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Sylt trifft Herzbegehren

von Ben Bertram (Autor:in)
533 Seiten

Zusammenfassung

Schon lange hatte Nick das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Doch leider war er bisher zu ängstlich, diesen Umstand zu ändern. Loszulassen war nicht seine Stärke, und doch tat er es, nachdem er einen grundlegenden Entschluss gefasst hatte. Er fand den Mut auf seine Träume zu hören, und war glücklich darüber, da sie ihn auf dem Weg in die Freiheit begleiteten. Hamburg lag längst hinter ihm, als er erkannte, wonach er wirklich strebte. Nach einigen Umwegen kam er dort an, wo sein Herz schon lange Zuhause war. Auf Sylt! Da nichts so einfach ist, wie es scheint, musste Nick auch hier einige Wege gehen, auf die er gern verzichtet hätte. Als dann auch noch eine Frau in sein Leben tritt, ist das Chaos perfekt …! -Dieses Buch ist ein Sammelband-

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Freunde

  • Es war Donnerstag, aber nicht ein Donnerstag wie sonst.

    Heute war ich zum ersten Mal mit Carlos zum Billard verabredet und ahnte nicht, wie viele Billard-Donnerstage noch folgen würden. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Tag ein Start für ein schönes Ritual war. Zum Glück ahnte ich auch nicht, dass dieses Billard-Match auch ein Start für sehr viele Billardpartien war, welche ich fast immer sang- und klanglos verlieren würde. Als wir mit dem Billard fertig waren und Carlos mich mit einem Trostbier verarztet hatte, kam irgendwie das Thema auf den Tisch, welches uns in den nächsten Jahren an jedem Donnerstag begleiten würde.

    Einfach mal abhauen, sich eine Auszeit nehmen und mit einem Wohnmobil für einige Wochen oder Monate durch die Welt düsen, natürlich im Sommer und am besten in einem Sommer, der auch noch gutes Wetter versprach. Leider ging es nicht. Wir waren damals beide noch in einer Beziehung und konnten eine solche Tour unseren Partnerinnen nicht antun. Nicht, dass wir dachten, es wäre zu stressig für unsere Freundinnen. Nein, so war es nicht. Es sollte eine Männertour werden, und das erste Gesetz einer Männertour war es, dass keine Frauen dabei waren.

    Zunächst war ich an der Reihe. Meine Beziehung mit Bibi zerbrach. Oh Mann ging es mir dreckig. Wir hatten uns, wie man so schön sagt, auseinandergelebt. Hätte ich nicht meine beiden besten Freunde gehabt, ich weiß nicht, was für einen Blödsinn ich angestellt hätte.

    Ein Jahr später ging es Schlag auf Schlag. Innerhalb einer Woche trennten sich kurz nacheinander Anton und Carlos von ihren Frauen. Bei Anton war es so, dass er von der Arbeit nach Hause kam und die Wohnung fast leer war. Immerhin lag ein Zettel auf dem Küchentisch und so konnte er lesen, was er bereits seit längerer Zeit geahnt hatte.

    Es tut mir leid, Anton, aber ich habe einen neuen Mann kennengelernt. Bitte melde dich nicht bei mir. Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft!

    Mehr stand nicht auf dem winzigen Zettel. Auch wenn es ihm sehr schwer fiel, hielt er sich daran. Er wollte seine Ex einfach nur schnell vergessen. Bei Carlos war es ähnlich, nur umgekehrt. Er konnte die Enge nicht mehr ertragen. Er brauchte seine Freiheiten und hatte eine Frau abbekommen, die alles konnte, nur keine Freiräume geben. So ging er und lebte, bis er eine kleine Wohnung gefunden hatte, in seinem Wohnmobil.

    Anton nahm bereits seit einiger Zeit an unseren Treffen am Donnerstag teil. Meistens kam er erst, nachdem Carlos und ich mit dem Billardmatch fertig waren. Wir saßen oft einige Stunden an unserem Stammtisch und machten Pläne, die wir wahrscheinlich nie umsetzen konnten. Aber es brachte uns verdammt viel Spaß zu träumen. Nach und nach wurde das Thema Männertour zum Hauptthema und wir sprachen und träumten jeden Donnerstag davon, einfach abzuhauen. Träumen war erlaubt, Träumen war wichtig und Träumen war schön. In Gedanken waren wir bereits um die ganze Welt getourt und hatten die lustigsten Abenteuer erlebt. Wir hatten Frauengeschichten, coole Berufe gefunden, an den schönsten Orten der Welt gelebt und wir hatten gesurft. Leider bisher nur in unseren Träumen.

    Als Lisa, die im Billard Café bediente und uns nun schon sehr lange kannte, sich heute zu uns setzte, sagte sie etwas, das irgendwie alles veränderte.

    „Was macht die Tour? Oder seid ihr noch immer dabei, nur von der Tour zu träumen? Denkt daran, auch ihr werdet älter und irgendwann ist die Chance, die Tour zu starten, vertan.“

    Als Lisa gegangen war, da sie andere Gäste bedienen musste, sahen wir uns eine ganze Zeit fragend an.

    Carlos war es, der Wort ergriff, auch wenn er nicht viel sagte, sondern lediglich eine kurze Frage stellte.

    „Und nun?“


Auf zur Arbeit

  • Als ich aufwachte, blickte ich durch mein Schlafzimmerfenster direkt in die Sonne. Ich machte meine Augen schnell wieder zu und sah viele kleine bunte Punkte hüpfen und springen, aus denen sich Kreise und andere merkwürdige Symbole bildeten. Draußen war strahlend blauer Himmel, und wenn ich den Stand der Sonne richtig einschätze, musste es ungefähr acht Uhr sein. Ich überlegte kurz, ob ich dieses tolle Wetter nicht ausnutzen musste und den neuen Tag mit einer Schale Milchkaffee und einem leckeren Frühstück im Schweinske beginnen sollte, entschied mich jedoch lieber dafür, liegen zu bleiben. Ich drehte mich um und zog mir die Decke wieder bis zum Hals hoch, um zumindest noch eine Stunde zu schlafen. Der Milchkaffee und mein Frühstück konnten noch etwas auf mich warten. Als ich gerade dabei war, wieder im Land der Träume anzukommen, hörte ich mein Handy.

    „Welcher Trottel schickt mir am Samstag um diese Uhrzeit eine WhatsApp?“, dachte ich und ärgerte mich, da es sich genau in diesem Moment mit dem Weiterschlafen für mich erledigt hatte.

    Ich war wach und langsam kam ich auch an dem Punkt an, dass mein Gehirn in der Lage war, einigermaßen klare Gedanken zu fassen. Zunächst wunderte ich mich darüber, dass mein Kopf hämmerte und ich überlegte, weshalb ich gestern meine Rollos gar nicht runtergelassen hatte. Nach und nach erinnerte ich mich an den gestrigen Abend. Ich hatte mich mit Carlos zum Billard getroffen und die Klatsche meines Lebens von ihm bekommen. Vernichtend hatte ich verloren, und anschließend sind wir noch an die Drinks gegangen und haben uns Geschichten von früher erzählt. Wahrscheinlich waren es die Geschichten, die wir uns bestimmt schon tausend Mal erzählt hatten und die wir uns garantiert auch noch tausend Mal erzählen werden.

    Okay, die Kopfschmerzen kommen vom Bacardi und die Rollos sind oben, da ich gestern zum Runterlassen wohl nicht mehr in der Lage war, dachte ich und die ersten beiden Fragen des heutigen Tages hatte ich bereits geklärt. Ich war schon ein wenig stolz auf mich.

    Jetzt siegte die Neugier und ich stand auf, um mein Handy aus der Hosentasche zu holen. Ich sah mir zunächst die Gegend um mein Bett herum an, konnte meine Jeans hier jedoch nicht erblicken. Nachdem ich auch im Bad und im Wohnzimmer nicht fündig wurde, gab es nur noch die Möglichkeit, die Hose in der Küche zu finden. Ich hob sie auf und nahm das Handy aus der Tasche. Carlos hatte geschrieben und als ich den Text las, musste ich lachen.

    Moin Nick, bist du gut angekommen? Ich habe einen Brummschädel und muss gleich los zum Klettern. Aber dir wird es ja nicht besser gehen, ich hoffe dein Arbeitstag wird nicht zu stressig. Gruß C.

    „Oh Manno, nicht nur ich habe wohl zu tief in Glas geschaut. Carlos verwechselt sogar Samstag mit Freitag“, dachte ich und ging ins Bad, um mir mit der Zahnbürste und ganz viel Zahnpasta den ekligen Geschmack aus dem Mund zu vertreiben. So richtig half mir das Zähneputzen leider nicht, und so ging ich in die Küche, füllte den Wasserkocher und tat zwei hoch gehäufte Löffel löslichen Kaffee in meinen blauen Lieblingsbecher mit der Sylt-Kuh darauf. Kurze Zeit später duftete es nach Kaffee und außer, dass ich aus dem viel zu vollen Becher auf meinen Küchenboden kleckerte, verbrannte ich mir mit dem viel zu starken Gesöff auch noch die Zunge.

    Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich völlig kaputt aufs Sofa. Mein Hintern hatte die Sitzfläche noch gar nicht richtig berührt, da stand ich auch schon wieder und machte mich auf den Weg zurück in die Küche, um auf mein Handy zu schauen. Nun befanden sich nicht nur Kaffeeflecken auf dem Küchenfußboden, sondern auch auf dem Holzfußboden im Wohnzimmer und im Flur. Als ich mein Handy in der Hand hielt und den Bildschirmschoner mit dem Motiv von Sergej Barbarez, der aus meiner Sicht letzten wirklichen Persönlichkeit vom HSV, beiseite gedrückt hatte, musste ich mich bei Carlos entschuldigen. Er hatte nicht den Samstag mit Freitag verwechselt. Wir hatten heute Freitag! Klar, Carlos und ich gehen immer am Donnerstag zum Billard. „Wieso komme ich da jetzt erst drauf?“, waren meine panischen Gedanken. An meinem Kleiderschrank angekommen, warf ich mich schnell in irgendwelche Klamotten. Zeit zum Auswählen hatte ich nämlich nicht, ich musste jetzt los zur Arbeit. Nachdem ich noch einen großen Schluck Kaffee genommen hatte, griff ich nach meinem Schlüssel, verließ türknallend die Wohnung und ging mit großen Schritten zum Ohlsdorfer Bahnhof.

    Auf dem Weg dorthin begann ich zu rechnen, wie lange mein heutiger Bürotag werden müsste, damit ich nicht zu viele Minusstunden machen würde. Ich hätte es lieber bleiben lassen sollen, da es mir echt die Laune verdarb. So entschloss ich mich dazu, dass es mir total egal war, wie viele Minusstunden es werden, da ich bei diesem schönen Wetter spätestens um dreizehn Uhr mein Büro wieder verlassen werde.

    Vom Ohlsdorfer Bahnhof dauerte die Fahrt mit der S-Bahn fünfzehn Minuten bis zum Bahnhof Berliner Tor, und so hätte ich immerhin circa dreieinhalb Stunden auf meinem Gleitzeitkonto verbuchen können. Zumindest dann, wenn diese dämliche S-Bahn das gemacht hätte, wofür sie gedacht war. Aber es wurde mal wieder gebaut oder irgendwelche Vollpfosten waren auf den Gleisen unterwegs, sodass es einen Polizeieinsatz gab. Was es auch immer war, die S-Bahn fuhr nicht und ich musste die U-Bahn nehmen. Das bedeutete, dass ich zunächst neun Stationen bis zum Bahnhof Jungfernstieg fahren konnte, dort umsteigen durfte und anschließend noch weitere zwei Stationen fahren musste, um an meinem Zielbahnhof anzukommen. Beim Bahnhofsbäcker holte ich mir noch schnell einen Cappuccino und verpasste so die Abfahrt meiner Bahn. Ist ja nicht so schlimm, dachte ich mir, da die Bahn morgens alle fünf Minuten fuhr. Pustekuchen! Morgens fährt die Bahn zwar alle fünf Minuten. Allerdings war es jetzt schon so spät, dass der Fahrrhythmus inzwischen auf zehn Minuten ausgedehnt worden war.

    Angelehnt an eine Wand stand ich, mit dem Gesicht zur Sonne, auf dem Bahnsteig und trank meinen Cappuccino. Zeitgleich mit der Ankunft meiner Bahn hatte ich meinen Becher leer, und so ging mein Plan, mir die Bahnfahrt mit einem leckeren Cappuccino zu verschönern, nicht auf. Wobei dies ja nicht das Erste war, was heute nicht funktioniert hatte. Die Bahn war ziemlich gut gefüllt, und ich fragte mich, ob alle anderen Fahrgäste heute auch nicht aus dem Bett gekommen waren oder bei diesem schönen Wetter einfach nur frei hatten. Ich beschäftigte mich nur kurz mit diesen Gedanken. Stattdessen lehnte ich mich lieber gemütlich gegen die Scheibe und sah aus dem Fenster. Ich sah meine schöne Stadt an mir vorbeiziehen und blickte neidisch auf die Menschen, die es sich bereits mit Decken auf den Wiesen gemütlich gemacht hatten oder an einem der vielen Kanäle spazieren gingen.

    „Hamburg ist einfach wunderschön“, dachte ich und bekam gerade noch mit, dass ich bereits am Jungfernstieg angekommen war. Ich sprang auf, stieg aus und musste mich kurz orientieren. Es war gar nicht so einfach herauszufinden, welchen Ausgang ich nehmen musste, um mit der anderen Bahn weiterfahren zu können. Unterirdisch ging ich an Kiosken und Bäckereien vorbei und war tapfer, da ich es schaffte, trotz Kaffeedurst an den Geschäften vorbei zu gehen. Ich wollte nicht noch mehr Zeit verplempern. Am Ende meines unterirdischen Weges musste ich rechtsherum und mit einer Rolltreppe zu meinem Bahnsteig hinunter fahren. Viel interessanter fand ich allerdings das Schild, das auf der linken Seite den Weg zum Jungfernstieg und zu den Barkassen anzeigte. Sehnsüchtig sah ich nach links, nahm aber den Weg nach rechts. Ich hatte mir vorgenommen, auch jetzt noch tapfer zu sein, da ich meinen eigentlichen Weg zur Arbeit fortsetzen wollte. Ich stand auf der Rolltreppe, die mich hinunter zum Bahnsteig brachte, und konnte sehen, dass meine Bahn in einer Minute ankommen sollte.

    Das passte ja endlich mal gut. „Wenigstens brauche ich hier nicht noch mehr Zeit verschenken“, dachte ich, als die Bahn tatsächlich pünktlich in den Bahnhof einfuhr. Nachdem alle Fahrgäste ein- und ausgestiegen waren, fuhr die Bahn los und musste, wenn nichts Außergewöhnliches geschehen würde, in wenigen Minuten in meinem Zielbahnhof einfahren.

    Allerdings ohne mich!

    Ich stand zur gleichen Zeit, als die Bahn den Bahnhof Jungfernstieg verließ, auf der Rolltreppe und fuhr den Weg, den ich eben gekommen war, wieder zurück. Die Rolltreppe führte mich hinauf zum Tageslicht. Als ich oben angekommen war, nahm ich die nächste Abbiegung und folgte dem Schild zum Jungfernstieg, das mich zur Binnenalster und den Barkassen führte. Mit jeder Stufe konnte ich mehr blauen Himmel erkennen und als ich oben angekommen war, blickte ich auf die Alster, sah Segelboote, konnte auf der anderen Seite der Alster einen Reisezug erkennen und fühlte mich plötzlich frei. Es zog mich am Alsteranleger entlang zum Alex. Zu einem Lokal direkt an der Alster, von dem aus man von der einen Seite auf das Geschehen in der City und von der anderen auf die Alster blicken konnte. Ich entschied mich für den Alsterblick und hatte auch noch das seltene Glück, einen freien Strandkorb zu erwischen. Nachdem ich dort Platz genommen hatte, fiel mir ein, dass ich noch etwas zu erledigen hatte und griff zum Handy. Ich stellte mein Handy auf keine Rufnummernübermittlung um und wählte die Telefonnummer meines Chefs. Nach dem fünften Klingeln sprang sein Telefon auf einen anderen Apparat und ein Kollege nahm ab.

    „Nick hier. Sag mal, ist der Dicke heute gar nicht im Büro? Ich habe schon einige Male probiert, ihn zu erreichen, hatte aber bisher kein Glück.“ Zur Antwort bekam ich, dass der Dicke heute tatsächlich nicht im Büro war, sondern einen Kundentermin hatte.

    „Gibst du bitte Bescheid, dass ich heute krank bin und nicht komme“, bat ich meinen Kollegen und verabschiedete mich. Meine Hoffnung war, dass mein Kollege, die Frage der freundlichen Bedienung, nicht gehört hatte. Sollte es jedoch so gewesen sein, hätte ich es jetzt auch nicht mehr ändern können.

    „Was darf es sein, brauchen Sie die Frühstückskarte?“ Diese Frage bekommt man schließlich normalerweise nicht gestellt, wenn man krank im Bettchen verweilte.


Alex

  • Ich genoss mein Frühstück in der Aprilsonne und bestellte mir anschließend noch einen Milchkaffee, da ich so gar keine Lust hatte, meinen sonnigen Platz aufzugeben.

    „Nick, Nick, bist du es wirklich?“ Ich hörte eine Stimme, sah aber niemanden und die Stimme kam mir auch nicht wirklich bekannt vor.

    „Du bist es, Nick . Dass ich dich nochmal wiedersehe. Was machst du hier?“ Zu diesen Worten sah mich eine Frau um den Strandkorb herum an und schien sich wirklich sehr darüber zu freuen, mich hier zu sehen. Meine Freude war nicht annähernd so groß, dafür meine Verwunderung immer größer. Ich hatte das Gefühl, diese Frau noch nie in meinem Leben gesehen zu haben und überlegte krampfhaft, woher ich sie kennen würde. Leider half mir auch kräftigstes Überlegen nicht im Geringsten weiter.

    „Mensch Nick. Ich freue mich wirklich total. Ich hatte schon Angst, dass ich dich nie wieder sehen würde. Um ehrlich zu sein, bin ich sogar davon ausgegangen und nun treffe ich dich hier. Welch ein Glück, dass wir beide am selben Tag frei haben und wir uns dann auch zufällig hier treffen.“ Kurz hatte ich ein schlechtes Gewissen. Es war genau in dem Moment, als die mir unbekannte Frau etwas von zusammen einen freien Tag haben gesagt hatte. Es war kein schlechtes Gewissen darüber, dass ich nicht die gleiche Begeisterung für unser Treffen empfand, sondern ein schlechtes Gewissen meinen Kollegen gegenüber, die arbeiten mussten, während ich hier saß und den Tag genoss. Allerdings verließ es mich ebenso schnell, wie es gekommen war.

    Jetzt stand sie bereits vor meinem Strandkorb, und bevor ich irgendetwas sagen oder machen konnte, setzte sie sich neben mich. Mein Gedächtnis war noch immer nicht aufgefrischt, obwohl ich mir die Frau inzwischen genauer angesehen hatte und es durchaus hässlichere Frauen in Hamburg gab. Sie war, nennen wir es mal, vollschlank, hatte lange glatte, pechschwarze Haare und dunkle Augen. Sie war sehr schön und dabei noch auf eine ganz bestimmt Art interessant.

