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Sondereinheit Themis: Hinter Gittern

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Sondereinheit Themis, Band 5

Zusammenfassung

"Pit, ich weiß, es ist nicht leicht für dich. Vertrau mir, ich weiß, was ich tue und bitte akzeptiere die Situation, wie sie ist." Pit kann es nicht fassen. Trotz aller vorliegender Beweise, wird Alexander Egbert aus der U-Haft entlassen. Bevor er mit Natasha darüber reden kann, verschwindet sie. Von Sorgen aufgefressen, ist er erleichtert, als sie wieder zu Hause auftaucht. Zu früh, denn kurz darauf, klingelt es an der Tür und Natasha wird wegen Mordes an Alexander Egbert verhaftet. Hat Natasha ihr Vertrauen in das Rechtssystem verloren und Alexander Egbert ermordet? Oder steckt hinter all dem ein ganz anderer teuflischer Plan?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Kater

Pit blickte auf die Uhr – kurz vor acht. Freya lag vor der Wohnungstür, den Kopf auf den Pfoten, die Hinterbeine lang ausgestreckt, die Augen geschlossen. Smart konnte von dem Platz auf seinem Kissen aus den gesamten Wohnraum, Küche und Flur im Blick behalten – kein schwieriges Unterfangen, da Pit das Loft, das mal aus einem einzigen großen Raum bestanden hatte, nur mit wenigen Trennwänden unterteilt hatte.

Natasha hatte nicht gesagt, wie lange sie fortbleiben würde. Nicht, dass er ihr den Freiraum nicht gönnte. Schließlich konnte er sich prima selbst beschäftigen, was er in den letzten Jahren ja auch getan hatte. Nur weil man in einer Beziehung war, hieß das ja nicht, sich auf einmal völlig auf den anderen zu fixieren.

Dumm nur, dass keiner der anderen aus dem Team Lust gehabt hatte, eine Gaming-Runde einzulegen. Kevin war mit Marla verabredet, nachdem sie ihn die letzten Tage nicht zu Gesicht bekommen hatte, Bodo und Gabriella wollten ins Kino gehen. Er runzelte die Stirn. Keiner von beiden hatte ihn eingeladen. Chris meinte, er bräuchte Ruhe, nachdem er es in den letzten Tagen trotz seiner Verletzung übertrieben hatte. Ulf fragte er erst gar nicht, weil Yvonne, Pits älteste Schwester, sich bereits am Telefon beschwert hatte, dass ihre Schwester Carina, die ältere der Zwillinge, mal wieder ein dienstfreies Wochenende hatte und nicht plante, freiwillig Stunden in der Familienstiftung abzuleisten. Hätte ihm jemand das vor vier Monaten erzählt, er hätte ihn für verrückt erklärt. Ausgerechnet Carina, der Workaholic in der Familie, die immer allen ein schlechtes Gewissen eingeredet hatte, wenn man einen Tag auf der Couch verbrachte.

Freyas Kopf schoss hoch, sie sprang auf, wedelte mit dem Schwanz und kratzte an der Tür. Smart erhob sich ebenfalls von seinem Kissen und dehnte und streckte sich, bevor er gemächlich zur Tür tapste.

»Hallo, ihr zwei Süßen, habt ihr mich vermisst?« Natasha ließ ihre Sporttasche von der Schulter gleiten und begrüßte die Hunde.

»Hast du schon was gegessen?« Pit wartete geduldig, bis er mit Begrüßen an der Reihe war, und zog ihr die Mütze vom Kopf.

Ihre Haare waren noch feucht und rochen nach Honig, statt nach Minze. Sie küsste ihn – viel zu schnell und viel zu flüchtig, drehte sich aus seiner Umarmung, schälte sich aus ihrer Jacke und zog die Schuhe aus.

»Nein, und ich habe mordsmäßigen Hunger«, verkündete sie, schnappte sich ihre Tasche vom Boden und ging in den Waschraum.

»Ich hätte noch Gemüseauflauf von heute Mittag.«

»Perfekt.« Sie tauchte wieder aus dem Waschraum auf und steuerte auf die Küche zu.

Smart folgte ihr und ließ sich wieder auf seinem Kissen nieder. Freya rollte sich neben ihrem Kumpel zusammen. Pit beobachtete, wie Natasha sich den Auflauf aus dem Kühlschrank holte, den Wasserkocher auffüllte und ihn anschaltete. Die lose Teeblattmischung duftete, als sie sie in das Teesieb für die Thermoskanne füllte. Es war eine neue Mischung in einer neutralen weißen Packung, die sie vor drei Tagen mitgebracht hatte und jetzt literweise trank.

Er lehnte sich gegen die Küchentheke und verschränkte die Arme.

Nachdem sie den Auflauf in die Mikrowelle gepackt und diese angeschaltet hatte, holte sie sich aus einem der Regale ein kleines Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit und träufelte zwanzig Tropfen in ein Schnapsglas mit Wasser. Auch damit hatte sie erst vor zwei Tagen angefangen. Es war ein pflanzliches Mittel für den Magen, das sie vor jeder Mahlzeit einnahm. Sie kippte die Flüssigkeit in einem Zug hinunter, verzog das Gesicht und schüttelte sich.

»Natasha, bist du …«

»… schwanger?«

Pit hatte das Gefühl, jemand hätte ihm einen Knock-out-Schlag verpasst und ihm gleichzeitig in die Magengrube geboxt. In seinem Kopf rauschte es. Nach der Kälte kam die Hitze. Die Mikrowelle machte Ping, die Uhr an Natashas Handgelenk vibrierte und signalisierte, dass der Tee lange genug gezogen hatte.

Sie ignorierte beides und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Das wolltest du gar nicht fragen, hm?« Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Augen fingen an zu glänzen.

Bevor er denken, sich bewegen oder Luft schnappen konnte, schoss sie bereits an ihm vorbei in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Schwanger?«, wisperte er, nachdem das Wort wie ein Echo wieder und wieder durch seinen Kopf gehallt war. Eine Unmenge von Bildern spulte sich wie in einem Film vor ihm ab: die morgendliche Übelkeit, die Heißhungerattacken, die dunklen Ringe unter ihren Augen, Sex … Verdammt, er hatte bei ihr ja auch nie ein Kondom verwendet. Sonst hatte er es immer getan und rechtzeitig abgebrochen. Sicher ist sicher, klar. Aber bei ihr?

»Schwanger.« Diesmal glitt ihm das Wort fester über die Lippen. Vater, hallte es nun in seinem Kopf wider, und er merkte, wie sich langsam ein Grinsen auf seine Lippen stahl. Er blickte hinunter auf Freya, die, kaum war die Tür ins Schloss gefallen, aufgesprungen war und ihn jetzt mit vorwurfsvollem Blick ansah. »Hey, du musst mir schon einen Moment geben, und keine Sorge, du bleibst weiterhin ihre weltbeste Hündin.«

Er klopfte, bekam aber keine Antwort. Nach ein paar tiefen Atemzügen öffnete er die Tür. Sie lag zusammengerollt auf ihrem Bett, ein Kissen vor dem Bauch. Er legte sich mit etwas Abstand hinter sie und stützte den Kopf auf einer Hand ab.

»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du wegen des bevorstehenden Termins mit der Staatsanwältin nervös bist. Ich dachte, deshalb wolltest du allein zu deinen Eltern fahren und hast ein dreistündiges Training im Schwimmbecken absolviert.«

»Keine Sorge. Ich bin nicht schwanger.«

»Du weinst.«

»Verdammt, ja. Ist das so schlimm?«

»Hat Dr. Hofmeister dir deshalb die Einschränkung beim Training eingetragen?«

»Ja.«

»Und du warst heute nicht nur bei deinen Eltern.«

»Nein.«

»Sein Eintrag, das war bei deinem Termin vor vier Tagen.«

»Es war nur ein Verdacht – eine Möglichkeit, die er sicher ausschließen wollte.«

»Er hat aber keinen Schwangerschaftstest durchgeführt.«

Sie drehte den Kopf zu ihm. »Woher weißt du das?«

»Weil ein solcher Test bei deinem gesundheitlichen Zustand direkt geflaggt worden wäre, und glaub mir, es wäre mir aufgefallen.«

»Er hat mir einen Termin bei einer Studienkollegin organisiert. Ich glaube, er mag sie sehr.«

»Dr. Hofmeister mag jemanden?«

»Sie wurde nach dem ersten Staatsexamen ungewollt schwanger und hat das Kind behalten. Er hat ihr damals geholfen.«

»Hast du mir deshalb nichts davon erzählt, weil du selbst die Entscheidung treffen wolltest?«

Sie drehte sich komplett zu ihm um, faltete die Hände unter ihrem Kopf. Ihre Augen fixierten ihn. Die Haut auf ihren Wangenknochen war gerötet. Ihm wurde klar, dass sie zwar mit ihm zusammen war, jedoch nicht auf die Langfristigkeit ihrer Beziehung vertraute. Ja, sie gingen seit vier Jahren zusammen in Einsätze und mussten sich blind aufeinander verlassen. Ja, sie lebten seit drei Jahren als Freunde zusammen, und seit Kurzem waren sie ein Paar, doch das bedeutete nicht, dass sie verinnerlicht hatte, welche Gefühle er für sie hatte. Konnte er es ihr verdenken, wenn sie diese Entscheidung allein treffen wollte? Er dachte an die unzähligen Diskussionen in seiner Familie mit seinen vier Schwestern zurück. Am Ende sind wir es, die die Verantwortung für ein Kind tragen, weil es unser Körper ist, in dem es wächst, bevor es auf die Welt kommt. Egal, wie oft er argumentierte, dass ein Mann notwendig sei, damit ein Kind entstehen konnte, und daher in letzter Konsequenz genauso verantwortlich und entscheidungsberechtigt über dessen Leben sein müsse. In seinen Augen waren seine Eltern das beste Beispiel dafür, wie man gemeinsam die Verantwortung für die Kinder übernahm. Seine Mutter, eine Ärztin, die die Arbeit mit den Patienten liebte, war nach jeder Geburt eines ihrer Kinder und selbst der Zwillinge wieder zurück in ihren Job gegangen. Sein Vater, ebenfalls Arzt, der sich jedoch in der Wissenschaft wohler fühlte, hatte von zu Hause aus gearbeitet. Annette, ihre Haushaltshilfe, hatte gekocht, geputzt und die Wäsche gemacht, sodass seine Eltern sich auf ihre Arbeit konzentrieren und die verbliebene Zeit mit ihren Kindern hatten verbringen können.

»Ja. Für dich ist es leicht zu sagen, dass du ein Kind möchtest oder nicht, aber für mich … Die Entscheidung zu treffen, ob ich das, was da in mir wächst …« Ihr Blick schien sich nach innen zu richten. Die Muskeln in ihren Wangen arbeiteten. »… beende oder auf die Welt bringe, ist gleichermaßen beängstigend und hat weitreichende Konsequenzen für mein Leben zur Folge. Ich liebe meinen Job.« Tränen traten in ihre Augen. »Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. Ich weiß nicht, ob ich es jemals kann.«

Jetzt liefen die Tränen, und er musste sich beherrschen, um sie nicht in die Arme zu nehmen. Über seine nächsten Worte dachte er lange nach, bevor er sagte: »Ich habe mir nie Gedanken gemacht, ob ich Kinder möchte oder nicht. Es stand für mich nie zur Diskussion. Ich liebe meinen Job auch, und wenn man mit all dem konfrontiert ist, was auf dieser Welt abgeht, finde ich den Gedanken, Vater zu sein, beängstigend. Du hast gesagt, dass du nicht schwanger bist, aber – es könnte sein? Ich meine, woher kommen deine Heißhungerattacken, die Stimmungsschwankungen und die Übelkeit sonst?«

»Stress.«

»Kannst du eine Schwangerschaft ganz sicher ausschließen?«

Sie blinzelte, runzelte die Stirn. »Dr. Meyer hat einen weiteren Bluttest und eine Ultraschalluntersuchung gemacht, und beides war negativ.«

»Ich habe nicht verhütet.«

»Ich nehme nicht die Pille.«

»Hast du deine …?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Weinst du, weil es dir weiterhin Angst macht und du trotzdem glaubst, dass du schwanger bist?«

Sie schloss die Augen, schüttelte stumm den Kopf, und er fragte sich, ob ihr bewusst war, dass sie die Hand auf ihren Bauch gelegt hatte.

»Ich bin es nicht. Ich kenne meinen Körper. Es würde sich anders anfühlen. Ich weiß nicht, warum ich heule.« Sie setzte sich auf, presste die Fäuste auf die Augen. »Ich hasse es, zu heulen.«

Er setzte sich ebenfalls auf, hob einen Arm. Erst als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit an ihn lehnte und den Kopf auf seiner Brust ablegte, atmete er tief durch. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und legte seine Wange auf ihrem Kopf ab. Dass er sie im Arm hielt, reichte ihm nicht. Er brauchte noch den anderen Arm, um sie festzuhalten. Es war beängstigend, wie sehr er ihre körperliche Nähe benötigte, als wäre er erst dann vollständig.

2

Bei der Staatsanwältin

Kalt und nüchtern, das waren die ersten Begriffe, die Natasha durch den Kopf schossen, als die Staatsanwältin den Besprechungsraum im Amtsgericht Moabit betrat. Saskia Görcke stellte die Aktenordner auf den Tisch, setzte sich und öffnete die mitgebrachte Kladde. Ein in einer unlesbar aussehenden Handschrift vollgeschriebener Notizblock und jede Menge weiterer dicht beschriebener Blätter verteilten sich auf dem runden Buchenholztisch. Natasha war gespannt, warum die Staatsanwältin mit ihr allein sprechen wollte. Ihrer Ansicht nach hatte sie alles gesagt und war nur allzu bereit, ihre Aussage vor Gericht zu wiederholen.

Die grau bezogenen Stühle mit Metallbeinen sahen alles andere als bequem aus. Natasha, die bisher gestanden hatte, setzte sich gegenüber von Frau Görcke, die mit der Fingerspitze ihre Brille auf dem Nasenbein hochschob, in den Blättern wühlte, eines ansah, es wieder ablegte und den Vorgang wiederholte.

Natasha betrachtete die Frau vor sich, die ihrer Ansicht nach für diesen Fall viel zu jung war. Sie konnte absolut nicht nachvollziehen, weshalb die Berliner Staatsanwaltschaft ausgerechnet Görcke den Fall Egbert übertragen hatte. Die ergänzenden Ermittlungsarbeiten zogen sich bereits fast fünf Monate hin. Wäre es nach ihr gegangen, hätte der Prozess gegen Alexander Egbert nicht nur längst begonnen, sondern wäre mittlerweile beendet. Der Täter wäre zu lebenslanger Haft verurteilt – nicht nur wegen kaltblütigen Mordes, sondern auch wegen Menschenhandels, Vergewaltigung, Missbrauchs von Minderjährigen, Korruption … Die Liste ließe sich unendlich lang fortsetzen. Wenn jemals ein Mensch es verdient hatte, hinter Gittern zu sitzen, dann Alexander Egbert.

Endlich schien sich Frau Görcke sortiert zu haben. Ihre veilchenblauen Augen in dem schmalen Spitzmausgesicht, umrahmt von der Nerd-Brille mit schwarzer, eckiger Fassung, richteten sich auf sie.

