Die Tür stand offen, trotzdem klopfte Pit an den Türrahmen und wartete, bis sein Chef den Kopf hob und ihm ein Zeichen gab, hereinzukommen.
»Schließen Sie die Tür hinter sich.«
Es ließ sich an einer Hand abzählen, wie oft Generalmajor Hartmann ihn zum Gespräch gebeten hatte. Er setzte sich, rieb sich mit den Handflächen über die Oberschenkel. Die Fingerspitzen aneinandergelegt musterte ihn sein Chef. Pit rutschte auf der Stuhlkante nach vorn.
»Sie und Kriminalhauptkommissarin Kehlmann leben zusammen.«
Pit hatte befürchtet, dass es um dieses Thema gehen würde. Er wappnete sich innerlich.
»Hat sie Ihnen gesagt, dass sie vorhatte, zu kündigen?«
»Nein.«
»Sie sind nicht überrascht.«
Puh, daran hatte er bei der einsilbigen Antwort nicht gedacht. Er atmete tief ein. »Oberst Wahlstrom hat es mir erzählt.« Hoffentlich brachte er ihn damit nicht in Schwierigkeiten.
»Ich werde jetzt nicht fragen weshalb.«
Vorsichtig ließ Pit die Luft durch den Mund entweichen.
»Sie wissen, dass die Sondereinheit Themis unter massivem politischem Druck steht.«
»Generalmajor Hartmann, wenn es darum geht, dass Natasha einen Rechtsbruch …«
Hartmann machte eine wegwischende Handbewegung. »Polizeidirektor.«
Pit blinzelte verwirrt. »Bitte?«
»Mein Rang. Ich bin nicht mehr beim Militär eingestellt.«
»Aber wieso?«
»Sie sind der Erste nach Wahlstrom und Wagner, der davon erfährt, und ich möchte, dass Sie darüber Stillschweigen bewahren.«
»Selbstverständlich.«
»Der Bundesminister des Innern, Herr Ludwig Holzhausen, hat entschieden, dass wir in eine Behörde eingeordnet werden. Das wird als die einfachste Methode angesehen, um die Einheit aus der politischen Schusslinie zu holen.«
»Und ich dachte, er freut sich insgeheim, dass Themis womöglich aufgelöst wird.«
»Das wäre unter Garantie seine bevorzugte Variante. Allerdings müsste er sich dann für die Entscheidung rechtfertigen, warum er uns nicht direkt aufgelöst hat, nachdem er das Amt von seinem Vorgänger übernahm. Polizeipräsident Gerhard Konz hat sich bereit erklärt, uns in seine Behörde zu integrieren. Wir gehören also ab Montag offiziell zur Abteilung OE Operative Einsatz- und Ermittlungsunterstützung des BKA.«
In Pits Kopf rasten die Gedanken umeinander. »Aber was passiert mit all unseren Soldatinnen und Soldaten?«
»Alle unter fünfunddreißig Jahren bekommen vom BKA die Möglichkeit, mit ein paar zusätzlichen Lehrgängen in den Polizeidienst übernommen zu werden.«
»Und was ist mit Clemens? Er ist letzten Monat sechsunddreißig geworden.«
»Er ist der Einzige in der Einheit über der Altersgrenze, und der Polizeipräsident prüft gerade, ob sich eine Ausnahme erwirken lässt. Sie wissen, dass Polizisten im Gegensatz zu Soldaten Beamte sind. Wir finden eine Lösung, also machen Sie sich darüber keine Sorgen, vorausgesetzt, die betroffenen Personen sind bereit, in den Polizeidienst zu wechseln.«
Bei Ulf befürchtete Pit nichts in der Art, anders sah es dagegen bei Carolina aus. Sie hatte ihre militärische Herkunft nie verleugnen können.