    Mir war klar, dass die Frau mich verwechselt haben musste, an eine solche Frau hätte ich mich garantiert erinnert. Es war eine Frau, die man nicht einfach so vergisst, selbst dann nicht, wenn es nur ein kurzes Date vor sehr langer Zeit gewesen wäre. Während ich noch überlegte, ob das Wort interessant oder doch lieber verrucht, besser als Beschreibung zu der schönen Unbekannten passte, bestellte sie sich einen Cappuccino und ein Glas Wasser. Kurze Zeit später lehnte sie ihren Kopf gegen meine Schulter und wiederholte ihre Worte von eben.

    „Mensch Nick. Ich freue mich wirklich total. Ich hatte echt Angst, dass ich dich nie wieder sehen würde.“

    „Ich freue mich ebenfalls“, log ich. Am liebsten hätte ich Carlos oder Anton angerufen, um einen der beiden als Telefonjoker zu nutzen. Denn eines war klar. Als ich diese Frau kennengelernt hatte, falls ich sie überhaupt kennengelernt hatte, war einer der beiden dabei.

    „Wie kommt es, dass du alleine hier bist?“, wollte meine verruchte, ich hatte mich in meinen Gedanken inzwischen auf verrucht festgelegt, Strandkorbnachbarin jetzt von mir wissen. Plötzlich bekam ich etwas Angst. Was wusste sie über meine gescheiterte Beziehung? War sie eventuell sogar eine neue Freundin meiner Ex? Eine Freundin, die mich aushorchen sollte? Diese Fragen schossen in meinen Kopf und vorsichtshalber stellte ich mich blöd.

    „Mit wem sollte ich denn hier sein, wen hast du erwartet?“, fragte ich und war stolz auf meine total unverfängliche und zugleich doch sehr verfängliche Frage.

    „Na mit deinem Bruder“, bekam ich zur Antwort und ich war froh, dass meine Angst unbegründet war. Hätte Bibi eine Freundin auf mich gehetzt, wäre diese garantiert besser vorbereitet gewesen.

    „Bruder? Ich habe keinen Bruder. Bevor du auf noch so eine Idee kommst, eine Schwester habe ich ebenfalls nicht.“

    „Er hat mir gesagt, dass er dein Bruder ist. Wohlbemerkt dein jüngerer Bruder. Außerdem musste ich ihn um Erlaubnis fragen, ob ich dich küssen dürfte. Das habe ich dann natürlich auch getan.“

    „Und wie soll mein angeblicher Bruder heißen?“ Jetzt wurde ich doch neugierig.

    „Keine Ahnung. Das weiß ich nicht mehr. Aber er war sehr nett und tüchtig angetrunken. Wobei, angetrunken waren wir ja alle.“

    „Dann beschreibe meinen Bruder doch einfach mal. Oder weißt du nicht mehr, wie er aussieht?“

    „Doch klar. Er sieht ein wenig aus wie du. Nur etwas dicker.“

    „Geht's vielleicht auch etwas genauer?“

    „Na, er hat auch eine Glatze und hatte, glaube ich, etwas Bart am Kinn. Halt wie du.“ Endlich war mir klar, welchen Telefonjoker ich hätte ziehen müssen. Carlos war raus, da er Haare hatte und keinen Bartspielkram im Gesicht trug. Ich war an dem Abend also mit Anton on Tour. Nur wo? Sagte meine kleine Verruchte nicht eben etwas davon, dass alle dort betrunken waren? Darauf ließ sich doch aufbauen. In Gedanken war ich bereits dabei, einen Befragungsplan zu entwickeln.

    „Was überlegst du?“

    „Ich denke grade darüber nach, wann es war, als wir uns getroffen haben“, log ich und hoffte auf einen weiteren Hinweispunkt.

    „Wann es war? Ist die Frage jetzt echt dein Ernst?“, hörte ich meine Strandkorbnachbarin fragen. Ihrem Tonfall nach ging ich davon aus, dass sie mir jetzt eine Szene machen würde und ich als Belohnung dafür anschließend wieder den Strandkorb für mich alleine hätte. Doch Pustekuchen. Nichts war es mit meiner Vermutung.

    „Na, im September haben wir uns getroffen. Wann denn sonst? Lotto King Karl spielt doch immer im September im Stadtpark. Die Konzerte laufen doch unter dem Motto, Lotto schließt den Stadtpark ab. Wusstest du das nicht? Ich dachte, dass du mit deinem Bruder immer dabei bist.“

    „Er ist nicht mein Bruder.“

    „Ja, sorry. Wusstest du das mit Lotto echt nicht?“

    „Doch, klar weiß ich das. Ich wusste nur nicht mehr genau, bei welchem Konzert im September es war. Immerhin waren wir drei Mal dort. Übrigens, manchmal spielt Lotto auch im Mai im Stadtpark. Dann lautet das Motto, Lotto schließt den Stadtpark auf! Welches Konzert war es denn nun?“ Aus der Nummer bin ich ja ganz gut rausgekommen, freute ich mich. Allerdings gab es noch das Namensproblem. Meine Strandkorbnachbarin mit Kleine Verruchte anzureden, war ganz sicher nicht die netteste Variante.

    „Es war das letzte Konzert. Hui, hatten wir vier dort Bier und Kurze verhaftet. Wobei, hatte dein Bruder nicht immer Bacardi anstatt Bier in der Hand? Natürlich hatte er. Wir mussten immer drei Bier, einen Bacardi und dazu acht Kurze holen.“ Nun gab es plötzlich noch eine Person, an die ich mich nicht erinnern konnte. Was für eine Freundin hatte sie dabei? Und überhaupt, an abwechselndes Getränkeholen konnte ich mich auch nicht erinnern. Viel schlimmer war für mich allerdings das Problem, dass ich noch immer nicht ihren Namen kannte. Sollte ich doch Anton als Telefonjoker nehmen? Allerdings würde ich einen hohen Betrag darauf wetten, dass auch Anton weder den Namen meiner kleinen Verruchten, noch den Namen ihrer Freundin kannte. Ich würde sogar darauf wetten, dass er sich, genauso wenig wie ich mich, an diesen ominösen Abend mit den beiden Mädels, erinnern konnte. Sonst hätten wir garantiert schon einige Male über diesen Abend gesprochen und gelacht.

    Ich versuchte, mich weiterhin meinem Namensfindungsprojekt auf Umwegen zu nähern. Mein Plan war es, ihr Fragen über ihre Freundin zu stellen und dabei ganz schlau zu versuchen, auch ihren Namen zu erkunden. Leider war mein Plan bereits nach meiner ersten Frage gescheitert.

    „Sag mal, wie hieß deine Freundin eigentlich? Ihren Namen habe ich total vergessen“, sagte ich und bekam als Antwort:

    „Meine Freundin? Ich habe dieses Mädel durch dich und deinen Freund kennengelernt. Ihr habt sie mir vorgestellt, und nach unserem Abend habe ich sie auch nie wieder gesehen. Sie ist doch mit dir und deinem Freund am Bahnhof Rübenkamp in die gleiche Bahn gestiegen. Ich musste in die andere Richtung fahren. Und zwar leider ganz alleine und ohne dich.“

    „Rübenkamp in die Bahn gestiegen? Warum Rübenkamp? Alte Wöhr ist doch viel dichter von der Open Air-Bühne entfernt.“

    „Von der Open Air-Bühne schon. Aber das Schach Café liegt halt direkt am Bahnhof Rübenkamp.“

    „Schach Café? Waren wir dort auch noch?“

    „Klar. Sag jetzt nicht, dass du dich da auch nicht mehr dran erinnerst. Aber an den Spaziergang dorthin kannst du dich hoffentlich erinnern?“ Jetzt hatte ich genug von meinem blöden Rumgeeier. Ich wollte gerade die Frage nach ihrem Namen stellen und auch erfahren, was es mit diesem ominösen Spaziergang auf sich hatte, als sie nach ihrem Handy griff. Sie wurde angerufen, was meinen Plan abrupt durchkreuzte.

    „Hallo Mama. Antje hier. Ich bin noch in der Stadt im Alex und genieße mit Nick das tolle Wetter. Ja Mama, es ist der Nick aus dem Konzert. Ja, ich habe ihn hier zufällig getroffen. Stimmt, du hattest recht damit. Man sieht sich immer zweimal.“

    Den Namen hatte ich nun. Aber die Brocken, die ich während Antjes Telefonat mit ihrer Mama aufschnappte, machten mir Angst. Das Thema jetzt mit ihr zu vertiefen, wollte ich ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, ich musste hier weg, da ich nicht hören wollte, wie sehr diese bis eben für mich unbekannte Frau in mich verliebt war. Wobei, unbekannt war sie mir noch immer, ich kannte nun lediglich nur ihren Vornamen.

    „Sag mal Nick, fällt dir eigentlich gar nichts an mir auf?“ Mal ganz ehrlich, diese Frage ist doch schon echt beschissen zu beantworten, wenn man jemanden kennt. Aber was sollte ich einer für mich fremden Frau auf diese Frage antworten. Ich blieb also meinen kurzen Antworten treu und stellte, anstatt zu antworten, eine Gegenfrage.

    „Sollte mir etwas auffallen?“

    „Ja, ich habe deine Tipps umgesetzt.“ Na prima! Damit konnte ich wirklich viel anfangen. Ich sah sie an und sagte, um überhaupt etwas zu sagen,

    „Du trägst schwarzen Nagellack. Find ich echt gut.“

    „Den hatte ich auch beim Lottokonzert drauf. Allerdings fandst du ihn dort schon sehr sexy bei mir.“ Inzwischen fand ich unsere Fragerunde extrem blöd und anstrengend. Ich nahm mir vor, es ihr in diesem Moment sehr deutlich mitzuteilen.

    „Bekomme ich einen Tipp?“, sagte ich stattdessen und ärgerte mich dabei über mich selbst.

    „Nick, ich sag es dir einfach. Du hast mir auf dem Konzert gesagt, dass ich die dämliche Schminke weglassen soll, da ein schönes Gesicht keine Schminke benötigt. Außerdem meintest du, dass mir Sport bestimmt gut tun würde.“ Ich verschluckte mich an meinem Milchkaffee, und während Antje mir auf den Rücken klopfte, nahm ich mir vor, nie wieder Alkohol anzurühren. Mir war es superpeinlich, was ich eben hören musste. Ich hatte tatsächlich zu einer Frau gesagt, dass sie hässlich geschminkt und dazu noch viel zu dick war. Allerdings musste ich zugeben, dass mir Antje, so wie ich sie heute kennengelernt hatte, extrem gut gefiel. Trotzdem hielt ich es für angebracht, mich für meine Äußerungen, von denen ich nichts mehr wusste, zu entschuldigen.

    „Sorry Antje, auch wenn Alkohol keine Entschuldigung sein darf, hätte ich es lieber nicht sagen sollen.“

    „Kein Problem Nick. Außerdem hattest du ja Recht. Ohne deine Worte hätte ich es wohl nie geschafft, mit Sport anzufangen.“

    Ich verabschiedete mich kurz und ging auf die Toilette. Auf dem Weg dorthin blieb ich stehen und drehte ich mich nochmal zu Antje herum. Sie saß nicht im Strandkorb, sondern stand am Geländer, mit dem Rücken zu mir und fütterte, mit ihren Keksen vom Milchkaffee, die Schwäne. Antje sah gut aus. Sie hatte eine wirklich tolle Figur, und ich bemerkte plötzlich ein komisches Gefühl in meinem Bauch. Ein ähnliches Gefühl, wie ich es auch damals hatte, als ich Bibi zum ersten Mal sah. Allerdings wehrte ich mich dagegen. Nie wieder wollte ich diese Gefühle zulassen. Zu sehr hing mein Herz noch an Bibi, obwohl unsere Beziehung lange vorbei war. Doch ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Menschen so dicht an mich heranzulassen. Immer wenn ich seitdem merkte, dass ich für eine Frau Gefühle entwickelte, machte ich dasselbe. Ich machte mich ganz schnell aus dem Staub. Als ich von der Toilette zurück war, standen erneut zwei Milchkaffees auf dem Tisch. Antje hatte bestellt und ich fühlte mich bestätigt, eben auf dem Klo das Richtige getan zu haben, als ich Carlos eine WhatsApp mit den Worten:

    HILFE, NOTFALL, HOL MICH HIER RAUS, RUF MICH AN, SOFORT, geschickt hatte.

    „Das ist aber wirklich nett von dir“, sagte ich und deutete auf den Milchkaffee, während ich mich wieder in den Strandkorb setzte. Gerade als Antje wieder mit einem neuen Thema anfangen wollte, klingelte mein Handy.

    „Das ist Carlos. Was der wohl um diese Uhrzeit von mir will. Das muss was Wichtiges sein.“, sagte ich, bevor ich das Telefonat annahm.

    „Was? Ehrlich? Man, wie beschissen! Klar komme ich sofort zu dir! Nein, bleibe ganz ruhig. Ich bin sofort da! Bis gleich!“ Ich versuchte, die Worte sehr ruhig und doch sehr bedeutsam rüberzubringen, damit Antje bereits während des Telefonats mitbekam, welch fürchterliches Ereignis passiert sein musste.

    „Sorry, ich muss los. Du hast es ja eben mitbekommen, einem Freund ist etwas Superblödes passiert und er braucht dringend meine Hilfe.“

    „Ja, ich habe es gehört. Ist es sehr schlimm?“

    „Sehr schlimm ist bekanntlich relativ. Aber ich muss jetzt echt los. Es war nett, dich mal wieder zu sehen.“ Ich machte bereits die ersten Schritte und entfernte mich eilig vom Strandkorb, als Antje rief.

    „Nick, hey Nick, warte kurz. Ich fand es auch schön, dich hier zu treffen. Wenn du magst, können wir es wiederholen.“

    „Klar, können wir bestimmt“, antwortete ich und schon machte ich denn nächsten Schritt. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich noch gar nicht bezahlt hatte und ärgerte mich darüber, da ich so nicht einfach verschwinden konnte. Ich ging zurück zum Strandkorb und winkte dabei zur Bedienung.

    „Bleibst du doch?“, fragte Antje.

    „Ich muss noch bezahlen.“

    „Dann kannst du mir doch schnell noch deine Handynummer geben.“ Antje griff während ihrer Worte in die Handtasche und zog ihr Handy heraus.

    „Sag mal die Nummer.“ Der Satz, dass ich meine Handynummer nicht auswendig kannte, war zwar blöd. Noch blöder war allerdings der Satz, dass ich meine Nummer auch nicht in meinem Handy gespeicherte hatte und ich sie ihr daher nicht geben konnte. Während ich diesen Müll erzählte, hatte ich meine Rechnung beglichen und konnte mich endlich auf den Weg machen, Carlos bei seinen Problemen zu helfen.


Billard

  • „War sie wirklich so schlimm?“, wollte Carlos wissen, während wir eine Pause beim Billard machten und mit Currywurst Pommes gegen unseren Hunger ankämpften.

    „Nein, gar nicht. Ich muss sogar sagen, dass ich sie sehr interessant fand. Nett war sie sowieso. Es war wohl eher diese merkwürdige Situation im Alex. Ich habe dort gesessen und plötzlich kommt eine Frau und erzählt mir von einem Abend, von dem ich echt so gar nichts mehr wusste. Weißt du, was ich meine? Ich hatte keinen Schimmer davon. Klar waren Anton und ich bei Lotto und wir hatten garantiert wie immer viel Spaß. Aber von Antje oder dem andern Mädel weiß ich nichts. Gar nichts!“

    „Aber gleich abhauen? Du hättest dich doch von ihr aufklären lassen können.“

    „Ich bin aufgeklärt“, sagte ich und wir mussten beide lachen.

    „Ich glaube, diese Worte, die Antje am Telefon zu ihrer Mutter gesagt hatte, waren zu viel für mich. Auf eine verknallte Tussi habe ich echt keinen Bock. Außerdem gibt es immer noch Bibi in meinem Leben.“

    „Es gab Bibi in deinem Leben.“

    „Aber in meinem Herzen ist sie noch immer. Ich kann nichts dagegen machen.“ Carlos sah mich an und merkte, dass es keinen Sinn hatte, tiefer in das Thema Bibi einzusteigen und so sagte er lieber:

    „Du bist dran mit Aufbauen“ und deutete dabei auf den Billardtisch.

    Eine Stunde später gesellte sich Anton zu uns.

    Wir gaben die Kugeln am Tresen ab und setzten uns an unseren Lieblingstisch. Ich ärgerte mich noch etwas über meine Billardklatsche, die ich schon wieder von Carlos erhalten hatte. Zwei zu neun hatte ich verloren, aber immerhin war bei jedem Spiel nur noch die schwarze Kugel auf dem Tisch. Also eigentlich relativ knapp. Aber verloren ist halt verloren, und das Wort eigentlich ist eigentlich sowieso überflüssig. Wieder begann Carlos unser Männergespräch mit dem Thema Antje und dem geheimnisvollen Abend bei Lotto.

    „Sag mal Anton, geht es dir echt wie Nick? Hast du auch keinen Schimmer, was an dem geheimnisvollen Abend alles passiert ist?“ Sein dämliches Grinsen hätte er sich meiner Meinung nach schenken können. Allerdings hätte ich es an seiner Stelle ganz sicher nicht anders gemacht. Anton konnte sich immerhin daran erinnern, dass wir wohl zwei Mädels kennengelernt hatten. Aber von einem Spaziergang, geschweige denn von einem Besuch im Schach Café, hatte sein Gehirn ebenfalls nichts gespeichert. Allerdings fiel ihm ein, dass er irgendwann in seinem Handy einen Namen gefunden hatte, den er nicht kannte. Da er weder wusste, wer diese Person war, noch wie sie in sein Handy gekommen war, löschte er den Kontakt einfach. Er glaubte, sich zu erinnern, dass dort Sandra gestanden hatte. War sich aber nicht ganz sicher.

    Um ehrlich zu sein, hatte Anton sowieso mich im Verdacht, diesen ominösen Namen in sein Handy gespeichert zu haben. Genau wie damals auf Sylt, als ich, während er unter Dusche stand, meinen Namen in seinem Handy durch Claudi ersetzt hatte. Wir hatten drei Tage viel Spaß durch diese Austauschaktion. Besser gesagt, ich hatte viel Spaß, da ich ihm regelmäßig Nachrichten mit dem Namen Claudi geschickt hatte und er, außer seiner Schwester, keine Person mit diesem Namen kannte. Ich redete ihm ein, dass er diese Claudi wohl beim Feiern kennengelernt hatte und sich nur nicht mehr daran erinnern konnte. Manchmal wünschte ich ihm einen schönen Abend oder schrieb davon, dass es schade sei, dass er sich nicht mehr bei mir melden würde. Er versuchte, mir in seinen Antworten einerseits zu vermitteln, dass er sich sehr wohl noch an sie erinnern konnte, andererseits gab er sich Mühe, mit Fragen herauszufinden, wer ich eigentlich war und woher wir uns kannten. Am dritten Tag saßen Anton und ich im Strandkorb und blickten auf das Meer. Ich schob wieder das Thema Claudi an, doch er hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Anton hatte sein relativ neues Handy in der Hand und versuchte, sich mit einigen Menüpunkten auseinanderzusetzen, die er von seinem vorherigen Handy nicht kannte. Gerade waren wir bei der Thematik der Vibration angelangt und er wollte gerne, dass sein Handy, wenn es auf lautlos gestellt wurde, vibriert. Ich nahm das Handy, ging auf Profile und stellte es für ihn ein. Auf seine Frage, ob es nun funktionieren würde, antwortete ich nicht. Stattdessen nahm ich wortlos mein Handy aus der Hosentasche und rief ihn an. Antons Handy fing an zu vibrieren. Doch anstatt sich darüber zu freuen, blickte er mich irritiert an und meinte:

    „Jetzt ruft die auch noch an.“

    „Wer?“, wollte ich wissen.