»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann, es gibt da einige Fragen, die ich mit Ihrer Hilfe gern beantwortet bekäme.«

»Schießen Sie los.«

»Ist es korrekt, dass es von Ihnen Videoaufnahmen im Internet gibt, die sie bei einer sexuellen Interaktion mit mehreren Männern zeigen?«

Natasha erstarrte. In ihrem Magen bildete sich ein eiskalter Klumpen. Die Haare an ihren Unterarmen stellten sich auf. Ihr Mund wurde trocken. »Ich verstehe nicht, was das mit dem vorliegenden Fall zu tun hat.«

»Also lautet Ihre Antwort Ja?«

»Ja.«

»Ist es ebenfalls korrekt, dass Sie damals eine anonyme Anzeige wegen Vergewaltigung erstatteten?«

»Wenn Sie sich die Videos aufmerksam angeschaut haben, sollten Sie bemerkt haben, dass ich während des Geschlechtsakts nicht bei Bewusstsein war.«

»Sie meinen bei dem ersten? Oder bei allen?«

»Ich war gefesselt, mir waren die Augen verbunden worden, ich wurde geschlagen und gebrandmarkt. Sehen Sie das als einen freiwilligen Akt von Sex an?«

»Sehen Sie, Frau Kehlmann, es geht mir nicht darum, Ihre persönlichen Vorlieben beim Sex zu beurteilen oder infrage zu stellen. Meine Aufgabe ist es, bei der Ermittlung zu einem Verbrechen alle Aspekte zu betrachten. Ich suche nach Beweisen, und zwar unabhängig davon, ob sie die Schuld oder die Unschuld eines Tatverdächtigen bekunden. Ich bin dem Grundsatz der Objektivität verpflichtet.«

Natasha ließ sich in den Stuhl zurückfallen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich fasse es nicht. Halten Sie ihn für unschuldig?« Sie beugte sich wieder vor, spürte ohnmächtige Wut in sich aufkeimen. »Alexander Egbert hat Bianca Franke vor meinen Augen die Kehle durchgeschnitten, der Mutter meiner besten Freundin Marietta. Vorher hat er mir erzählt, dass er Marietta vor einen Zug geworfen habe, sodass es damals aussah, als hätte sie Selbstmord begangen. Letzteres ist ein Geständnis, Ersteres ein Mord vor einer Zeugin.«

»Frau Kehlmann, können wir uns wieder auf die vorliegenden Fragen und Fakten konzentrieren?«

Natasha biss die Zähne zusammen und atmete ein paar Mal tief durch, bis sich der rote Schleier in ihrem Gehirn lichtete. »Was war Ihre letzte Frage?«

»Ob Sie eine anonyme Anzeige wegen Vergewaltigung erstatteten.«

»Ja.«

»Warum anonym?«

Natasha stieß Luft durch den Mund aus. Sie starrte auf ihre Finger, die sie unbewusst ineinander verknotet hatte.

»Brauchen Sie einen Moment Zeit? Möchten Sie das Gespräch verschieben?«

Sie hob den Kopf, musterte die Staatsanwältin vor sich. Alexander Egbert kam aus einer Familie, die in den höchsten gesellschaftlichen Schichten Deutschlands verkehrte. Er konnte auf ein Netzwerk an politischen und wirtschaftlichen Kontakten zurückgreifen, nicht nur in Deutschland, sondern international. Sie hatte sich nicht mehr mit dem Fall beschäftigt, weil sie davon ausgegangen war, dass all das der Vergangenheit angehörte und er für seine Taten nun endlich würde büßen müssen. Wie leicht man sich irren konnte.

»Nein. Die Anzeige erfolgte anonym, weil ich nicht wusste, wer mich vergewaltigt hatte. Sie haben die Videos gesehen. Die Männer trugen Masken, ich war bei allen bis auf den letzten bewusstlos, und anhand eines Penis lässt sich ein Mann leider nicht eindeutig identifizieren. Vielleicht sollten wir den Aspekt in Zukunft bei unserer Ermittlungsarbeit mehr berücksichtigen.« Sie wich dem Blick der Anwältin nicht aus, sondern hielt ihm stand.

Frau Görcke senkte den Blick auf ihre Notizen. »Bei der Untersuchung damals wurden unter anderem DNA-Spuren sichergestellt, die mit der DNA von Alexander Egbert übereinstimmen. Ihre Freundin Marietta Franke hingegen hat sich damals nicht untersuchen lassen und auch keine Anzeige erstattet. Wissen Sie warum?«

»Nein. Damals dachte ich, sie hätte Angst und würde sich schämen.«

»Es gibt nur von Ihnen Videos im Internet, nicht von Ihrer Freundin.«

»Mir wurde damals angedroht, dass die Videos, sofern ich meine Anzeige nicht zurückziehe, im Internet veröffentlicht würden. Es bestand für die Täter kein Grund, Videos von Marietta zu veröffentlichen.«

»Verstehe. Also wurde sie ebenfalls vergewaltigt?«

Natasha hörte Razvans Stimme in ihrem Kopf:

»Weshalb hätte ich Marietta K.-o.-Tropfen einflößen sollen, wo sie doch allzu gern für Alex und seine Freunde die Beine breitgemacht hat, weil es ihn angetörnt hat, ihr dabei zuzusehen.«

Er hatte die Wahrheit gesagt. Auch seine Warnung war ernst gewesen. Dafür hatte er mit dem Leben bezahlt. Nein, sie bedauerte seinen Tod nicht. Schließlich war Razvan derjenige gewesen, der die Geschäfte für Egbert geleitet und dafür gesorgt hatte, dass dieser immer Mädchennachschub für seine abartigen sexuellen Praktiken erhielt.

»Das weiß ich nicht. Hören Sie, Frau Görcke, ich verstehe wirklich nicht, was dieser alte Fall mit dem vorliegenden zu tun hat.«

»Haben Sie mir nicht zugehört? Eine der DNA-Spuren von Ihrer Vergewaltigung damals kann eindeutig Alexander Egbert zugewiesen werden.«

Natasha starrte die Anwältin an. »Soll das heißen, Sie wollen den damaligen Fall in den Prozess miteinbeziehen?«

»Meine Aufgabe ist es, alle Fakten zu sammeln und dem Richter vorzulegen, damit er sich ein Bild davon machen kann, ob er den Prozess gegen Alexander Egbert eröffnet oder nicht. Herr Egbert verfügt über weitreichende Kontakte, und sein Strafverteidiger ist der beste und teuerste, wenn es um Sexualdelikte geht.«

»Sie werden ihn für den Fall von damals anklagen?«

Die Staatsanwältin seufzte, nahm die Brille ab, rieb sich das Nasenbein und setzte sie wieder auf. »Frau Kehlmann, das Problem, das wir haben, sind Sie.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie sind keine neutrale Zeugin. Sie sind befangen. Zwischen Ihnen und Alexander Egbert gibt es eine Beziehung …«

»Beziehung? Drehen Sie jetzt völlig durch?« Der eiskalte Blick der Anwältin brachte sie zum Schweigen.

»Gehen Sie bei Verhören von Tatverdächtigen genauso vor?«

Natasha hob die Hand. »Geben Sie mir einen Moment.«

»Mir wurde gesagt, dass Sie gut in Ihrem Job sind. Dass sie Menschen zum Reden bringen, auch wenn sie gar nicht reden wollen. Dieser Razvan Ciobanu wollte ein Geständnis ablegen.«

»Und wurde in der U-Haft ermordet.«

»Warum um alles in der Welt glauben Sie dann, es würde leicht werden, Alexander Egbert vor Gericht zu bringen?«

»Weil wir ihn auf frischer Tat geschnappt haben? Mit einer Leiche und dem Messer. Verflucht noch mal, er hatte den gesamten Boden mit einer Plastikplane ausgelegt. Der Mann ist krank

»Und die einzige Zeugin dieses Mordes sind Sie, Frau Kehlmann. Sie und Alexander Egbert waren ganz allein in dem Raum. Es gibt keine Spuren an der Waffe, weder von ihm, noch von Ihnen.«

»Ich war an das Bett gefesselt.«

»Ja, aber ab wann?«

»Er hat mir K.-o.-Tropfen verabreicht und mich aus Frau Frankes Wohnung entführt.«

»Hat er das?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»In Ihrem Blut wurde keine bewusstseinstrübende Substanz nachgewiesen.«

»Weil sie nach einer gewissen Zeit im Blut nicht mehr nachweisbar ist. Aber die Wohnung, der restliche Tee in der Tasse … Der Tatort wurde untersucht.«

»Ja, und auf der Tasse fanden sich die DNA-Spuren von Ihnen und Frau Franke. Es gab keine Spuren von einem Kampf in der Wohnung. Wie würden Sie in einer solchen Situation als Strafverteidigerin vorgehen?«


Die Tür von Oberst Wahlstroms Büro war geschlossen, was anzeigte, dass er nicht gestört werden wollte. Kurz überlegte Natasha, ob sie es als Zeichen deuten sollte, es sich noch mal zu überlegen. Nein. Entschlossen hob sie die Hand und klopfte.

»Herein. – Kehlmann, ich hoffe für Sie, es ist etwas verdammt Dringendes.« Oberst Wahlstrom war nicht allein in seinem Büro.

Generalmajor Hartmann erhob sich, schloss die Tür hinter ihr, legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie in Richtung Stuhl. »Setzen Sie sich«, forderte er sie auf, nicht in demselben Befehlston wie Wahlstrom, sondern freundlich, aber bestimmt. Mann, musste sie beschissen aussehen. Sie setzte sich, weil sie spürte, dass ihre Knie tatsächlich nachgaben. Hartmann setzte sich auf die Schreibtischkante.

»Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass Sie schwanger sind.«

»Ben«, kam es tadelnd von Hartmann.

»Ich muss kündigen.«

»Atmen Sie erst mal tief durch und erzählen Sie uns, was passiert ist.«

Natasha schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. »Nein. Meinetwegen stehen Sie vor dem Ausschuss. Weil ich eine Geisel mit der Waffe bedroht habe. Ich bin in eine Wohnung eingebrochen. Nein, ich brauche gar nicht zu kündigen. Sie müssen mich feuern.«

»In eine Wohnung eingebrochen?« Hartmann hob fragend die Augenbrauen und sah zu Wahlstrom hinüber.

Der räusperte sich. »Kehlmann, hören Sie auf, dramatisch zu sein. Themis besteht aus über einhundert Männern und Frauen, Sie sind lediglich eine davon. Wir stehen nicht Ihretwegen unter Beschuss, und das wissen Sie. Also, was hat Sie derart aus dem Konzept gebracht?«

»Mich würde der Punkt mit dem Wohnungseinbruch genauer interessieren.«

»Hartmann!«

»Ben?«

»Nichts Dramatisches. Es hatte mit dem Fall Egbert zu tun. Kehlmann ist in Ciobanus Wohnung eingedrungen, das wars. Sache erledigt.«

»Ohne einen Durchsuchungsbeschluss?«

»Sie glaubte, eine junge Frau sei in Gefahr. Immerhin war eines der Mädchen, die bei ihm wohnten, kurz zuvor in ihrem Beisein gestorben.«

»Er wird uns einen Strick daraus drehen«, murmelte Natasha.

»Wer?« Die Frage kam von beiden.

»Alexander Egbert. Ich war heute Morgen bei der Staatsanwältin Saskia Görcke, die für die Anklage zuständig ist. Sie sagt, er habe den besten Strafverteidiger, der alles zerpflücken und infrage stellen würde.«

»Und wie will er das machen? Immerhin hat er vor Ihren Augen der Mutter seiner Exfreundin die Kehle durchgeschnitten.«

»Ben«, mahnte Hartmann, als müsse er sie vor seinen Worten schützen.

»Sorry.«

»Eben nur vor meinen Augen«, versuchte sie die Bilder, die Wahlstroms Worte heraufbeschworen hatten, zu verdrängen.

Einen Moment herrschte Stille im Raum. Hartmann begriff die Bedeutung ihrer Aussage schneller.

»Verstehe. Frau Görcke geht davon aus, dass der Strafverteidiger Ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen wird. Es gibt keine Spuren an der Mordwaffe. Sie beide verbindet eine Vergangenheit. Er war der Freund Ihrer besten Freundin. Sie könnten eifersüchtig gewesen sein oder Rache im Sinn gehabt haben.«

»Kehlmann, Sie wollen nicht ernsthaft behaupten, dass Egberts Strafverteidiger die Geschichte von damals herauskramt, um seinen Mandanten herauszuboxen?«

»Erst mal geht es ihm wohl darum, Egbert aus der U-Haft zu bekommen. Er wird argumentieren, dass die Beweislast nicht ausreicht, dass er eine Familie hat, fest in der Gesellschaft verankert ist und es daher nicht angemessen ist, ihn weiterhin in der Justizvollzuganstalt zu belassen«, erwiderte sie und frage sich, woher ihre Ruhe kam. Sie hätte wütend sein müssen wie zuvor bei der Staatsanwältin.

»Ach verfluchte Scheiße!«, rief Wahlstrom und sprang von seinem Bürostuhl auf. »Nicht genug damit, dass wir uns mit dieser dämlichen politischen Kacke und einem digitalen Angriff auf unser Land auseinandersetzen müssen – nein, jetzt kommen noch Psychopathen auf freien Fuß, die auf frischer Tat ertappt wurden.«

»Bisher sitzt er in U-Haft«, erwiderte Hartmann ruhig. »Frau Görcke ist zugegebenermaßen eine sehr junge, jedoch kompetente Staatsanwältin, die für ihre extreme Genauigkeit bekannt ist. Sie wird alles dreimal überprüfen und – da bin ich mir sicher – am Ende eine Beweislage für den Prozess vorlegen, die Alexander Egbert lebenslänglich hinter Gitter bringt.«

»Ja, und was passiert, wenn Sie das mit dem Wohnungseinbruch herausfindet? Sie oder der Strafverteidiger? Wie glaubwürdig ist meine Aussage dann? Und vergessen Sie nicht, dass Egbert am Ende nicht nur eine Bisswunde hatte, sondern auch eine gebrochene Nase und einen ausgeschlagenen Zahn.«

»Dafür hat Kriminalhauptkommissar Abel einen Eintrag in seine Personalakte erhalten. Der Hund hat nur getan, wozu er ausgebildet wurde: einen Angreifer zu entwaffnen, sobald einer von Ihnen sich in unmittelbarer Gefahr befindet. Exakt das war der Fall. Der ganze Sachverhalt wurde überprüft und von den eintreffenden Ermittlungsbeamten des LKA am Tatort festgehalten, nachdem man Sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Ihre Verletzungen wurden dokumentiert, und das alles sind Beweise, die gegen Alexander Egbert sprechen.«

Er hatte recht. Sie wusste, was im Bunker unter dem Nachtklub vorgefallen war, und sie hatte es sich nicht ausgedacht, weder den Mord, noch sein Geständnis, seine Schläge oder ihre Angst, als ihr klar wurde, dass er sie mit dem Messer töten würde. Dennoch …

»Nein. Ich muss die Konsequenzen ziehen.«

»Welchen Job genau wollen Sie denn kündigen, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann? Den in der Sondereinheit oder den beim BKA?«

3

Carolina

Darüber hatte sie nicht nachgedacht. Sie war Beamtin aus Überzeugung und wollte den Polizeidienst nicht quittieren. Aber welche Wahl hatte sie? Wenn sie bei der Sondereinheit Themis kündigte, weil sie eine Grenze überschritten hatte, dann galt dieser Umstand gleichermaßen für ihren Arbeitsvertrag beim BKA.

Hartmann nickte zufrieden über ihr Grübeln. »Oberst Wahlstrom, wären Sie so nett und würden mir und Kriminalhauptkommissarin Kehlmann kurz Ihr Büro überlassen?«

Wahlstrom musterte Hartmann mit schmalen Augen. Einen Moment wirkte er unentschlossen, dann bewegte er sich und ging hinaus.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, stöhnte Natasha auf, verschränkte die Hände in ihrem Nacken und baute Druck auf, indem sie den Kopf nach hinten gegen die Hände presste. Jeder einzelne Muskel in ihrem Nacken und den Schultern war verspannt. Die Dehnung brachte das Blut zum Zirkulieren und verschaffte ihr so Erleichterung. Was für einen verfluchten Mist sie doch verzapft hatte!

»Besser?«

Sie öffnete die Augen. Hartmann hatte sich den zweiten Besucherstuhl herangezogen. Er trug ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.