»Ich möchte, dass wir die Fortbildungen, die notwendig sind, intern bewerkstelligen. Deshalb hätte ich es gern, dass Sie zusammen mit Kehlmann – und zwar gemeinsam mit der Polizeischule – das Curriculum durchgehen und einen Plan ausarbeiten.«
»Da wir für das nächste halbe Jahr sowieso aus dem Rennen sind«, fügte er hinzu und zuckte mit den Achseln.
»Dann wäre das geklärt.«
Pit blieb sitzen, weil er Hartmann ansah, dass es noch einen weiteren Grund für die Besprechung gab.
»Frau Görcke rief mich gestern noch spätabends an.«
Pit runzelte die Stirn, ging im Geist die Politikerinnen durch, doch der Name poppte nirgendwo auf.
»Die Staatsanwältin, die den Fall Egbert übernommen hat.«
Augenblicklich versteifte Pit sich.
»Alexander Egbert wird heute Nachmittag aus der U-Haft entlassen.«
»Das kann nicht sein.«
»Es ist aber so.«
»Der Mann ist ein kaltblütiger Mörder!« Wut und Frust wallten in ihm auf. Er musste sich beherrschen, um nicht aufzuspringen, hinauszulaufen und sich den Richter vorzuknöpfen. »Hat jemand die Kontobewegungen des Richters überprüft?«
»Wissen Sie, was ich an Ihrer Kollegin schätze?«
Es kostete Pit Mühe, seine Gedanken auf Hartmanns Frage zu richten.
»Dass sie so viele Sprachen beherrscht und eine Verhörspezialistin ist?«
Ein feines Lächeln lockerte Hartmanns angespannten Gesichtsausdruck auf. Es hatte einen erstaunlichen Effekt. Mit einem Mal wirkte er müde und erschöpft.
»Das auch, doch noch viel mehr ihre Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, Fehler zuzugeben und Konsequenzen daraus zu ziehen. Selbst wenn es bedeutet, das aufzugeben, was ihr im Leben am wichtigsten ist.«
Unwillkürlich verschränkte Pit die Arme vor der Brust. Er wusste, worauf Hartmann hinauswollte. Es hatte eine Anhörung gegeben und einen Eintrag in seine Akte mit der Androhung der sofortigen fristlosen Entlassung, sollte er sich noch einmal körperlich an einem Tatverdächtigen vergreifen. Auch wenn er wusste, dass er aus seiner Position als Polizeibeamter falsch gehandelt hatte, schaffte er es nicht, seinen Gewaltausbruch gegenüber Egbert zu bereuen. Dr. Krüger, Egberts Strafverteidiger, hatte dafür gesorgt, dass die Berichte in der Presse wochenlang nicht abbrachen, und er war gedrängt worden, sich öffentlich zu entschuldigen, was er am Ende auch zähneknirschend getan hatte. Und jetzt kam Egbert wieder auf freien Fuß. In was für einer beschissenen Zeit er lebte.
»Ihre Gewaltanwendung bei der Verhaftung ist einer der Gründe, weshalb sich der Richter entschieden hat, Egbert aus der U-Haft zu entlassen.«
»Noch mal, der Mann ist ein Vergewaltiger, Menschenhändler und Kinderschänder der schlimmsten Sorte, ein Mörder, der vor unseren Augen einen zweiten Mord begehen wollte. Wir alle, die den Raum erstürmt haben, können das bezeugen.«
»Frau Görcke arbeitet gerade mit Hochdruck daran, dass der Prozess eröffnet wird. Sie ist sich sicher, dass Egbert wieder ins Gefängnis wandern wird.«
»Na toll, und bis dahin? Er wird versuchen, seine Spuren zu verwischen und Zeugen, von denen bisher niemand Kenntnis hat, unter Druck zu setzen.«
»Wir haben keine Wahl. Wir müssen unserem Rechtssystem vertrauen, oder sehen Sie das anders?«
Es dauerte, bis sich der rote Schleier über seinem Blickfeld lichtete. Hartmann versuchte, ihm hier etwas zu vermitteln, was er nicht verstand.