    „Na diese Claudi!“ Meine Antwort war zunächst ein Grinsen, woraus ein kurzes Lächeln und direkt im Anschluss ein Lachen wurde. Endlich hatte Anton es geblickt und sofort platzte ein

    „Du Riesenarsch“ aus ihm heraus. Doch er lachte mit und änderte etwas später den Namen Claudi wieder in Nick. Dass ich den Rest des Tages der Zahlungsmann in Sachen Drinks gewesen bin, ist wohl logisch. Aber drei Tage Spaß war es mir allemal wert.

    „Was hat eigentlich das Nachdenken bei euch ergeben?“

    „Welches Nachdenken?“, wollte Anton wissen. Ich wusste, was Carlos meinte, und da ich im Moment echt keine Lust auf meine Arbeit hatte, sagte ich:

    „Also ich bin dabei. Ich habe gestern mit meinem Chef besprochen, dass ich erst vier Wochen Urlaub nehme und anschließend drei Monate unbezahlt freimachen möchte. Er gibt mir nächste Woche Bescheid, ob es klappt. Wir könnten dann am ersten Mai die Biege machen und hätten noch vierzehn Tage Zeit, die Route zu planen.“

    „Ich habe doch nicht das notwendige Geld dazu und frei bekomme ich bestimmt auch nicht. Wir haben im Moment total viel zu tun.“

    „Sag mal, spinnst du Anton? Die wollen dich zum Jahresende entlassen und hatten dir doch sowieso schon eine Abfindung geboten. Nimm die doch einfach und lass es dir den Sommer über gut gehen. Was machst du dir Gedanken darüber, ob die Firma viel zu tun hat? Die interessiert es doch auch nicht, was ab dem nächsten Jahr aus dir wird.“

    „Du hast gut reden, Carlos. Dein Geld kommt jeden Monat und das, ohne arbeiten zu müssen. Du brauchst dir keine Gedanken über dein Einkommen zu machen.“

    „Nein, brauche ich nicht. Aber so viel Geld ist es nun auch wieder nicht, was ich von der Berufsunfähigkeitsversicherung bekomme, und außerdem wäre es mir auch lieber gewesen, wenn ich damals meinen Surfunfall nicht gehabt hätte. Immer ohne Schmerzen zu sein, wäre echter Luxus für mich.“

    „War ja nicht böse von mir gemeint“, sagt Anton und es war ihm anzumerken, dass ihm seine Worte von eben unangenehm waren.

    „Wie kommen wir jetzt weiter?“, wollte ich wissen.

    „Zunächst bestellen wir noch drei Drinks“. Carlos winkte Lisa an unseren Tisch. Da sie hier schon seit einigen Jahren als Bedienung arbeitete und wir Stammgäste waren, wahrscheinlich sogar ihre Lieblingsstammgäste, brachte sie die Drinks gleich mit.

    Wie jeden Donnerstag, war die Nacht auf Freitag sehr kurz. Aber immerhin hatte ich heute geschnallt, dass ich zur Arbeit musste und wir nicht Samstag hatten. Die Bahn fuhr ausnahmsweise auch mal pünktlich, und so war ich bereits sehr früh unterwegs. Allerdings nicht, ohne mir vorher noch zwei Laugenbrötchen und einen Kaffee zu besorgen. In der Bahn dachte ich an den gestrigen Abend und hoffte, dass unser Plan Wirklichkeit werden würde. Ich wartete den ganzen Tag sehnsüchtig auf die Info von meinem Chef, obwohl ich eigentlich wusste, dass diese erst nächste Wochen kommen sollte. Anton wollte heute ebenfalls mit seinem Vorgesetzten darüber sprechen, dass er doch lieber die ihm damals angebotene Abfindung nehmen würde. Wir waren alle bereits über vierzig Jahre alt und sagten uns, wenn wir nicht jetzt etwas Verrücktes machen, wann dann? Gegen zehn Uhr bekamen Carlos und ich eine WhatsApp von Anton. Er hatte tatsächlich mit seinem Chef gesprochen und sollte die Antwort, genau wie ich auch, in der nächsten Woche bekommen. Nun standen für die nächste Woche bereits zwei entscheidende Antworten aus. Nicht nur Anton und ich konnten es kaum abwarten, die Antwort zu bekommen. Auch Carlos wartete und hoffte, dass unsere Männertour stattfinden würde.

    Es war ein komisches Wochenende. Normalerweise ging das Wochenende immer viel zu schnell vorbei. Kurz nachdem es begonnen hatte, musste ich bereits wieder an meinem Schreibtisch sitzen, hatte einen Becher Kaffee vor mir und konnte auf dem Kalender erkennen, dass ich noch viel zu viele Arbeitstage bis zum nächsten Wochenende vor mir hatte. Diesmal war es anders, komplett anders sogar. Der Samstagvormittag lief gar nicht und ich war froh, als Anton mich um vierzehn Uhr abholte und wir ins Stadion fuhren. Eine Stunde später saßen wir mit Getränken und Würsten versorgt auf unseren Plätzen und hofften auf einen Sieg. Immerhin wollten wir in der nächsten Saison gerne wieder Erstligafußball in Hamburg erleben. Als wir nach dem Spiel am Bierstand zwischen dem Stadion und der Arena, der Heimat unserer Handballspieler, standen, war das Spiel schnell abgehakt. Es gab leider mal wieder schlechten Fußball, aber immerhin einen Sieg vom HSV. Janny und Jonny kamen mit je zwei Bieren in der Hand auf uns zu und drückten uns eine leckere Kaltschale in die Hand.

    „Schau mal, zwei Sylt-Groupies“, sagte Anton lachend, als er die Mädels erblickte. Mit „Hey du Bayernzecke“, begrüßte ich Jonny, die Fan dieser komischen, aber total erfolgreichen Mannschaft aus dem Süden war und mal wieder die zweite Dauerkarte von Janny nutzen durfte. Es gab Küsschen links, Küsschen rechts, und nach kurzer Zeit war das Spiel abgehakt. Wir unterhielten uns über den Surf-Cup Sylt, der in fünf Monaten starten würde und auf dem wir uns vor einigen Jahren kennen gelernt hatten.

    „Wann gibt es eigentlich das Essen?“, wollte Janny wissen.

    „Wenn ihr Zeit habt oder eure Männer euch mal einen Abend frei geben“, sagte ich und lächelte. Das Essen steht seit einigen Jahren aus. Während eines Surf-Cups trafen wir uns nach einer durchzechten Nacht zum Frühstück in einem Steakrestaurant. Dort haben wir darum gewettet, dass der HSV am Abend gewinnt. Jonny und ich hatten auf den HSV getippt und verloren. Wir blieben noch eine ganze Zeit am Stadion und unterhielten uns mit vielen ehemaligen Fußballkollegen von uns.

    Der Sonntag zog sich unendlich. Über Nacht war auch noch das Wetter umgeschlagen und es regnete den ganzen Tag. Eine Stunde ging drauf, während ich mich im Fitnessstudio quälte. Zum Glück gab es heute am Nachmittag zunächst Formel 1 und anschließend noch Handball im Fernsehen, sodass ich einfach mal einen Gammeltag einlegen konnte und später während des Tatorts auf dem Sofa einschlief.

    „Heute Abend um acht Uhr im Billard Café!“, mehr stand nicht in der Nachricht, die Anton an Carlos und mich geschickt hatte. Wir hatten Mittwoch und ich saß beim Lesen der Nachricht in der Sonne bei einem Cappuccino und machte Mittagspause. Mein Chef hatte mir noch immer keine Antwort auf meine Anfrage zum unbezahlten Urlaub gegeben. Ich überlegte, ob es besser wäre, eine Nachfrage zu starten, oder ich lieber doch noch bis morgen warten sollte. Als ich nach der Mittagspause zurück an meinem Büro war, lag ein Zettel auf meinem Schreibtisch. Um vierzehn Uhr sollte ich bei meinem Chef sein.

    Über eine halbe Stunde war ich zu früh im Billard Café eingetrudelt. Trotzdem setzte ich mich an unseren Tisch und klönte mit Lisa, während ich auf meine Freunde wartete. Pünktlich trafen Anton und Carlos fast zeitgleich ein. Ein kurzes Winken genügte und wir bekamen drei Getränke an den Tisch gebracht. Es war still, irgendwie unheimlich still, an unserem Tisch.

    „Ich muss euch was sagen.“ Anton durchbrach die Stille und tatsächlich fing er direkt an, von dem Gespräch mit seinem Chef zu berichten. Anton erzählte uns alles sehr ausführlich und als er zum Ende kam, sagte er:

    „Und somit habe ich jetzt das notwendige Geld, dafür keinen Job mehr und eine ungewisse berufliche Zukunft vor der Nase. Aber das ist mir egal. Die Hauptsache ist doch, dass ich dabei sein kann, wenn unser Vorhaben startet. Sag mal Carlos, was machen wir eigentlich, wenn Nick keinen unbezahlten Urlaub bekommt. Fahren wir dann alleine? Canceln wir dann unseren Plan? Ich meine, es war unser gemeinsames Ziel, mit dem Wohnmobil on Tour zu gehen. Wir können es doch nicht ohne Nick durchziehen. Oder doch? Sag mal Carlos, was meinst du?“ Anton war in Redelaune. und es sprudelte nur so aus ihm heraus. Er war glücklich über seinen Mut. Zum ersten Mal in seinem Leben machte er etwas Verrücktes. Ich meine, etwas richtig Verrücktes. Nicht eine Sache wie Appetit auf zwei Kugeln Meloneneis haben und sich vier kaufen. Oder das fünfundvierzigste T-Shirt zu besorgen, da er noch keins in orange/blau hatte, sondern nur eins in blau/orange. Nein, diesmal wagte er etwas, bei dem eine ungewisse Zukunft vor ihm lag. Er überlegte, wie er es seinen Eltern beichten sollte, und ich wusste, dies war ein großes Problem für ihn. Immerhin kannten wir uns nun schon über zwanzig Jahre und nach so einer Zeit weiß ein Freund, wann und womit sein Freund Probleme hat.

    „Was meinst du, wenn wir einfach still und leise unsere Tour beginnen und du deinen Eltern von unterwegs eine E-Mail schickst, dass du für die nächsten vier Monate auf großer Tour bist?“, schlug ich Anton vor.

    „Das geht nicht, meine Eltern haben keinen E-Mail-Anschluss.“

    „Und wenn du ihnen eine WhatsApp sendest?“

    „Dann wissen sie nicht, wie sie diese öffnen sollen.“

    „Dann mach es wie früher und verschicke eine Postkarte.“

    „Aber stell dir vor, die kommt nicht an.“

    „Dann schickst du vorsichtshalber eine zweite hinterher“, mischte sich Carlos ein, stand anschließend von seinem Platz auf und setzte sich auf die Armlehne meines Stuhls.

    „Wie cool ist das denn? Ich freue mich total!“, sagte Carlos, während er mich in den Arm nahm. Anton saß etwas irritiert auf seinem Platz und blickte zu uns rüber.

    „Worüber freust du dich?“, wollte er von Carlos wissen.

    „Auf den ersten Mai.“

    „Auf den ersten Mai?“, wiederholte Anton.

    „Ja, auf den ersten Mai. Anders gesagt, auf unseren Tourstart.“

    „Also fahren wir zwei auf jeden Fall?“

    „Wir zwei fahren auf jeden Fall“, sagte Carlos und lachte laut, während er vor Freude eine Flasche Bacardi, zwei Flaschen Cola und einen Eisbottich quer durch den Laden bestellte.

    Als Lisa die Bestellung brachte, fragte sie, ob dies bedeutete, dass wir tatsächlich unsere Tour starten. Gleichzeitig hörte sie von Anton ein „Nein!“ sowie von Carlos und mir ein „Ja!“. Während Anton und Lisa leicht merkwürdig guckten, lachten Carlos und ich.

    „Hast du Nick nicht richtig zugehört?“, wollte Carlos von Anton wissen.

    „Mann, Anton. Alter, wir fahren!“, Carlos nahm jetzt Anton in den Arm und Lisa ging zum Tresen, um mit vier Erdbeerlimes zurückzukommen.

    „Auf die Tour!“, rief Lisa und hob ihr Glas, um mit uns anzustoßen. Wir standen auf, um diesem Drink einen gebührenden Rahmen zu gebieten. Nachdem wir es sechs Mal klirren hörten, hatte jeder sein Glas am Mund und ließ das rote, süße Zeug durch seinen Hals laufen. Die Frage, wann ich gesagt hatte, dass ich frei bekam, verkniff Anton sich. Er nahm sich vor, Carlos oder mich später einmal zu fragen. Es war ein verdammt anstrengender Abend. Lisa musste noch einige Male mit einer Runde Erdbeerlimes an unseren Tisch kommen, und sie hatte heute auch keine Chance, sich dem Mittrinken zu entziehen. Zwei Stunden später schickte ihr Chef sie ganz zu uns an den Tisch. An Arbeit war bei ihr heute nicht mehr zu denken. Dafür war sie uns bei unserer Planung behilflich. Sie übernahm das Schreiben und erinnerte uns immer wieder an Dinge, an die wir drei nicht dachten, die jedoch notwendig waren. Sie hatte halt den Blick einer Frau.

    Erst sehr spät verließen wir heute das Billard Café, und ich beneidete Carlos darum, dass er am nächsten Morgen keine Arbeitsverpflichtung vor der Nase hatte. Er versuchte, uns einzureden, dass es auch sehr anstrengend für ihn werden würde, da er um zehn Uhr beim Klettern sein musste. Allerdings hatte er mit seinem Versuch keine Chance bei uns.


Planungen

  • Die nächsten Tage liefen sehr schnell. An meine eigentliche Arbeit verschwendete ich während der Arbeitszeit nur wenige Gedanken. Meistens notierte ich mir irgendwelche Dinge, die mir noch für unsere Tour einfielen. Ansonsten telefonierte ich mit Carlos und Anton. Da Carlos die meiste Zeit hatte, war er für das Organisieren und die Besorgungen verantwortlich. Außerdem war er der Besitzer des Wohnmobils und wusste daher am besten, wie viel Platz wir für Vorräte oder anderen Krimskrams hatten.

    Ein Fiat, soviel wusste ich. Auf die Fragen meiner Kollegen konnte ich bisher nicht mit sehr viel mehr antworten, und so hatte ich mir für heute vorsichtshalber einen Zettel mit Daten über das Wohnmobil in meine Hosentasche gesteckt. Die erste Kollegin stellte mir schon gegen sieben Uhr eine Frage nach dem Wohnmobil und unserer geplanten Strecke. Zur Strecke allerdings konnte ich auch heute nur die gleiche Antwort wie immer geben.

    „Wir fahren einfach drauf los, werden mal hier und mal da sein. Anton und ich verlassen uns ganz auf den Routenplaner Carlos. Wir werden nach Wetterbericht immer in die Richtung der Sonne fahren und versuchen, da Carlos ein leidenschaftlicher Surfer ist, die besten Surfgebiete anzusteuern. Aber weißt du was? Pass mal auf.“ Ich kramte den Notizzettel aus meiner Tasche und las stolz einige Daten ab.

    „Wir fahren mit einem Fiat Ducato, Rapido 860 F, natürlich einem Diesel. Das Ding ist sechseinhalb Meter lang und hat eine Breite von über zwei Meter. Knapp drei Meter ist das Wohnmobil hoch und es hat vier Schlafplätze.“ Mehr wusste ich nicht über unser Wohnmobil. Nur, dass Carlos damit schon etliche Touren gemacht hatte und bei seinen Erzählungen nur Positives, besser gesagt, nichts Negatives erzählt hatte. Mein Handy meldete sich in diesem Moment bestimmt zum zehnten Mal. und ich las die Frage:

    „Wisst ihr Chaoten eigentlich, dass wir nur ein Wohnmobil und keinen LKW haben ...?“

    Ich überlegte, ob Carlos wohl auf meine letzte Nachricht geantwortet hatte, in der ich noch einige aus meiner Sicht sehr wichtige Vorschläge gemacht hatte. Ich fand zum Beispiel für regnerische Abende eine Autorennbahn angebracht und auch mein Tischfußballspiel würde, wenn wir es zusammenklappten, bestimmt irgendwo einen vernünftigen Platz finden. „Na ja, vielleicht hatte Anton ja auch etwas an Carlos geschrieben, was unangebracht war“, dachte ich und machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Nachdem ich die nächste WhatsApp gelesen hatte und gerade antworten wollte, da Carlos tatsächlich dagegen war, eine Autorennbahn und ein Tischfußballspiel mitzunehmen, kam der Dicke in mein Büro.

    „Chef, was gibt's?“, sagte ich, während ich mein Handy auf den Schreibtisch legte.

    „Du hast jetzt genau drei Möglichkeiten. Entweder stellst du dein Handy heute und morgen aus, entweder stellst du es heute und morgen auf leise, oder du stellst es heute auf leise und nimmst morgen deine restlichen Überstunden“, sagte der Dicke und lächelte dabei. „Der kann ja richtig nett sein“, waren meine erstaunten Gedanken.

    „Dann entscheide ich mich für die dritte Variante. Danke Chef.“ Ich war wieder alleine in meinem Büro und griff zum Handy. Nach kurzer Zeit unterbrach ich meine WhatsApp, um das Handy auf leise zu stellen. Immerhin hatte ich es versprochen. Dann schrieb ich die Nachricht weiter.

    „Hallo Carlos, hallo Anton, ich habe morgen schon frei. Der Dicke kann richtig nett sein, wenn er will! Freue mich auf die Tour mit euch Chaoten!“

    Die Stunden bis zum Feierabend vergingen unendlich schnell. Nicht, dass ich viel gearbeitet hätte. Dazu kam ich nicht. Ich musste bestimmt noch zwanzig Mal meinen Zettel aus der Hosentasche ziehen, um die Daten vom Wohnmobil abzulesen. Denn in einer Sache waren Anton und ich gleich. Keiner von uns hatte Ahnung von Autos. Und die zu einem Auto gehörigen Daten und Infos, konnten wir uns schon gar nicht merken. Komischerweise fiel mir jetzt auch wieder die Geschichte ein, als Anton und ich einen Kurztrip nach Sylt unternommen hatten. Am Abend vor der Abreise von der Insel hatten wir schon fast alles gepackt und im Auto verstaut. Während ich in der Badewanne lag, brachte Anton die restlichen Sachen zum Auto. Plötzlich klingelte mein Handy und ich sprang aus der Wanne. Anton war dran und ich dachte, er wollte mich verarschen, als er sagte, dass der Wagen nicht anspringen würde.

    „Wie witzig. Für den blöden Scheiß holst du mich aus der Wanne?“

    „Kein Witz, mein Wagen springt echt nicht an.“

    „Und was soll ich jetzt dabei machen?“

    „Los komm runter“, befahl Anton. Ich zog mir schnell etwas über und auf dem Weg nach unten überlegte ich, was wohl tatsächlich passiert war. Sprang sein alter, roter Toyota wirklich nicht an? Klar konnte es der Grund sein. Immerhin hatte der Wagen bereits seine besten Jahre hinter sich. Ich vermutete aber, dass Anton irgendwelchen Mist im Kopf hatte und mich nur ärgern wollte.