»Wie können Sie so verdammt ruhig bleiben? Ich erzähle Ihnen, dass ich meine Glaubwürdigkeit als Zeugin eingebüßt habe und rechtswidrig in eine Wohnung eingebrochen bin. Sie müssten mich umgehend suspendieren und aus der Einheit werfen – und ein internes Verfahren gegen mich einleiten.«

»Kehlmann, ich glaube, Sie vergessen manchmal, dass Sie am Ende auch nur ein Mensch sind, der Fehler macht.«

»Fehler, die unsere Rechtsstaatlichkeit infrage stellen?«

»Was genau hat Sie bewogen, in die Wohnung von Razvan Ciobanu einzubrechen?«

»Ein Mädchen war vor meinen Augen gestorben. Zuvor war es misshandelt worden. Er war ihr Zuhälter gewesen, und Estera – so hieß das Mädchen – hatte nicht als einzige für ihn angeschafft. Wahlstrom schickte mich nach Hause, doch ich konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Ich reichte Urlaub ein und entschied mich für eine Observation auf eigene Faust. Als ich am nächsten Tag seine Wohnung beobachtete, fuhr er mit einem Mädchen im Wagen vorbei.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß nicht, weshalb mir diese blöde Idee kam, seine Wohnung zu durchsuchen. Ich denke, ich wollte wissen, wer Estera gewesen war und wo sie gelebt hatte. Sie sollte nicht nur ein Name in einer Akte sein.«

»Was hätten Sie gemacht, wenn Sie die Leitung der Abteilung Sexualdelikte im LKA innegehabt hätten und ein sechzehnjähriges Mädchen, offensichtlich abgemagert und misshandelt, wäre ohne ersichtliche Fremdeinwirkung urplötzlich mit Schaum vor dem Mund gestorben?«

»Ich wäre zur Staatsanwaltschaft gegangen und hätte einen Durchsuchungsbeschluss gegen den Mann erwirkt, bei dem das Mädchen wohnte. Erstens war er nicht erziehungsberechtigt und hätte damit für mich ganz klar im Verdacht gestanden, ihr Zuhälter zu sein. Sie hatte Panik. Ich meine, letztlich ist sie am Ende genau deshalb gestorben. Zweitens wäre für mich zu dem Zeitpunkt die naheliegendste Erklärung für ihren Tod Drogenmissbrauch gewesen, oder aber die inneren Verletzungen angesichts der Gewaltspuren an ihrem Körper hatten tödliche Folgen.«

»Stattdessen hat Polizeikommissar Klingenthal eine Untersuchung gegen Sie angestrebt, warum?«

Sie sah ihn einen Moment verwirrt an. Sie war sich sicher, dass Hartmann den Grund dafür kannte. »Weil er korrupt war und ein Handlanger für seinen Neffen Alexander Egbert?«

»Korruption. Auch bei uns in Deutschland bleiben wir davon nicht verschont. Was genau haben Sie in der Wohnung von Ciobanu gemacht?«

»Ich bin durch die Räume gegangen und habe festgestellt, dass neben Estera noch drei weitere Mädchen bei Ciobanu lebten. Ich fand in mehreren Zimmern Kokain und eine P30 in Ciobanus Nachttischschublade. Zuletzt fotografierte ich Geschäftsunterlagen in seinem Arbeitszimmer.«

»Sie haben also keine Beweise entwendet oder falsche platziert?«

»Nein!«, protestierte sie entrüstet, stockte und spürte Hitze in ihre Wangen steigen. Hartmann hob fragend die Brauen.

»Estera trug, als sie starb, einen einzelnen Ohrring. Der zweite fehlte. Ich fand ihn in ihrem Zimmer und nahm ihn in einer Asservatentüte mit.«

»Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«

»Eine Nachbarin machte mir die Haustür auf. Den Code seiner Wohnungstür habe ich mithilfe einer Software geknackt.«

»Ich werde Sie jetzt nicht fragen, woher Sie die Software haben und wer Ihnen das beigebracht hat«, kommentierte Hartmann trocken.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass es ein rechtswidriger Einbruch war.«

»Ohne Frage, und es gibt für mich keine Entschuldigung für Ihr Verhalten. Hat Ciobanu den Einbruch angezeigt?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Demnach wurde die Nachbarin dazu auch nie befragt?«

»Nein. Es war auch nicht das erste Mal, dass sie eine Frau oder ein Mädchen ins Haus gelassen hat.«

»Was haben Sie ihr gesagt, damit sie Ihnen die Tür öffnet?«

»Dass ich sein Personal Trainer sei.«

»Verstehe. Was Sie getan haben, ist genau das, was unsere Strafprozessordnung verhindern soll. Dass Bürgerrechte durch die Willkür einer Polizeibehörde eingeschränkt und verletzt werden. Sie enttäuschen mich, Frau Kehlmann. Gerade von Ihnen hätte ich etwas anders erwartet.«

Natasha senkte den Kopf. Die Worte taten weh, weil sie selbst von sich enttäuscht war. So viel zum Thema, dass auch sie nur ein Mensch war und Fehler machte. Sie hatte sich falsch verhalten, und wenn es herauskam, würde es ein schlechtes Licht auf die Polizeibehörden werfen. Auf der anderen Seite hatte sie das Gefühl, eine Last losgeworden zu sein, etwas, das ihr offensichtlich schon längere Zeit auf der Seele brannte, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre.

»Sie leisten in dieser Einheit wertvolle Arbeit, Frau Kehlmann, und Sie sollten nicht vergessen, dass Sie zu dem ersten Team dieser Einheit gehören und somit ein Vorbild für die anderen darstellen. Aber keiner von Ihnen steht über dem Gesetz, und ich möchte, dass Sie sich in Zukunft exakt an jeden einzelnen Paragrafen halten. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, aber  …«

»Wenn Sie kündigen, wirft das jede Menge Fragen auf. Sie haben vorhin selbst erwähnt, dass Egbert einen exzellenten Strafverteidiger hat. Glauben Sie mir, diese Sache wäre für ihn genau der Ansatzpunkt, um einen Prozess zu verhindern oder zumindest Ihre Glaubwürdigkeit und Handlungsweise infrage zu stellen.«

»Und was soll ich machen?« Sie hob den Kopf.

»Ihren Job.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es gibt jede Menge Arbeit für Sie.«

»Ja, aber  …«

»Sie haben Ihre Lektion gelernt und am eigenen Leib erfahren, wo es hinführt, wenn Sie sich nicht an die Gesetze halten. Sie riskieren, dass ein Mörder, Zuhälter, Vertreiber von Kinderpornografie und Gewaltverbrecher auf freien Fuß kommt. Ich denke, das ist Strafe genug, zumal Sie selbst zweimal Opfer dieses Mannes waren. Sehen Sie zu, dass es nicht ein drittes Mal passiert.«


Tot. Frustriert beendete Natasha das Szenario. Nicht nur hatte sie die Angreifer nicht ausgeschaltet – nein, sie hatte auch eines der Opfer mit einem Streifschuss erwischt.

»Wow, das war selbst für deine Verhältnisse schlecht.«

Carolina stand hinter ihr und besah sich das Ergebnis auf dem Monitor. Natasha kontrollierte den Lauf ihrer Waffe, ließ das leergeschossene Magazin herausgleiten, schob ein volles ein, sicherte die Waffe und steckte sie in das Schulterholster.

»Seit wann arbeitest du deinen Frust im Schussraum ab, statt im Schwimmbad?«

»Ich dachte, damit bekomme ich meine gewalttätigen Gedanken in den Griff.«

»Und, fühlst du dich besser?«

»Nein.«

»Ich hab gehört, du hattest heute Morgen einen Termin bei der Staatsanwältin?«

»Mann, wo hast du nur immer deine Informationen her?«

Carolina grinste. »Du bist nicht die Einzige, die sich das fragt, aber es bleibt mein Geheimnis.«

»Der Raum gehört dir.«

»Ich hatte nicht vor, zu üben.«

»Weshalb bist du dann hier?«

»Wegen dir. Was hältst du von einem Latte Macchiato Karamell und einem Schokomuffin?«

»Bei einem Chai Latte und Banana Bread bin ich dabei.«


Natasha biss in den Kuchen, kaute und verdrehte die Augen. Fett und Zucker. Manchmal brauchte es diese Kombination, um die Welt wieder ein Stück weit freundlicher werden zu lassen.

»Hmm, ich habe noch Hoffnung, dass Pit dich nicht völlig verdorben hat.«

»Du würdest dich wundern.«

»Sag mir Bescheid, wenn du es dir mal anders überlegst.«

»Caro! Zoe ist die Liebe deines Lebens. Warum flirtest du ständig?« Carolina senkte den Blick und begann ihren Schokomuffin zu zerkrümeln. Natasha schob ihren Teller zur Seite. »Da liegt also der Hase im Pfeffer. Es geht um die Babygeschichte.«

»Zoe redet kein Wort mit Ulf. Ich habe noch nie erlebt, dass sie derart lange auf ihn sauer ist.«

»Und warum?«

»Ulf hat ihr den Kopf gewaschen wegen Mark.«

Natasha runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, welche Rolle Ulf und Mark in einem Konflikt zwischen Caro und Zoe spielen mochten.

»Sie will kein Baby oder Kind adoptieren.«

»Sorry, wenn ich gerade auf dem Schlauch stehe, aber soweit ich weiß, braucht man immer noch männliches Sperma, um  …« In dem Moment machte es Klick bei ihr. »Ihr wolltet nicht ernsthaft Mark  …?« Sie schüttelte den Kopf. »Carolina, dafür gibt es Spermabanken.«

»Weißt du, durch welchen Prozess man gehen muss, um eine künstliche Befruchtung durchzukriegen?«

»Und du glaubst, es wäre besser, wenn Zoe und Mark miteinander schlafen, um ein Kind zu …« Sie hielt inne, überlegte, ob sie das Wort »produzieren« wirklich verwenden sollte, und entschied sich dagegen. »… zeugen?«

»Nein. Genau das ist mein Problem. Egal, was ihr von mir denkt, ich bin nicht blind. Ich weiß, dass Mark glaubt, er würde mich lieben, und darauf hofft, dass ich eines Tages auf Männer stehen werde. Ist schon seltsam, oder? Als wäre lesbisch zu sein nur eine Phase oder eine Frage des richtigen Partners.«

»Was es nicht ist.«

»Ich verlier sie, Natasha. Es ist wie eine fixe Idee, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hat. In unserer Wohnung wimmelt es von Schwangerschaftsbüchern und Babyzeitschriften, und sie will unser Homeoffice renovieren.«

Natasha dachte an die Sozialarbeiterin, die sie vor ein paar Tagen im Wartezimmer der Frauenärztin getroffen hatte. Sie hatte ein T-Shirt mit der Aufschrift »Baby on Board« getragen, mit einem Pfeil, der auf den noch kaum sichtbaren Bauch zeigte. »Vielleicht braucht sie nur ein wenig Zeit?«

Carolina schüttelte den Kopf. »Du kennst Zoe. Wenn sie ein Ziel vor Augen hat, gibt es nichts, was sie davon abhalten würde, es zu erreichen. Sie boxt es durch.«

»Auch auf Kosten eurer Beziehung?«

Die selbstbewusste blonde, nordische Fassade zerbrach. Caros blaue Augen füllten sich mit Tränen. Noch nie hatte Natasha ihre Kollegin weinen sehen. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Ach verflucht, hast du ein Papiertaschentuch?«

Natasha kramte in ihrer Jackentasche und reichte ihr die Packung.

»Würdest du mit ihr reden?«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.« Natasha erinnerte sich nur allzugut an ihre erste Begegnung mit der Nahkampfspezialistin in ihrem Team. Zoe sprühte nicht gerade vor Freundlichkeit und Herzenswärme.

»Verstehe.«

»Ich habe noch vor Kurzem gedacht, ich wäre schwanger.«

»Nicht nur du. Bei deinen Symptomen waren Ulf und Zoe sich verdammt sicher, und weil du die Pille nicht nimmst. Aber ich sagte ihnen, keine Chance, Pit ist bezüglich Verhütung derart penetrant, damit er nicht genau in diese Falle …« Sie hielt inne. »Sorry, ich meine …, ich glaube nicht, dass er  …«

Natasha verzog amüsiert den Mund.

»Ähm,  … oder du … Ach Mist, verrätst du mir, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskomme?«

Natasha schwieg. Das hier war mal eine ganz neue Carolina. Sie genoss es viel zu sehr.

»Abgesehen davon ging es mir früher ähnlich. Ich habe auch nichts mehr bei mir behalten. Ich wollte keinen Busen und keine weiblichen Rundungen haben. Es hat lange gedauert, bis ich meine Essstörung überwunden hatte. Das war auch der Grund, weshalb ich von Pit wegmusste. Sein Kontrollzwang – das war ein Trigger, der irgendwann zu einem Rückfall geführt hätte.«

»Du wurdest missbraucht?« Natasha hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt.

»Mein Vater.«

4

Geständnisse

Auf einmal ergab Carolinas Verhalten bei den Ermittlungen gegen Razvan Ciobanu, die am Ende zur Verhaftung von Alexander Egbert alias Azazela geführt hatten, einen Sinn. Sie war die Einzige im Team gewesen, die daran gedacht hatte, ihr etwas anzuziehen, damals in dem Bunker.

»Das erste Mal an meinem achten Geburtstag. Er sagte, er hätte noch ein ganz besonderes Geschenk für mich. Und es endete erst mit seinem Tod.« Die Tränen waren weg, genauso die Verletzlichkeit. Sie schob herausfordernd das Kinn vor.

Natasha stellte ihre Frage lieber nicht, weil sie im Zweifel war, ob sie die Antwort hören wollte. Stattdessen fragte sie: »War das der Grund, weshalb du zum Militär gegangen bist?«

»Und weshalb ich die beste Scharfschützin wurde. Ja. Mein Zielobjekt ist in 99,9 Prozent aller Fälle ein Mann. Auf wen hast du vorhin zu schießen versucht?«

»Alexander Egbert.«

»Er ist reich. Er hat Kontakte. Er hat einen Strafverteidiger, der auf Sexualdelikte spezialisiert ist.«

»Wir waren allein in dem Raum, als er Bianca Franke ermordete.«

»Klar, Frauen mögen es, mit Handschellen an ein Bett gefesselt zu sein und geschlagen zu werden.«

»Als Frau Görcke mich zu dem alten Fall befragte, sah ich rot, aber ich denke, Hartmann hat recht. Je gründlicher sie arbeitet und mögliche Ansatzpunkte des Strafverteidigers durch ihre eigene Ermittlungsarbeit aufdecken kann, desto wasserdichter wird die Anklage.«

»Gefängnis ist für dieses Schwein viel zu schade. Ich hätte damals als Erste in den Raum gehen müssen, dann gäbe es heute keinen Prozess.«

Natasha entschied sich, das unkommentiert zu lassen. Ihr Smartphone summte. Eine Kurznachricht von Pit.

Alles okay? Der Termin dauert verdammt lange. Soll ich dich abholen?

Nein. Bin mit Caro im Café.

Banana Bread und Chai Latte?

Sie grinste. Er kannte sie einfach viel zu gut.

Sag Caro, dass ich ihren Trainingsplan um ein Krafttraining für die Bauchmuskeln erweitere. Die Nachricht endete mit einem Emoji auf der Hantelbank.

»Lass mich raten – er setzt ein paar zusätzliche Übungen auf meinen Trainingsplan.«

»Und auf eine sadistische Art und Weise magst du genau das. Gib es zu.«

Carolina grinste, dann legte sie ihr eine Hand auf den Unterarm. »Versprichst du mir, dass du wenigstens versuchst, mit Zoe darüber zu reden?«

Natasha seufzte. »Also gut. Aber versprich dir nicht zu viel davon.«


Pit legte sein Smartphone auf dem Schreibtisch ab und wandte sich wieder dem Rechner zu.

Wahlstroms Gesicht tauchte an der offenen Bürotür auf. »Wo ist Kehlmann?«

»Mit Herrmann einen Kaffee trinken.«

»Was ist mit Steuber und Neumann?«

»Ersterer legt eine Trainingseinheit mit dem Helikopter ein, die bis zum Ende der Woche dauert, Letzterer hat sich für die Woche abgemeldet.«

»Soll das heißen, Neumann hat endlich begriffen, dass ihm ausruhen und es langsam angehen hilft, wieder fit zu werden?«

»Irgendwann wird auch der größte Sturkopf vernünftig.«

Wahlstrom trat ganz ins Büro und machte die Tür hinter sich zu. Unwillkürlich spannte Pit sich an. »Kehlmann hatte heute Morgen ein Gespräch mit Staatsanwältin Görcke.«

»Ich weiß.«

»Wissen Sie, was es mit dem Eintrag von Dr. Hofmeister in ihrer Gesundheitsakte auf sich hat?«

»Ich dachte, der Eintrag wäre raus.«

»Ist er, aber in der Historie ist er drin.«

»Ich denke, das sollten Sie mit Natasha direkt besprechen.«

Wahlstrom nahm sich einen der Besucherstühle und zog ihn sich zum Schreibtisch. Freya hob den Kopf, stand auf, reckte und streckte sich, trottete zu dem Stuhl und setzte sich vor Wahlstrom hin.

