»Bisher ging man davon aus, dass Gewaltverbrecher zumeist unsichere Menschen sind, die die Unterlegenheit, die sie gegenüber anderen Menschen empfinden, durch die Ausübung von Gewalt wettmachen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Gewaltverbrecher sind der Überzeugung, das Richtige zu tun, die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren. Sie glauben daran, dass alle anderen nur nicht bereit sind, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und das Notwendige zu tun. Das ist selbstverständlich nur ein Aspekt. Ja, Mr. Duncan, Sie haben eine Frage?«
»Warum gibt es eigentlich mehr Serienkiller als –killerinnen?«
»Nun, weil Letzteren der Schwanz fehlt.«
Einen Moment herrschte Totenstille im Saal. Er konnte sehen, wie sich der weibliche Teil seiner Zuhörerschaft empört aufrichtete, lächelte und hob beschwichtigend die Hände.
»Testosteron, meine Damen und Herren. Die Hormone steuern unser Verhalten. Oder aber Frauen sind geschickter darin, ihre Spuren zu verwischen.«
Rees fuhr mit der Vorlesung fort und öffnete das klinische Gutachten aus der Akte eines Serienmörders auf seinem Laptop, dessen Bildschirm auf die Leinwand projiziert wurde. Er erläuterte und stellte Fragen. Es war ihm wichtig, seinen Studenten klarzumachen, dass es nicht um das eine Muster und den bestimmten Menschen ging, wenn man die Neigung zu Gewaltverbrechen untersuchte. Es gab ein komplexes Gebilde, das einen Ermittler dazu zwang, ständig außerhalb des gesteckten Rahmens zu denken.
In der letzten halben Stunde beantwortete Rees die Fragen seines Auditoriums, bevor er die Vorlesung abschloss.
»Professor Dr. Stancell?«
Überrascht wandte er sich der letzten verbliebenen Person im Hörsaal zu, einem Mann, der sich ihm näherte. Er lächelte erfreut und streckte die Hand aus. »Agent Gilmore, was treibt Sie zurück in meine Vorlesung?«
»Wir alle können ab und an eine Auffrischung gebrauchen.«
»Allein Ihre Antwort bestätigt mir wieder einmal, dass Sie einer meiner besten Studenten sind. Also, weshalb sind Sie wirklich hier?«
»Scheint, als hätten Sie das Gedankenlesen noch nicht verlernt, Professor. Hätten Sie etwas Zeit für mich?«
Rees packte seinen Laptop zusammen. »Den ganzen restlichen Tag. Für heute habe ich meine Veranstaltungen beendet.«
»Was halten Sie von einem Steak?«
»Ich hoffe, Sie meinen das essenstechnisch.« Rees verzog die Nase. Manchmal fragte er sich selbst, warum er sich mit den tiefen Abgründen des menschlichen Geistes beschäftigte.
»Im ›Outback‹, oder möchten Sie woanders essen?«
»Lassen Sie mich nur kurz Fitzgerald Bescheid geben.«
Gilmore erstarrte. »Ihrem Butler? Er arbeitet noch für Sie?« Rees fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ein Afroamerikaner überhaupt erröten konnte. »Verzeihen Sie, Professor Dr. Stancell. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Rees. Bitte, Brock, nenn mich einfach Rees. Wir können uns doch duzen. Du bist schließlich nicht mehr einer meiner Studenten.«
Sie bestellten ihr Essen und erhielten ihre Getränke, bevor Brock so weit war, mit der Sprache herauszurücken.
»Vor drei Jahren gab es kurz hintereinander zwei Morde an bekannten Geschäftsleuten, in beiden Fällen durch einen Schuss aus weiter Entfernung …«
»Wie weit?«
»Einmal 2.178 Meter, das andere Mal 1.934 Meter. Beide Einschüsse lagen oberhalb der Nasenwurzel etwa zwischen den Augenbrauen. Es wurde ein kleines Kaliber verwendet, das im Gehirn seine Spuren zieht wie eine Billiardkugel.«
»Mit anderen Worten, der Schütze wusste, was er tat.«
»Absolut. Charles Dixon …«
»Du meinst Dixon, der vor drei Jahren als Senator für den Staat Virginia ins Rennen ging und die Wahl so gut wie in der Tasche hatte, als er ermordet wurde?«
»Genau der. Seinetwegen wurden wir überhaupt zu dem Fall hinzugezogen.«
Rees pfiff leise durch die Zähne, lächelte dann die Kellnerin an, die errötete, als sie ihm den Teller mit seinem Steak Diana hinstellte.