    „Da bin ich.“

    „Wird auch Zeit. Was hast du noch so lange gemacht?“

    „Nichts, außer mich anzuziehen.“

    „Hör mal“, sagte Anton, während er im Wagen saß und den Schlüssel umdrehte. Ich hörte nichts. Was daran lag, dass es nichts zu hören gab. Der Wagen war tot.

    „Lass mich mal versuchen.“ Anton überließ mir den Fahrersitz und den Wagenschlüssel. Doch auch bei mir passierte nichts. Die Gurke machte so gar kein Geräusch und ich stieg aus.

    „Was machen wir?“, fragte Anton.

    „Weiß nicht!“

    „Mach mal mit dem Hebel die Motorhaube auf.“

    Ich sah Anton fragend an. Selbstverständlich hatte ich keine Ahnung, wo sich dieser Hebel befand. Anton kletterte auf den Beifahrersitz, und so suchten wir jetzt gemeinsam nach einem Hebel, den wohl jeder andere Autofahrer sofort gefunden hätte. Als wir ihn endlich fanden und ich ihn benutzte, freuten wir uns, dass die Motorhaube tatsächlich aufsprang. Nun standen wir beide vor dem Wagen und blickten auf, für uns beide zumindest, böhmische Dörfer. Wir hatten absolut keine Ahnung, wonach wir Ausschau halten sollten. Okay, den Behälter für das Wischwasser und den Stab zum Ölstand messen, haben wir entdeckt. Beides half uns jedoch nicht wirklich weiter, und so beließen wir es dabei. Wir lachten lieber über unsere reichlich blinde Aktion.

    „Wir könnten noch mal in den Kofferraum gucken“, sagte ich zu Anton.

    „Stimmt, ob wir in die Motorhaube oder in den Kofferraum gucken, ist wahrscheinlich echt egal“, bekam ich zur Antwort, und wir lachten weiter. Eine Stunde später kam der von Anton angerufene ADAC. Es war irgendeine Autowerkstatt von der Insel, die allem Anschein nach für den ADAC hier auf Sylt tätig war.

    „Wo liegt das Problem?“

    „Das Problem liegt nirgends. Es steht vor dir.“ Fragend sah uns der Typ an. Dass wir mit Humor bei ihm nicht landen würden, war uns sofort klar. Anton übernahm das Wort und versuchte, sachlich zu bleiben.

    „Mein Wagen springt nicht an. Er sagt keinen Ton und steht nur wie tot auf dem Parkplatz.“

    „Gib mal den Schlüssel.“ Der Typ nahm den Schlüssel und setzte sich in den Wagen. Wenige Sekunden später steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und drehte diesen herum. Das Geräusch eines laufenden Motors erklang. Anton und ich fühlten uns erleichtert und blamiert zugleich. Trotz eines guten Trinkgelds fuhr der Typ ziemlich angesäuert davon. Wahrscheinlich hätte er an einem Samstagabend um einundzwanzig Uhr lieber etwas anderes gemacht, als zwei blöde Hamburger unnötigerweise zu besuchen. Nach drei Stunden und ungefähr fünf Bacardi-Cola später lachten wir in der Wunderbar noch immer über unsere heldenhafte Aktion.

    Als ich mit meinen Gedanken fertig war, fragte mich ein Kollege, weshalb ich so blöd grinste.

    „Ab morgen habe ich frei, und dann seht ihr mich vier Monate nicht“, sagte ich. Ich hatte keinerlei Antrieb, die Autogeschichte, die wirklich ziemlich peinlich war, in meiner Firma zu erzählen.

    Heute war schon wieder Donnerstag, und wir überlegten, ob wir unseren heutigen Billardabend ausfallen lassen sollten, entschieden uns aber dagegen, da man an Ritualen festhalten muss. Wir hätten garantiert auch total Ärger von Lisa bekommen, wenn wir, ohne Tschüss zu sagen, für vier Monate verschwunden wären. Ich notierte noch einige Dinge, die ich gerne mitnehmen wollte, jedoch nicht wusste, ob es platztechnisch möglich war. Auch Anton hatte vorsorglich einen solchen Zettel dabei, als wir uns am Abend im Billard Café trafen.

    „Anton, wir brauchen gar nicht weiter diskutieren. Das Mofa kann nicht mit, und für das Bauchmuskelübungsgerät haben wir auch keinen Platz im Wohnmobil. Übungen für die Bauchmuskeln kann man übrigens genauso gut auch ohne Gerät machen. Und Nick, kannst du mir verraten, was du mit der Wii auf unserer Tour anstellen willst?“

    „Klar kann ich das. Wenn mal schlechtes Wetter ist, können wir lustige Sportspiele machen und brauchen nicht den Fernseher einzuschalten.“

    „Um Wii zu spielen, muss man sehr wohl den Fernseher einschalten“, sagte Carlos und lachte. Als er ausgelacht hatte, meinte er weiter:

    „Die Wii bleibt zuhause. Dafür ist kein Platz. Oder wir nehmen alternativ den Laptop nicht mit.“ Carlos hatte gewonnen und wir sahen ein, dass wir das Wohnmobil nicht mit unnötigem Kram vollstopfen sollten. Meine anderen beiden Vorschläge erwähnte Carlos gar nicht erst. Auch ich hielt lieber meine Klappe.

    „Sag mal, habt ihr auch solche Probleme bei der Klamottenauswahl? Hat wirklich jeder nur so viel Platz, wie du uns aufgeschrieben hast?“, wollte Anton von Carlos wissen, und ich strich eine Frage von meinem Zettel, da ich die gleiche Frage auch noch stellen wollte.

    „Ja, so ist es. Mehr Platz ist nicht vorhanden. Wir können, wenn Ihr wollt und es euch nicht stört, eine gepackte Tasche von jedem unter dem festen Bett hinten im Wagen verstauen. Aber dort müssen die Klamotten auch bleiben, da im Schrank echt nicht mehr Platz ist, als ich bereits diverse Male gesagt habe. Aber was jammert ihr eigentlich. Ich muss sogar noch meine Surfsachen einpacken. Die alleine nehmen schon ganz schön viel Platz weg.“ Da es uns nicht wirklich störte, wenn drei gepackte Taschen unter dem Bett standen, waren Anton und ich dafür. Wir hofften zwar auf schönes Wetter, hatten jedoch keine Garantie und mussten daher klamottentechnisch auf alles eingestellt sein. Auch die restlichen Fragen wurden relativ schnell geklärt, und so hatten Anton und ich bald nur noch durchgestrichene Punkte auf unseren Zetteln. Offen war lediglich ein Punkt von mir, und diesen hatte ich nicht auf meinem Zettel notiert, da es mich sowieso die ganze Zeit beschäftigt hatte.

    „Verrätst du uns nun endlich, wie die Tour aussieht?“

    „Gut sieht sie aus“, meinte Carlos und grinste blöd.

    „Wo geht es lang? Welche Orte sehen wir uns an?“

    „Ihr habt gesagt, ihr wollt euch überraschen lassen und dabei bleibt es.“ Da wir wussten, dass weiteres Nachhaken nichts bringen würde, hielten wir einfach den Mund und nahmen uns vor, diese Frage auch nicht wieder zu stellen.

    Am Freitag weckte mich kein Wecker. Ich erhielt auch weder eine WhatsApp noch einen Anruf. Geweckt wurde ich heute von einem furchtbaren Geraschel. Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer, machte die Balkontür auf und setzte meine Landschildkröte, die auf den Namen Bobby hörte, auf den Balkon. Als ich wieder im Bett lag, fiel es mir wie Schuppen aus meinen nicht vorhandenen Haaren. Was sollte ich während der Tour mit Bobby machen? Meinen Eltern konnte ich sie nicht vier Monate aufs Auge drücken und meine beiden besten Freunde waren mit mir unterwegs. Außerdem musste ich mir eingestehen, dass mir Bobby wahrscheinlich auch fehlen würde, da ich sie die letzten fast sechs Monate schon nicht gesehen hatte. Erst im März hatte ich sie wieder aus dem Keller befreit, und nun wollte ich sie nach ihrem wohlverdienten Winterschlaf nicht schon wieder abgeben müssen. Doch wie sollte ich sie mitnehmen? Das Terrarium war viel zu groß, und in einem Karton wollte ich meiner griechischen Landschildkröte die Tour auch nicht zumuten. Immerhin besaß ich sie bereits fast sechsunddreißig Jahre und sie war einen gewissen Luxus gewöhnt. Bei meinem ersten Kaffee und zwei Scheiben Toastbrot mit Honig hatte ich plötzlich eine Idee. Eine sehr gute sogar und so fuhr ich zum Baumarkt. Ich kaufte breite Holzbretter und eine Glasscheibe, woraus ich einen Stall für Bobby baute. Die Glasscheibe brachte ich an einer der Längsseiten an, und so konnte sie auch etwas sehen, ohne sich den Hals dabei verrenken zu müssen. Etwas Angst hatte ich vor der Reaktion meiner Freunde. Immerhin war Bobby bisher nicht eingeplant und ihr neues Zuhause nahm schon einigen Platz weg. Aber ich war zuversichtlich, dass meine Überzeugungskraft groß genug sein würde. Ich hatte ja auch bereits auf die Wii, mein Tischfußballspiel und die Autorennbahn mehr oder weniger freiwillig verzichtet. Außerdem gab es auch keine andere Möglichkeit.

    Am frühen Nachmittag hatte ich alles fertig gepackt und meine Taschen standen im Flur. Ich nahm mein letztes Bier aus dem Kühlschrank und stellte diesen aus, da er jetzt leer war und in der nächsten Zeit nicht gebraucht wurde. Ich streckte meine Beine lang aus und ließ mir nochmals meine gepackten Sachen durch den Kopf gehen. Es fehlte nichts und so sprang ich ganz entspannt unter die Dusche.

    Als ich im Laufe des Nachmittags bestimmt zum siebten Mal durch die Wohnung ging, um die Fenster und die bereits gezogenen Stecker zu überprüfen, war ich beruhigt - zumindest für den Moment.

    Morgen werde ich die Strecke bestimmt noch einige Male abschreiten, dachte ich und irrte dabei. Ich ging bereits eine Stunde später die Strecke ab und war am Kontrollieren.


Tanz in den Mai

  • Nun musste ich mich aber auch beeilen. In zehn Minuten schlug es siebzehn Uhr und ich war um diese Uhrzeit mit Anton am Bahnhof verabredet. Als ich auf mein Handy sah, erkannte ich, dass er mir vor einer Viertelstunde eine Nachricht mit dem Inhalt

    „Bin schon da!“ geschickt hatte.

    Als ich am Bahnhof ankam, saß Anton auf dem Geländer davor und hielt ein Bier in der Hand. Drei weitere Bierflaschen, zum Glück für mich volle, standen auf dem Boden vor ihm. Nachdem ich ihn begrüßt hatte, griff ich nach einer der Flaschen. Wir tranken die erste Flasche aus und machten uns auf den Weg zum Bahnsteig. Die Fahrt war sehr lustig, da sich auch schon andere Männer und zum Glück auch Frauen auf den Weg zum Tanz in den Mai auf die Socken gemacht hatten. Am Ende unseres Abteils saß eine Gruppe von Frauen, die heute ohne ihre Männer unterwegs waren und das gleiche Ziel wie wir verfolgten: Spaß haben, einige Drinks vernichten und nachher in der Arena im Volkspark, die leider ständig ihren Namen wechselt, beim Lotto-Konzert ordentlich abzufeiern. Unsere Biere waren schnell vernichtet, und so mussten wir uns zwangsweise bei den Getränken der Frauengruppe bedienen. Die Frauen gaben gerne und ich vermutete, dass sie nicht nur gerne ihre Getränke gaben. Anton gab mir recht, als ich ihm dies ins Ohr flüsterte. Als eine der Frauen neugierig wurde und wissen wollte, was ich eben geflüstert hatte, dachte ich, dass es dich schon mal gar nichts angeht und sagte:

    „Dass uns ein toller Abend mit einer netten Damenrunde erwarten würde.“

    „Damen? Damen sind wir ganz bestimmt nicht“, bekam ich als Antwort und wurde dabei von ihr auffordernd angegrinst. Ihr Grinsen war wirklich ein Grinsen. Auf gar keinen Fall konnte man es als Lächeln bezeichnen. Als Anton fragte, weshalb sie die ganze Zeit so blöde Grimassen zog, da er ihren Satz nicht verstanden hatte, besser gesagt, er nicht zugehört hatte, flüsterte ich erneut:

    „Ich glaube, es liegt an ihren Liebeskugeln, die sie vergessen hat rauszunehmen.“ Die Frau gegenüber von Anton hatte nun, neben den Bier- und Prosecco-Flecken auch noch Flecken von Antons Getränk auf der Hose, da Anton sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Es störte sie allerdings eher weniger und sie lachte mit, ohne zu wissen, warum sie eigentlich am Lachen war. Endlich waren wir angekommen. Nach einem kleinen Fußweg erreichten wir den Buspendelverkehr, der uns zur Halle bringen sollte. Die Frauengruppe stieg ein und zog uns hinterher. So standen wir umringt von vielen Frauen im Bus und fuhren direkt zum Halleneingang. Den ersten Konzertbesuchern wurde schon auf der Fahrt im Bus schlecht, und ich glaube, dass es weder an der Hitze noch an der Busfahrt lag. Als wir ausstiegen, wurde auch einer unserer Frauen schlecht, und sie lief zu dem kleinen Grünstreifen, um sich die letzten Getränke nochmal so richtig durch den Kopf gehen zu lassen. Ihre Freundinnen gingen zu ihr. Anton und ich nutzten die sich uns gebotene Chance, um uns in die andere Richtung abzusetzen.

    Am Bierstand kamen wir relativ schnell dran. Wir setzten uns mit unseren Bierbechern auf die Treppenstufen, die zum Eingang hinauf führten. Von hier hatten wir einen guten Überblick und konnten gut erkennen, dass viele Leute hier waren, die wir bereits von anderen Konzerten kannten.

    „Meinst du, dass die aus dem Alex auch hier ist?“

    „Antje?“

    „Wenn sie so heißt?“

    „Kann sein. Immerhin war sie ja auch im September bei Lotto.“

    „Würdest du sie gerne sehen?“

    „Was ist das denn jetzt für eine Frage?“

    „Ja oder nein?“

    „Es würde Schlimmeres geben, als sie hier zu treffen.“ Anton war an der Reihe, Getränke zu holen. Wir sahen auf die Uhr und hatten noch genügend Zeit, um ein kühles Bier vor der Halle zu trinken. Mit vier Bieren und zwei Frauen kam er zur Treppe zurück. Alle setzten sich neben mich auf die Stufen. Leider konnte ich Anton nicht heimlich fragen, wie die beiden Mädels hießen. Mir war zwar bewusst, dass ich sie schon mal gesehen hatte, wusste aber weder, wo es war, noch kannte ich ihre Namen. Da Anton während der Unterhaltung keine von beiden mit Namen ansprach, wurde mir klar, dass ich mir die Frage sowieso schenken konnte. Beide Frauen waren nicht so wirklich unser Beuteschema. Allerdings gefiel mir eine von beiden besser, was allerdings lediglich daran lag, dass diese ihren Mund nicht so häufig aufmachte wie ihre Freundin. Bei der kam tatsächlich durchgehend irgendwelche gequirlte Angeberscheiße aus der großen Öffnung von ihrem Kopf. Die Nervige war der Typ von Frau, die drei Stunden nur über sich erzählte und anschließend, wenn sie fertig damit war, sagte: „Aber nun lass uns doch mal über dich reden. Wie findest du mich eigentlich?“

    Mir ging schon dieses dämliche Gerrit-Gerede auf den Keks. Hast du Gerrit dort gesehen? Wie findest du das neue Lied von Gerrit? Und so weiter und so weiter. Anton verkniff sich ihr gegenüber zum Glück die Frage, wer dieser Gerrit eigentlich sei. Er stellte mir die Frage erst, als die beiden Mädels neue Opfer gefunden hatten.

    „Gerrit ist der eigentliche Name von Lotto“, antwortete ich.

    „Ach so.“ Das Thema war gegessen, und die Mädels waren zum Glück für den restlichen Abend verschwunden. Wir verschwanden jetzt auch, allerdings nur aus der frischen Luft und machten uns auf den Weg in die Halle hinein. In etwas weniger als einer Stunde fing das Konzert an, und bevor die Schlangen am Eingang noch länger wurden, machten wir uns lieber bereits jetzt auf den Weg. Wie sonst auch hatten wir Karten für den Innenraum gekauft und stellten uns ungefähr dorthin, wo wir immer bei den Konzerten standen. Nicht ins ganz große Gedränge und so, dass wir relativ schnell zum Bierstand oder zum Klo kamen. Auch andere hatten anscheinend ihre Stammplätze, und so kannten wir viele der Besucher, die um uns herum standen. Die Frauengang aus der Bahn ging an uns vorbei, sie erkannten uns zum Glück nicht, da sie schon ziemlich betrunken und außerdem in Begleitung von neuen Männern waren.

    „Schau mal, die haben schon andere Opfer gefunden“, sagte Anton.

    „Die armen Kerle“, war meine Antwort, während ich mich nach der Frauenwelt umsah. Das Konzert ging los, und wir waren bereit dafür, mit frischen Getränken in der Hand, drei Stunden Party pur zu erleben. Schnell kam Anton mit irgendwelchen Mädels ins Gespräch. Ich musste plötzlich an Antje denken und sah mich um. Natürlich war sie nicht zu sehen. Erstens wusste ich nicht, ob sie überhaupt hier war und zweitens war es jetzt viel zu voll und auch zu dunkel, um überhaupt jemanden zu entdecken. So ging ich einen Meter weiter nach vorne, um nachzusehen, was Anton für Frauen angequatscht hatte.

    „Ganz okay“, sagte ich zu Anton.

    „Was?“, schrie er mir ins Ohr.

    „Alles ist gut“, sagte ich und sang lieber lauthals mit, als ‚Wer wird deutscher Meister? Ha, Ha, Ha, HSV …‘ gesungen wurde. Ich konnte gar nicht so schnell trinken, wie von den Mädels das Bier gebracht wurde. Ich hatte meistens zwei, manchmal sogar drei Becher in meinen Händen. Als ich ausnahmsweise nur einen Becher in der Hand hielt, konnte ich auf die Uhr sehen und erkennen, dass bereits die erste Hälfte des Konzertes vorbei war. Mir wurde aber auch klar, wenn wir die zweite Hälfte vom Konzert weiter diese Schluckzahl durchziehen, werden wir gnadenlos abstürzen. Ich wollte Anton gerade die Info geben, dass ich mich aufs Klo verabschiede und im Restaurantbereich anschließend ein Wasser trinken werde, als mir ein neues Bier in die Hand gedrückt wurde. Nun hatte ich wieder keine Hand frei, dafür aber zwei volle Biere in den Händen. Hinter mir standen zwei Frauen, die nicht zu unserer Clique gehörten. Ich drückte einer von beiden das frische Bier in die Hand und zog meinen Plan von eben durch. Mein halbvolles Bier stellte ich vor dem Klo auf einem Bistrotisch ab und war, als ich das Klo wieder verließ, gefühlte fünf Liter leichter. Am Tresen war es voll, sehr voll sogar und ich kannte dummerweise niemanden von den Menschen, die vor mir standen. Ich wollte mich gerade an das Schlangenende begeben, als mich ein Mädel ansah und fragte:

    „Was willst du trinken? Ich bring dir was mit.“

    „Ein Wasser bitte. Ich warte da am Tisch.“

    „Okay“, bekam ich zur Antwort und kurze Zeit später kam sie tatsächlich, mit zwei Getränken, auf mich zu. Allerdings mit zwei Bieren.