»Nicht streicheln!«

Erschrocken zog sein Vorgesetzter die Hand zurück.

»Wir versuchen gerade, ihr beizubringen, dass nicht sie bestimmt, wann eine Streicheleinheit erfolgt, sondern wir.«

Als hätte die Hündin seine Worte verstanden, ließ sie sich auf die Seite fallen, rollte sich auf den Rücken und präsentierte ihren Bauch. Ein leichtes Klopfen mit dem Schwanz folgte.

»Oh, wow, dieses Biest ist wirklich schlau«, murmelte Pit. »Das ist der nächste Trick, von dem sie festgestellt hat, dass er gut funktioniert, um eine Streicheleinheit zu provozieren. – Freya, ab auf deinen Platz.«

Die Hündin rührte sich nicht.

Pit erhob sich und trat zu ihr. Sie sprang auf, setzte sich vor ihn und schenkte ihm einen hoffnungsvollen Blick, von dem er sich nicht erweichen ließ. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf ihr Kissen. »Freya, ab auf deinen Platz.« Die Hündin trottete zurück zu dem Kissen und rollte sich darauf zusammen. Pit ging zurück zu seinem Stuhl.

»Ihre Partnerin hat sich im letzten Einsatz erbrochen, deshalb sprach Clemens eine Untersuchungsempfehlung aus. Es ist in letzter Zeit häufiger geschehen.«

»Dass Clemens eine Empfehlung zur Untersuchung ausspricht?«

Wahlstrom ignorierte seinen Versuch, mithilfe einer Gesprächstaktik seinen Gedankengang zu unterbrechen. »Ich hatte gerade ein längeres Gespräch mit unserer Psychologin Frau Dr. Naumann, die sich genauso wenig wie Sie über Kehlmann auslassen wollte. Sie gab lediglich an, dass sie von ihrer Einsatzfähigkeit überzeugt sei.«

»Sie zweifeln daran?«

»Der Körper kann auf viele Arten Stresssymptome zeigen. Probleme mit dem Magen sind eines davon.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Ich habe Natasha für den nächsten Einsatz gesperrt.«

»Sie meinen den in einem halben Jahr?«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie sind der Leiter des Teams. Wollen Sie Neumann durch jemand anderen ersetzen?«

»Nein, natürlich nicht«, seufzte er. Die Konsequenz dessen war ihm noch nicht bewusst geworden.

»Ich denke, Ihnen allen tut die Pause gut. Sie haben in den letzten Jahren immer an der vordersten Front gestanden. Sehen Sie es als einen Übergang in ruhigere Gewässer, und überlassen Sie die Front den jüngeren Teams.«

»War es das, was Sie mir sagen wollten – dass Sie uns für die nächste Zeit auf die Reservebank setzen?«

»Das auch.«

Pit wartete. Wahlstrom stand auf, ging zu Freya und streichelte sie. »Wirkt irgendwie beruhigend. Vielleicht sollte ich meine Schwester doch überreden, dass wir uns einen Haushund anschaffen.«

Langsam wurde Pit neugierig, was er auf dem Herzen haben mochte, wenn er eine derartige Verzögerungstaktik anwandte.

»Frau Görcke, die Staatsanwältin, überprüft den Fall von damals, als Kehlmann mit sechzehn vergewaltigt wurde. Bei der Beschlagnahmung der Computer in Egberts Haus fanden die Forensiker unter anderem das Video von ihrer Vergewaltigung, das online ging.«

»Ich dachte, unsere Arbeit wäre nach dem Einsatz beendet gewesen.« Pit fühlte Ärger in sich aufkeimen. Im Gegensatz zu Natasha hatte er keine vierzehn Jahre Zeit gehabt, sich mit dem Inhalt des Videos auseinanderzusetzen. Wenn er ehrlich war, hatte er das ganze Thema verdrängt. Der Gedanke, dass sein Vorgesetzter und womöglich noch jemand von Themis es gesehen hatte, machte ihn wütend.

»Wir sind ein Spezialeinsatzkommando, und selbstverständlich liegt die Ermittlungsarbeit bei den Polizeibehörden. In diesem Fall beim BKA, da es um eine grenzüberschreitende kriminelle Organisation geht. Sie wissen ja selbst, dass Europol mit involviert ist. Nach Kehlmanns Kündigung  …«

»Moment. Was sagen Sie da? Sie hat gekündigt?«

»Hartmann hat es ihr vorerst ausgeredet.«

»Vorerst?«

»Der Grund für ihre Kündigung war, dass sie mit der Durchsuchung von Razvans Wohnung einen Rechtsbruch beging. Kommt es bei den Ermittlungsarbeiten der Staatsanwältin heraus, würde der Strafverteidiger unter Umständen das gesamte Beweismaterial infrage stellen. Abgesehen davon besiegelt das die Auflösung von Themis. Man würde uns vorwerfen, das Recht eigenmächtig in unserem Sinne zu beugen.«

»Deshalb Ihre Frage zum Gesundheitseintrag und das Gespräch mit Frau Dr. Naumann? Sie wollen Natasha aus der Einheit werfen?«

Wahlstrom verdrehte die Augen. »Ehrlich, Abel, Sie können wieder aufhören, die Nackenhaare aufzustellen und die Zähne zu fletschen. Nein, selbstverständlich nicht. Sie sollten mich damals außen vor lassen, und das LKA war als Rückendeckung für unsere Ermittlungsarbeiten eingesetzt. Dummerweise befindet sich der Betreffende nun ebenfalls in Haft und wird einen Teufel tun und unsere Handlungsweise rechtfertigen. Ich möchte sicherstellen, dass außer uns und der Nachbarin, von der Kehlmann ins Haus gelassen wurde, niemand weiß, dass sie in die Wohnung eingebrochen ist.«

Pit verzog das Gesicht.

Wahlstrom merkte auf. »Wer?«

»Polizeikommissarin Altenburg.«

»Ist das nicht Ihre Ex?«

»Ja, und Kevins Verlobte.«

»Seit wann?«

»Gestern.«

Wahlstrom lächelte. Sein Blick schweifte zu seiner Hand und zog den von Pit automatisch mit.

»Seit wann tragen Sie einen Ring?«, rutschte es ihm heraus.

»Wird sie reden?«

»Nein. Sie war mit Natasha dort. Was ist mit der Nachbarin?«

Wahlstrom erhob sich. »Soweit ich weiß, hat Razvan den Einbruch nie gemeldet. Ergo wurde sie nie in dieser Hinsicht vernommen. Hoffen wir, dass es so bleibt. Ich denke, im Moment gibt es nur einen einzigen Schwachpunkt.«

»Natasha? Auf keinen Fall.« Wahlstrom sah ihn eine Weile an, was dafür sorgte, dass ihm zig Gesprächsfragmente und Bilder von dem Wochenende durch den Kopf gingen.

»Kehlmann ist in Ihrem Team für gewöhnlich diejenige mit den größten Problemen, wenn es darum geht, Gewalt anzuwenden, selbst wenn es notwendig ist. Deshalb bereitet es mir Sorgen, dass sie wirklich kündigen möchte. Das letzte Mal, als sie freiwillig Urlaub eingereicht hat, ist sie in eine Wohnung eingebrochen. Das Gespräch mit der Anwältin hat sie aus der Bahn geworfen. Auf der anderen Seite wirkte sie sehr entschlossen. Nach dem Gespräch mit Hartmann hat sie ein Schießtraining absolviert und ging dann mit Herrmann einen Kaffee trinken. Das gibt mir zu denken.«

»Warum suspendieren Sie sie nicht, wenn Sie sie für psychisch instabil halten?«, stieß Pit verärgert aus.

»Ich halte sie für absolut stabil.«

»Sie glauben nicht ernsthaft  …« Pit schüttelte den Kopf. »Das ist Blödsinn. Natasha ist die Letzte, die zu einem kaltblütigen Mord fähig wäre.«


Natasha ignorierte Freya, die auf sie zugerannt kam, sobald sie die Bürotür geöffnet hatte. Es wurde Zeit, dass sie sich wieder um die Erziehung des Hundes kümmerte. Das war auch genau das, was sie jetzt brauchte – ein Training auf dem Hundeplatz bei Malte. Allein bei dem Gedanken ging es ihr direkt besser.

»Wo sind die anderen?«

»Kevin ist beim Helikoptertraining, und Chris hat sich für den Rest der Woche abgemeldet.«

»Soll das heißen, er hat jemanden gefunden, der ihn pflegt und nicht nervt?«

»Wann sollte das passiert sein?«

»Keine Ahnung. Hey, alles in Ordnung mit dir? Du wirkst nachdenklich.«

»Du bist eine ganze Weile wieder hier gewesen.«

»Nein, ich bin eben gekommen. Du weißt doch, dass ich mit Caro …« Er sah, wie es bei ihr Klick machte. »Oh, verstehe. Du meinst vorher. Wer hat es dir gesagt?«

»Wahlstrom.«

Sie seufzte abgrundtief auf. »Hätte ich mir denken können. Er war nicht sonderlich erbaut davon, als Hartmann ihn aus seinem Büro warf.«

»Wann wolltest du es mir erzählen?«

Unwillkürlich zog sie den Kopf zwischen die Schultern. Eine Beziehung war ungleich komplizierter, als sie gedacht hatte. Ja, sie lebten seit drei Jahren zusammen. Ja, sie waren seit vier Jahren ein Team, aber sie war es nicht gewohnt, Entscheidungen mit ihm zu besprechen, die in ihren Augen nur sie etwas angingen. Es war schließlich ihr Leben, nicht seins.

»Ich habe einen Fehler gemacht und muss die Konsequenzen daraus tragen. Wenn auch nur ein weiterer Mensch leiden muss, weil ich mich falsch verhalten habe …« Sie verstummte und sah ihn an. »Es geht nicht, verstehst du?«

»Was hast du vor? Ihm eine Kugel durch den Kopf jagen?«

»Sei nicht albern.«

»Wahlstrom legt uns auf Eis.«

Sie riss die Augen auf. »Was? Wieso? Wegen mir? Weil ich kündigen wollte?«

»Wir alle können eine Pause gebrauchen.«

»Na super, und was sollen wir seiner Meinung nach jetzt machen?«

»Als Erstes geben wir unser Büro an das Alphateam ab und ziehen in deren Großraumbüro.«

»Wieso das?«

»Bruno braucht den extra Büroraum, damit er sich in Ruhe auf die Einsätze vorbereiten kann. Und es ist ein Privileg, das wir nicht mehr benötigen.«

»Er hat uns keine Pause aufgedrückt, sondern uns auf die Reservebank geschickt.«

»Ich habe dem restlichen Team schon Bescheid gesagt. Wir ziehen morgen früh um.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum nicht gleich?«

Er deutete mit dem Zeigefinger auf Freya. »Weil die da dringend ein Training benötigt.«


Pit beendete sein Training mit Smart. Der Hund war topfit und hatte selbst die schwierige Spurensuche mit Bravour gemeistert. Die Begeisterung, mit der er sich auf die Übungen stürzte, bereitete Pit ein schlechtes Gewissen. Er hatte das Hundetraining in den letzten Monaten sehr vernachlässigt.

Er gesellte sich zu Malte, der am Rand des Geländes stand und Natasha bei der Arbeit mit Freya zusah. »Sobald sie hier ist, benimmt sie sich vorbildlich.«

Malte warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Wer, Freya oder Natasha?«

»Der Hund natürlich.«

»Klar. Wolken im Paradies?«

»Es ist, als hätte sie mich in den Flur ihrer Wohnung gelassen, würde aber das Wohnzimmer weiterhin geschlossen halten.«

»Eigenwillig wie Freya.«

»Das ist es nicht.«

Malte schob sich die Kappe in den Nacken und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Lassen wir die Mädels in Ruhe arbeiten. Lust auf ein Bier?«

»Warum nicht. Natasha kann ja auf dem Heimweg fahren.«


Pit ließ sich in einen der bequemen Ledersessel fallen, die in Maltes Büro standen, und Smart rollte sich neben ihm zusammen. Malte reichte ihm ein kühles Bier, sie stießen an, und er nahm einen großen Schluck.

»Also, was hat sie diesmal angestellt?«

»Gekündigt.«

Im letzten Moment fing Malte die Flasche, die ihm aus der Hand geglitten war, wieder auf. »Du willst mich verarschen.«

»Nein. Und wenn du glaubst, sie hätte es mir im Vorfeld erzählt, hast du dich geschnitten. Ich hab es von Wahlstrom erfahren.«

»Weshalb? Meint sie, es wäre ein Problem, weil ihr zusammen seid?«

»Nein.« Er runzelte die Stirn. »Jedenfalls glaube ich das nicht.«

»Hast du sie bei den Einsätzen in die zweite Reihe gestellt?«

»Nein! Ich weiß, dass sie selbst auf sich aufpassen kann.«

»Warum dann?«

»Alexander Egbert.«

»Der Typ, der sie entführt hat und ermorden wollte?«

»Jepp. Sie denkt, dass er ihretwegen freikommen könnte, und frag nicht schon wieder warum. Ich kann es dir nicht erzählen.«

»Dann lass es mich mal allgemein formulieren. Wenn sie die Grenzen der Legalität überschritten haben sollte, wird es nicht dadurch besser, dass sie kündigt. Im Gegenteil. Wäre ich Staatsanwalt oder Strafverteidiger, würde es auf mich wie ein Schuldeingeständnis wirken.«

»Deshalb hat Hartmann ihr die Sache ausgeredet.«

»Und dich pisst es an, dass sie es nicht im Vorfeld mit dir besprochen hat?«

»Das ist die zweite Sache innerhalb einer Woche, die sie mit sich allein ausgemacht hat, obwohl sie mich verdammt noch mal genauso betreffen wie sie.«

»Und die erste war?«

Er schwieg, trank einen weiteren Schluck Bier und wartete darauf, dass der Alkohol ihn entspannte. »Sie dachte, sie wäre schwanger.«

Diesmal landete Maltes Flasche auf den Fliesen und zersprang. Das Bier verteilte sich auf dem Boden. Smart sprang auf und fing an, die Pfütze aufzulecken. Pit pfiff ihn zurück an seine Seite, während Malte aufstand, um einen Lappen zu holen. Gemeinsam beseitigten sie die Bescherung, und Malte holte sich eine neue Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er trank einen kräftigen Schluck und stellte die Flasche diesmal wohlweislich auf dem Couchtisch ab.

»Ich dachte, du wärst immer so verdammt vorsichtig beim Sex, damit keine Frau dich an den Haken nehmen kann.«

»Kevin hat übrigens Marla einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat Ja gesagt.«

»Marla, deine Exfreundin?«

Er nickte. Nicht, dass er noch Gefühle für Marla gehegt hätte. Inzwischen wusste er, dass ihre Beziehung nur aus einem Grund so lange gehalten hatte: Sie war der Schutzschild vor seinen Gefühlen gewesen, die er für Natasha empfunden hatte – vom ersten Moment an, als er ihr begegnet war. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Albern, aber es stimmte.

»Natasha zu schwängern, damit sie dich heiratet, ist keine gute Idee.«

»Das war auch gar nicht meine Absicht.«

»Nicht?«

»Nein.« Es klang nicht im Mindesten so überzeugt, wie er es gern hätte klingen lassen. Genau dieselbe Frage stellte er sich nämlich auch, seit sie es ihm erzählt hatte. Immerhin teilten sie sich seit drei Jahren eine Wohnung mit einem gemeinsamen Badezimmer, und er wusste, dass sie nicht die Pille nahm.

»Lass ihr mal Leine, Kumpel. Natasha weiß sehr genau, was sie will, und wenn du sie zu sehr einengst, verlierst du sie nur.«

»Du bist schon der Zweite, der mir das sagt«, brummte er verstimmt.

»Vertrau mir. Mich hat es fast zwei Jahre gekostet, bis ich Susanne so weit hatte.«

»Zwei Jahre?«

Malte grinste. »Wie heißt es so schön? Gut Ding will Weile haben.«

5

Alexander Egbert

Hellbrauner Popelinmantel, Stöckelschuhe, Aktentasche in der Hand – so erwartete Frau Görcke sie vor der JVA. Neben ihr, in einem dunkelblauen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, stand der Strafverteidiger von Alexander Egbert. Sie versuchte, freundlich zu lächeln, aber es misslang ihr.