»Vielen Dank, …« Er schaute rasch auf ihr Namensschild. »… Shenea. Ein wunderschöner Name.«
»Danke, Sir.« Sie schmolz regelrecht dahin.
Er nahm ihr den Teller für Brock aus der Hand, damit er nicht auf dem Boden landete.
»Verzeihung, Sir.«
»Kein Problem«, brummte Brock und nahm den Teller aus Rees’ Hand.
Sie warteten, bis die Kellnerin außer Hörweite war.
»Sie können es nicht lassen.«
»Glaub mir, eine Frau glücklich zu machen, ist mit nichts zu vergleichen.«
»Weshalb brechen Sie ihnen dann regelmäßig das Herz?«
Rees deutete mit der Gabel auf sein Gegenüber. »Wollen wir über den Fall reden oder über mein Liebesleben? Letzteres geht dich nämlich nicht das Geringste an.«
»Der andere Mord war der an Spencer Moore. Beide Opfer wurden im Abstand von sechzehn Stunden getötet. Die räumliche Distanz betrug 239 Meilen. Die Tötungsmethode war exakt dieselbe. Schuss aus weiter Entfernung mit Kleinkaliber und direkt durch die Nasenwurzel. Typ und Marke des Scharfschützengewehrs waren identisch, allerdings handelte es sich nicht um dieselbe Waffe. Aus dem Grund wurden die Morde zuerst zwei Tätern zugeordnet.«
»War Moore nicht der Hauptsponsor für die Wahlkampagne von Dixon?«
»Sie erinnern sich verdammt gut an die Fälle.«
»Noch mal, Brock, du kannst mich duzen, und ich hoffe, du zählst mich jetzt nicht zu den Verdächtigen. Auch wenn ich in der SAS gedient habe, bedeutet das nicht, dass ich eine Scharfschützenausbildung hätte.«
»Ich nehme an, dass die Briten mir keinen Einblick in Ihre – Verzeihung, deine – Akte geben werden, damit ich mich selbst davon überzeugen kann?«
Rees grinste. Er mochte Brock wegen seiner Geradlinigkeit und weil er eine ehrliche Haut war, erfrischend anders als viele der Menschen, mit denen er es sonst zu tun hatte. Statt ihm zu antworten trank er einen Schluck von seinem Tee.
»Zuerst konzentrierte sich unsere Ermittlungsarbeit einzig und allein auf die Wahlkampagne.« Brock schnitt sich ein Stück von seinem Steak ab.
Rees folgte seinem Beispiel. Das Fleisch war hervorragend zubereitet und von ausgezeichneter Qualität. »Aber es gibt noch einen anderen Zusammenhang.«
»Wie kommen Sie – ich meine, wie kommst du darauf?«
»Du hast nicht weitergeredet, sondern angefangen zu essen. Das ist eine Art Übersprungshandlung. Du überlegst, ob du mir den nächsten Fakt anvertrauen kannst oder nicht. Dementsprechend muss es sich um etwas handeln, von dem die Öffentlichkeit nichts weiß.«
Er genoss den verdatterten Gesichtsausdruck des FBI-Agenten. Auf der anderen Seite fühlte er sich leicht gekränkt. Immerhin war er ein Spezialist auf seinem Fachgebiet, was also hatte sein Gegenüber erwartet?