    „Hier“, sagte sie und drückte mir das eine Bier in die Hand.

    „Danke. Aber hatte ich nicht Wasser gesagt?“

    „Doch hast du. Aber ich dachte, du machst einen Witz.“

    „Trotzdem danke. Was bekommst du?“

    „Nur einen Kuss“, sagte sie und hielt mir ihren Mund hin.

    Sie bekam ihren Kuss, und die ersten Schlucke aus den Bieren tranken wir gemeinsam. Ich wollte gerade fragen, ob wir nicht wieder rein in die Halle gehen wollen, als sie schneller war und meinte:

    „So, ich muss wieder rein. Mein Freund ist irgendwo in der Halle und wartet bestimmt schon auf mich. Viel Spaß noch.“

    „Den wünsche ich dir auch.“ Noch immer über die Situation von eben grinsend, stand ich wieder bei Anton und den Frauen.

    „Was grinst du so?“, wollte eines der Mädels wissen.

    „Weil ich nach dem Toilettengang so erleichtert bin.“ Jetzt drehte sie ihren Becher um. Nicht ein einziger Tropfen Bier lief heraus. Es tropfte tatsächlich nicht mal ein ganz kleiner Tropfen auf den Boden. Während sie mir sagte, dass hier verdammt trockne Luft sei, fragte ich mich, wie sie einen Bierbecher so leer trinken konnte, dass kein Tropfen mehr enthalten war. Da ich nicht auf die Lösung kam, ging ich zum Bierstand und holte eine neue Runde.

    „Merkst du den Alkohol schon? Ich überhaupt nicht.“ Verständnislos sah ich Anton an und sagte lieber nichts. Es war allerdings auch nicht möglich, geschweige denn notwendig, da er sich bereits wieder umgedreht hatte und am Tanzen war. Sein Pegel war zwar noch nicht an der Oberkante seiner Unterlippe angekommen, allerdings fehlte nicht mehr viel. Es mussten schon einige Liter Bier gewesen sein, die wir vernichtet hatten. Daran lag es auch, dass die Frauen um uns herum immer schöner und attraktiver wurden. Meistens hatte jeder von uns zeitgleich zwei Frauen im Arm. Während sich die verschiedenen Frauen der Clique in der ersten Hälfte vom Konzert noch abwechselnd in unseren Armen befanden, waren es jetzt nur noch die Gleichen. Die anderen hatten sich zwischenzeitlich nach anderen Männern umgesehen und waren sehr schnell fündig geworden.

    Irgendwann wurde auch mit dem Knutschen begonnen. Als zum Ende des Konzertes von 13.000 Menschen gemeinsam ‚Hamburg meine Perle‘ gesungen wurde, waren wir nur noch zu viert. Nicht nur wir hatten die Lampen an, sondern auch die Hallenbeleuchtung wurde nun eingeschaltet. Ich holte noch schnell vier Bier und nach kurzer Zeit war wieder die gesamte Mädelsgang um uns herum. Allerdings hatte jede der Frauen einen Mann im Arm oder zumindest an der Hand.

    „Ab auf den Kiez!“, rief eine der Frauen, und jede der anderen Mädels sah dabei den neben ihr stehenden Mann an. Auch Anton und ich wurden mit diesem berühmten Dackelblick angesehen, doch wir verabschiedeten uns, da wir lieber ins Bett wollten. Immerhin ging morgen unsere Tour los. Der Abschied von uns fiel unseren beiden Frauen nicht sonderlich schwer - zumindest nicht mehr, nachdem ich gesagt hatte, dass sie auf dem Kiez ja bestimmt nicht lange alleine blieben, da es dort ja reichlich Opfer für sie geben würde. Beide waren nach meinem Satz ziemlich eingeschnappt und auf die Frage, was wir über sie denken würden, bekamen sie auch vorsichtshalber keine Antwort von uns. Wir wollten keinen Bierbecher an den Kopf bekommen und hielten vorsichtshalber den Mund, was bei uns allerdings eher selten vorkam. Als wir die Halle verließen, meinte Anton noch, dass ich vielleicht nicht unbedingt hätte Opfer sagen müssen, aber es war mir rausgerutscht, da es mit meiner Drehzahl relativ schwierig war, etwas anderes zu sagen, als ich gerade dachte. Außerdem gibt es doch kaum etwas Schöneres, als den Frauen beim Sammeln von Erfahrungen behilflich zu sein.

    „Ein weiser Entschluss“, hörte ich eine Stimme sagen, als ich mit Anton noch ein letztes Bier am Stand vor der Halle trank. Ich sah Antje, sie lächelte mich an und lief los, da sie mit ihren Freundinnen den fast abfahrenden Bus noch erreichen wollte. Der Fahrer machte die Tür nochmals auf, und ich konnte Antje nur noch im Bus verschwinden sehen.

    „Meinte sie das Bier oder, dass wir nicht mit den anderen Frauen mitgegangen sind?“, wollte Anton wissen.

    „Ich weiß nicht. Auf jeden Fall ist sie wirklich sehr schön.“

    Um 23:45 Uhr lag ich im Bett, als ich eine Nachricht von Bibi bekam.

    „Hi Nick, du bist bestimmt auch mit Anton bei Lotto gewesen. Wir fahren jetzt auf den Kiez. Kommt ihr auch? Würde mich freuen.“

    Ich schrieb zurück, dass ich bereits im Bett lag und dieses auch nicht mehr verlassen werde. Noch vor gar nicht langer Zeit hätte ich mich wieder angezogen und wäre zu ihr gefahren. Ich war stolz auf mich, dass ich es heute nicht tat und überlegte, woran es wohl lag. Ich schob es auf die Weisheit des Alters und nahm mir vor, es auch zukünftig genauso zu machen. Es wurde Zeit, diesen Weg zu gehen. Dann blickte ich auf die Uhr. Es fehlte nur noch eine Minute bis Mitternacht und ich musste grinsen, als ich dachte:

    „Es war ein schöner Abend, auch wenn er am eigentlichen Sinn vom Tanz in den Mai vorbeiging.“


Abfahrt

  • „Bist du schon wach?“, stand in der WhatsApp von Anton.

    Leider schaute ich erst auf die Uhr, nachdem ich mit einem „Jetzt ja“ geantwortet hatte. Ansonsten hätten garantiert noch andere Worte in meiner Nachricht gestanden. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und Carlos wollte mich erst in vier Stunden abholen, damit wir anschließend gemeinsam weiter zu Anton fahren konnten. Mein Telefon klingelte, und auf dem Display konnte ich den Namen Anton Notna erkennen. Allerdings hätte ich auch, ohne auf das Display zu schauen, den Anrufer mit einem vorwurfsvollen „Anton, was willst du?“ begrüßen können. Wer sonst hätte zu dieser Uhrzeit und nach der WhatsApp von vor fünf Minuten wohl anrufen sollen?

    „Nick, ich kann nicht mehr schlafen. Ich bin total aufgeregt und habe auch ein wenig Angst vor dem, was kommt“, sagte Anton und ich konnte ihn ja sogar verstehen. Mir erging es ähnlich, außer, dass ich ohne seine Nachricht jetzt noch schlafen würde.

    „Hey Toni, alles wird gut. Wir machen das Richtige. Du wirst es sehen.“ Anton meckerte nicht einmal darüber, dass ich ihn eben Toni genannt hatte und das, obwohl er es sonst hasste.

    „Sag mal Nick, willst du nicht schon jetzt zu mir kommen? Wir könnten dann gemeinsam frühstücken gehen und zusammen darauf warten, dass Carlos uns abholt.“

    „Zu dir kommen ist schlecht, weil meine Eltern erst gegen neun Uhr den Briefkastenschlüssel abholen, und außerdem würde mein Wagen dann die ganze Zeit bei dir stehen und nicht in der Garage. Aber pass auf, ich mache mich schnell fertig und dann hole ich dich ab. Auf dem Rückweg halten wir im Schweinske und dann warten wir zusammen bei mir auf unseren Routenplaner.“

    „Super, bis gleich.“ Die Erleichterung war in seiner Stimme zu hören. Allerdings war ich auch froh darüber, die nächsten Stunden nicht alleine verbringen zu müssen.

    Wir bestellten unser Frühstück und Anton fragte, ob ich auch meine Joggingsachen eingepackt hätte. Klar hatte ich, allerdings hatte ich vergessen, meine Badeshorts und Sonnenbrille rauszulegen. Ich schnappte mir einen Bierdeckel und notierte beides darauf, bevor ich ihn in meiner Hosentasche verstaute. Anton erzählte mir, dass er gestern noch wegen seiner Knieschmerzen beim Arzt war und jetzt wusste, dass die Schmerzen bei längerer Belastung deshalb da sind, da er eine leichte Arthrose im Knie hatte. Aber der Arzt meinte auch, dass es noch nicht ganz so schlimm sei und er ruhig weiter Sport machen könnte. Er sollte dabei nur nicht übertreiben. Dann grinste er und fing an, von der tollen Arzthelferin zu schwärmen.

    „Nick, du glaubst nicht, wie hübsch die war. Ein solches Lächeln hast du noch nicht gesehen. Die Augen von ihr haben mit gelächelt und ihre Ausstrahlung war einfach genial.“

    „Wie heißt sie?“, wollte ich wissen.

    „Frau Plate.“

    „Wie witzig! Meinst du nicht, dass mich ihr Vorname mehr interessiert?“

    „Den weiß ich nicht.“

    „Warum kennst du ihren Nachnamen, aber den Vornamen nicht? Habt ihr euch gesiezt?“

    „Nein, natürlich geduzt.“

    „Und den Vornamen deiner Traumfrau hast du von gestern auf heute vergessen?“

    „Ich habe den Vornamen nicht vergessen, da ich diesen nicht gekannt habe.“

    „Verstehe ich nicht.“

    „Den Nachnamen kenne ich von ihrem Namensschild.“

    „Hast du nicht nach dem Vornamen gefragt?“

    „Nee, mir fiel nichts ein, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen.“

    „Dir fiel nichts ein? Du bist doch der, der jede Frau vollquatscht.“

    „Aber nicht, wenn es eine solch tolle Frau ist.“

    „Die Handynummer hast du aber. Oder?“

    „Nein.“

    „Du Amateur! Na ja, du wirst ja die Nummer der Praxis haben.“

    „Ja, die habe ich.“

    „Na dann rufe sie doch einfach dort an, du kennst ja ihren Nachnamen.“

    „Geht nicht. Die Nummer habe ich auf einem Zettel notiert und der hängt an meiner Pinnwand.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass er mir gestern gar nichts von seiner Arzthelferin erzählt hatte und auf meine Frage, warum nicht, erzählte er:

    „Ich wollte nichts von ihr erzählen, da ich sie vergessen wollte, weil wir doch heute auf Männertour fahren. Hat aber nicht funktioniert.“

    Nach dem Frühstück fuhren wir zu mir und mussten nur noch eine halbe Stunde auf Carlos warten. Meine Eltern kamen, holten den Briefkastenschlüssel ab und verschwanden relativ schnell wieder. Sie konnten noch immer nicht verstehen, dass ich für vier Monate durch die Weltgeschichte düsen wollte. Ich glaube, sie waren zu konservativ dafür. Früher gab es so etwas halt nicht. Erst vier Wochen Urlaub machen und anschließend drei Monate unbezahlt frei zu nehmen, war für sie eine fremde Welt. Aber da mussten sie jetzt durch. Genau wie ich da durch musste. Immerhin waren es meine Eltern. Ich wurde von ihnen erzogen und hatte natürlich eine Menge von ihnen mitbekommen. Mir war auch etwas unwohl dabei. Vor allem, je dichter die Abfahrt kam. Aber es musste einfach sein …

    Einfach verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen, war das Motto, das nun für uns gelten sollte.

    Endlich war Carlos da und wir begannen damit, unser Gepäck im Wohnmobil zu verstauen. Carlos meinte irgendwann, ob wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank hätten. Ich verstand ihn, denn irgendwie hatten wir schon ziemlich viel Gepäck im Flur stehen, welches im Wohnmobil untergebracht werden musste. Anton verstand ihn nicht ganz, da er gerade mit zwei Taschen beladen im Treppenhaus stand. Er stellte die Taschen ab und kam zurück.

    „Klar haben wir. Warte kurz.“ Anton ging in meine Küche und stand einige Sekunden später mit drei Bechern in der Hand vor Carlos. Mit einem

    „Hier Bitte. Nimmst du die Becher, oder soll ich sie ins Wohnmobil bringen?“ streckte er Carlos die Becher entgegen.

    „Was soll ich damit?“, wollte Carlos wissen, während ich lachend in der Küchentür stand.

    „Du wolltest doch Becher haben“, entgegnete Anton. Carlos nahm die Becher und trug sie kommentarlos zurück in die Küche. Da sich meine beiden besten Freunde bestens bei mir auskannten, stellte er die Becher auf ihren Platz zurück, griff sich eine der Taschen, die im Flur standen, und trug dies kopfschüttelnd zum Wohnmobil.

    „Was hat er? Eben wollte er noch welche haben.“ Anton sah mich verständnislos an.

    „Mach dir keinen Kopf. Alles ist gut.“

    Endlich war alles verstaut, zumindest fast alles, da ich den beiden noch nichts von unserer weiblichen Begleitung gebeichtet hatte.

    „Äh, Jungs. Wartet mal kurz, ich muss euch noch etwas sagen.“

    „Was gibt's? Willst du auch noch drei Becher mitnehmen?“, fragte Carlos und setzte ein ironisches Lächeln auf.

    „Nein, will ich nicht.“ Wir beide lachten und Anton stand mit einem Fragezeichen über seinem Kopf neben uns und fragte:

    „Also doch Becher? Warum hast du sie eben wieder weggestellt?“

    „Willst du mich verarschen?“ Carlos war etwas genervt.

    „Nein. Wie kommst du darauf?“

    „Anton, wir brauchen keine Becher. Bitte lass sie im Schrank!“ Anschließend sah Carlos zu mir und meinte:

    „So Nick, jetzt du. Was willst du noch beichten? Ich warne dich, fang bloß nicht wieder von der Wii oder dem anderen Mist an.“

    „Bobby muss mit.“

    „Klar, mit Terrarium.“ Carlos lachte.

    „Nein, ohne.“

    „Ach, wir lassen sie einfach im Wohnmobil laufen.“ Carlos lachte weiter.

    „Nein, ich habe gestern ein neues Gehege für Bobby gebaut.“ Nun lachte Carlos nicht mehr, sondern ging in mein Wohnzimmer. Anton folgte ihm, während ich lieber im Flur stehen blieb. Meiner Meinung nach war es besser, in diesem Augenblick etwas Abstand von Carlos zu halten. Jetzt war es Anton, der lachte. Carlos zeigte mir lediglich einen Vogel.

    Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt und damit gerechnet, eine ganze Menge Überzeugungskraft und vielleicht sogar Erpressungsversuche aufbringen zu müssen. Aber der Drops war schneller gelutscht als gedacht. Anton schnappte sich Bobbys neues Gehege und trug es zum Wohnmobil. Carlos konnte es sich nicht verkneifen zu fragen, ob ihn noch weitere Überraschungen erwarten würden. Ich begann von der Wii zu sprechen, doch noch bevor ich meinen Satz beendet hatte, flog mir ein Sofakissen mitten ins Gesicht. Als ich mit meiner erneuten Steckdosenrunde fertig war und die Haustür abgeschlossen hatte, drehte ich mich kurz zur Wohnungstür um. Ich zog nochmals am Griff, ob die Tür auch richtig verschlossen war und blickte dabei auf mein Namensschild. Eine Träne kullerte, als ich las: Hier wohnen Bibi, Nick und Bobby.

    Anton hatte mir schon diverse Male gesagt, dass ich das Türschild endlich durch ein anderes ersetzten sollte. Aber ich brachte es einfach nicht über mein Herz. Ich hatte in der Wohnung alles verändert, aber ein Zeichen unserer Liebe musste bleiben. Schließlich war Bibi über viele Jahre meine große Liebe gewesen und ich war mich sicher, niemals wieder so lieben zu können.

    „Freudentränen oder Abschiedstränen?“, fragte mich Carlos. Anton war still, er wusste, welche Bedeutung meine Tränen hatten.

    „Ich hab nur was im Auge. Los Alter, gib Gas.“

    Mit einem „Ab in die Freiheit“ drückte Carlos auf das Gaspedal und unsere Tour begann.


Drei Wessis im Osten

  • „Nach Rügen?“

    „Klar!“, Carlos tat so, als ob es das Normalste der Welt sei, eine Männertour mit der Insel Rügen zu beginnen.

    „Wie bist du ausgerechnet auf Rügen gekommen?“, wollte ich wissen, doch Anton war schneller und hatte die Frage bereits gestellt.

    „Es ist eine Insel und ihr wolltet auf Inseln. Es ist schön und ihr wolltet schöne Flecken sehen. Ihr wolltet Strand und Meer. Beides gibt es dort reichlich. Auf Mega-Touren nach Spanien und Frankreich hattet ihr keine Lust und Rügen ist als erster Anlaufpunkt nicht so weit entfernt. Außerdem haben die Eltern von einem Kumpel von mir dort einen Campingplatz - direkt am Meer. Dort können wir umsonst mit dem Wohnmobil stehen. Gibt's noch weitere Fragen?“

    „Aber Rügen ist im Osten. Dort wimmelt es von Ossis!“, dachte Anton, doch diesmal war ich schneller und hatte es bereits herausposaunt.

    „Ja und? Dafür sind Wasser und die Brandung dort wie gemacht, um surfen zu lernen.“

    „Wer sagt, dass ich surfen lernen will?“

    „Pass mal auf Nick und du kannst auch gleich zuhören, Anton. Ich bringe euch das Surfen bei. Ob ihr wollt oder nicht. Wenn es einem von euch nicht gefällt, kann er aufgeben. Aber frühestens nach zwei Wochen.“ Das war ziemlich energisch. Aber so energisch, wie es war, genauso hatte Carlos ja auch recht. Eine solche Tour zu machen, ohne es auszuprobieren, wäre schon ziemlich beknackt von Anton und mir.

    „Aber …!“

    „Was gibt es noch für ein aber? War ich nicht deutlich genug?“ Carlos fuhr Anton über den Mund.

    „Aber dort wird es nur Frauen geben, die blonde Haare mit schwarzer Färbung oder schwarze Haare mit roter Färbung haben.“

    „Ja und? Sind wir wegen des Surfens, dem Meer und den Stränden unterwegs? Oder wegen der Frauen?“

    „Wegen beidem“, sagte Anton und ich mischte mich ein.

    „Wir werden bestimmt viele Pams, Janas, Kathleens und Frankas kennenlernen. Alle werden das Gesicht voller Metall haben. Sollte sich mit den Frauen dann noch mehr ergeben, werden wir auch erfahren, dass die Mädels noch mehr Metall an noch mehr Körperstellen versteckt haben.“

    „Und was wäre schlimm daran?“

    „Nichts“, riefen Anton und ich zeitgleich und lachten.