»Nein?«
»Also gut, dann formuliere ich es jetzt mal anders. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kollegin nicht allein ist. Wie Sie das anstellen, ist mir vollkommen egal.«
»Sie denken, dass Egbert …«
»Nein. Ich mache mir eher Sorgen um Egbert.«
Völlig in Gedanken versunken stürmte Pit durch den Flur in Richtung Halle. Was er jetzt brauchte, war ein hartes Training. Vorher wäre er nicht in der Lage, das vorliegende Problem vernünftig anzugehen. Er verstand jetzt, warum Hartmann ihm und Natasha die Koordination der notwendigen Fortbildungsmaßnahmen anvertraut hatte. Es war die perfekte Möglichkeit, Natasha in seiner Nähe und im Büro zu behalten.
Der Zusammenprall war hart, und er packte Carolina an den Schultern, um sowohl sich als auch sie zu stabilisieren.
»Bist du blind oder was?«, fuhr sie ihn an.
»Sorry, tut mir leid. Ich hab nicht gesehen, dass du aus der Tür kommst.«
»Mach verflucht noch mal die Augen auf!«, schimpfte sie und rieb sich den Arm.
Der halbseitige Aufprall hatte sie offensichtlich heftiger erwischt als ihn, obwohl er sein Brustbein auch ziemlich spürte. Ein blauer Fleck war ihm sicher. »Du hättest mir aber auch ausweichen können«, konterte er.
»Wie denn, wenn du in der einen Sekunde noch gar nicht da bist und dann auf einmal um die Ecke stürmst?«
Er hob die Hände. »Peace, Baby, ich nehme die Schuld auf mich. Ist eh schon ein beschissener Tag heute, da macht das den Kohl auch nicht fett.«
»Was ist los? Wieso bist du denn so wütend?«
»Ich bin nicht … Ach, was solls? Egbert wird heute Nachmittag aus der U-Haft entlassen.«
»Spinnst du jetzt?«
»Nein, Hartmann hat es mir gerade gesagt.«
»Dieses verfluchte Mistschwein versucht sich aus der Affäre zu ziehen.«
Erstaunlicherweise sorgte die Mordlust in Carolinas Augen dafür, dass sich sein Verstand lichtete. Dann fiel ihm ein, dass Hartmann ihn um Stillschweigen gebeten hatte. Mist, hoffentlich hatte sich das nur auf die Einordnung der Sondereinheit ins BKA bezogen.
»Ich hätte als Erste den Bunker stürmen sollen, dann hätten wir das Problem jetzt nicht.«
»Hey, atme mal durch, Caro. Dem Prozess kann er nicht entgehen. Er hat keine Chance, sich aus der Sache rauszuwinden.«
»Ach nein?«
Besorgt sah er Carolina an. »Mach keine Dummheit, verstanden?«
Sie verzog die Lippen, doch einem Lächeln entsprach ihre Mimik nicht im Mindesten.
»Pass auf sie auf.«
»Worauf du Gift nehmen kannst.«
»Gut.«
Nachdenklich blickte er Carolina nach, als sie den Weg zu den Duschen einschlug.
Hastig schlüpfte Natasha in die Kletterhalle zurück, bevor Pit sie entdecken konnte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Hände zitterten. Kurz schloss sie die Augen, atmete ein paar Mal tief durch.
»Ich dachte, du willst zur Toilette gehen.« Gabriella warf ihr einen verwunderten Blick zu.