Brock sah sich um. Zur Lunchzeit war das Lokal kaum belegt. Er beugte sich vor. »Beide Männer misshandelten Frauen. Moores erste Ehefrau hatte Anzeige erstattet, sie später aber zurückgezogen. Sie ließ sich dann scheiden und bekam eine großzügige Abfindung. Bei Dixon war es die Leiterin seines Wahlbüros, die ihn angezeigt hatte. Auch dieses Verfahren war im Sande verlaufen, da die Glaubwürdigkeit der Frau angezweifelt wurde. Sie nahm Drogen.«
»Fanden sich später Beweise für einen Missbrauch?«
»Wir sicherten einiges an Material auf Dixons Rechner. Glaub mir, der Mann war ein echtes Dreckschwein.«
»Warum kam es dann weder zu einer Verhaftung noch später zu einer Verurteilung? Ich meine, schließlich existierten die Beweise ja nicht erst nach seinem Tod.«
»Nein. Formulieren wir es mal vorsichtig. Dixon verfügte über Kontakte in ganz hohen Kreisen. Erst durch meine Nachforschungen wurde das Material ans Tageslicht befördert. Das Federal Bureau wurde aufgefordert, die Ermittlungsarbeiten in dieser Richtung einzustellen. Offensichtlich war man bemüht, die Toten nicht im Nachhinein in ein schlechtes Licht zu rücken. Was dazu führte, dass auch eine Aufklärung der Tathintergründe verhindert wurde.«
»Was dich nicht davon abhielt, in eben dieser Richtung weiterzuforschen.«
Brock verzog das Gesicht. »Nicht ganz. Eine Zeit lang glaubte ich, dass es sich bei den Morden um einen Racheakt handelte. Die erste Mrs. Moore schien nicht sonderlich überrascht vom Tod ihres Mannes. Im Gegenteil, sie feierte seinen Tod mit einer Party.«
»In Anbetracht des Sachverhalts kannst du ihr das vermutlich nicht verdenken.«
»Hätte sie die Anzeige nicht zurückgezogen, wäre er hinter Gittern gelandet.«
»Du weißt, dass solche Fälle nicht ganz einfach sind. Hüte dich davor, Position gegen etwas zu beziehen, was du als Mann nur schwer beurteilen kannst. Frauen wurden jahrhundertelang unterdrückt und missbraucht, und ein Ende davon ist noch lange nicht in Sicht. Jetzt schau mich nicht so überrascht an. Ich liebe Frauen, würde ich mich sonst ständig um sie bemühen?«
Der düstere Ausdruck seines Gegenübers verwandelte sich in ein Lächeln. Rees fand, dass die Welt bereits viel zu traurig war, um beständig schweren Gedanken nachzuhängen. »Also gehst du von einer Frau als Täterin aus. Interessant.«
»Ja, zuerst tat ich das, doch dann fing ich an, unaufgeklärte Mordfälle mit männlichen Opfern in unserer Datenbank zu suchen, die durch einen Kopfschuss zu Tode gekommen waren. Ich fand siebenunddreißig Fälle, davon sechsundzwanzig in den USA, neun in Europa und zwei in den skandinavischen Ländern. Drei davon waren Briten.«
Rees stieß einen leisen Pfiff aus. »Beeindruckend. In welchem Zeitraum?«
»In den letzten vierzehn Jahren.«
»Keine Verstümmelungen, keine Briefe, Bekennerschreiben oder sonst irgendetwas?«
»Nichts.«
»Wurden Personen beschützt?«
»Sie hatten private Sicherheitsfirmen beauftragt, einige leisteten sich Bodyguards oder sie standen unter dem Schutz des Secret Service.«
»In dem Fall würde ich auf einen Mann tippen, der das Töten zu seinem Beruf gemacht hat und in keiner Beziehung zu den Mordopfern steht.«
Ein feines, zufriedenes Lächeln lief über Brocks Lippen. »Das Interessante an der Sache ist, dass ich das Gefühl nicht loswerde, mir würden mehr Steine in den Weg gelegt, je näher ich der Person auf den Pelz rücke. Oder anders ausgedrückt – mir fehlen inzwischen die Ressourcen für den Fall.«
»Weshalb du zu mir gekommen bist.«
»Es ist immer wieder erfrischend, dass man dir nie erklären muss, was man will.«
»Oh, das war nun wirklich nicht schwer. Ich halte Vorlesungen beim FBI, unterliege aber nicht euren Vorschriften. Es ist nicht das erste Mal, dass man mich zu kniffligen Fällen hinzuzieht, und der große Vorteil ist, dass das FBI mich in diesem Fall nicht bezahlen wird.«