»Dr. Krüger«, stellte Frau Görcke ihr den Mann vor und deutete dann auf sie, »Kriminalhauptkommissarin Kehlmann.«

»Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Danke, dass Sie auf unser Gesprächsangebot eingehen.« Er verzog den Mund zu einem Lächeln.

Überhaupt wirkte der Strafverteidiger wie der freundliche Onkel von nebenan. Gefährlich. Sie hatte Hintergrundrecherche betrieben, legal, sich die Firmenwebsite angeschaut und ein wenig durch die Pressearchive im Internet geklickt. Frau Görcke hatte nicht gelogen. Er war der beste Strafverteidiger, wenn es um Sexualstraftaten ging. Ob er auch der teuerste war, hatte sie nicht herausgefunden. Dafür hatte sie sich mit seinen Fällen beschäftigt. Es zeigte sich, dass er Fehler der Gegenseite geschickt nutzte, um seinen Mandaten dadurch Vorteile zu verschaffen. Schlampige Ermittlungsarbeiten oder forensische Daten, die auch anders interpretiert werden konnten, darauf stützte sich seine Verteidigung. Und genau das machte ihn zu einem ausgezeichneten Strafverteidiger.

Er hatte um das gemeinsame Gespräch gebeten, und Frau Görcke hatte es ihr freigestellt, ob sie darauf eingehen wollte oder nicht. Sie musste gestehen, dass sie vor Neugierde brannte, was es mit diesem Treffen auf sich haben mochte.

»Ich nehme an, Sie kennen sich mit den Gepflogenheiten bei einem Besuch in der JVA aus?«, fragte er mit einem amüsierten Zug um die Lippen.

»Sie meinen, keine Dienstwaffe?«

Frau Görckes Haltung versteifte sich, wohingegen Dr. Krüger lachte. »Wie ich sehe, haben Sie Humor. Das gefällt mir.«


Es war das erste Mal, dass sie Alexander Egbert bewusst gegenübersaß. Als er noch Mariettas Freund gewesen war, hatten sich ihre Wege nie gekreuzt. Selbst bei seiner Geburtstagsfeier in der Disco waren sie sich nur kurz begegnet. Und in dem Bunker? Da war nackte Panik aus ihren Albträumen gewesen und Angst, die ihre Gedanken und ihr Handeln kontrolliert hatte. Ihre in der Ausbildung antrainierten Reflexe, die gegen die Urinstinkte zum Überleben ankämpften, hatten ihre Reaktionen gesteuert. Ihr war keine Zeit geblieben, ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Der Mann, der jetzt in Jeans und dunkelblauem Sweatshirt mit dem Logo der Haftanstalt Moabit vor ihr saß, war nicht der erfolgreiche Unternehmer, dessen Bilder sie auf den Klatschseiten im Internet gefunden hatte. Er wirkte schmaler. Seine Wangen waren hohl. Der Charme, den er sonst zu versprühen pflegte, war verpufft. In dem unbarmherzigen Licht des Besprechungsraums mit seinen kühlen weißen Wänden zeichneten sich die Linien um seine Augen und seinen Mund deutlich ab. Er wirkte wie ein Mann, der unter Drogen gestanden und einen Entzug durchgemacht hatte – ein Schatten seines einst schillernden Selbst. Seine Hände zitterten. Hastig verschränkte er die Finger ineinander, als er sah, dass sie es bemerkt hatte. Sie hob den Kopf, und sein Blick bohrte sich in ihre Augen, mit einer Intensität, die ihr unwillkürlich einen Schauer über die Haut jagte.

»Herr Dr. Krüger, Sie haben um dieses Treffen gebeten«, durchbrach Frau Görckes kühle Stimme die Stille im Raum und riss Natasha aus ihren Gedanken.

»Korrekt. Wir möchten Ihnen gern ein Angebot unterbreiten.«

»Und deshalb wollten Sie Frau Kehlmann dabei haben? Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich ihr von dem Treffen abgeraten habe. Ihr Mandant hat Bianca Franke vor ihren Augen ermordet, das ist ein traumatisches Erlebnis.«

»Uns beiden liegen die forensischen Daten vor.«

»Und die Aussage einer Zeugin.«

»Die laut ihren eigenen Angaben angeblich von K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt war.«

»Das Mordopfer lag mit aufgeschlitzter Kehle im Raum.«

»Noch mal – es existieren keine Beweise für die Täterschaft meines Mandanten …«

Natasha hörte dem Schlagabtausch der Anwälte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Aufmerksamkeit war auf Alexander Egbert fixiert, um dessen Lippen sich ein amüsierter Zug breitete. Wenn er sich derart sicher war, dass sein Anwalt ihn aus dem Gefängnis holen würde, warum das Treffen?

Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, die Ermittlungsakten zu dem Fall zu lesen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen seiner Unternehmungen reichten über ganz Europa. Ob deren Rechtsformen alle legal waren, wurde noch überprüft. Die Steuerbehörden hatten sich eingeschaltet. Doch darum ging es ihr nicht. Sie wollte Alexander Egbert nicht wegen illegaler Geschäfte hinter Gittern wissen. Auch nicht als Mörder. Sie wollte ihn wegen sexueller Übergriffe, sexueller Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge verurteilt sehen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie der bandenmäßigen Verbreitung pornografischer Videos und Schriften, wegen Zuhälterei und Menschenhandels. Egal, in welchem Gefängnis er untergebracht wäre, er würde die Hölle auf Erden erleben. Immerhin hatte er sich einen der Namen des Teufels zugelegt, sich Azazela genannt, also hatte er es sich redlich verdient. Allerdings war Razvan Ciobanu, der sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt hatte und – so schien es derzeit – der einzige Mensch war, der den Zusammenhang in allen Einzelheiten hätte darstellen können, ermordet worden.

Egbert lächelte kalt, bevor er sich in das Gespräch einschaltete. »Ich würde den Totschlag an Bianca Franke zugeben«, warf er ein, und seine Stimme klang längst nicht so selbstsicher, arrogant und überheblich wie in dem Bunker, als er sie festgehalten hatte.

»Herr Egbert.«

»Ich weiß, aber mir dauert das hier zu lange.« Er winkte ab, ohne auch nur einen Moment den Augenkontakt mit ihr zu unterbrechen.

»Sie geben den Mord aus niederen Beweggründen zu?« Die Skepsis der Staatsanwältin war deutlich in ihrer Stimme zu hören.

»Nicht aus niederen Beweggründen«, übernahm der Strafverteidiger das Wort.

»Was ist mit der Entführung und der versuchten Vergewaltigung? Und damit, dass sie Frau Kehlmann unter Drogen gesetzt haben?«

»Habe ich das, Natasha?«

»Ja«, erwiderte sie, ohne zu zögern.

»Du weißt, dass das gelogen ist. Ich habe dich nicht vergewaltigt. Wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass es dich antörnt, an ein Bett gefesselt zu sein.«

»Es törnt mich an, an ein Bett gefesselt zu sein? Was sollte daran erregend sein?«

»Die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein und die Unterwerfung.«

»Es reicht. Das Gespräch ist beendet«, sagte Frau Görcke und klappte ihr Notizbuch zu.

Egbert lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verzog amüsiert die Lippen und lenkte die Aufmerksamkeit zum ersten Mal, seit er in den Raum gebracht worden war, auf die Staatsanwältin. »Soll das heißen, dass es Sie auch antörnt?«

»Mitnichten, Herr Egbert. Ich halte es nicht für eine Sexualpräferenz, sadistische oder masochistische Elemente in einer Beziehung auszuüben, jemanden zu fesseln, zu disziplinieren, Dominanz auszuüben oder sich zu unterwerfen.«

»BDSM im gegenseitigen Einvernehmen der Partner fällt nicht unter die Strafgesetzgebung«, übernahm Dr. Krüger das Wort. »Es ist keine Störung der Sexualpräferenz. Der Sexualwissenschaftler Charles Moser weist darauf hin, dass BDSM-Anhänger keine gemeinsame Psychopathologie haben. Es ist eine sexuelle Spielart, die in das Privatleben gehört, jedoch nicht zur Diskriminierung führen darf.«

»Sexuelle Spielart? Gegenseitiges Einvernehmen? Dass ich nicht lache. Haben Sie sich die Bilder von Herrn Egberts Opfern angeschaut? Die Videos angesehen?«

»Es gibt keine Beweise dafür, dass mein Mandant die Person in den Aufnahmen ist.«

»Ach ja, richtig, und was war das noch mit Estera Damsescus, dem sechzehnjährigen Mädchen, das vor Panik starb?«

»In Polizeigewahrsam und allein in einem Raum mit Kriminalhauptkommissarin Kehlmann. Sie haben keine einzige Zeugin, die Alexander Egbert als denjenigen identifiziert hätte, der auf den – zugegebenermaßen abartigen und strafbare Handlungen wiedergebenden – kinderpornografischen Videos als Täter zu sehen ist. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dieser Person um Razvan Ciobanu handelt, bei dem Estera Damsescus wohnte. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass der Mann beim LKA auffällig wurde. Ich möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass Herr Ciobanu im Gewahrsam der Justizvollzugsanstalt ermordet wurde. Aus diesem Grund werde ich bei dem kommenden Termin vor dem Haftrichter beantragen, dass mein Mandant aus der U-Haft entlassen wird.«

»Das ist ihr gutes Recht. Wir werden sehen, wie sich der Richter bei Vorliegen aller Beweise entscheiden wird.«

»Frau Görcke«, lenkte Dr. Krüger ein. »Ich verstehe, dass die Ermittlungen in diesem Fall Sie als Frau besonders treffen. Emotionalität ist keine gute Ausgangsbasis für eine sachliche Unterhaltung. Aber Sie sind ja noch jung und lernfähig. Lassen Sie uns wieder auf eine professionelle Gesprächsebene zurückkehren.«

»Mich würde Herrn Egberts Geständnis bezüglich dem Mord an Bianca Franke interessieren«, mischte sich Natasha rasch ein. Sie befürchtete, dass die Staatsanwältin nach diesen Worten, die für sie an Diskriminierung grenzten, ein weiteres Mal die Beherrschung verlieren würde. Es überraschte sie, dass es überhaupt geschehen war. Schließlich hatte sie selbst am Montag in dem Gespräch mit ihr ähnliche Worte verwendet wie Egbert.

»Die Polizei kann einem Tatverdächtigen für ein Geständnis keine Strafmilderung zugestehen«, erwiderte Görcke.

»Es war kein Geständnis«, korrigierte sie Dr. Krüger.

Natasha ignorierte beide Anwälte und blieb auf Egbert fokussiert. »Was bewegt Sie, uns – offensichtlich gegen den Rat Ihres Strafverteidigers – dieses Angebot zu unterbreiten?«

»Bianca Franke ist jahrelang in psychologischer Behandlung gewesen«, kam Dr. Krüger einer Antwort seines Mandanten zuvor. »Sie hat erst vor sechs Jahren die geschlossene Anstalt verlassen und lebte vier Jahre in einer betreuten Wohngemeinschaft.«

Natasha war das alles bekannt. Den Wechsel in diese Form der Betreuung hatte sie mit ihrem Geld erst möglich gemacht, ein Fehler, wir ihr im Nachhinein klar geworden war, denn Frau Franke selbst hatte ihr die K.-o.-Tropfen in ihren Tee gemischt. »Sie meinen, sie hätte eine Plastikplane unter ihrem Stuhl ausgebreitet, sich daraufgesetzt und gefesselt und sich dann selbst die Kehle durchgeschnitten?«, fragte sie den Strafverteidiger mit echtem Interesse.

»Wieso haben Sie Bianca Franke finanziell unterstützt, und das in einem Umfang, dass Ihnen nur wenig mehr als ein Grundsicherungsbetrag von Ihrem Gehalt übrig blieb?«

Sie lächelte den Strafverteidiger an. »Das ist meine Privatangelegenheit.«

»Frau Franke hat ihre Mitbewohnerinnen mit Schlaftabletten außer Gefecht gesetzt. Einer von ihnen musste der Magen ausgepumpt werden. Ohne Ihre Einmischung und Beihilfe wäre Frau Franke nicht von der psychiatrischen Klinik in die Wohngemeinschaft verlegt worden.«

»Das stimmt. Dennoch geschah es aufgrund der Einschätzung von Psychiatern.«

Er wartete auf eine weitere Erläuterung ihrerseits. Sie schwieg. Ging es Dr. Krüger bei diesem Treffen nur darum, sie zu testen, inwieweit sie sich von ihm aus dem Konzept bringen ließ? War es ein erstes Herantasten zur Vorbereitung auf den Prozess? Nun, sie würde ihm den Gefallen nicht tun.

Was hatte Hartmann ihr noch mal auf die Frage hin geantwortet, was sie tun sollte? Ihren Job.

»Wieso bieten Sie uns Ihr Geständnis an, Herr Egbert?«, fragte sie.

»Entlassung aus der U-Haft, Einigung auf mildernde Umstände für den Mord an Bianca Franke aufgrund der Drogen, die in meinem Blut festgestellt wurden, und dafür erhältst du Informationen zu deinem aktuellen Fall.«

»Meinem aktuellen Fall?«

»Ja. Dein aktueller Fall – der digitale Angriff auf Deutschland.«


Konstantin Wolff legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete sein Gegenüber über den Rand seiner Brille hinweg – eine lästige Angewohnheit, seit er gezwungen war, eine Lesebrille zu tragen.

»Wir verlieren ihn.«

Wolff schüttelte leicht den Kopf. »Er hat keine Ahnung, worum es geht und welche Zusammenhänge bestehen. Er ist lediglich ein kranker Mann, mehr nicht.«

»Sie sollten Herrn Hartmann und seine Einheit nicht unterschätzen.«

»Keine Sorge, das tue ich nicht. Machen Sie Ihren Job. Um den Rest kümmere ich mich.«

»Was machen wir mit Winters?«

»Auch das können Sie getrost mir überlassen.«

»Und Samuels?«

»Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf.«

»Wolff, Sie fangen an, Fehler zu machen.«

»Sich mit mir zu treffen, ist ein Fehler. Sie selbst haben gerade gesagt, dass ich Hartmann nicht unterschätzen soll, aber das gilt auch für Sie.«

»Niemand verdächtigt mich. Ich war nie ein offizielles Mitglied der FoEI.«

»Auch wenn ich in Deutschland unter einem anderen Namen lebe, mit einer Identität, die ich mir vor langer Zeit genau aus diesem Grund zugelegt habe, war ich im Gegensatz zu Winters nicht bereit, mein Aussehen verändern zu lassen. Glauben Sie mir, ich werde beobachtet – besonders seitdem Winters hinter Gittern sitzt. Es ist gefährlich, Hartmann unter Druck zu setzen. Eine Schlange, die sich bedroht fühlt, geht zum Angriff über.«

»Im Moment ist er derjenige, der die besseren Karten in der Hand hält.«

»Angelika Winters wird ihren Kopf aus der Schlinge ziehen.«

»Auf der Audioaufnahme ist ihre Stimme.«

»Es gibt für mich kein größeres Vergnügen, als Angelika Winters hinter Gittern zu wissen.«

»Was, wenn sie sich als Kronzeugin zur Verfügung stellt?«

»Dafür hängt sie viel zu sehr an ihrem angenehmen Leben. Wenn sie für Beihilfe zum Mord verurteilt wird, ist das Strafmaß bei Weitem nicht mit dem zu vergleichen, was ihr blüht, wenn alles ans Licht kommt. Glauben Sie mir, Sie können Winters vieles unterstellen, aber nicht, dass sie blöd ist. Ihr Schwachpunkt ist aber, dass sie glaubt, uns intellektuell überlegen zu sein.«

»Also gut, ich höre auf, mir den Kopf zu zerbrechen. Nur eines, Wolff – sollte Ihnen noch ein einziger Fehler unterlaufen, ist es Ihr Kopf, der rollen wird.«

Konstantin machte sich nicht die Mühe, aufzustehen und seinen Gast hinauszubegleiten. Es war immer dasselbe. Niemand wollte sich die Hände schmutzig machen, aber jeder war bereit, im Dreck zu wühlen, wenn es ihm einen Vorteil einbrachte. Er wurde zu alt für dieses Spiel. Die Zeit lief ihm davon. Er musste sich einen Ausweichplan überlegen. Am Ende zählte das Ergebnis, Deutschland und die Deutschen wieder auf ihren angestammten Platz zu stellen. Sein Blick fiel auf das Bild seines Vaters. Er hatte es ihm am Sterbebett versprochen.