»Ja, wollte ich, aber gerade ist mir siedenheiß eingefallen, dass ich den Termin beim Tierarzt vergessen hab. Die Auffrischung von Freyas Impfung. Tut mir leid, aber ihr müsst ohne mich weitermachen.«
Ihr entging das kurze Aufleuchten in Gabriellas Augen nicht, genauso wenig das Lächeln, das Bodo übers Gesicht huschte. Sie fragte sich, ob sie und Pit früher auf die anderen ähnlich gewirkt hatten wie jetzt Bodo und Gabriella. Für alle war offensichtlich, was die beiden füreinander empfanden, doch sie schienen aus irgendeinem Grund erpicht darauf zu sein, es zu ignorieren. Bei Bodo konnte sie es nachvollziehen. Er war kein Mann der vielen Worte, und was Frauen betraf – sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals in einer Beziehung gewesen wäre, seit sie Teil der Einheit war. Andererseits – wenn, so würde er im Gegensatz zu den anderen Stillschweigen bewahren, ganz anders als Gabriella, die gern und ausführlich von ihren Männerbekanntschaften erzählte. Seit der Trennung von ihrem letzten Freund allerdings war sie ungewöhnlich ruhig geworden.
Gabriella hielt sie fest. »Du brauchst die Sachen nicht wegräumen, das können wir machen, wenn du weg musst.«
»Du kennst die Regel.«
»Es bleibt unter uns, ehrlich.« Gabriella legte die Hand aufs Herz.
»Nein, danke. Du würdest es mir bei der nächsten Gelegenheit unter die Nase reiben.«
»Wie du meinst.«
Natasha ließ sich Zeit beim Wegräumen der Gurte und Seile. Sie hoffte, dass die zehn Minuten reichten, um freie Bahn zu haben, wenn Pit sein Training begann. Die bevorzugten Methoden, um seine Wut zu kanalisieren, waren gegen einen Boxsack zu schlagen und der Nahkampf.
Sie öffnete die Tür, schaute nach rechts und links und atmete auf. Der Gang war leer. Sie beeilte sich, zu ihrem Spind zu kommen, zog sich rasch um. Kurz vor dem Ausgang fiel ihr ein, dass sie Freya mitnehmen musste, wenn sie keinen Verdacht erregen wollte. Glücklicherweise hatten sie den Umzug in das Großraumbüro noch nicht vollzogen. Die Hunde waren allein im Büro. Mit traurigem Blick schaute Smart zu, wie sie Freya das Geschirr überzog.
»Tut mir leid, Süßer, aber bei dem, was ich vorhabe, kann ich dich echt nicht gebrauchen.«
Alexander Egbert atmete tief die frische Luft ein, schloss die Augen und gönnte sich das Gefühl der warmen Sonne auf seiner Haut. Freiheit. Der Anzug hing locker an ihm herunter. Die Hose rutschte. Er hatte abgenommen. Zwei Wochen Katharinas Kochkünste, und er wäre wieder der Alte. Er blickte zurück zu dem Gebäude der Haftanstalt. Jedenfalls fast.
Geduld ist eine Tugend, hatte sein Vater immer zu ihm gesagt, und zum ersten Mal verstand er, was er damit gemeint hatte. Es würde dauern, bis Gras über die Sache gewachsen wäre. Seine Rache an Natasha benötigte Zeit und Planung, aber ein Schritt nach dem anderen. Zuerst musste er den Prozess hinter sich bringen. Eine Säule dabei mochte der Strafverteidiger sein, für alles andere brauchte er seine Kontakte. Er hatte nicht vor, ins Gefängnis zurückzugehen. Es gab andere Optionen, die sein Leben einschränken würden – aber nur, was das Reisen betraf, nicht sein Leben und seine Vorlieben. Irgendeinen Vorteil musste es schließlich haben, dass sein Schwiegervater auf der Top-Hundert-Liste der reichsten Menschen stand und in Russland lebte. Katharina würde es nicht gefallen, ihren Platz in der deutschen High Society aufgeben zu müssen. Wenn alles nach Plan lief, wäre es nur für eine begrenzte Zeit notwendig.
»Haben Sie genug geatmet?«
Alexander zwang sich zu seinem üblichen Lächeln. Irgendwann, das schwor er sich, würde auch der Strafverteidiger zu spüren bekommen, was er von ihm hielt.