Jetzt erschien auf dem Gesicht seines Gegenübers ein schiefes Grinsen. Rees hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Ich muss gestehen, dass mich der Fall interessiert.«
»Auf diese Antwort hatte ich gehofft.«
»Okay, wie bekomme ich Zugang zu den bisherigen Ergebnissen deiner Ermittlungsarbeit?«
»Du erhältst wie üblich einen befristeten Zugang.«
»Aus wie viel Mann besteht die Truppe?«
Brock deutete mit seiner Messerspitze erst auf sich, dann auf ihn.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Wie gesagt, ich bewege mich aktuell unter dem Radar. Nur ein paar Leute wissen überhaupt, dass ich weiterhin an dem Fall arbeite.«
»Und wie willst du die ganze Arbeit bewältigen?«
»Je nachdem, was wir brauchen, können wir unter dem Deckmantel eines anderen Falls auf verschiedene Ressourcen zugreifen. Nur nicht offiziell.«
»Ich verstehe.« Rees lehnte sich zurück. Er konnte fühlen, wie Adrenalin in seinen Kreislauf strömte. Er genoss solche Aufträge, weil sie ihm denselben Kick gaben wie erstklassiger Sex. Mit dem Unterschied, dass sie länger anhielten.
»Die Vorlesungen in Quantico kann Agent Bristol übernehmen. Wie sieht es mit deinen Veranstaltungen bei der National Defense University aus?«
»Das kläre ich mit Colonel Graham.«
Rees ließ sich in den Bürostuhl zurückfallen und wippte vor und zurück, während er auf seine Notizen starrte. Er hatte in den letzten sechs Tagen sämtliche Fälle durchgearbeitet. Mehrere Aspekte fand er interessant. In den meisten Fällen war die Person allein gewesen, abgesehen von den Bodyguards. Nie war der Mord vor breitem Publikum geschehen, obwohl viele der Zielpersonen im Fokus des öffentlichen Interesses gestanden hatten. Es handelte sich ausschließlich um einflussreiche Männer, sei es auf politischer, wirtschaftlicher, karitativer, künstlerischer oder religiöser Ebene. Eines der britischen Opfer war ein bekannter Pop-Sänger gewesen, der bereits zweimal wegen Vergewaltigung angeklagt worden war. Beide Prozesse waren aus Mangel an Beweisen zu seinen Gunsten entschieden worden. Im Verlauf des zweiten Prozesses war die Glaubwürdigkeit der Anklägerin in einer systematischen Schlammschlacht der Presse untergraben worden. Ein halbes Jahr später hatte die Frau Selbstmord begangen. Dieser Hergang war kein Einzelfall. Nur bei fünf Anschlagsopfern gab es keine ähnliche Vorgeschichte.
Der zweite auffällige Aspekt an den Morden war, dass sie kühl und strategisch berechnet waren. Der Tod erfolgte rasch. Die Schüsse waren immer präzise, jeweils nur ein Schuss. Jede militärische oder polizeiliche Einheit würde sich die Finger nach einem derartigen Scharfschützen lecken. Rees hatte einen alten Freund aus seiner SAS-Zeit angerufen und ihm ein paar Daten von seiner Ansicht nach besonders herausfordernden Schüssen übermittelt. Auch war nie eine andere Person verletzt worden. Obwohl bei einigen der Opfer die Sicherheitsleute rasch reagiert hatten, war man dem Täter nicht einmal ansatzweise nahe gekommen. Die DNA-Spuren an den Tatorten ließen auf einen hellhäutigen Mann von kaukasischem Typus schließen. Sie hatten jedoch zu keinem Treffer in der Verbrecherdatenbank geführt. Die Kugeln am Tatort stammten jeweils aus einer anderen Waffe. Auch bei dem Abgleich der Waffen mit der Datenbank gab es keine Übereinstimmungen. Aufgrund der Spuren, der verwendeten Munition, der Distanz und der Präzision der Schüsse ging das FBI davon aus, dass es sich in allen Fällen um ein McMillan Tac-50 handelte, ein Scharfschützengewehr, das in der NATO verwendet worden war und auf das die kanadischen Scharfschützen weiterhin schworen. Das Gewehr war die bisher heißeste Spur, die Brock verfolgte. Alles andere, auch die Suche in üblichen Internetforen, in denen man Auftragskiller beauftragen oder hohe Geldtransferleistungen vornehmen konnte, von denen man entsprechend dem Reichtum und der Stellung der Zielpersonen ausgehen musste, waren im Sande verlaufen.