    „Auf nach Rügen“, rief Anton und drehte die Musik lauter. Der NDR spielte gerade das Lied ‚Im Wagen vor mir‘. Während Anton den Part der Männerstimme sang, übernahm ich die Strophen der Frau. Carlos schüttelte, während er fuhr, nur den Kopf. „Dies wird er auf unserer Tour noch häufiger machen“, dachte ich und verpasste fast meinen Einsatz. Aber gerade noch rechtzeitig konnte ich laut und fernab jeglicher Gesangskunst mit „Was will der blöde Kerl da hinter mir nur …?“ einsetzen.

    Carlos hielt sich demonstrativ die Ohren zu, musste aber doch lachen. Als das Lied endlich vorbei war, ging es den Ohren von Carlos wieder besser. Anton bat mich, ihm etwas zu versprechen.

    „Du Nick, wenn ich irgendwann mal auf einer Bühne stehe, dann hole ich dich rauf und wir singen das Lied zusammen.“

    „Warum solltest du auf einer Bühne stehen?“

    „Ich weiß nicht. Aber wenn es so sein sollte, dann machen wir es. Versprochen?“

    „Klar Anton. Ich verspreche es dir.“ Ich brauchte mir keinen Kopf über das Versprechen machen, welches ich eben gegeben hatte. Wann und wo sollte Anton schon auf einer Bühne stehen? Aber wie hieß doch unser Motto? Träume sind erlaubt!

    Ruckzuck waren wir da, und während wir die Brücke, die uns auf die Insel brachte, überquerten, fragte Carlos:

    „Wild oder auf einem Platz?“

    „Wild auf einem Platz“, rief Anton und ich ergänzte:

    „Aber der Platz darf nicht einzusehen sein. Hast du schon was für uns organisiert?“

    „Ihr seid echt blöd!“

    „Dann stell vernünftige Fragen.“

    „Ich will von den Herren wissen, ob wir auf dem Campingplatz oder einfach so in der wilden Natur übernachten wollen. Habt ihr es jetzt verstanden?“ Wir nickten.

    „Und? Bekomme ich auch eine Antwort?“

    „Entscheide du“, sagte Anton, während ich ein

    „Mir egal“ in die Runde warf.

    „Okay. Dann geht's auf den Campingplatz meiner Bekannten.“

    Wir hielten in Binz und fanden einen Parkplatz in der Nähe vom Meer. Es war früher Nachmittag, die Sonne schien, und da wir Wochenende hatten, war am Strand und auf der Promenade ordentlich was los. Jeder von uns war mit einem Becher Kaffee und einem Stück trockenen, leider sehr trockenen Kuchen bewaffnet, als wir es uns in einem freien Strandkorb gemütlich machten. Nach kurzer Zeit wurde es uns zu dritt im Strandkorb allerdings zu eng, und auf dem Fußteil war es Anton zu ungemütlich. Er stand auf und bezog einen freien Strandkorb direkt hinter uns. Carlos und ich machten es uns gemütlich. Wir streckten die Beine aus und hielten die Nasen in die Sonne. Die Sonnenbrillen lagen leider im Wagen. Wir mussten zum Schutz vor der blendenden Sonne unsere Augen schließen und schliefen relativ schnell und zeitgleich ein. Nase an Nase wachten wir auf und konnten uns direkt in die Augen sehen.

    „Na Süßer.“

    „Ich träume schon von dem durchgehenden Rededrang von Anton.“ Während Carlos dies sagte, hörten wir noch immer Antons Stimme.

    „Kein Traum.“ Ich lehnte mich vor und schaute um die Ecke, um zu versuchen herauszubekommen, mit wem Anton so lange telefonierte.

    „Kein Telefonat.“

    „Was dann?“

    „Sieh selbst!“ Ich deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten. Nachdem Carlos ebenfalls um die Ecke sah, waren wir auf dem gleichen Wissensstand. Anton saß in seinem Strandkorb und neben ihm lag eine Frau mit wasserstoffblonden, kurzen Haaren, die ihm ihren Bauch sowie ihr Tattoo darauf präsentierte. Er redete wie ein Wasserfall und sie schien es nicht zu stören. Sie genoss es allem Anschein nach sogar. Beide hielten einen Caipi in der Hand. Direkt neben dem Strandkorb stand eine große Kühltasche.

    „Wollen wir wetten, dass sie Pam, Kathleen, Jana oder Franka heißt?“

    „Können wir machen Nick. Um was?“

    „Egal.“

    „Die Wette gilt. Wir wetten darum, wer nachher den Wagen zum Campingplatz fahren muss. Der Gewinner darf ab jetzt zusammen mit Anton an die Drinks.“ Carlos war sich sehr sicher, dass die blonde Frau keinen meiner genannten Ossinamen hatte.

    „Aber bevor ich gleich trinken darf, hätte ich gerne noch einen Kaffee. Wie sieht es bei dir aus?“

    „Ob du gleich trinken darfst, ist ja noch gar nicht geklärt. Warte, ich hole uns einen Kaffee.“ Ich war noch keine fünf Meter vom Strandkorb entfernt, als Carlos mir nachrief, dass ein Stück Kuchen auch klasse wäre.

    Ich hielt für Carlos und mich den Kaffee und zwei Stück Kuchen in den Händen. Langsam wurde es sehr heiß in meinen Handflächen, und ich ärgerte mich, dass ich nicht eine dieser Papp-Transport-Behälter genommen hatte. Während ich auf dem Rückweg war und den Kaffee schnell abgeben wollte, sah ich, wie Carlos mit einem Mann diskutierte und dabei neben dem Strandkorb stand. Als ich wieder da war, drückte ich Carlos schnell seinen Becher in die Hand und stellte meinen in den Sand. Jetzt wollte ich natürlich wissen, was eben los war und Carlos erklärte mir, dass der Typ von eben hier Strandkorbwärter sei und wir noch Geld für den Strandkorb bezahlen sollten. Natürlich zahlten wir um diese Uhrzeit kein Geld mehr und gingen stattdessen zu Anton und Blondie hinüber. Tatsächlich bemerkten uns die beiden, und Anton unterbrach sogar kurz seinen Redefluss - allerdings nur, um einen neuen zu beginnen. Er wollte Carlos und mich kurz vorstellen, drehte dabei allerdings einen Bogen nach dem anderen und kam nach drei Minuten, die einem vorkamen wie eine halbe Stunde, bei unserer Abfahrt heute Morgen an. Leider hatte er dabei völlig vergessen, auch nur ansatzweise unsere Namen zu nennen. Carlos und ich kannten es schon und wollten nicht noch länger mit unseren Kaffeebechern in der Hand wie Deppen vor den beiden stehen. Also haute ich einfach dazwischen und sagte:

    „Also, bevor du jetzt meinen ganzen Lebenslauf erfährst und eher die Namen meiner Großeltern kennst als meinen, ich bin Nick.“ Während Anton überlegte, wie meine Großeltern überhaupt hießen, streckte ich Blondie meine Hand entgegen und sah dabei in ihre strahlenden, blauen Augen. Allerdings bemerkte ich, wie mein Blick direkt weiter nach unten auf ihren freiliegenden Bauch und das Tattoo abglitt.

    „Bevor Anton wieder ohne Punkt und Komma seine Erzählungen fortsetzt, mein Name ist Carlos.“ Auch Carlos nutzte den Augenblick der Stille.

    „Hi, ich bin Vicky“, sagte Blondie und sah nacheinander Carlos und mich an.

    „Gib mir den Schlüssel.“

    „Sehr gerne.“

    „Und ich war mir so sicher.“

    „Tja, Pech gehabt.“

    „Aber ein wenig Recht hatte ich schon.“

    „Stimmt, der Name passt in den Osten. Allerdings hilft dir das jetzt aber leider auch nicht“ Blondie sah Anton fragend an. Allerdings hatte er auch keine Ahnung, worum unser Gespräch ging - wie auch, er war ja nicht dabei, sondern bereits in Sachen Aufriss unterwegs. Blondies Blick ging relativ schnell wieder auf Carlos über. Genauer gesagt auf die Arme, da er bei diesem schönen Wetter nur ein kurzes T-Shirt trug und so seine komplett tätowierten Arme sowie die ausgeprägte Muskulatur, gut zu sehen waren. Anscheinend schienen diese Arme unsere Ossibraut zu faszinieren. Ich steckte, während Blondie noch immer mit ihren Augen an Carlos hing, den Autoschlüssel ein und fragte Carlos, was er trinken möchte, um für ihn einen leckeren Drink und dank meiner verlorenen Wette für mich noch einen Kaffee zu besorgen.

    „Hier, ihr könnt euch bedienen!“ Blondie deutete auf ihre Kühltasche.

    „Was hast du Schönes dabei?“, wollte Carlos wissen und griff, während er die Frage stellte, zur Tasche, um nachzusehen. Blondie hatte vorbereiteten Caipi und sogar eine Tüte mit kleingeschlagenen Eiswürfeln dabei.

    „Warte, ich mach es euch“, sagte Blondie und griff nach der Tasche.

    „Gerne“, antwortete Carlos und war froh, dass Blondie seine zweideutigen Gedanken nicht lesen konnte. Als sie zwei Caipis fertig hatte und Carlos und mir diese in die Hand drücken wollte, griff Carlos dankend zu, während ich mit den Worten, dass ich keinen Alkohol trinken würde, ablehnte. Ich konnte ihr ja nicht den wahren Grund nennen, da ich fand, dass eine Info über unsere verlorene Wette, kein guter Einstand gewesen wäre. So saßen meine beiden Freunde bei leckeren Drinks, mit unserer ersten Tour-Eroberung in der Sonne, während ich die Sonne abwechselnd bei Kaffee und Apfelschorle genoss. Einige Stunden später, die Caipi Tasche war im Übrigen vollständig geleert, musste Blondie los. Bevor sie ging, lud sie uns noch zur ersten Strandparty in diesem Jahr ein. Wir sollten in zwei Stunden wieder hier sein und gute Laune sowie Getränke mitbringen. Mit einem ganz lieben Blick verabschiedete sich Blondie kurze Zeit später dann endgültig bei uns. Ich war mir allerdings nicht ganz sicher, ob dieser Blick uns Dreien oder ausschließlich Carlos galt.

    Mich interessierte zunächst aber auch viel mehr, wo sich der Campingplatz befand, damit ich das Wohnmobil dorthin bringen konnte.

    „Höchstens drei Minuten musst du von hier fahren. Du brauchst nur das Navi anzustellen, die Adresse ist gespeichert“, gab mir Carlos mit auf den Weg. Nachdem sich meine Freunde noch etwas zum Überziehen aus dem Wohnmobil geholt hatten, blieben sie am Strand. Ich fuhr los und hoffte, dass der Rückweg nicht so lange dauern würde. Immerhin hatte ich auch langsam Appetit auf meinen ersten Drink. Die beiden wollten noch Getränke besorgen und mit dem Vorglühen weitermachen. Wobei der Status Vorglühen aus meiner Sicht bereits überschritten war. Da ich jedoch im Gegensatz zu den beiden nüchtern war, hatten wir zu diesem Zeitpunkt völlig andere Ansichtsweisen zu diesem Thema.

    Das Wohnmobil stand geparkt auf dem Campingplatz, und es war ein wirklich schöner Platz, den wir bekommen hatten. Nachdem ich umgezogen war, wollte ich mich auf den Rückweg machen, um zu meinen Freunden und der Strandparty zu gelangen. Für den Weg griff ich mir ein Bier und stellte es genauso schnell wieder weg, wie ich es mir genommen hatte. Das Bier war eklig warm, und ich entschied mich lieber für eine Dose Bacardi-Cola, die Anton, im Gegensatz zum Bier, in den Kühlschrank gestellt hatte. Um wenigstens vier Bier im Kühlschrank unterbringen zu können, nahm ich einige Dosen Bacardi-Cola raus und machte den Kühlschrank zu, um ihn gleich wieder zu öffnen. Mir fiel ein, dass Bobby noch Salat und Gurke brauchte. Als ich Bobby das Futter gebracht hatte, sah sie mich mit ihrem verträumten Schildkrötenaugen an. Ich hatte das Gefühl, als würde sie mich mit dem Blick auffordern, sie aus ihrem Stall zu nehmen.

    „Okay Bobby, den ganzen Tag hier im Wohnmobil im Stall zu sitzen, war vielleicht nicht wirklich lustig.“ Ich sprach zu ihr und nahm sie heraus, um sie draußen auf die Wiese zu setzen. Nach circa zwanzig Minuten hatte ich meine Dose geleert und ging zum Kühlschrank, um mir eine neue zu holen. Als ich mit der Dose wieder bei Bobby angekommen war und mich auf den abgesägten Baumstumpf setzte, musste ich grinsen. Ich dachte daran, dass ich früher zum Kühlschrank immer Eisschrank gesagt hatte und meine Ex, deren Namen ich eigentlich vergessen wollte, es aber nicht schaffte, es mir abzugewöhnen.

    „Hey Bibi, falls du auch gerade zu unserem Stern schaust, hör mal zu. Ich habe es gemacht. Ich bin mit Anton und Carlos auf großer Fahrt. Bobby ist auch dabei. Da hast du wohl nicht mit gerechnet.“ Ich sprach zu unserem Stern. Dies war über viele Jahre unsere Art zu kommunizieren, wenn wir an unterschiedlichen Orten waren. Wir fühlten uns auf diese Weise näher beisammen. Auch nach unserer Trennung hielt ich an unserem Ritual fest und hoffte, dass Bibi es genauso machen würde.

    „So Bobby, mein Bacardi ist schon wieder leer, und außerdem wartet eine Strandparty auf mich.“

    Ich brachte Bobby in das Wohnmobil und machte mich endlich auf den Weg. In der Hand hielt ich eine weitere Dose, da ich nicht als einziger nüchtern sein wollte. Allerdings merkte ich die Wirkung vom Alkohol bereits jetzt, da ich heute total vergessen hatte, etwas Vernünftiges zu essen. Eigentlich wollten wir heute am Wohnmobil den Grill anwerfen, aber der Grill hatte gegen die Strandparty nicht die geringste Chance. Außerdem konnten wir auch morgen grillen. Eine Strandparty gab es morgen allerdings nicht.


Unsere erste Strandparty

  • In dem Moment, als ich dachte, mich verlaufen zu haben, hörte ich Musik. Ich bog einen Waldweg nach links ab und ging anschließend nach rechts, um in die Richtung der Küste und somit zum Strand zu gelangen. Unten konnte ich trotz Dunkelheit den schmalen Strand und das Meer erkennen. Leider brachte es mir nichts, da von der Steilküste kein Weg hinunter führte. So ging ich noch ein weiteres Stück oben an der Steilküste entlang. Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter, und ich konnte schon die ersten Stimmen erahnen. Allerdings half mir dies wenig bis gar nichts, da ich mich noch immer oben befand und die Party unten stattfand. Ich versuchte, die Steilküste hinunter zu gehen, gab jedoch auf, da die Steilküste, wie ihr Name schon sagte, wirklich sehr steil war. Zumindest bei Dunkelheit und mit einigen Umdrehungen im Kopf war dieser Abhang ein nicht zu überwindendes Hindernis für mich. Ich blieb stehen, sah die noch verbleibenden drei bis vier Meter hinunter und beschloss, mich wieder nach oben zu orientieren. Ganz sicher war dies die richtige Entscheidung, da es unter mir nicht nur immer steiler, sondern auch gerölliger wurde. Doch auch nach oben waren es ebenfalls bestimmt zwei Meter. Einige Male ging mein Blick abwechselnd nach oben und unten, während ich überlegte, welche Route wohl tatsächlich die bessere, vielleicht sogar die sicherere für mich sein würde. Als mir plötzlich meine halbvolle Dose aus der Hand glitt, griff ich nach ihr, da man während des Umgangs mit Alkohol leider manchmal die falschen Prioritäten setzte.

    Genau in diesem Moment hatten sich meine Überlegungen mit einem Schlage erübrigt. Bruchteile von Sekunden später, die sich für mich wie Minuten anfühlten, kam ich dort an, wo ich eigentlich auch hinwollte, leider auf eine andere Art und Weise als geplant. Ich lag am Strand und war mir nicht sicher, ob ich einfach loslachen konnte oder sich unsere Tour für mich bereits am ersten Tag erledigt hatte, da ich mir gerade sämtliche Knochen gebrochen hatte. Als ich mich hinsetzte und nach oben sah, um mir die Strecke anzusehen, die ich soeben im Sturzflug hinunter gepurzelt war, hatte ich keine Schmerzen. Komischerweise hielt ich noch immer die Getränkedose in der Hand, und was noch viel merkwürdiger war, es war sogar noch etwas von meinem Getränk in der Dose. Nachdem ich den letzten Schluck Bacardi-Cola getrunken hatte, stand ich auf und war froh, dass ich anscheinend Glück gehabt hatte und mir keine größeren Verletzungen zugezogen hatte. Es waren immerhin einige Meter, die ich auf dem schnellen Weg genommen hatte. Diese alte Weisheit, dass Kinder und Besoffene sich beim Stürzen nichts tun, schien auch bei mir gegriffen zu haben. Nachdem ich mir den Staub und Sand von den Klamotten geklopft hatte, setzte ich meinen Weg fort. Nach ungefähr einhundert Metern erblickte ich einen Weg, der oben von der Steilküste hinunter zum Strand führte. Den Weg kann ja jeder nehmen, dachte ich und grinste dabei.

    Weitere hundert Meter später hatte ich mein Ziel erreicht und war angenehm überrascht. Ich hatte mit einigen zusammengeschobenen Strandkörben und einem großen, tragbaren CD-Player gerechnet. Allerdings waren tatsächlich zwei Getränkestände, eine Musikanlage inklusive DJ und Liegestühle aufgebaut. Es war richtig was los und Anton war in seinem Element. Er war der Hahn im Korb und lag mit einem Caipi in der Hand in einem der Liegestühle. Umringt wurde er von einigen hübschen Frauen, die er alle in den letzten Stunden kennengelernt haben musste. Als ich vorhin den Strand verließ, war von keiner dieser Frauen etwas zu sehen. Da gab es nur Blondie und die war merkwürdiger Weise nicht in seiner Nähe. Da Anton mich nicht wahrgenommen hatte, machte ich mich auf die Suche nach Carlos und wurde schnell fündig. Er stand mit dem Rücken an einen Strandkorb gelehnt und unterhielt sich mit Blondie. Hiermit hatte sich auch meine Frage von eben geklärt, und bei meinen Beobachtungen von heute Nachmittag, dass Blondie fasziniert von Carlos und seinen Armen war, hatte ich mich nicht getäuscht. Carlos hielt, während er sich wild gestikulierend mit Blondie unterhielt, eine Flasche Bier in der Hand. Den Gesten nach musste er vom Surfen erzählen, da das Surfen seine große Leidenschaft war und er vor seinem fiesen Surfunfall jede freie Minute auf dem Wasser verbracht hatte. Vor einigen Jahren war er sogar offizielle Wettkämpfe mitgefahren und erreichte bei den Deutschen Meisterschaften auf Sylt einmal den fünften und einmal den dritten Platz. Als er nach diesem tollen dritten Platz tatsächlich einige Sponsoren gefunden hatte und sich vornahm, sich zwei Jahre nur mit Surfen zu beschäftigen und seinen Traum zu leben, hatte er seinen dämlichen Unfall. Er musste einige Jahre das Surfen komplett aufgeben. Sein großer Traum, einmal bei der internationalen Worldcup Tour zu starten, erfüllte sich nicht. Aber immerhin konnte er, wenn auch nicht mehr so intensiv wie früher, wieder mit seinem Brett auf das Wasser. Er selbst nannte es immer Rentnersurfen, aber er konnte so wenigstens noch immer seiner Leidenschaft nachkommen - wenn auch nur als Hobby.