»Denken Sie daran, nehmen Sie Ihre Frau in den Arm, lächeln Sie in die Kameras und halten Sie sich an die Rede, die wir vorbereitet haben.«
»Keine Sorge, es ist nicht das erste Mal, dass ich im Rampenlicht stehe.«
Katharina starrte aus dem Fenster. Die Presseleute belagerten den Gehweg vor ihrem Haus. Ihr Vater hatte seine Sicherheitsleute angewiesen, sich sichtbar an beiden Seiten des Tors zur Garagenzufahrt sowie vor dem Tor des Fußwegs zu platzieren. Pawel, den er für ihre persönliche Sicherheit abgestellt hatte, hielt Distanz zu ihr, doch allein seine Anwesenheit half ihr, ihre Angst im Zaum zu halten. Sie hütete sich davor, ihn anzusehen.
Das Polizeifahrzeug, das seit Alexanders Verhaftung gegenüber von ihrer Einfahrt an der Straße parkte, war wie immer mit zwei Beamten besetzt. Sie hatte sich an den Anblick gewöhnt. Was ihre Aufmerksamkeit gefangen hielt, war die unscheinbare Frau, die in gerader Haltung nur ein wenig abseits stand, die Hände in den Jackentaschen verborgen, und der nichts zu entgehen schien. Sie hatte den Blick auf die Straße gerichtet, dorthin, von wo das Fahrzeug kommen musste, nur ein junger Schäferhund saß an ihrer Seite und beobachtete das Gewühl aus Presseleuten.
Katharina wusste, wer die Frau war – Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann, die Frau, von der ihr Ehemann besessen war, die Frau, die dafür gesorgt hatte, dass er verhaftet wurde. Die Frau, die ihr Leben und das ihrer Kinder zerstört hatte.
Dr. Krügers schwarzer Mercedes näherte sich im Schritttempo der Menschentraube vor dem Haus. Die Sicherheitskräfte öffneten das schmiedeeiserne Tor.
»Es ist so weit«, sagte ihr Vater und trat zu ihr. »Meinst du, du schaffst es?«
Diesmal schaute sie Pawel an, der ihren Blick hielt und kurz nickte. Er würde sie nie im Stich lassen.
»Ich denke ja.«
Sie ging zur Haustür und zog sich den Mantel an. Ihr Vater und Pawel folgten ihr nach draußen. Der Mercedes hielt vor der Garage. Der Mann, der vom Beifahrersitz ausstieg, wirkte vertraut und fremd zugleich. Nach Alexanders Verhaftung hatte sie anfangs geglaubt, es müsse sich um einen Riesenirrtum handeln. Ihr gesamtes Haus war durchsucht, alle elektronischen Geräte einschließlich ihrer eigenen und der der Kinder konfisziert worden, alle geschäftlichen Unterlagen, die Alexander in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt hatte, ebenso. Jeden Raum hatten die Beamten auf den Kopf gestellt. Ihre Schränke und Kommoden waren durchwühlt, Regale ausgeräumt, Schubladen geleert worden, und selbst die Küche war der Durchsuchung durch die Polizei zum Opfer gefallen. Anders als in den meisten Filmen war am Ende kein Chaos zurückgeblieben. Alles, was sie ausgepackt hatten, hatten die Einsatzkräfte wieder zurückgeräumt. Dafür fehlten am Ende eine Menge ihrer persönlichen Habseligkeiten. Die Liste hatte sie unterschreiben müssen, bevor man ihr ein Exemplar davon aushändigte.
Der Strafverteidiger Dr. Krüger war bei der Hausdurchsuchung anwesend gewesen und hatte darauf geachtet, dass alles streng nach Vorschrift verlief. Ihr Vater war keine vierundzwanzig Stunden nach Alexanders Verhaftung bei ihr eingetroffen. Seitdem war er ihr nicht von der Seite gewichen.