Das war der dritte Aspekt, der Rees persönlich am meisten faszinierte. Wie schaffte es jemand, in vierzehn Jahren siebenunddreißig Menschen zu töten und keine brauchbaren Spuren zu hinterlassen? Viele der DNA-Spuren waren unspezifisch und ergaben keine Treffer in der DNA-Analyse-Datei. Man konnte fast meinen, jemand lege es bewusst darauf an, die Tatorte zu verunreinigen.
Rees klappte den Laptop zu, dehnte und streckte sich. Sein Blick fiel auf das Fenster und er erschauderte. Der Gedanke, dass dort draußen jemand frei herumlief, der in der Lage war, ihm mit einem Schuss aus über einem Kilometer Entfernung das Leben zu nehmen – und er würde es nicht einmal merken, wenn er ihn in diesem Moment im Visier hatte –, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er zuckte zusammen, als sein Smartphone klingelte. Es war Brock.
»Ich bin eben erst mit dem Material durch. Gib mir die Nacht, damit ich darüber schlafen kann«, sagte er, indem er ihn erst gar nicht zu Wort kommen ließ.
»Und wie schnell kannst du am Flughafen sein?«
»Bitte?« Rees hatte einige Mühe, sich von den Informationen, die noch in seinem Kopf herumschwirrten, zu lösen, um sich auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Wir haben zum ersten Mal eine heiße Spur.«
Rees schätzte Detective Lancy auf Mitte vierzig, seinen Kollegen Johnson auf Anfang dreißig. Beiden gefiel es nicht, dass sich das FBI in ihren Fall einmischte. Das Mordopfer war Derek Timberland, der mit einem präzisen Kopfschuss, wie er dem Profil ihres Täters entsprach, zur Strecke gebracht worden war. Interessant daran war, dass einen Tag zuvor die Leiche einer vergewaltigten Frau mit schweren Abwehrverletzungen gefunden worden war, die drei Tage zuvor im Sekretariat von Derek Timberland ein Praktikum begonnen hatte. Die junge Frau war von ihrer Mitbewohnerin Louis Andrews als vermisst gemeldet worden. Eigentlich hatte das CPD Zeit verstreichen lassen wollen, bevor man der Vermisstenanzeige nachging. Immerhin war die junge Frau vierundzwanzig und es konnte viele Gründe geben, weshalb sie über Nacht nicht zu Hause war. Doch dann wurde eine Leiche in die Pathologie eingeliefert, und anhand der Beschreibung und Bilder war rasch klar, dass es sich bei ihr um die vermisste Vanessa Bruce handelte. Zu guter Letzt wurde auch die Sekretärin von Derek Timberland vermisst, die durch das Auffinden von Ms. Bruce’ Smartphone im Büro die Suche erst in Gang gesetzt und später die Leiche identifiziert hatte.
»Um sechs Uhr sechs erhielten wir den Anruf der Ehefrau des Verstorbenen. Sie hatte die Leiche ihres Mannes entdeckt, war völlig aufgelöst und hysterisch. Wir erreichten das Haus eine knappe Dreiviertelstunde später. Trotz Schminke sah man deutlich, dass die Frau misshandelt worden war. Als wir nachfragten, behauptete sie, sie habe sich gestoßen«, sagte Lancy am Ende der Schilderung des vergangenen Tages.
»Gab es Anzeigen gegen Derek Timberland? Wegen sexueller Belästigung oder Vergewaltigung?«, klinkte sich Brock ein.
»Vor vier Jahren beschuldigte ihn eine Frau, sie sexuell belästigt zu haben, doch sie war kurz zuvor wegen Betrugs entlassen worden. Man wertete die Anzeige als Racheakt. Später zog die Frau sie zurück.«
Rees und Brock wechselten einen kurzen Blick. Auch das passte zum Opferprofil. Ein unbestraftes Sexualverbrechen.