    „Hallo Carlos.“

    „Hi Nick. Fang!“ Carlos warf mir ein Bier zu und deutete zu den Liegestühlen.

    „Anton ist bei den Liegen.“

    „Hab ich gesehen.“

    „Alles klar bei dir? Du siehst so blass aus.“

    „Alles gut, liegt wohl am Alkohol.“ Jetzt von meiner Abkürzung auf dem Weg hierher zu erzählen, war aus meiner Sicht der falsche Zeitpunkt. Das Bier war kalt, lecker und lief sehr schnell meine Kehle hinunter.

    „Soll ich uns noch ein Bier holen?“ Ich blickte Carlos an, während er seine Flasche ansetzte und leerte.

    „Warte, in der Tasche hinter dem Strandkorb sind noch welche.“

    „Aber hier gibt's doch einen Bierstand?“

    „Stimmt, aber Blondie und ihre Freundinnen meinten, wir sollten unsere Getränke selber mitnehmen, da es günstiger sei und es sowieso alle machen.“ Ich ging hinter den Strandkorb und kam mit zwei Flaschen zurück.

    „Prost.“ Die Flaschen klirrten, und ich verabschiedete mich, um eine freie Liege zur meinen zu machen. Ich blickte aufs Meer und war in meinen Gedanken versunken, als ich plötzlich und nur ganz kurz etwas Kaltes im Nacken spürte. Kurz danach bekam ich eine Flasche Bier vor die Nase gehalten. Ich dachte, Carlos würde hinter mir stehen, und so bedankte ich mich bei ihm.

    „Danke Carlos. Aber so schnell kann ich nun auch wieder nicht trinken.“

    „Das macht doch nichts. Ich muss auch erst meine eine Flasche austrinken, bevor wir mit dem frischen Bier anstoßen können“, hörte ich eine Stimme sagen, die auf keinem Fall zu Carlos gehören konnte, da sie weiblich klang. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und sah direkt ins Gesicht einer Frau. Leider konnte ich nicht viel von ihr erkennen, was zum einen an der Dunkelheit und zum anderen daran lag, dass ihr Gesicht fast komplett von Haaren verdeckt war. Während sie sich mit einer lasziven Handbewegung ihre Haare aus dem Gesicht strich, kam sie neben mich und setzte sich auf das Fußende meiner Liege.

    „Ach Quatsch“, waren die Worte, die meinen Mund verließen.

    „Nette Begrüßung.“

    „Sorry. Aber du wirst wohl einsehen, dass es schon eine Überraschung ist, dich hier zu sehen.“

    „Unter den damaligen Voraussetzungen schon.“

    „Was soll das denn bedeuten?“

    „Immerhin hatte ich dir erzählt, dass ich von Rügen komme.“

    „So ein Blödsinn. Von Rügen hast du unter Garantie nichts erzählt.“ Ich wurde angegrinst, kam mir aber vor, als wenn ich ausgegrinst wurde und fragte:

    „Bei Lotto? Hast du es mir auch beim Lottokonzert erzählt?“ Wieder wurde ich ausgegrinst.

    „Du hast es dort erzählt?“

    „Klar habe ich es.“

    „Du weißt, dieser Abend und ich, wir müssen uns erst noch kennenlernen.“, erwiderte ich und beugte mich nach vorne, um Antje zu begrüßen.

    „Darf ich?“, fragte ich, als ich Antje einen Begrüßungskuss auf die Wange geben wollte.

    „Wehe du machst es nicht“, sagte Antje augenzwinkernd. Ich gab ihr einen Kuss auf ihre rechte Wange und wollte mich wieder nach hinten lehnen, als sie mir auffordernd auch die linke Seite hinhielt.

    „Diese Seite hast du versehentlich vergessen.“

    „Nein, nicht vergessen. Ich wollte nur mal testen, ob du merkst, dass du nur einen einseitigen Kuss bekommen hast“, war meine Antwort, bevor ich den Kuss ganz schnell nachholte.

    Es war sehr schön. Antje erzählte mir viel von sich und ihrer Insel, während wir es uns auf der Liege gemütlich gemacht hatten und den Abend zusammen bei Bier und Meerblick verbrachten. Wir bemerkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging und waren erstaunt, als plötzlich keine Musik mehr lief. Die Getränkestände waren ebenfalls dabei zu schließen, allerdings gelang es mir, mit meiner Überredungskunst und einem großen Trinkgeld, noch vier Biere zu ergattern. Wir blieben auf unserer Liege sitzen, unterhielten uns weiter und tranken. Irgendwann bemerkten wir, dass wir anscheinend die letzten Besucher der Strandparty waren. Als dann auch noch damit begonnen wurde, die Liegen abzubauen, gingen wir hinunter ans Meer und sahen zu, wie sich die Sterne und der Mond im Meer spiegelten. Es sah aus, als wenn sich gefühlte 1000 Lichter im Meer befanden. Sie spendeten uns gerade so viel Licht, wie es für einen romantischen Abend notwendig war. Als es langsam hell wurde, brachen wir auf. Antje brachte mich zum Wohnmobil, was daran lag, dass sie an unserem Campingplatz vorbei musste, um zum Haus ihrer Eltern zu gelangen, in dem sie eine kleine Einliegerwohnung hatte. Sie lehnte es ab, von mir dorthin gebracht zu werden, und so konnte ich mich sofort in mein Bett legen und schlafen.

    Der nächste Tag begann trotz einer viel zu kurzen Nacht für uns alle sehr früh. In der uns noch unbekannten Umgebung war ein langes Schlafen einfach noch nicht möglich. Ganz davon abgesehen, waren wir alle drei sowieso keine Langschläfer, und da auch noch blauer Himmel, der Strand und das Meer auf uns warteten, mussten wir einfach raus aus den Betten.

    „Verarsch uns nicht.“, sagte Carlos und Anton dachte wahrscheinlich das Gleiche. Beide glaubten mir nicht, dass ich die ganze Zeit auf der Strandparty war und schon gar nicht glaubten sie mir die Geschichte, dass ich Antje schon wieder getroffen hatte.

    „Dann glaubt doch, was ihr wollt.“ Mit diesen Worten verabschiedete ich mich, nahm meinen Becher Kaffee und Bobby mit nach draußen und setzte mich wieder auf den Baumstumpf. Während Carlos frischen Kaffee kochte, kam Anton zu mir und setzte sich neben mich ins Gras, um gleich wieder aufzuspringen, da das Gras vom Morgentau noch klitschnass war. Ich lachte und rutschte etwas zur Seite, damit sich Anton neben mich auf den Baumstumpf setzen konnte. Erst jetzt sah er, was ich bereits beim Zähneputzen im Spiegel gesehen hatte. Auf der linken Schläfe und an meinen Armen waren Kratzer.

    „Hey, was ist los? Wo kommen die Verletzungen her?“ Anstatt zu antworten, schob ich die Ärmel meines Shirts hoch und krempelte mein linkes Hosenbein nach oben. Auch hier waren einige Schürfwunden zu sehen, die zwar nicht schlimm waren, aber ganz schön brannten. Nachdem ich Anton meine Sturzgeschichte erzählt hatte und meiner Meinung nach viel zu wenig Mitleid geerntet hatte, musste ich unbedingt noch ein anderes Thema mit ihm besprechen.

    „Ich muss mit dir noch etwas bereden.“

    „Jetzt?“

    „Ja, jetzt. Es passt, da Carlos nicht dabei ist.“

    „Nick, was soll es? Du kennst meine Meinung zu dem Thema. Was einmal vorbei ist, sollte man nicht wieder aufwärmen. Was nicht funktioniert hat, funktioniert auch beim zweiten Versuch nicht. Wenn du nicht endlich dieses gottverdammte Namensschild von der Tür nimmst, kommst du nie von ihr los.“

    „Bist du fertig?“, fragte ich.

    „Nur wenn du es endlich verstehst. Ich will dir nur helfen. Hey, es ist nicht böse gemeint. Ich muss es machen, du bist mein bester Freund.“

    „Ich weiß“, sagte ich und fragte anschließend:

    „Darf ich jetzt mit dem Thema beginnen, was ich mit dir besprechen möchte?“ Es folgte ein kurzes Schweigen, was bei Anton wirklich selten vorkommt.

    „Ja, darfst du.“

    „Ich möchte Carlos wieder zum Surfen bringen.“

    „Carlos surft doch.“

    „Ich meine, richtig zum Surfen bringen. Er soll noch mal versuchen, richtig anzugreifen. Wir müssen ihn ermutigen, wieder verrückte Sachen auf dem Wasser zu machen. Antreiben müssen wir ihn, antreiben und unterstützen. Mensch Anton, Surfen ist sein Leben.“

    „Aber wie?“

    „Ich habe mir schon Gedanken gemacht. Er will uns doch sowie das Surfen beibringen, und diese Gelegenheit müssen wir nutzen.“

    „Was ist dein Ziel?“

    „Dass Carlos wieder richtig surft.“

    „Ich meine das wahre Ziel.“

    „Welches wahre Ziel?“

    „Nun sag schon, ich kenne dich.“

    „Wir werden sehen, ich habe da so eine Idee. Warte noch ein wenig ab, dann sage ich es dir. Machst du nun mit bei meinem Plan?“

    „Klar.“ Abrupt begannen wir zu schweigen, da Carlos sich näherte.

    „Hey, was wird hier getuschelt?“

    „Nichts. Moin Carlos.“

    „Was hast du denn gemacht? Wie sieht dein Gesicht aus?“

    „Das erzählt dir Anton.“ Ich stand auf und ging unter die Dusche, um mir den Dreck aus den Wunden zu waschen, während Anton und Carlos weiter auf Bobby aufpassen durften.


Surfen!?

  • Leidenschaftliche Surfer sind von anderen Menschen ganz einfach zu unterscheiden. Klar, man erkennt sie an der stets gebräunten Haut und den ausgeblichenen Haaren. Aber beides könnten auch Menschen haben, die einfach nur viel Zeit am Strand und im Meer verbringen. Nein, leidenschaftliche Surfer gehen auch nach nur drei Stunden Schlaf und nach einer langen Partynacht mit ihren Surfutensilien an den Strand. Ich war mir sicher, dass Carlos es heute nicht nur wegen des tollen Wetters gemacht hatte. Er wäre auch bei Regen und Sturm surfen gegangen. Carlos saß bereits im Surfanzug auf einem seiner Surfbretter am Strand, als Anton und ich mit Strandtaschen beladen dort ankamen.

    „Wo sind die Bretter?“, fragte er uns.

    „Na oben am Wohnmobil“, antwortete Anton brav.

    „Witzig. Dann zieht mal schnell eure Anzüge an. Anschließend holt ihr die Bretter.“

    „Welche Anzüge?“

    „Welche wohl, die aus euren Taschen.“

    Ich sah Anton an und parallel fingen wir an, unsere Taschen auszupacken. Wir holten Strandlaken, Zeitschriften, Sonnenmilch, einen Volleyball, Bananen, Äpfel und etwas zu trinken heraus. Als wir begannen, uns einzucremen, merkte Carlos, dass wir ihn keinesfalls verarschen wollten, sondern tatsächlich einen Strandtag geplant hatten.

    „Was meint ihr, warum oben die anderen beiden Bretter und die Surfanzüge vor dem Wohnmobil gelegen haben?“

    „Zum Auslüften“, erwiderte Anton wahrheitsgemäß, während ich an seiner Stelle lieber mit einer Notlüge geantwortet hätte. Carlos war inzwischen leicht genervt und sauer.

    „Spinnst du?“, wollte Carlos wissen.

    Anschließend hielt er uns einen Vortrag, in dem viele Plattitüden, wie zum Beispiel „Wer feiern kann, kann auch arbeiten“ und „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ enthalten waren. Als er fertig war, schickte er uns zurück zum Wohnmobil. Wir ließen uns schicken, zwar nur ungern, aber er hatte ja recht. Um ehrlich zu sein, ärgerte ich mich auch etwas über mich selbst. Immerhin hatte ich heute Morgen doch selber zu Anton gesagt, dass wir alles machen müssen, um Carlos wieder zum richtigen Surfen zu bewegen. Allerdings freute ich mich auch über Carlos. Denn gerade hatte er uns bewiesen, dass mein Plan gar nicht so aussichtslos zu sein schien.

    In Surfanzügen standen wir nun bereits seit einer Stunde im knietiefen Wasser der Ostsee. Keiner von uns beiden schaffte es, länger als wenige Sekunden auf diesem blöden Brett zu stehen. Unsere Bretter hatten keine Segel, da Carlos der Meinung war, dass wir uns so besser mit dem Brett und dem notwendigen Gleichgewichtssinn vertraut machen würden. Nach zwei Stunden ging es etwas besser. Allerdings leider nur unwesentlich. Während wir weiter an unserm Gleichgewichtssinn arbeiten durften, war Carlos weit draußen auf dem Wasser und machte das, was er so liebte und wirklich ausgesprochen gut konnte. Wir hatten allerdings kein Auge für seine Kunst. Uns hatte der Ehrgeiz gepackt und tatsächlich wurden wir immer besser. Als ich gerade zu Anton sagen wollte, dass ich es jetzt gepackt hätte und nicht mehr wie ein Depp vom Brett fallen würde, machte ich einen tollen, leider jedoch ungeplanten Abgang. Anstatt mir eine Tüte Mitleid zu spenden, fragte mich Anton, ob ich schon Sprünge üben würde und gab mir noch den Tipp, dass ich beim nächsten Sprung versuchen sollte, einfach mal dabei auf dem Brett zu bleiben. Plötzlich fegte Carlos mit einer irren Geschwindigkeit zwischen uns hindurch, sprang vom Brett und stand nur zwei Meter von uns entfernt im Wasser, während sein Brett weiter in Richtung Strand fuhr.

    „Pause“, rief Carlos und ruckelte dabei gleichzeitig an unseren beiden Brettern, sodass wir fast zeitgleich von den Brettern fielen und im Wasser landeten.

    Am Strand warteten belegte Brötchen und kühles Bier auf uns. Carlos hatte die Brötchen bereits heute Morgen besorgt, und so konnte jetzt eine richtig coole Stunde mit Chillen eingelegt werden. Es wurden zwei Stunden. Wir waren alle drei eingeschlafen, und wäre nicht dieser blöde Hund an uns vorbei, über uns hinweg und durch uns hindurchgelaufen, hätte unsere Augenpflege sicher noch länger gedauert. Der Hund gehörte Blondie, was wir allerdings erst erkannten, nachdem Carlos und ich mit einigen kleinen Steinen nach ihm geworfen hatten.

    „Wie süß, ihr spielt mit Susi“, rief Blondie schon von weitem und ergänzte:

    „Ich dachte schon, Susi hätte euch geweckt und ihr seid sauer oder so.“

    „Alles ist gut. Echt süß dein Hund.“, log Anton, der normalerweise nicht auf Hunde stand.

    „Seid ihr surfen gewesen?“

    „Nein, wir schützen uns mit den Anzügen nur vor der Sonne“, sagte ich und legt mich wieder hin, während Carlos meinte:

    „Und die Bretter liegen hier, damit wir vor angreifenden Hunden aufs Wasser flüchten können.“

    Blondie setzte sich zu uns. Nun ja, eigentlich setzte sie sich eher zu Carlos und wir durften auch dabei sein. Wir verbrachten den restlichen Tag damit, in der Sonne zu liegen und uns von unseren heutigen mehr oder weniger erfolgreichen Surfversuchen sowie von der letzten Nacht zu erholen. Blondie war fit, oder wie Carlos so schön sagte, gemein fit. Immerhin hatte sie gestern ab dem frühen Nachmittag damit begonnen, Caipis zu vernichten. Aber im Gegensatz zu uns schien sie im Training zu sein.

    Die nächsten Tage verbrachten wir drei damit, unsere Fähigkeiten beim Surfen zu verbessern. Zwar auf einem erheblich unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad, aber immerhin waren Anton und ich tapfer und willig. Allerdings hatten wir auch einen guten Lehrmeister, der sich abwechselnd darum kümmerte, dass wir zwei aus der Kreisklasse in die Kreisliga aufgestiegen waren. Er selber hatte auch schon fast wieder den Stand erreicht, den er einmal vor vielen Jahren hatte. Heute waren sogar hohe Wellen. Zumindest für die Ostsee konnte man diese Wellen als hohe Wellen bezeichnen. Anton und ich hatten nach fast zwei Stunden aufgegeben, da wir bei diesem Wellengang keine Chance hatten, auch nur einen kurzen Moment auf dem Brett zu bleiben. Wir saßen inzwischen in dicken Jacken am Strand und sahen unserem Freund zu. Carlos war weit draußen und versuchte sich daran, wieder Sprünge zu üben. Seine Surfkunst schien auch andere zu interessieren. Immerhin war nach einiger Zeit ein zweiter Surfer auf dem Wasser zu sehen, der sich Carlos langsam näherte. Anton und ich standen bereits. Uns war kalt und wir wollten zum Wohnmobil gehen, um einen Tee zu kochen, als wir sahen, was dort auf dem Wasser abging. Gegenseitig trieben sich vor unserer Nase zwei Surfer zur Hochleistung. Es wurden mit Vollspeed die Wellen abgeritten, es gab Drehungen und Sprünge, die Anton und ich zwar kannten, allerdings bisher nur auf dem Worldcup Sylt live erlebt hatten. Klar boten dort die Herren Nash oder Dunkerbek noch waghalsigere Manöver, und natürlich sprangen diese Herren auch höher und mit Loopings, aber wir waren von Carlos und dem anderen Surfer total beeindruckt.

    Ich freute mich noch mehr darüber als Anton, da ich mir für Carlos genau dies gewünscht hatte und um ganz ehrlich zu sein, hatte ich in diesem Moment feuchte Augen. Anton merkte meine Gefühlsregung, legte seinen Arm um mich und sagte,

    „Du Nick, ich glaube, der Plan geht auf.“

    „Scheint so.“ Anton ging anschließend zum Wohnmobil und kam kurze Zeit später mit einer Thermoskanne Tee und drei Bechern zurück.

    „Die sind ja noch immer dabei.“

    „Ja, die beiden sind im wahrsten Sinne voll in ihrem Element.“

    „Konntest du den anderen Typen schon erkennen?“

    „Nein, die waren noch nicht nah genug am Strand. Hier sind wohl die Wellen zu niedrig“, sagte ich und in diesem Moment sahen wir erst den Fremden und gleich danach Carlos, wie sie eine große Welle anfuhren, um diese für ihre Loopings zu nutzen. Carlos war so weit vom Ufer entfernt, dass wir ihn, wenn wir nicht gewusst hätten, dass er es war, nicht erkannt hätten. Doch sein Freudenschrei nach dem gestandenen Looping war so laut, dass er wahrscheinlich bis nach Hamburg zu hören war. Kurze Zeit später kamen die zwei Surfer mit vollem Speed auf uns zu. Vorne im Weißwasser drehten sie noch einige Kurven, und als sie am Strand ankamen, lief ich auf Carlos zu und umarmte ihn.

    „Du verrückter Spinner!“, rief ich und Carlos brachte nur ein

    „War das geil!“ heraus.