Frau Görcke holte eine Packung Zigaretten aus ihrer Manteltasche und zündete sich eine an. Sie nahm einen tiefen Atemzug, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch Richtung Himmel.

»Ich versteh Sie nicht. Am Montag sind Sie mir fast an die Kehle gesprungen, als ich Sie befragte und dabei der möglichen Argumentation von Dr. Krüger folgte. Und heute lassen Sie es sich gefallen?«

»Bitte? Was war da drinnen mit Ihnen los? Sie haben Dr. Krüger angelogen. Sie haben mir keineswegs nahegelegt, den Termin abzusagen und mir nicht davon abgeraten, mich mit ihm und Egbert zu treffen.«

»Das hatte ich.«

Natasha schüttelte den Kopf. »Sie riefen an und teilten mir mit, dass Dr. Krüger um ein Gespräch mit mir, Alexander Egbert und Ihnen gebeten hat.«

»Ja, nachdem ich ein Gespräch mit Ihrem Chef hatte.«

»Mit Oberst Wahlstrom?«

»Nein, Polizeidirektor Hartmann.«

»Sie meinen Generalmajor Hartmann.«

»Ich rede von Ihrem obersten Chef.«

»Ich auch.«

»Wieso sollte ein Polizeibeamter vom BKA einen militärischen Dienstgrad haben?«

Natasha zuckte mit den Achseln. Sie hatte nicht vor, mit der Staatsanwältin darüber zu diskutieren. Vielleicht gab es einen Grund, weshalb ihr Chef vorgegeben hatte, zum BKA zu gehören. »Sie haben recht, dass hätte natürlich keinen Sinn.«

Frau Görcke musterte sie mit schmalen Augen, und Natasha setzte ihre unverfänglichste Miene auf. »Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass an Ihrer Einsatztruppe etwas seltsam ist? Also, warum waren Sie da drin derart freundlich? Ist Ihnen klar, welchen Eindruck Ihr Verhalten erweckt?«

»Das einer Polizeibeamtin, die ihren Job macht?«

»Sie sind in diesem Fall eine Zeugin, keine Polizeibeamtin. Was der Mann Ihnen angetan hat …« Sie ließ die Zigarette auf den Bürgersteig fallen und trat sie aus. Dann bückte sie sich, hob den Stummel auf und steckte ihn in eine kleine metallene Dose.

»Von der Distanz betrachtet sind beide Sichtweisen legitim«, erklärte Natasha. »Es gibt Menschen, die an dieser Art von Sex Spaß haben. Vielleicht nicht unter Gewaltanwendung, aber alles andere? Egal wie Dr. Krüger es drehen und wenden wird, es gibt für ihn keine Möglichkeit, seinen Mandanten aus der Mordanklage rauszuboxen. Welchen Sinn sollte es ergeben, dass ich Frau Franke all die Jahre finanziell unterstütze, um sie dann umzubringen?«

»Warum haben Sie das getan?«

»Weil ich glaubte, es sei meine Schuld gewesen, dass Marietta gestorben ist. Für Bianca war ihre Tochter ihr Lebenszentrum. Alles drehte sich um sie. Sie hat ihren Tod nicht verkraftet. Ich denke, es war mein schlechtes Gewissen, die Überlebende zu sein und als Freundin versagt zu haben. Ich hätte merken müssen, dass er sie missbrauchte und sie ihm hörig war.«

»Wie lange waren die beiden ein Paar?«

»Ein Dreivierteljahr.«

»Und sie hat Ihnen nie etwas von seinen sexuellen Vorlieben erzählt?«

»Nein. Jemand anderer hat mir erzählt, dass es ihn angetörnt habe, zuzusehen, wie seine Freunde mit ihr schliefen.«

»Und Ihre Freundin?«

»Ich kann es nur vermuten. Ab dem Zeitpunkt, da sie mit ihm zusammen war, veränderte sie sich.«

»Und am Ende beging sie Selbstmord.«

»Laut den Akten. In Wahrheit hat Alexander Egbert sie von der Brücke vor den Zug gestoßen. Aber wie will man Anzeichen von Gewalt vor dem Tod an einem Körper nachweisen, der von einem Zug erfasst wurde?«

»Woher wissen Sie es?«

»Egbert sagte es mir, damals in dem Keller.«

»Woher wollen Sie wissen, dass es die Wahrheit ist?«

»Weil Marietta vor ihrem Tod bei mir war und mir sagte, dass es ihr leidtue und sie mit allem ins Reine kommen müsse. Sie wusste, dass ihr Freund einer meiner Vergewaltiger war, weil sie von ihm Geld dafür angenommen hat, dass sie mir die K.-o.-Tropfen verabreicht.«

»Auch das werden wir ihm nach all den Jahren nicht nachweisen können. Gegen Tote dürfen wir nicht ermitteln.«

»Exakt.«

»Sie geben also auf? Sie geben sich damit zufrieden, dass Alexander Egbert lediglich für den Mord an Bianca Franke vor Gericht kommt und nicht für all seine anderen Verbrechen?« Sie atmete tief durch.

»Nein, aber mir ist klar geworden, dass es nur eine Möglichkeit gibt, Alexander Egbert für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.«


Alexander blickte den zwei Frauen nach, als sie den Raum verließen. Diese zugeknöpfte Anwältin mit ihrer arroganten, überheblichen Art … Eines Tages, wenn er wieder auf freiem Fuß wäre, würde er ihr vielleicht das Privileg zukommen lassen, von ihm zu erfahren, was es bedeutete, richtigen Sex zu haben. Die Tatsache, dass sie bei dem Thema BDSM so aus der Haut gefahren war, sprach Bände. Natasha hingegen … Etwas war da in ihren Augen gewesen, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hatte. Ein Versprechen.

»Herr Egbert, ich dachte Sie hätten verstanden, was Ihre Aufgabe bei der Besprechung sein sollte.«

Alexander kehrte aus seinen Gedanken zurück und sah Dr. Krüger an, der den Platz gewechselt und sich ihm gegenüber hingesetzt hatte. Der Mann war gut und jeden Euro seines horrenden Stundensatzes wert.

»Es liegt mir nicht, der schweigende Beisitzer in einer Besprechung zu sein.«

»Hier geht es um Verhandlung, und anders als in Filmen sind die deutschen Gerichte äußerst zurückhaltend mit Zugeständnissen bezüglich Haftmilderungen.«

»Tun Sie, wofür Sie bezahlt werden, und holen Sie mich hier raus. Die Bedingungen hier sind unerträglich. Ich kann den Fraß nicht mehr sehen, geschweige denn riechen.«

»Sie haben eine hilflose alte Frau an einen Stuhl gefesselt, geknebelt und ihr die Kehle aufgeschlitzt. Sehen Sie der Realität ins Auge, und finden Sie sich damit ab, dass Sie sich für lange Zeit mit einer Zelle werden begnügen müssen.«

»Ich bezahle Ihnen verdammt viel Geld, damit Sie Ihren Job tun.«

»Manchmal reicht Geld allein nicht aus.«

Alexander verzog spöttisch den Mund. »Weshalb verteidigen Sie mich dann, wenn ich Sie derart anwidere?«

»Weil unsere Gesetze es nun mal vorsehen, dass jeder das Recht auf Verteidigung hat, aber es gibt Tage, da kotzt mich mein Job richtig an.«

6

Freilassung

Die Tür stand offen, trotzdem klopfte Pit an den Türrahmen und wartete, bis sein Chef den Kopf hob und ihm ein Zeichen gab, hereinzukommen.

»Schließen Sie die Tür hinter sich.«

Es ließ sich an einer Hand abzählen, wie oft Generalmajor Hartmann ihn zum Gespräch gebeten hatte. Er setzte sich, rieb sich mit den Handflächen über die Oberschenkel. Die Fingerspitzen aneinandergelegt musterte ihn sein Chef. Pit rutschte auf der Stuhlkante nach vorn.

»Sie und Kriminalhauptkommissarin Kehlmann leben zusammen.«

Pit hatte befürchtet, dass es um dieses Thema gehen würde. Er wappnete sich innerlich.

»Hat sie Ihnen gesagt, dass sie vorhatte, zu kündigen?«

»Nein.«

»Sie sind nicht überrascht.«

Puh, daran hatte er bei der einsilbigen Antwort nicht gedacht. Er atmete tief ein. »Oberst Wahlstrom hat es mir erzählt.« Hoffentlich brachte er ihn damit nicht in Schwierigkeiten.

»Ich werde jetzt nicht fragen weshalb.«

Vorsichtig ließ Pit die Luft durch den Mund entweichen.

»Sie wissen, dass die Sondereinheit Themis unter massivem politischem Druck steht.«

»Generalmajor Hartmann, wenn es darum geht, dass Natasha einen Rechtsbruch  …«

Hartmann machte eine wegwischende Handbewegung. »Polizeidirektor.«

Pit blinzelte verwirrt. »Bitte?«

»Mein Rang. Ich bin nicht mehr beim Militär eingestellt.«

»Aber wieso?«

»Sie sind der Erste nach Wahlstrom und Wagner, der davon erfährt, und ich möchte, dass Sie darüber Stillschweigen bewahren.«

»Selbstverständlich.«

»Der Bundesminister des Innern, Herr Ludwig Holzhausen, hat entschieden, dass wir in eine Behörde eingeordnet werden. Das wird als die einfachste Methode angesehen, um die Einheit aus der politischen Schusslinie zu holen.«

»Und ich dachte, er freut sich insgeheim, dass Themis womöglich aufgelöst wird.«

»Das wäre unter Garantie seine bevorzugte Variante. Allerdings müsste er sich dann für die Entscheidung rechtfertigen, warum er uns nicht direkt aufgelöst hat, nachdem er das Amt von seinem Vorgänger übernahm. Polizeipräsident Gerhard Konz hat sich bereit erklärt, uns in seine Behörde zu integrieren. Wir gehören also ab Montag offiziell zur Abteilung OE Operative Einsatz- und Ermittlungsunterstützung des BKA.«

In Pits Kopf rasten die Gedanken umeinander. »Aber was passiert mit all unseren Soldatinnen und Soldaten?«

»Alle unter fünfunddreißig Jahren bekommen vom BKA die Möglichkeit, mit ein paar zusätzlichen Lehrgängen in den Polizeidienst übernommen zu werden.«

»Und was ist mit Clemens? Er ist letzten Monat sechsunddreißig geworden.«

»Er ist der Einzige in der Einheit über der Altersgrenze, und der Polizeipräsident prüft gerade, ob sich eine Ausnahme erwirken lässt. Sie wissen, dass Polizisten im Gegensatz zu Soldaten Beamte sind. Wir finden eine Lösung, also machen Sie sich darüber keine Sorgen, vorausgesetzt, die betroffenen Personen sind bereit, in den Polizeidienst zu wechseln.«

Bei Ulf befürchtete Pit nichts in der Art, anders sah es dagegen bei Carolina aus. Sie hatte ihre militärische Herkunft nie verleugnen können.

»Ich möchte, dass wir die Fortbildungen, die notwendig sind, intern bewerkstelligen. Deshalb hätte ich es gern, dass Sie zusammen mit Kehlmann – und zwar gemeinsam mit der Polizeischule – das Curriculum durchgehen und einen Plan ausarbeiten.«

»Da wir für das nächste halbe Jahr sowieso aus dem Rennen sind«, fügte er hinzu und zuckte mit den Achseln.

»Dann wäre das geklärt.«

Pit blieb sitzen, weil er Hartmann ansah, dass es noch einen weiteren Grund für die Besprechung gab.

»Frau Görcke rief mich gestern noch spätabends an.«

Pit runzelte die Stirn, ging im Geist die Politikerinnen durch, doch der Name poppte nirgendwo auf.

»Die Staatsanwältin, die den Fall Egbert übernommen hat.«

Augenblicklich versteifte Pit sich.

»Alexander Egbert wird heute Nachmittag aus der U-Haft entlassen.«

»Das kann nicht sein.«

»Es ist aber so.«

»Der Mann ist ein kaltblütiger Mörder!« Wut und Frust wallten in ihm auf. Er musste sich beherrschen, um nicht aufzuspringen, hinauszulaufen und sich den Richter vorzuknöpfen. »Hat jemand die Kontobewegungen des Richters überprüft?«

»Wissen Sie, was ich an Ihrer Kollegin schätze?«

Es kostete Pit Mühe, seine Gedanken auf Hartmanns Frage zu richten.

»Dass sie so viele Sprachen beherrscht und eine Verhörspezialistin ist?«

Ein feines Lächeln lockerte Hartmanns angespannten Gesichtsausdruck auf. Es hatte einen erstaunlichen Effekt. Mit einem Mal wirkte er müde und erschöpft.

»Das auch, doch noch viel mehr ihre Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, Fehler zuzugeben und Konsequenzen daraus zu ziehen. Selbst wenn es bedeutet, das aufzugeben, was ihr im Leben am wichtigsten ist.«

Unwillkürlich verschränkte Pit die Arme vor der Brust. Er wusste, worauf Hartmann hinauswollte. Es hatte eine Anhörung gegeben und einen Eintrag in seine Akte mit der Androhung der sofortigen fristlosen Entlassung, sollte er sich noch einmal körperlich an einem Tatverdächtigen vergreifen. Auch wenn er wusste, dass er aus seiner Position als Polizeibeamter falsch gehandelt hatte, schaffte er es nicht, seinen Gewaltausbruch gegenüber Egbert zu bereuen. Dr. Krüger, Egberts Strafverteidiger, hatte dafür gesorgt, dass die Berichte in der Presse wochenlang nicht abbrachen, und er war gedrängt worden, sich öffentlich zu entschuldigen, was er am Ende auch zähneknirschend getan hatte. Und jetzt kam Egbert wieder auf freien Fuß. In was für einer beschissenen Zeit er lebte.

»Ihre Gewaltanwendung bei der Verhaftung ist einer der Gründe, weshalb sich der Richter entschieden hat, Egbert aus der U-Haft zu entlassen.«

»Noch mal, der Mann ist ein Vergewaltiger, Menschenhändler und Kinderschänder der schlimmsten Sorte, ein Mörder, der vor unseren Augen einen zweiten Mord begehen wollte. Wir alle, die den Raum erstürmt haben, können das bezeugen.«

»Frau Görcke arbeitet gerade mit Hochdruck daran, dass der Prozess eröffnet wird. Sie ist sich sicher, dass Egbert wieder ins Gefängnis wandern wird.«

»Na toll, und bis dahin? Er wird versuchen, seine Spuren zu verwischen und Zeugen, von denen bisher niemand Kenntnis hat, unter Druck zu setzen.«

»Wir haben keine Wahl. Wir müssen unserem Rechtssystem vertrauen, oder sehen Sie das anders?«

Es dauerte, bis sich der rote Schleier über seinem Blickfeld lichtete. Hartmann versuchte, ihm hier etwas zu vermitteln, was er nicht verstand.

»Nein?«

»Also gut, dann formuliere ich es jetzt mal anders. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kollegin nicht allein ist. Wie Sie das anstellen, ist mir vollkommen egal.«

»Sie denken, dass Egbert …«

»Nein. Ich mache mir eher Sorgen um Egbert.«


Völlig in Gedanken versunken stürmte Pit durch den Flur in Richtung Halle. Was er jetzt brauchte, war ein hartes Training. Vorher wäre er nicht in der Lage, das vorliegende Problem vernünftig anzugehen. Er verstand jetzt, warum Hartmann ihm und Natasha die Koordination der notwendigen Fortbildungsmaßnahmen anvertraut hatte. Es war die perfekte Möglichkeit, Natasha in seiner Nähe und im Büro zu behalten.

Der Zusammenprall war hart, und er packte Carolina an den Schultern, um sowohl sich als auch sie zu stabilisieren.

»Bist du blind oder was?«, fuhr sie ihn an.