»Sie meinen, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Tod von Vanessa Bruce und dem Mord an Derek Timberland?«, fragte der FBI Agent. Diesmal sahen sich die beiden Polizisten an.
»Auf jeden Fall ist die zeitliche Nähe beider Todesfälle bemerkenswert. Die Frau, die uns vermutlich mehr hätte sagen können, zumindest, was das Verhältnis zwischen Ms. Bruce und Mr. Timberland betrifft, ist verschwunden.«
»Sie fürchten, dass sie ebenfalls getötet wurde?«
»Wir fanden es zumindest befremdlich, dass Ms. Tyler das Mädchen zusammen mit der Mitbewohnerin so hartnäckig suchte, obwohl sie Ms. Bruce gerade erst zwei Tage kannte. Laut Ms. Andrews hatte sie darauf bestanden, dass diese zur Polizei geht. Sie habe sie regelrecht dazu gedrängt und beschworen, sich auf keinen Fall von uns abwimmeln zu lassen. Sie selbst ist dagegen nicht mitgegangen. Warum das alles?«
»Sie halten Ms. Tyler für die Todesschützin?«, fragte Rees neugierig, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.
Der ältere Detective schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, nein, keinesfalls. Sehen Sie, Dr. Stancell, Ms. Tyler ist eine Frau vom alten Schlag. An dem Tag, als Ms. Bruce verschwand, war es laut einer anderen Angestellten zwischen den beiden Frauen zu einem Streit gekommen. Ms. Tyler hielt Ms. Bruce für unpassend gekleidet zur Büroarbeit. Sie schickte sie nach Hause, weil sie darauf bestand, dass sie sich umziehen sollte.«
Rees musste schmunzeln. Auch er fühlte sich ab und an versucht, eine seiner Studentinnen nach Hause zu schicken, damit sie sich ›züchtiger‹ anzog. Nicht, dass er persönlich ein Problem mit aufreizender Kleidung gehabt hätte, doch die männlichen Vertreter seiner Studentenschaft ließen sich durch die leichte Bekleidung ihrer Kommilitoninnen nun mal gern ablenken.
»Und hat Ms. Bruce dem Folge geleistet?« In diesem Fall hätte er gern gewusst, wie die Sekretärin das durchgesetzt hatte.
Johnson runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt haben wir das nicht gefragt.«
»Lag es nur an der unterschiedlichen Auffassung der zwei Frauen, wonach die Kleidung jeweils als passend oder unpassend fürs Büro gewertet wurde?«
»Das ist nur eine der Fragen, die wir Ms. Tyler gern stellen würden. Eine andere wäre, wo genau sie das Smartphone von Ms. Bruce gefunden hat.«
»Soll das heißen, Sie haben sie das nicht gefragt?«, übernahm Brock wieder das Wort.
Johnson bekam hektische Flecken auf den Wangen. Lancys Haltung versteifte sich.
»Selbstverständlich haben wir Sie danach gefragt. Immerhin war das ein wichtiger Hinweis. Sie sagte, es sei unter dem Schreibtisch gewesen. Wir gingen zu dem Zeitpunkt davon aus, dass sie von ihrem eigenen Schreibtisch sprach. Die Spurensicherung stellte jedoch anhand von Teppichfasern fest, dass das Handy unter Mr. Timberlands Schreibtisch gelegen haben muss. Warum also hat sie uns das nicht gesagt?«
»Wenn sie eine Sekretärin der alten Schule ist, wollte sie vielleicht ihren Chef schützen?«, mutmaßte Rees.
»Waren Sie schon in Ms. Tylers Wohnung?«, wollte Brock wissen.
»Dorthin wollten wir eben, als uns der Chief Inspektor aufhielt«, gab Johnson gereizt zurück.
»Worauf warten wir dann noch?« Mit einem Grinsen versuchte Rees, die Spannung zwischen den Männern aufzulockern.
