Letzterer beschränkte sich auf seine Partys. Wutausbrüche hatte sie mehrere Male mitbekommen. Zweimal hatte er sich mit seiner Frau Glenda gestritten, als sie mit im Haus gewesen war. Eine Ming-Vase und eine Skulptur von Rubinstein waren dabei zu Bruch gegangen. Am meisten litten die Gegenstände in seinem Arbeitszimmer unter seinen Wutausbrüchen. Unbestritten war auch der permanente Wechsel des Reinigungspersonals, durch den sie an den Job gekommen war. Gegen die Entscheidung stand, dass sowohl Alva, die Köchin, als auch der Gärtner Wilhelm seit dem Kauf des Anwesens bei Davenport im Dienst standen. Gerne hätte sie mehr Zeit gehabt, die Anschuldigungen im Dossier zu verifizieren, doch Gregor Davenport war bereits einstimmig zum Tode verurteilt worden, und das in Rekordzeit. Sie vermutete ihrerseits, dass jemand im Konzil oder jemand, der einem Konzilmitglied nahestand, Erfahrungen mit Davenport aus erster Hand gemacht hatte.

Skylar ging zur Abstellkammer, in der die Putzutensilien aufbewahrt wurden. Um sich herum sprühte sie erst mal jede Menge Raumspray, bis der frische Duft von Orangen sie umhüllte. Sie setzte sich ihre Kopfhörer auf, startete ihre Playlist auf dem Smartphone und machte sich daran, das Chaos zu beseitigen. Vier Stunden später stapelten sich die Müllsäcke vor der Haustür, und die untere Etage erstrahlte wieder im alten Glanz.

Sie ging in die Küche zu Alva, die vor einer halben Stunde eingetroffen war. »Was mache ich jetzt mit den Gästen?«, fragte sie in fließendem Spanisch.

Alva schob ihr ein Tablett mit Gläsern hin. »Weck sie und gib ihnen das. Es dämmt auch den schlimmsten Kater ein, und dann können sie verschwinden.«

Skeptisch beäugte Skylar die sprudelnde Flüssigkeit in den Gläsern. »Was hast du da reingetan?«

»Das willst du nicht wissen, und mach nicht so ein Gesicht. Davon stirbt niemand, versprochen.«

Skylar nahm das Tablett.

»Und – Maria …« fügte Alva hinzu und schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Du leistest wirklich gute Arbeit. Jede andere hätte längst das Handtuch geworfen.«

»Warum bleibst du dann?« Skylar konnte sich die Frage nicht verkneifen.

Die Köchin seufzte. »Weißt du, Gregor war nicht immer so. Der Ruhm ist ihm zu Kopf gestiegen. Für mich ist und bleibt er der junge Mann von damals, der sich mit seinem ersten Blockbuster dieses Haus und eine Köchin leisten konnte. Und nun geh, weck die Gäste. Wenn Gregor aufsteht und sie noch im Haus sind, bekommst du eine Menge Ärger.«

Da Alva sich bereits wieder ihrer Arbeit zuwandte und sie nicht zu neugierig wirken wollte, verkniff sich Skylar die Frage, ob sie Glenda jemals mit blauen Flecken gesehen hatte. Im Gefrierschrank gab es eine Schublade mit Kühlgel-Packungen. Bisher hatte sie noch nie eine wegräumen müssen. Die Wege von Glenda und Gregor Davenport kreuzten sich selten mit ihren. Das Paar bevorzugte es, wenn das Reinigungspersonal sich unsichtbar durch das Haus bewegte.

Alva sprach nur selten über ihre Arbeitgeber. Sie war keine dieser Frauen, die über alles herzogen. Dass sie überhaupt ein paar Dinge geäußert hatte, verdankte sie einzig und allein dem Umstand, dass sie untereinander Spanisch sprachen und Alva glaubte, sie stamme wie sie aus Mexiko. Nur manchmal rutschte Alva ein gemurmeltes »Bruja« über die Lippen, was Hexe bedeutete und sich auf Mrs. Davenport bezog. Skylar warf einen Blick auf die Uhr und legte einen Zahn zu. Gregor würde in der Tat ausrasten, wenn noch ein Gast im Haus war, sobald er aus seinem Rausch erwachte.


Das Haus lag im Stadtviertel Brookland von Washington. Es war klein, aber wirkte gepflegt. Die Außenverschalung war in einem sonnigen Gelb gestrichen, die Veranda hingegen in einem dunklen Braun. Der Vorgarten bestand aus einer reinen Rasenfläche, oder vielleicht konnte man es eher Wiese nennen. Selbst mit den wenigen Angaben von Heather war es Rees leichtgefallen, Dr. Gracie Hamptons Adresse ausfindig zu machen. Ein Besuch im Personalbüro des Krankenhauses sowie eine überzeugende Geschichte hatten ausgereicht, damit die personalverantwortliche Mitarbeiterin ihn zehn Minuten im Büro allein ließ. Mehr brauchte er nicht, um die Akte ausfindig zu machen und sich die Adresse zu merken. Den Schichtplan der Ärzte fand er dann im Besprechungsraum der Krankenschwestern, wo auch die Schichtübergabe stattfand. Auch wenn er nur drei Jahre in einem Krankenhaus tätig gewesen war, die Strukturen waren ihm vertraut, da sie sich nur unwesentlich voneinander unterschieden.

Er klingelte. Ein Mann in Trainingshose und mit einem Tanktop über dem verschwitzten Oberkörper öffnete ihm.

»Was wollen Sie?«, begrüßte er Rees.

»Ist Dr. Hampton zu Hause?«

Der Typ verschränkte die Arme vor der Brust und ließ den Blick abschätzig über ihn wandern.

Rees lächelte entwaffnend.

»Und was wollen Sie von ihr?«

»Ich wusste nicht, dass Dr. Hampton verheiratet ist.«

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
Zurück

Titel: Tisiphones Tochter