»Sorry, tut mir leid. Ich hab nicht gesehen, dass du aus der Tür kommst.«

»Mach verflucht noch mal die Augen auf!«, schimpfte sie und rieb sich den Arm.

Der halbseitige Aufprall hatte sie offensichtlich heftiger erwischt als ihn, obwohl er sein Brustbein auch ziemlich spürte. Ein blauer Fleck war ihm sicher. »Du hättest mir aber auch ausweichen können«, konterte er.

»Wie denn, wenn du in der einen Sekunde noch gar nicht da bist und dann auf einmal um die Ecke stürmst?«

Er hob die Hände. »Peace, Baby, ich nehme die Schuld auf mich. Ist eh schon ein beschissener Tag heute, da macht das den Kohl auch nicht fett.«

»Was ist los? Wieso bist du denn so wütend?«

»Ich bin nicht … Ach, was solls? Egbert wird heute Nachmittag aus der U-Haft entlassen.«

»Spinnst du jetzt?«

»Nein, Hartmann hat es mir gerade gesagt.«

»Dieses verfluchte Mistschwein versucht sich aus der Affäre zu ziehen.«

Erstaunlicherweise sorgte die Mordlust in Carolinas Augen dafür, dass sich sein Verstand lichtete. Dann fiel ihm ein, dass Hartmann ihn um Stillschweigen gebeten hatte. Mist, hoffentlich hatte sich das nur auf die Einordnung der Sondereinheit ins BKA bezogen.

»Ich hätte als Erste den Bunker stürmen sollen, dann hätten wir das Problem jetzt nicht.«

»Hey, atme mal durch, Caro. Dem Prozess kann er nicht entgehen. Er hat keine Chance, sich aus der Sache rauszuwinden.«

»Ach nein?«

Besorgt sah er Carolina an. »Mach keine Dummheit, verstanden?«

Sie verzog die Lippen, doch einem Lächeln entsprach ihre Mimik nicht im Mindesten.

»Pass auf sie auf.«

»Worauf du Gift nehmen kannst.«

»Gut.«

Nachdenklich blickte er Carolina nach, als sie den Weg zu den Duschen einschlug.


Hastig schlüpfte Natasha in die Kletterhalle zurück, bevor Pit sie entdecken konnte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Hände zitterten. Kurz schloss sie die Augen, atmete ein paar Mal tief durch.

»Ich dachte, du willst zur Toilette gehen.« Gabriella warf ihr einen verwunderten Blick zu.

»Ja, wollte ich, aber gerade ist mir siedenheiß eingefallen, dass ich den Termin beim Tierarzt vergessen hab. Die Auffrischung von Freyas Impfung. Tut mir leid, aber ihr müsst ohne mich weitermachen.«

Ihr entging das kurze Aufleuchten in Gabriellas Augen nicht, genauso wenig das Lächeln, das Bodo übers Gesicht huschte. Sie fragte sich, ob sie und Pit früher auf die anderen ähnlich gewirkt hatten wie jetzt Bodo und Gabriella. Für alle war offensichtlich, was die beiden füreinander empfanden, doch sie schienen aus irgendeinem Grund erpicht darauf zu sein, es zu ignorieren. Bei Bodo konnte sie es nachvollziehen. Er war kein Mann der vielen Worte, und was Frauen betraf – sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals in einer Beziehung gewesen wäre, seit sie Teil der Einheit war. Andererseits – wenn, so würde er im Gegensatz zu den anderen Stillschweigen bewahren, ganz anders als Gabriella, die gern und ausführlich von ihren Männerbekanntschaften erzählte. Seit der Trennung von ihrem letzten Freund allerdings war sie ungewöhnlich ruhig geworden.

Gabriella hielt sie fest. »Du brauchst die Sachen nicht wegräumen, das können wir machen, wenn du weg musst.«

»Du kennst die Regel.«

»Es bleibt unter uns, ehrlich.« Gabriella legte die Hand aufs Herz.

»Nein, danke. Du würdest es mir bei der nächsten Gelegenheit unter die Nase reiben.«

»Wie du meinst.«

Natasha ließ sich Zeit beim Wegräumen der Gurte und Seile. Sie hoffte, dass die zehn Minuten reichten, um freie Bahn zu haben, wenn Pit sein Training begann. Die bevorzugten Methoden, um seine Wut zu kanalisieren, waren gegen einen Boxsack zu schlagen und der Nahkampf.

Sie öffnete die Tür, schaute nach rechts und links und atmete auf. Der Gang war leer. Sie beeilte sich, zu ihrem Spind zu kommen, zog sich rasch um. Kurz vor dem Ausgang fiel ihr ein, dass sie Freya mitnehmen musste, wenn sie keinen Verdacht erregen wollte. Glücklicherweise hatten sie den Umzug in das Großraumbüro noch nicht vollzogen. Die Hunde waren allein im Büro. Mit traurigem Blick schaute Smart zu, wie sie Freya das Geschirr überzog.

»Tut mir leid, Süßer, aber bei dem, was ich vorhabe, kann ich dich echt nicht gebrauchen.«


Alexander Egbert atmete tief die frische Luft ein, schloss die Augen und gönnte sich das Gefühl der warmen Sonne auf seiner Haut. Freiheit. Der Anzug hing locker an ihm herunter. Die Hose rutschte. Er hatte abgenommen. Zwei Wochen Katharinas Kochkünste, und er wäre wieder der Alte. Er blickte zurück zu dem Gebäude der Haftanstalt. Jedenfalls fast.

Geduld ist eine Tugend, hatte sein Vater immer zu ihm gesagt, und zum ersten Mal verstand er, was er damit gemeint hatte. Es würde dauern, bis Gras über die Sache gewachsen wäre. Seine Rache an Natasha benötigte Zeit und Planung, aber ein Schritt nach dem anderen. Zuerst musste er den Prozess hinter sich bringen. Eine Säule dabei mochte der Strafverteidiger sein, für alles andere brauchte er seine Kontakte. Er hatte nicht vor, ins Gefängnis zurückzugehen. Es gab andere Optionen, die sein Leben einschränken würden – aber nur, was das Reisen betraf, nicht sein Leben und seine Vorlieben. Irgendeinen Vorteil musste es schließlich haben, dass sein Schwiegervater auf der Top-Hundert-Liste der reichsten Menschen stand und in Russland lebte. Katharina würde es nicht gefallen, ihren Platz in der deutschen High Society aufgeben zu müssen. Wenn alles nach Plan lief, wäre es nur für eine begrenzte Zeit notwendig.

»Haben Sie genug geatmet?«

Alexander zwang sich zu seinem üblichen Lächeln. Irgendwann, das schwor er sich, würde auch der Strafverteidiger zu spüren bekommen, was er von ihm hielt.

»Denken Sie daran, nehmen Sie Ihre Frau in den Arm, lächeln Sie in die Kameras und halten Sie sich an die Rede, die wir vorbereitet haben.«

»Keine Sorge, es ist nicht das erste Mal, dass ich im Rampenlicht stehe.«


Katharina starrte aus dem Fenster. Die Presseleute belagerten den Gehweg vor ihrem Haus. Ihr Vater hatte seine Sicherheitsleute angewiesen, sich sichtbar an beiden Seiten des Tors zur Garagenzufahrt sowie vor dem Tor des Fußwegs zu platzieren. Pawel, den er für ihre persönliche Sicherheit abgestellt hatte, hielt Distanz zu ihr, doch allein seine Anwesenheit half ihr, ihre Angst im Zaum zu halten. Sie hütete sich davor, ihn anzusehen.

Das Polizeifahrzeug, das seit Alexanders Verhaftung gegenüber von ihrer Einfahrt an der Straße parkte, war wie immer mit zwei Beamten besetzt. Sie hatte sich an den Anblick gewöhnt. Was ihre Aufmerksamkeit gefangen hielt, war die unscheinbare Frau, die in gerader Haltung nur ein wenig abseits stand, die Hände in den Jackentaschen verborgen, und der nichts zu entgehen schien. Sie hatte den Blick auf die Straße gerichtet, dorthin, von wo das Fahrzeug kommen musste, nur ein junger Schäferhund saß an ihrer Seite und beobachtete das Gewühl aus Presseleuten.

Katharina wusste, wer die Frau war – Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann, die Frau, von der ihr Ehemann besessen war, die Frau, die dafür gesorgt hatte, dass er verhaftet wurde. Die Frau, die ihr Leben und das ihrer Kinder zerstört hatte.

Dr. Krügers schwarzer Mercedes näherte sich im Schritttempo der Menschentraube vor dem Haus. Die Sicherheitskräfte öffneten das schmiedeeiserne Tor.

»Es ist so weit«, sagte ihr Vater und trat zu ihr. »Meinst du, du schaffst es?«

Diesmal schaute sie Pawel an, der ihren Blick hielt und kurz nickte. Er würde sie nie im Stich lassen.

»Ich denke ja.«

Sie ging zur Haustür und zog sich den Mantel an. Ihr Vater und Pawel folgten ihr nach draußen. Der Mercedes hielt vor der Garage. Der Mann, der vom Beifahrersitz ausstieg, wirkte vertraut und fremd zugleich. Nach Alexanders Verhaftung hatte sie anfangs geglaubt, es müsse sich um einen Riesenirrtum handeln. Ihr gesamtes Haus war durchsucht, alle elektronischen Geräte einschließlich ihrer eigenen und der der Kinder konfisziert worden, alle geschäftlichen Unterlagen, die Alexander in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt hatte, ebenso. Jeden Raum hatten die Beamten auf den Kopf gestellt. Ihre Schränke und Kommoden waren durchwühlt, Regale ausgeräumt, Schubladen geleert worden, und selbst die Küche war der Durchsuchung durch die Polizei zum Opfer gefallen. Anders als in den meisten Filmen war am Ende kein Chaos zurückgeblieben. Alles, was sie ausgepackt hatten, hatten die Einsatzkräfte wieder zurückgeräumt. Dafür fehlten am Ende eine Menge ihrer persönlichen Habseligkeiten. Die Liste hatte sie unterschreiben müssen, bevor man ihr ein Exemplar davon aushändigte.

Der Strafverteidiger Dr. Krüger war bei der Hausdurchsuchung anwesend gewesen und hatte darauf geachtet, dass alles streng nach Vorschrift verlief. Ihr Vater war keine vierundzwanzig Stunden nach Alexanders Verhaftung bei ihr eingetroffen. Seitdem war er ihr nicht von der Seite gewichen.

Sie wusste nicht, wie sie die ersten Tage ohne ihn hätte überstehen sollen. Er hatte alles in die Hand genommen, sich um die Kinder gekümmert, dafür gesorgt, dass sie aus der Schule genommen wurden, und einen Privatlehrer für sie engagiert. Inzwischen waren Elena und Sascha in der Herrmann-Lietz-Schule, einem Internat in Spiekeroog untergebracht. Darum hatte ihr ältester Bruder Fjodor sich gekümmert. Vor allem Elena, ihre sensible Tochter, litt unter den Presseartikeln über ihren Vater. Sascha war froh, seiner alten Schule entflohen zu sein, und hatte sich rasch an das Leben im Internat angepasst.

Auch wenn ihr Vater sein Möglichstes tat, sie von der Außenwelt abzuschotten, bekam Katharina die Folgen der Festnahme überall zu spüren – angefangen bei ihrem sozialen Leben: Absagen für Veranstaltungen und Theaterpremieren und Freundinnen, die nicht ans Telefon gingen. Selbst ihre Unterstützungsbeiträge an wohltätige Organisationen wurden zurücküberwiesen, und man hatte sie aus dem Verein, den sie selbst gegründet hatte, hinausgeworfen.

Das war der Punkt, an dem ihr Vater wütend geworden war. Sie hatte ihren Bruder Fjodor angerufen, der während der Abwesenheit ihres Vaters das Unternehmen leitete. Mit ihm hatte sie sich schon immer besser verstanden als mit Maxim. Er galt als das schwarze Schaf in der Familie, ging ständig auf Partys und war in Affären verwickelt. Doch diesmal war sie es, die auf das Geschick ihres Vaters angewiesen war, um aus einer prekären Situation herausmanövriert zu werden. Fjodor war der Einzige in der Familie, der ihren Vater bremsen konnte, wenn er die Beherrschung verlor. Mochte man sie auch rausgeworfen haben, sie wollte nicht, dass der Verein seine Arbeit einstellen musste. Wie immer war es ihm gelungen, die Wogen zu glätten.

Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, alles hinter sich zu lassen und mit den Kindern nach Hause nach Russland zurückzugehen. Aber das hätte bedeutet, ihr eigenständiges Leben aufzugeben und sich wieder ganz unter die Fittiche ihres Vaters und des ältesten Bruders zu begeben, ganz zu schweigen von ihrer herrschsüchtigen Schwägerin. Nein. Das wollte sie nicht. Abgesehen davon hatte ihr Dr. Krüger erklärt, dass sie nicht so ohne Weiteres eine Erlaubnis bekäme, das Land zu verlassen, so lange das Verfahren gegen ihren Mann lief. Die stille Implikation, als Ehefrau in die illegalen Geschäfte ihres Mannes verwickelt zu sein, hatte sie durchaus verstanden.

Dr. Krüger hatte sie ermutigt, sich dem BKA gegenüber kooperativ zu verhalten, und ihren Vater zur Zurückhaltung gemahnt. Es hatte sie erstaunt, dass er den Rat des Strafverteidigers beherzigte. Ihr Vater ließ sich normalerweise von niemandem Vorschriften machen.

Weiterhin hatte Dr. Krüger sie gebeten, jeden Monat die gesetzlich genehmigten maximal zwei Besuchstermine bei ihrem Mann in der Justizvollzugsanstalt Moabit wahrzunehmen. Das alles waren Maßnahmen, um die Unschuld ihres Mannes, sein gefestigtes soziales Umfeld und seine Rolle als Familienvater vor dem Haftrichter glaubwürdig zu demonstrieren. Sie hatte die Besuche gehasst, die Tatsache, dass sie – kaum aus dem Haus – beschattet worden war, die Kameras, die sie nicht einen Moment unbeobachtet gelassen und sie in ihrem natürlichen Verhalten gehemmt hatten.

Die erste Begegnung mit Alexander nach seiner Verhaftung – keine Fragen zu dem Fall, kein Gespräch über die Anschuldigungen. Alles wurde mitgehört. Sie hatte in seinem Gesicht geforscht, nach der Verzweiflung, dem Schock, der Wut über die haltlosen Anschuldigungen – vergeblich. Stattdessen konnte sie die kalte Wut in seinen Augen sehen, und wie es ihn nervte, Zeit mit ihr zu verbringen. Erst da war ihr klar geworden, dass ihre Ehe nie auf gegenseitiger Liebe beruht hatte. Warum er sie geheiratet hatte, konnte sie nur ahnen. Sie hatten nie viel Zeit miteinander verbracht. Seit ihrer Schwangerschaft mit Elena schliefen sie in getrennten Schlafzimmern. Sie hatte es darauf zurückgeführt, dass er viel geschäftlich unterwegs war und, selbst wenn er zu Hause war, erst spät von der Arbeit nach Hause kam. Für seine Kinder hatte er nie Interesse aufgebracht. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, Ehefrau und Mutter zu sein. Ihre gesellschaftliche Anerkennung hatte sie über den Platz ihrer Schwiegereltern in der deutschen High Society und ihr karitatives Engagement bekommen. In der Öffentlichkeit hatte Alexander hingegen immer den charmanten, aufmerksamen Ehemann gemimt, um den all ihre Freundinnen sie beneidetet hatten. Freundinnen. Es waren keine wirklichen Freundschaften gewesen.

Nach Saschas Geburt war ihr Sexualleben komplett zum Stillstand gekommen. Von Anfang an hatte sie das Gefühl gehabt, die Bedürfnisse ihres Mannes nicht befriedigen zu können. Es hatte ihr nichts ausgemacht, dass er im Bett dominant und fordernd war, und sie hatte geglaubt, er würde sich bei ihr zurückhalten, weil er glaubte, sie sei seinen sexuellen Wünschen nicht gewachsen. Also hatte sie angefangen, im Internet zu recherchieren, und ihn eines Abends in Lederdessous, mit Handschellen und einem Halsband in seinem Schlafzimmer erwartet. Nur kurz war etwas in seinen Augen aufgeblitzt, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hatte. Dann hatte er sie barsch in ihr Schlafzimmer geschickt, wo sie sich eingeschlossen hatte. Nie wieder hatte einer von ihnen ein Wort darüber verloren.