Das kleine Ein-Zimmer-Apartment befand sich in Chinatown oberhalb eines Ladens. Eine Bruchbude, in der Rees keine Nacht verbracht hätte. Allerdings war alles penibel sauber. Im Kühlschrank befanden sich überwiegend frische Produkte, vollwertige Lebensmittel, alles von Bioqualität. Mit einem Magneten war eine Einkaufsliste am Kühlschrank befestigt. In einer klaren, geradlinigen Schrift stand dort: Tomaten, Fenchel, Auberginen, Zucchini, Vollkornreis. Die Aufzählungsstriche standen perfekt untereinander, und die ersten Buchstaben bildeten ebenfalls eine senkrechte Linie. Rees machte ein Foto. Ein Blick in den dürftig ausgestatteten Kleiderschrank von Ms. Tyler reichte Rees, um zu verstehen, was Detective Lancy mit seiner Bemerkung vom alten Schlag implizieren wollte. Hochgeschlossene Blusen, Rollis, knielange Röcke und weit geschnittene Hosen, Schuhe mit Keilabsatz und einer maximalen Höhe von zweieinhalb Zentimetern. Die Unterwäsche sah praktisch und komfortabel aus.
Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die beiden Frauen aneinandergeraten waren. Im Bad herrschte dieselbe Ordnung wie überall in der Wohnung. Das Make-up war überschaubar. Das Bett war ordentlich gemacht, und alles wirkte so, als wäre jemand morgens zur Arbeit aufgebrochen und nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Was ihn hingegen irritierte, war das Fehlen persönlicher Gegenstände in der Wohnung. Immerhin hatte Ms. Tyler drei Monate in dem Apartment gelebt. Die Beschreibung des Vermieters hätte auf jede durchschnittliche Frau mittleren Alters gepasst. Oder auch nicht, denn er betonte, Ms. Tyler sei überaus freundlich, zuvorkommend und ordentlich gewesen. Sie hätte sich im Gegensatz zu den anderen Mietern nie beschwert und immer pünktlich die Miete bezahlt. Bar. Zuletzt hatte der Vermieter sie am gestrigen Morgen das Haus verlassen sehen. Auch die Befragung der anderen Mieter führte zu keinem anderen Ergebnis. Die Hornbrille wurde als einziges auffälliges Detail an Ms. Tyler erwähnt. Niemand schien in der Lage zu sein, die Frau eindeutig zu beschreiben.
Erst nachdem das CPD den Staatsanwalt einschaltete, rückte die Personalabteilung des Unternehmens Kira Tylers Personalakte heraus. Drei Tage später gab es noch immer keine Spur von der Frau. Weder war sie in ihrem Apartment gewesen, noch hatte sie sich bei der Arbeit zurückgemeldet. Die Art, wie sie von Personen, die mit ihr Kontakt hatten, beschrieben wurde, war beinahe unheimlich gleichartig. Das Foto in ihrer Bewerbung zeigte – anders konnte es auch Rees nicht ausdrücken – tatsächlich eine Frau mittleren Alters, durchschnittlich, unauffällig bis auf – wie es auch die Nachbarn erwähnt hatten – die altertümliche Hornbrille. Für ihn wirkte sie eigenartig ostentativ, fast künstlich, als wollte sie ein Klischee bedienen und damit bewusst den Fokus des Betrachters darauf lenken. Ihre Zeugnisse klangen genau so, wie alle Ms. Tyler beschrieben hatten: zuverlässig, kompetent, gewissenhaft, fleißig und belastbar. Niemand lobte sie über den grünen Klee, jedoch wirkte sie interessant genug, dass man sie zur Probe einstellte. Nach einer Woche Arbeit war klar gewesen, dass Ms. Tyler die Stelle zur Zufriedenheit aller Beteiligten ausfüllte, einschließlich der ihres Chefs Derek Timberland.
»Es ist zum Verrücktwerden«, brummte Brock, der sich durch die Gesprächsprotokolle arbeitete. »Ich hatte gehofft, dass ich endlich mal eine heiße Spur hätte, und jetzt ist sie kalt, bevor sie überhaupt etwas bringen konnte.«
»Du denkst, der Killer, der Timberland auf dem Gewissen hat, hat auch Ms. Tyler beseitigt?«
»Was sonst?«
»Die Frau ist wie vom Erboden verschluckt.« Rees runzelte nachdenklich die Stirn.