Sie wusste nicht, wie sie die ersten Tage ohne ihn hätte überstehen sollen. Er hatte alles in die Hand genommen, sich um die Kinder gekümmert, dafür gesorgt, dass sie aus der Schule genommen wurden, und einen Privatlehrer für sie engagiert. Inzwischen waren Elena und Sascha in der Herrmann-Lietz-Schule, einem Internat in Spiekeroog untergebracht. Darum hatte ihr ältester Bruder Fjodor sich gekümmert. Vor allem Elena, ihre sensible Tochter, litt unter den Presseartikeln über ihren Vater. Sascha war froh, seiner alten Schule entflohen zu sein, und hatte sich rasch an das Leben im Internat angepasst.
Auch wenn ihr Vater sein Möglichstes tat, sie von der Außenwelt abzuschotten, bekam Katharina die Folgen der Festnahme überall zu spüren – angefangen bei ihrem sozialen Leben: Absagen für Veranstaltungen und Theaterpremieren und Freundinnen, die nicht ans Telefon gingen. Selbst ihre Unterstützungsbeiträge an wohltätige Organisationen wurden zurücküberwiesen, und man hatte sie aus dem Verein, den sie selbst gegründet hatte, hinausgeworfen.
Das war der Punkt, an dem ihr Vater wütend geworden war. Sie hatte ihren Bruder Fjodor angerufen, der während der Abwesenheit ihres Vaters das Unternehmen leitete. Mit ihm hatte sie sich schon immer besser verstanden als mit Maxim. Er galt als das schwarze Schaf in der Familie, ging ständig auf Partys und war in Affären verwickelt. Doch diesmal war sie es, die auf das Geschick ihres Vaters angewiesen war, um aus einer prekären Situation herausmanövriert zu werden. Fjodor war der Einzige in der Familie, der ihren Vater bremsen konnte, wenn er die Beherrschung verlor. Mochte man sie auch rausgeworfen haben, sie wollte nicht, dass der Verein seine Arbeit einstellen musste. Wie immer war es ihm gelungen, die Wogen zu glätten.
Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, alles hinter sich zu lassen und mit den Kindern nach Hause nach Russland zurückzugehen. Aber das hätte bedeutet, ihr eigenständiges Leben aufzugeben und sich wieder ganz unter die Fittiche ihres Vaters und des ältesten Bruders zu begeben, ganz zu schweigen von ihrer herrschsüchtigen Schwägerin. Nein. Das wollte sie nicht. Abgesehen davon hatte ihr Dr. Krüger erklärt, dass sie nicht so ohne Weiteres eine Erlaubnis bekäme, das Land zu verlassen, so lange das Verfahren gegen ihren Mann lief. Die stille Implikation, als Ehefrau in die illegalen Geschäfte ihres Mannes verwickelt zu sein, hatte sie durchaus verstanden.
Dr. Krüger hatte sie ermutigt, sich dem BKA gegenüber kooperativ zu verhalten, und ihren Vater zur Zurückhaltung gemahnt. Es hatte sie erstaunt, dass er den Rat des Strafverteidigers beherzigte. Ihr Vater ließ sich normalerweise von niemandem Vorschriften machen.
Weiterhin hatte Dr. Krüger sie gebeten, jeden Monat die gesetzlich genehmigten maximal zwei Besuchstermine bei ihrem Mann in der Justizvollzugsanstalt Moabit wahrzunehmen. Das alles waren Maßnahmen, um die Unschuld ihres Mannes, sein gefestigtes soziales Umfeld und seine Rolle als Familienvater vor dem Haftrichter glaubwürdig zu demonstrieren. Sie hatte die Besuche gehasst, die Tatsache, dass sie – kaum aus dem Haus – beschattet worden war, die Kameras, die sie nicht einen Moment unbeobachtet gelassen und sie in ihrem natürlichen Verhalten gehemmt hatten.