Razvan. Sie hatte keine Ahnung, was ihren Mann mit dem Rumänen verbunden hatte. Wenn sie sich jemals im Leben ein Bild von Dracula hätte machen sollen, hätte er ausgesehen wie Razvan – geschmeidig, durchtrainiert, schlank, rabenschwarze Haare und dunkelbraune Augen, die wie Kohle glühen konnten. Nachdem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie Alexander ein Ultimatum gestellt: sie oder er. Er hatte sich für sie entschieden, und Razvan war nie wieder Gast in ihrem Haus gewesen. Geschäftlich jedoch hatten die beiden nach wie vor zusammengearbeitet. Sie hatte es ignoriert.

Alexanders Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Bekomme ich keinen Kuss zur Begrüßung?«

Sie trat auf den Hof und wurde für die Pressemeute sichtbar, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und küsste ihn auf seine raue, unrasierte Wange. Bei ihren Besuchen war er immer sauber rasiert gewesen. Sie musste sich überwinden, nicht zu erschauern, als er sie in seine Arme zog und seine Lippen auf ihre presste. Widerwillig öffnete sie den Mund und unterdrückte den Ekel, presste aber reflexartig die Hände abwehrend gegen seine Brust.

Er ließ sie los. Verlegen fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. »Tut mir leid.« Sie warf einen Blick zu den Journalisten hinüber und fing den Blick von Natasha Kehlmann auf. Unwillkürlich fing ihr Herz an, schneller zu schlagen, und sie spürte Tränen in sich aufsteigen. Sie durfte jetzt nicht heulen oder die Fassung verlieren. Sie musste stark bleiben, das hatten sie ihr alle eingebläut – Dr. Krüger, Papa, Fjodor und Pawel.

7

Mord

Als Pit nach einer harten Trainingseinheit im Nahkampf das Büro betrat, fiel ihm sofort auf, dass Freya fehlte. Alarmiert lief er die Treppe hinunter, den kürzesten Weg zum Außengelände für das Hundetraining der Einheit. Es war kein großer Bereich, da einschließlich Freya lediglich sechs Hunde zu der Einheit zählten.

»Ist Natasha hier?«, fragte er den erstbesten Kollegen.

»Nein.«

»War sie hier?«

»Nicht, seit ich hier bin.«

Er rannte zurück in das Gebäude und eilte zum Gemeinschaftsbüro seines restlichen Teams. Nur Zoe war da. »Hast du Natasha gesehen?«

»Nein, aber vielleicht ist sie mit Bodo und Gabriella noch beim Klettern.«

»Seit vier Stunden?«

»Die beiden sind auch noch nicht wieder da.«

»Mist.«

Sein nächster Weg führte ihn zur Kletterhalle. Wie vermutet gab es dort weder eine Spur von Natasha, noch von Bodo und Gabriella.

»Weiß einer von euch, wo Bodo und Gabriella sind?«

»Schau auf den Plan, da kannst du sehen, wann sie hier waren. Hast du nicht deswegen die Hallenbelegungspläne eingeführt? Damit jeder die Möglichkeit hat, zu trainieren?«

Klugscheißer, dachte Pit und schaute auf den Plan, der neben der Tür hing. Von neun bis halb elf standen dort Gabriella, Bodo und Natasha in Spalte drei eingetragen.

Während er den Weg zum Gemeinschaftsraum mit der Küche einschlug, zückte er sein Smartphone und wählte Natashas Nummer. Wie nicht anders zu erwarten ging sein Anruf direkt an ihre Mailbox. Er versuchte es bei Gabriella. Auch dort erreichte er nur die Mailbox. Weiter zu Bodo. Das Telefon klingelte, doch niemand nahm ab. Er wählte die Nummer erneut und noch ein weiteres Mal.

»Hey, was ist los?«, hörte er Bodo atemlos fragen.

»Wo verdammt noch mal bist du?«

»Essen. Was ist los?«

»Im Gemeinschaftsraum?«

»Nein.«

Abrupt blieb Pit stehen. »Bist du allein?«

»Abel, was willst du?«

»Natasha. Ich suche Natasha.«

»Natasha?«, echote Bodo, und Pit verdrehte die Augen. Manchmal waren seine Kollegen echt schwer von Begriff.

»Tierarzt«, hörte er Gabriellas Stimme.

»Richtig«, sagte Bodo. »Sie hatte den Termin mit Freya beim Tierarzt vergessen. Zur Auffrischung der Impfung.«

»Wann?«

»Wann?«, wiederholte Bodo, und am liebsten wäre er ihm an die Gurgel gesprungen. Erneut hörte er Gabriella im Hintergrund. »Etwa gegen zehn.«

»Schon gut, du brauchst es nicht zu wiederholen, ich habe Gabriella gehört. Warum ist sie nicht an ihr Telefon gegangen?«

Eine Pause folgte. »Ihr Akku ist leer.«

Pit drehte wieder um und lief zurück ins Büro, fuhr den Rechner hoch, öffnete den Terminkalender. Der Tierarztbesuch für Freyas Impfung stand drin, allerdings nicht für heute, sondern für nächste Woche Freitag.


Besitzergreifend legte Alexander ihr den Arm um die Taille und zog sie dichter an sich heran. Ein weiteres Mal pressten sich seine Lippen auf ihre. Diesmal ertrug sie es, weil sie wusste, dass es wichtig war, den Schein als brave Ehefrau zu wahren, die ihren zu Unrecht beschuldigten Mann zu Hause willkommen hieß.

»So ist es brav«, wisperte er an ihrem Ohr. »Und jetzt drehst du dich zu den Fotografen, lächelst, gehst zu ihnen an den Zaun und sagst ihnen, wie froh du bist, dass du deinen Mann wieder zu Hause hast und sich alle Anschuldigungen in Luft auflösen werden, weil sie vollkommen ungerechtfertigt sind. Hast du mich verstanden?« In seiner Anweisung klang eine unterschwellige Drohung mit, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Griff verstärkte sich, als sie sich nicht bewegte.

Steifbeinig schlug sie den Weg zum Tor ein. Wie in Trance setzte sie ein Lächeln auf und wiederholte die Worte ihres Mannes, der an ihre Seite trat und ihr erneut den Arm um die Taille legte. Fragen wurden von überallher gleichzeitig auf sie abgefeuert, Mikrofone in ihre Richtung positioniert.

Die Bodyguards vor dem Tor achteten darauf, dass die Journalisten Distanz wahrten. Die Gitter, die sie von der Meute trennten, erzeugten in ihr einen Eindruck, als würde sie sich in einem Gefängnis befinden, einem Gefängnis, das sie sich selbst gewählt hatte.

»Herr Egbert, was sagen Sie zu den Anschuldigungen gegen Sie?« – »Stimmt es, Herr Egbert, dass Sie eine wehrlose ältere Dame ermordet haben?« – »Welches Verhältnis bestand zwischen Ihnen und Frau Franke?«

Er machte eine herrische Geste. »Ich werde keine Fragen zu dem Fall beantworten. Ich möchte nur so viel sagen, dass ich erwäge …« Er machte eine Pause.

Obwohl Katharina sein Gesicht nur von der Seite sah, konnte sie im selben Moment, als es geschah, darin erkennen, dass er gefunden hatte, was er suchte – wen er suchte. »… Anzeige gegen Kriminalhauptkommissarin Kehlmann zu erstatten. Das alles ist ein Racheakt ihrerseits, der von langer Hand geplant wurde, um mich, mein Unternehmen und meine Familie zu diskreditieren.«

Im ersten Moment begriffen weder sie noch die Journalisten, was geschah. Sie spürte, wie der Arm um ihre Taille erschlaffte, erst dann hörte sie ein dumpfes Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Ihr Mann brach zusammen.

Mit einem erstaunlich agil ausgeführten Satz warf Pawel sie zu Boden. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, der Befehle auf Russisch bellte. Ein Aufschrei ging durch die Pressegruppe. Menschen liefen los und suchten Schutz, während Pawel sie zur Seite zerrte, hinter die steinerne Mauer, die ihr Grundstück umgab. Sie erhaschte einen Blick auf Alexander, wie er auf dem Boden lag. In seiner Stirn, genau über der Nasenwurzel, klaffte ein dunkelrotes Loch. Um seinen Kopf bildete sich eine Blutlache.


Natasha zog die Schuhe aus, stellte sie in der Waschküche ins Waschbecken und säuberte sie. Ihre verdreckte Kleidung stopfte sie in die Waschmaschine und schaltete sie an. Noch mit der Hündin an der Leine steuerte sie auf das Badezimmer zu. Freya sträubte sich ein wenig, als sie mit ihr in die Dusche stieg. Das heiße Wasser wärmte ihren ausgekühlten Körper. Statt ihr Duschgel zu verwenden, nahm sie das Babyshampoo, das sie auch für die Hunde verwendeten.

Sie ließ Freya in der Dusche, während sie sich abtrocknete. Das Handtuch um den Oberkörper geschlungen nahm sie das Hundecape und befestigte es um Freyas Körper, gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Hündin im Badezimmer schütteln konnte. Die Mikrofasern des Hundecapes nahmen die Feuchtigkeit aus dem Hundefell auf.

Seufzend machte sich Natasha daran, die Dusche zu putzen. Freya setzte sich vor die Badezimmertür und warf ihr einen sehnsüchtigen Blick zu.

»Du bist selbst schuld. Du hast dich schließlich im Dreck gewälzt, nicht ich«, schimpfte sie und öffnete die Tür. Pit stand breitbeinig davor. »Oh, du bist schon zurück«, stieß sie überrascht aus.

»Mit deinem Telefon und deiner Uhr, die in deinem Spind lagen.« Er reichte ihr beides.

Natasha seufzte. »Kann ich mir erst etwas anziehen, bevor du mit deinem Verhör beginnst?«

Er trat zur Seite und ließ sie vorbei.

Als sie in ihr Schlafzimmer schlüpfte, hörte sie die Türklingel. Die Hunde bellten. Sie zog sich ihre bequeme Jogginghose und ein weites T-Shirt an und rubbelte sich die Haare trocken. Vom Flur hörte sie Stimmen.

»Wo ist Kriminalhauptkommissarin Kehlmann?«

»Weshalb?«

»Wir haben einen Haftbefehl gegen sie.«

»Einen Haftbefehl? Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Sie ist Polizistin.«

»Das stellt sie nicht über das Gesetz.«

»Und aus welchem Grund wollt ihr sie verhaften?«

»Sie sind nicht derjenige, gegen den ein Haftbefehl vorliegt.«

»Aber das hier ist meine Wohnung.«

»Kriminalhauptkommissar Abel, machen Sie uns unsere Aufgabe nicht noch schwerer, als sie bereits ist. Glauben Sie, uns macht es Spaß, Ihre Kollegin zu verhaften?«

Natasha holte tief Luft und trat aus dem Zimmer, die gepackten Tasche in der Hand. Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass so rasch ein Haftbefehl gegen sie ausgestellt worden war. Ohne ein weiteres Wort hielt sie dem Beamten mit dem kahl rasierten Kopf ihre Dienstwaffe hin, gesichert und mit leerem Magazin.


Pit sah zu, wie Natasha zusammen mit den LKA-Beamten die Wohnung verließ – mit ruhiger Miene. Sie schien nicht im Mindesten überrascht, als man ihr den Haftbefehl überreichte, den sie ohne zu zögern unterschrieb. Nicht nur das – sie hatte ihre Tasche bereits dabei gehabt, als sie aus dem Zimmer kam. Wegen des Jobs hatte jeder vom Team immer eine fertig gepackte Tasche bereit, für den Fall, dass man kurzfristig zu einem Einsatz gerufen wurde. Niemand hatte es für notwendig gehalten, Natasha über die Anklage gegen sie zu belehren. Natürlich nicht, sie alle kannten das Prozedere.

Smart gehorchte seinem Befehl mit gesträubtem Fell und hielt Abstand zu den Beamten. Freya hingegen musste er am Halsband zurückhalten, damit sie sich nicht auf die Kollegen stürzen konnte.

Sein Smartphone klingelte. Er wartete, bis die Tür ins Schloss fiel, und nahm erst dann den Anruf entgegen.

»Wo ist Kehlmann?« Hartmann war am anderen Ende der Leitung und fackelte nicht lange.

»Soeben per Haftbefehl vom LKA abgeholt.«

»Sie scherzen doch wohl!«

»Höre ich mich so an? Was ist passiert? Weshalb hat man sie abgeholt?«

»Waren Sie nicht dabei?«

»Doch, aber sie hat auf die mündliche Belehrung verzichtet. Ich nehme an, Sie wissen Bescheid, sonst hätten Sie mich nicht angerufen.«

»Ich dachte, ich hätte eine Chance, im Vorfeld mit ihr zu sprechen.«

»Spucken Sie es aus.« Er merkte, wie er die Beherrschung, verlor.

»Alexander Egbert wurde vor seinem Haus getötet. Kopfschuss.«

Pit ließ sich auf den Boden sinken. »Ist das sicher?«

»Schalten Sie den Fernseher ein. Es ist auf jedem Sender zu sehen. Die ganze Presse war vor seiner Haustür versammelt und Zeuge des Attentats. Er küsst seine Frau, erklärt seine Unschuld, und dann – peng. Das bedeutet das Aus für die Sondereinheit Themis.«

»Scheiße.«

»Ich hatte Ihnen gesagt, dass Sie Ihre Kollegin nicht aus den Augen lassen sollen.«

»Das war nicht Natasha.«

»Ach nein? Denken Sie, die Staatsanwaltschaft hätte in der Geschwindigkeit einen Haftbefehl beantragt und von einem Richter unterschrieben bekommen, wenn es keinen dringenden Tatverdacht gäbe?«

»Wer ist der Staatsanwalt?«

»Steigenberger, und mit dem ist nicht zu spaßen.«

»Ich verstehe das nicht. Sie war beim Klettertraining. Sie hatte keine Ahnung, dass Egbert freigelassen werden sollte.« Er schnaubte. »Ach verdammt. Diese Staatsanwältin muss sie angerufen …«

»Nein, Frau Görcke hat es mir überlassen, sie über Egberts Freilassung in Kenntnis zu setzen.«

»Und?«

»Ich habe es nur Ihnen gesagt und bin davon ausgegangen, dass Sie begreifen, wie brisant die Angelegenheit ist, und dass Sie sie nicht mehr aus den Augen lassen, sobald Sie es ihr gesagt haben.«

»Also konnte sie nicht wissen, dass Egbert freikommt.«

Am anderen Ende entstand eine Pause. »Vielleicht hat sie es durch jemand anderen mitbekommen.«

»Selbst wenn – Natasha bringt nicht einen Menschen einfach um. Ich meine, schauen Sie sich ihre Statistiken von den Schießübungen an, oder die von unseren Einsätzen.«

»Ich weiß. Ich weiß aber auch, dass sie schießen und ihr Ziel treffen kann, wenn sie will – nicht zuletzt durch das Training von Herrmann.«

»Herrmann?«

»Ihre Scharfschützin im Team?«

Er hörte den Sarkasmus in Hartmanns Ton. Pit wurde es eiskalt. Carolina. Sie hatte es gewusst, weil er es ihr erzählt hatte.


Carolina schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf, ließ alle Sachen im Flur fallen und ging geradewegs in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, holte die Flasche Weißwein heraus und schenkte sich großzügig ein Glas ein, das sie in einem Zug austrank und ein zweites Mal füllte. Als sie Zoe im Schlafzimmer lachen hörte, rutschte ihr das Glas aus der Hand und zerschellte auf den Fliesen in tausend Splitter.

»Verfluchter Mist, verfluchter!«, schimpfte sie vor sich hin, sammelte die größeren Scherben ein und schnitt sich dabei in den Finger. »Na super, und was kommt als Nächstes? Scheiße!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752102987
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Deutsche Spezialkräfte Liebesroman Weibliche Ermittlerin Berlin Krimi Romantic thriller Polizeikrimi Spannung Romantic suspense Ermittlerkrimi Ermittler

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Sondereinheit Themis: Hinter Gittern