»Man könnte beinah glauben, sie wäre nur ein Geist gewesen. Ihr Schreibtisch ist vorbildlich aufgeräumt. Sie hat systematische Stapel mit Notizen hinterlassen, sodass sich jemand anderes zurechtfinden kann. Wer macht so etwas?«, fragte sich Brock laut.
»Niemand. Aber vielleicht ist genau das der Punkt.«
Verwirrt hob Brock den Kopf. Rees verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Das Foto von Ms. Tyler nahm seinen Bildschirm komplett ein. Er studierte es eingehend. »Sie wäre perfekt.«
»Perfekt?« Brock stellte sich hinter ihn.
»Ja. Niemand käme auf die Idee, in dieser Frau eine Auftragskillerin zu vermuten, die siebenunddreißig – pardon, achtunddreißig – Tote auf dem Gewissen hat.«
»Und warum sollte sie dreieinhalb Monate für den Mann arbeiten, bevor sie ihn tötet?«
»Um ihm nahe zu sein. Um seinen Tagesablauf kennenzulernen, den besten Zeitpunkt herauszufinden, an dem sie zuschlagen muss. Sie will nur ihre Zielperson töten. keine der Sicherheitskräfte kam je zu Schaden, und wenn es Familie gab, war niemand davon bei der Durchführung der Tat anwesend. In dieser Hinsicht ist der Mord an Derek Timberland tatsächlich eine Neuheit. Wahrscheinlich wollte sie eigentlich am Wochenende zuschlagen.«
»Am Wochenende?« Brock hob die Augenbrauen.
»Mrs. Timberland wollte mit den Kindern ihre Eltern besuchen, du hast es mir vorhin noch vorgelesen.«
»Ich weiß nicht. Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt. Das McMillan Tac-50 bringt gut zwölf Kilo auf die Waage. Sieh dir die Frau an, sie ist zwar stabil gebaut, aber nicht durch Muskeltraining, sondern eher vom Essen.«
»Klar, deshalb gab es auch nur Gemüse in der Wohnung, und keine Schokolade, keine Chips oder Eis. Nenn mir eine Frau, die weder Schokolade noch Eis im Haus hat.«
»Der Schuss erfolgte nachts«, warf Brock ein und rümpfte die Nase.
»Und du meinst, eine Frau sei nicht dazu in der Lage? Denk an den Zweiten Weltkrieg – Ljudmila Michailowna-Pawlitschenko. Man schätzt, dass sie in dem Jahr, in dem sie der 25. Schützendivision zugeteilt war, dreihundertneun Feinde getötet hat. Damit belegt sie bis heute Platz drei der zehn tödlichsten Scharfschützen.«
»Ja, aber schau dir die Frau auf dem Bild an.«
Rees beugte sich vor. »Exakt. Wie fit bist du in der griechischen Mythologie?« Er unterdrückte ein Schmunzeln, als ihn Brock ansah, als hätte er ihm gerade ein unanständiges Angebot gemacht.
»Also sagen dir die drei Rachegöttinnen nichts?«
Brock schüttelte den Kopf.
»Alektos, Megaira und Tisiphone, drei Schwestern – die niemals Rastende, die Beneiderin und die Mordrächerin. Tisiphone bestraft die Mörder und rächt somit die Opfer. Wie würdest du von Chicago flüchten, ohne aufzufallen?«
»Am schnellsten mit dem Flugzeug.«
»Neue Identität, anderes Aussehen. Die Haare. Sie könnte auf dem Foto eine Perücke tragen.«
Nun beugte sich auch Brock vor, um das Bild zu betrachten. »Müsste man da nicht etwas sehen?«
»Ich hatte mal eine Affäre mit einer Theaterschauspielerin. Sechsundzwanzig, bildhübsch, strohblondes langes Haar und unglaublich talentiert. Ich sah sie in Les Misérables, als Cosette. Du hättest glauben können, dass es sich um zwei unterschiedliche Frauen handelt. Nein, du solltest Kira Tyler unbedingt auf die Liste der Verdächtigen setzen.«