Die erste Begegnung mit Alexander nach seiner Verhaftung – keine Fragen zu dem Fall, kein Gespräch über die Anschuldigungen. Alles wurde mitgehört. Sie hatte in seinem Gesicht geforscht, nach der Verzweiflung, dem Schock, der Wut über die haltlosen Anschuldigungen – vergeblich. Stattdessen konnte sie die kalte Wut in seinen Augen sehen, und wie es ihn nervte, Zeit mit ihr zu verbringen. Erst da war ihr klar geworden, dass ihre Ehe nie auf gegenseitiger Liebe beruht hatte. Warum er sie geheiratet hatte, konnte sie nur ahnen. Sie hatten nie viel Zeit miteinander verbracht. Seit ihrer Schwangerschaft mit Elena schliefen sie in getrennten Schlafzimmern. Sie hatte es darauf zurückgeführt, dass er viel geschäftlich unterwegs war und, selbst wenn er zu Hause war, erst spät von der Arbeit nach Hause kam. Für seine Kinder hatte er nie Interesse aufgebracht. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, Ehefrau und Mutter zu sein. Ihre gesellschaftliche Anerkennung hatte sie über den Platz ihrer Schwiegereltern in der deutschen High Society und ihr karitatives Engagement bekommen. In der Öffentlichkeit hatte Alexander hingegen immer den charmanten, aufmerksamen Ehemann gemimt, um den all ihre Freundinnen sie beneidetet hatten. Freundinnen. Es waren keine wirklichen Freundschaften gewesen.
Nach Saschas Geburt war ihr Sexualleben komplett zum Stillstand gekommen. Von Anfang an hatte sie das Gefühl gehabt, die Bedürfnisse ihres Mannes nicht befriedigen zu können. Es hatte ihr nichts ausgemacht, dass er im Bett dominant und fordernd war, und sie hatte geglaubt, er würde sich bei ihr zurückhalten, weil er glaubte, sie sei seinen sexuellen Wünschen nicht gewachsen. Also hatte sie angefangen, im Internet zu recherchieren, und ihn eines Abends in Lederdessous, mit Handschellen und einem Halsband in seinem Schlafzimmer erwartet. Nur kurz war etwas in seinen Augen aufgeblitzt, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hatte. Dann hatte er sie barsch in ihr Schlafzimmer geschickt, wo sie sich eingeschlossen hatte. Nie wieder hatte einer von ihnen ein Wort darüber verloren.
Razvan. Sie hatte keine Ahnung, was ihren Mann mit dem Rumänen verbunden hatte. Wenn sie sich jemals im Leben ein Bild von Dracula hätte machen sollen, hätte er ausgesehen wie Razvan – geschmeidig, durchtrainiert, schlank, rabenschwarze Haare und dunkelbraune Augen, die wie Kohle glühen konnten. Nachdem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie Alexander ein Ultimatum gestellt: sie oder er. Er hatte sich für sie entschieden, und Razvan war nie wieder Gast in ihrem Haus gewesen. Geschäftlich jedoch hatten die beiden nach wie vor zusammengearbeitet. Sie hatte es ignoriert.
Alexanders Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Bekomme ich keinen Kuss zur Begrüßung?«
Sie trat auf den Hof und wurde für die Pressemeute sichtbar, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und küsste ihn auf seine raue, unrasierte Wange. Bei ihren Besuchen war er immer sauber rasiert gewesen. Sie musste sich überwinden, nicht zu erschauern, als er sie in seine Arme zog und seine Lippen auf ihre presste. Widerwillig öffnete sie den Mund und unterdrückte den Ekel, presste aber reflexartig die Hände abwehrend gegen seine Brust.
Er ließ sie los. Verlegen fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. »Tut mir leid.« Sie warf einen Blick zu den Journalisten hinüber und fing den Blick von Natasha Kehlmann auf. Unwillkürlich fing ihr Herz an, schneller zu schlagen, und sie spürte Tränen in sich aufsteigen. Sie durfte jetzt nicht heulen oder die Fassung verlieren. Sie musste stark bleiben, das hatten sie ihr alle eingebläut – Dr. Krüger, Papa, Fjodor und Pawel.