    Erst jetzt sah ich, dass Anton sich mit dem anderen Surfer unterhielt. Als ich genauer hinsah, konnte ich auch erkennen, wer es war. Aus dem Surfer wurde nämlich, nachdem er die zum Surfanzug dazugehörige Kapuze abnahm, eine Surferin. Es war Blondie.

    „Du bist gut“, sagte Blondie zu Carlos.

    „Du bist besser“, war seine Antwort.

    „Aber nicht viel und wenn du so weitermachst, auch nicht mehr lange.“

    „Morgen zur gleichen Zeit am gleichen Ort?“, fragte Blondie.

    „Gerne. Aber auf unser heutiges Event müssen wir vorher noch anstoßen.“

    „Wann und wo?“

    „Komm doch heute Abend zum Wohnmobil. Gegen acht Uhr. Wir werfen den Grill an, stellen den Heizlüfter an den Tisch und lassen es uns gutgehen. Ihr zwei seid natürlich auch dabei“, sagte Carlos und blickte zu uns.

    „Wir haben schon was vor. Für heute haben wir uns vorgenommen, das Nachtleben der Insel zu erforschen“, sagte ich und war angenehm überrascht, dass Anton es sofort begriff.

    „Klasse, bis heute Abend.“ Blondie gab Carlos zum Abschied einen Kuss auf die Wange, griff nach ihrem Surfbrett und düste hinaus aufs Meer. Allerdings nicht, ohne sich nochmal zu uns umzudrehen und zu winken.

    „Tolle Frau“, hörte ich Carlos murmeln, während er ebenfalls am Winken war.

    „Was hast du gesagt?“ Ich fragte nach, da ich mir nicht zu hundert Prozent sicher war, ob ich es richtig verstanden hatte.

    „Nichts.“

    „Okay“, sagte ich und war mir in diesem Moment sicher, dass ich ihn eben richtig verstanden hatte.

    „Was hat er gesagt?“, fragte Anton.

    „Nichts“, erwiderte ich und grinste.


Carlos hat ein Date

  • Eine Viertelstunde, bevor Carlos Date mit Vicky starten sollte, verzogen wir uns. Wir wollten mal sehen, was an der Promenade und im näheren Umfeld der Promenade so los war und gingen den Weg, den ich neulich auch zur Strandparty gegangen war, allerdings nicht ganz genau die gleiche Strecke. Ich wollte Anton und vor allem auch mir ein zweites Mal meine Abkürzung ersparen. Ich war froh, dass durch das salzhaltige Ostseewasser meine Schürfwunden so schnell verheilt waren und auf neue Wunden hatte ich echt keine Lust. Als wir an der Stelle ankamen, an der ich den Abgang gemacht hatte, blieben wir stehen. Ich konnte, da es noch nicht ganz dunkel war, gut erkennen, wie viel Glück ich am letzten Samstag gehabt hatte. Tatsächlich hatte ich genau das kleine Stück vom Abhang für meinen Sturz erwischt, an dem es keine Felsen, sondern nur Sand und etwas Geröll gab. Auf beiden Seiten meiner Abflugschneise gab es viele Felsen sowie kleine und große Steine. Anton kommentierte diesen Moment lediglich mit

    „Du Glücksschwein!“ und zog mich weiter. Er hatte recht! Wir gingen ein kleines Stück und benutzen einen kurzen Augenblick später den offiziellen Weg nach unten zum Strand. Zunächst setzten wir uns in eine kleine Cocktailbar und bestellten Sex on the Beach, ohne dabei die Bedienung mit diesen Uraltsprüchen zu diesem Cocktail zu belästigen. Dies lag daran, dass wir diese Sprüche superdämlich fanden, wir nüchtern waren und diese Sprüche, wenn überhaupt, nur im angetrunkenen Zustand erlaubt waren. Hinzu kam, dass unsere Bedienung ihr Gewicht von ungefähr hundert Kilogramm auf eine sehr viel zu geringe Körpergröße verteilte. Wir hatten die Drinks geleert und auf die Frage, ob wir noch etwas wollten, antwortete ich mit

    „Ja, zwei Dinge. Erstens bezahlen und zweitens das Lokal verlassen.“ Es war vielleicht nicht gerade nett, dafür aber die Wahrheit und die Wahrheit ist halt nicht immer nur positiv. Dieser Laden war einfach schlecht und endlich durfte ich mein Lieblingswort mal wieder benutzen, als ich zu Anton sagte:

    „Hoffentlich sind in den anderen Läden nicht auch nur solche Vollpfosten.“ Als wir den Laden verlassen hatten, fiel mir etwas ein.

    „Mist, ich habe Bobby nicht reingesetzt. Hast du daran gedacht?“

    „Nein, ich auch nicht.“ Während ich versuchte Carlos zu erreichen, ging Anton in einen Kiosk und holte zwei Dosen Bacardi-Cola für uns. Noch bevor Carlos an sein Handy ging, war Anton zurück und wir setzten uns auf eine Bank, um den ersten Schluck zu nehmen. Endlich, nach dem wahrscheinlich fünfunddreißigsten Klingeln ging Carlos endlich an sein Handy.

    „Ja der Nick. Welche Freude.“

    „Hi Carlos, es tut mir wahnsinnig leid. Aber ich muss kurz stören.“

    „Was gibt es denn so Wichtiges?“

    „Bobby. Weder Anton noch ich haben Bobby reingesetzt. Hast du daran gedacht?“

    „Nein, aber das hole ich jetzt nach und danach würde ich mich über einen ungestörten Abend freuen.“

    „Ja klar. Danke Carlos und viele Grüße an Blondie.“

    „Tschau Nick. Ich werde Vicky die Grüße bestellen.“

    Wir blieben noch einen Augenblick auf unserer Bank sitzen und tranken. Während ich Anton erzählte, dass Blondie von Carlos jetzt nur noch Vicky genannt wurde, leerten wir unsere Dosen aus. Leider fanden wir auf der Promenade keinen passenden Laden für uns. Entweder waren die Läden zu leer oder absolut nicht ansprechend. Dann fiel mir ein, dass Antje mir einen Tipp gegeben hatte. Aber daran, wie die Bar hieß, konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

    „Ruf sie an“, schlug Anton vor. Doch es ging nicht, da wir noch immer keine Handynummern getauscht hatten. Als wir nach einiger Zeit endlich eine Bar fanden und unsere Getränke an den Tisch gebracht wurden, steuerte Anton unser Gespräch direkt auf das Thema Antje.

    „Was ist nun eigentlich mit Antje?“, wollte er wissen.

    „Was soll mit ihr sein?“

    „Hast du sie mit Absicht hier getroffen? Es kann doch wohl kein Zufall sein. Oder?“

    „Witzbold.“

    „Wieso Witzbold? Nun sag schon.“

    „Wie und wann soll ich mich mit Antje hier verabredet haben? Ich wusste bis letzten Samstag nicht, dass ich hier auf Rügen lande.“

    „Aber seit Samstag hast du es gewusst.“

    „Stimmt. Aber wenn du mir vorhin zugehört hättest, würdest du wissen, dass ich keine Handynummer von ihr habe.“

    „Ist ja gut, da hab ich nicht dran gedacht. Wann siehst du sie wieder? Kommt sie am Wochenende wieder her?“

    „Weiß ich nicht.“

    „Das weißt du nicht? Spinner!“

    „Weshalb bin ich jetzt schon wieder ein Spinner?“

    „Ganz einfach, du hast von Samstagabend bis zum Sonnenaufgang am Sonntag mit ihr gequatscht und sie hat dich bis zum Campingplatz gebracht.“

    „Ja und?“

    „Du willst mir erzählen, dass ihr neben dem Handynummerntauschen auch vergessen habt zu besprechen, wann oder ob ihr euch wiedersehen wollt?“

    „Ich weiß nicht, ob vergessen das richtige Wort dafür ist?“

    „Welches Wort wäre denn das richtige?“

    „Nun, es sind wohl eher fünf Worte.“

    „Und wie lauten diese?“

    „Es hat sich nicht ergeben. Ja, ich glaube, diese Worte passen eher.“

    „Es hat sich nicht ergeben. Mal ganz im Ernst. Es hat sich nicht ergeben, ist wohl der größte Schwachsinn, den ich je zum Thema Frauen von dir gehört habe.“

    „Denk doch, was du willst.“

    Ich stand auf und ging zum Klo.

    „Vollpfosten“, murmelte ich in mich hinein, und ich war noch immer wütend auf meinen besten Freund, als ich zurückkam und mich wieder zu ihm setzte. Auch die beiden neuen Drinks verbesserten meine Laune nicht. Erst als Anton mich mit seinen braunen Augen und dieser dämlichen schrägen Kopfhaltung ansah und mir zuprostete, hatte ich wieder ein Lachen auf den Lippen. Plötzlich fing ich von selbst wieder mit dem Thema von eben an.

    „Komisch oder? Neulich in Hamburg konnte ich nicht schnell genug aus dem Alex flüchten und nun habe ich sie hier getroffen, rede die ganze Nacht mit ihr und …“ Ich hörte auf zu reden.

    „Und was?“

    „Und jetzt muss ich doch ab und zu mal an sie denken.“

    „Würdest du sie gerne wieder sehen?“

    „Ich glaube schon.“

    „Was für eine Scheißantwort!“

    „Warum?“

    „Ich glaube schon. Glaubst du ja, oder glaubst du nein?“

    „Ach Anton. Ganz ehrlich, wozu soll ich mir Gedanken machen. Wir sind auf Männertour, haben diese gerade erst begonnen und werden die nächsten Monate durch die Gegend ziehen.“

    „Noch sind wir hier.“

    „Aber Antje nicht.“

    „Vielleicht kommt sie am Wochenende wieder?“

    „Sie ist nicht jedes Wochenende hier. Antje war wegen der Strandparty hier.“

    „Und wenn sie doch am Samstag wieder hier ist?“

    „Würdest du jedes Wochenende deine Eltern besuchen?“

    „Nein.“

    „Siehst du!“

    „Vielleicht kommt sie wegen dir?“

    „Sie geht doch davon aus, dass wir eventuell gar nicht mehr hier sind.“

    „Genau.“

    „Was meinst du mit genau?“

    „Ich meine, sie geht davon aus, dass wir eventuell nicht mehr hier sind. Bei eventuell gibt es aber auch die Möglichkeit, dass wir noch hier sind. Warten wir doch einfach mal ab, was noch so passiert.“ Nun hatten wir aber tatsächlich genug über Antje gesprochen. Der Laden hatte sich inzwischen mächtig gefüllt, und es waren viele interessante Menschen dabei. Die Musik wurde lauter und die kleine Tanzfläche füllt sich schnell.

    „Wer schreibt dir?“

    „Die Nachricht ist von Carlos.“

    „Was will der denn? Ich denke Ex-Blondie ist bei ihm und er ist beschäftigt?“

    „Er bedankt sich.“

    „Wofür? Verstehe ich nicht.“

    „Warte Anton, ich lese es dir vor. Hey Nick, ich wollte nur kurz Bescheid sagen, dass wir Bobby nach 2 Stunden gefunden haben. Wir sind kreuz und quer über den Boden gekrochen. So hatte ich mir mein erstes Date mit Vicky nicht vorgestellt. LG C.“

    „Aber immerhin haben wir Bobby wieder“, sagte Anton.

    „Stimmt. Ich schreibe lieber nicht zurück. Oder?“

    „Vielleicht ein kurzes Danke?“

    „Na gut.“ Ich zog mein Handy wieder aus der Tasche und schrieb.

    Tut mir leid wegen dem Date mit Vicky. Ich mache es wieder gut. Danke, dass ihr Bobby wiedergefunden habt. Gruß Nick

    Nachdem ich die WhatsApp verschickt hatte, entschieden wir uns dafür, den Platz zu wechseln. Wir standen auf und lehnten uns auf der anderen Seite der Bar an den Tresen, der nur unwesentlich von der Tanzfläche entfernt war. Von hier hatten wir eine gute Übersicht über das, was auf der Tanzfläche und im restlichen Laden passierte.


Ein unvergesslicher Abend

  • „Für euch“, sagte eine Stimme hinter uns, doch wir fühlten uns nicht angesprochen.

    „Hey, für euch“, wiederholte die Stimme nochmals, allerdings etwas lauter, und da sich die Gäste neben uns nicht umdrehten, taten wir es. Der Barkeeper meinte tatsächlich uns und schob zwei Erdbeerlimes zu uns rüber. Als wir ihn fragend anschauten, zeigte er auf zwei Mädels, die wir bereits auf der Tanzfläche angesehen und angelächelt hatten. Leider waren sie irgendwann verschwunden. Dachten wir zumindest bis zu diesem Augenblick und freuten uns, sie in der Ecke der Bar wiederzusehen. Die beiden hatten ebenfalls einen Erdbeerlimes in der Hand und prosteten uns zu. Wir stießen über Eck und ungefähr fünf Meter Entfernung an und bestellten die nächste Runde. Diesmal musste der Barkeeper zwei von den leckeren Kurzen zu den Mädels bringen und das Zuprosten begann von neuen. Als die leeren Gläser auf dem Tresen standen, winkten uns die Mädels zu sich und wir machten uns auf den Weg zu ihnen. Es war gar nicht so einfach, da der Laden inzwischen richtig voll war und wir erst eine Art Ringkampf mit anderen Gästen durchführen mussten. Endlich waren wir am Ziel angekommen und wurden belohnt. Während wir auf dem Weg zu den Mädels waren, nutzten die beiden die Zeit und bestellten neue Kurze für uns vier. Diese waren schon in einer Reihe auf dem Tresen aufgestellt, und da man bekanntlich nicht auf einem Bein stehen kann, hatten sie gleich zwei Kurze für jeden bestellt. Einen drückten sie uns direkt in die Hand und wieder prosteten wir uns gegenseitig zu. Noch bevor ich mein leeres Glas zurück auf den Tresen stellen konnte, hatte ich die Lippen von einem der Mädels auf den meinen. Sie umfasste meine Hüften und unser Begrüßungskuss dauerte ungefähr zwei Lieder lang. Anton ging es ähnlich. Anschließend wurde der zweite Kurze vernichtet und nach einer kurzen, gegenseitigen Vorstellung begann in die nächste Kussrunde.

    Antons Eroberung hieß Angie. Wahrscheinlich war ihr eigentlicher Name Angela, aber dies war heute Abend wirklich egal. Sie hatte braune Haare, dazu braune Augen und von der Sonne, ich vermutete allerdings von der künstlichen, war sie extrem gebräunt. Ich hatte Mimi im Arm und hatte keine Ahnung, wofür diese Abkürzung stand. Mimi hatte kurze dunkle Haare, die so schwarz waren, dass es nicht die Originalfarbe sein konnte. Ihre blauen Augen funkelten mich an und die blasse Haut war ein netter Kontrast zu ihrem sonstigen Äußeren. Ihr kurzes, schwarzes Kleid zeigte mehr, als es verbarg. Ich konnte sehen, dass ihr Rücken komplett tätowiert war, allerdings leider nicht alle Einzelheiten erkennen. Ihr Zungenpiercing hatte ich, außer es eben beim Küssen gespürt zu haben, auch bereits gesehen, als ich sie vorhin auf der Tanzfläche beobachtet hatte, da sie mit diesem gekonnt gespielt hatte. Nun war ich gespannt, ob ich in den nächsten Stunden noch mehr Piercings irgendwo an ihrem Körper entdecken würde. Angie war im Nacken und am Hals tätowiert. Eigentlich ist der Hals ja eine total dämliche Stelle, da ein Tattoo, da man es im normalen Leben trug, nicht einfach verstecken konnte. Bei Angie sah es jedoch einfach nur scharf aus. Wir bestellten eine neue Runde Erdbeerlimes, damit das Anstoßen weitergehen konnte. Ich vermutete, dass ich nach dem letzten Samstag am heutigen Abend wieder einen Absturz erleben würde. Allerdings war mir diese Art Absturz viel lieber, als einen blöden Abhang hinab zu purzeln. Komischerweise merkte ich heute von Drinks bisher noch nicht viel. Es gibt ja diese Tage, an denen man trinken kann. und es lange dauert, bis die Wirkung einsetzte. Es war lustig. Ausgesprochen lustig sogar. Wir tranken, sangen die Partylieder mit, küssten uns und unsere Hände waren dabei, gegenseitig unsere Körper zu erforschen. Als ich von der Toilette kam, nahm Anton mich in den Arm und sein Mund ging ganz dicht an mein Ohr. Er wollte mich dringend etwas fragen, was die beiden Mädels nichts anging.

    „Sag mal, hast du eine solche Situation schon mal erlebt?“

    „Blöde Frage. Wenn ich solche Situation schon erlebt hätte, wärst du dabei gewesen. Wann habe ich mal ohne dich Party gemacht?“

    „Stimmt.“ Wir nahmen zwei Gläser Erdbeerlimes vom Tisch, prosteten uns zu und bekamen neben den bösen Blicken, auch noch einen dummen Spruch an den Kopf.

    „So, ihr trinkt also ohne uns. Das kostet die nächste Runde und es gibt außerdem Liebesentzug.“ Schnell wurde von Anton die nächste Runde bestellt. Nachdem wir die Mädels beim Anstoßen mit unserem charmantesten Lächeln ansahen, war alles wieder gut und die nächste Kussrunde wurde eingeläutet. Mimi legte ihr Arme um mein Becken, ihren Kopf an meinen Hals und spielte mit ihrer Zunge an meinem Ohr. Zwischendurch fragte sie hauchend:

    „Hey Nick. Was meinst du, wollen wir diesen Abend zu einem unvergesslichen Abend machen?“

    „Ja, sehr gerne sogar“, war meine Antwort. Allerdings hauchte ich meine Worte nicht, sondern sprach ganz normal.

    Während wir immer voller wurden, leerte sich langsam der Laden, und mein Weg zur Toilette gestaltete sich erheblich leichter, als bei den vielen Malen zuvor. Während ich dort am Becken stand und mein Geschäft erledigte, erklang aus meiner Hosentasche der Ton einer eingehenden Nachricht. Ich griff, während ich noch pieselte, mit der linken Hand in meine Tasche, nahm mein Handy heraus und las die Nachricht.

    Bin mir Angel gegangen. Wir gegen zu ihr. Viel Spaß noch mit Mini

    Die ganzen falschen Wörter in der WhatsApp brachten mich kurz zum Lachen. Als ich fertig war und wieder bei Mimi ankam, drückte sie mir einen Erdbeerlimes in die Hand. Sie grinste und meinte dabei,

    „Die beiden sind schon los. Was meinst du, wollen wir auch starten?“

    „Können wir gerne machen.“

    „Na dann Prost.“ Wir tranken aus, knutschten noch kurz und verließen den Laden. Über die Promenade zog Mimi mich hinunter zum Strand. Während wir in Richtung Ostsee steuerten, entledigte sich Mimi ihrer Kleidung. Ich versuchte, alle Kleidungsstücke aufzusammeln und war damit so beschäftigt, dass ich nicht mitbekam, wie Mimi nicht nur in Richtung Meer, sondern auch ins Meer hinein lief. Es war zwei Uhr in der Nacht, wir hatten höchstens zwölf Grad und die Temperatur der Ostsee kannte ich von meinen Surfversuchen. Als Mimi wieder aus dem Wasser kam, zog ich sie an und legte ihr meine Jacke über.

    „Meine Tasche. Hast du meine Tasche?“, fragte Mimi. Während ich den Strand absuchte und die Tasche zum Glück auch fand, zog Mimi sich wieder aus und verschwand zum zweiten Mal in der Ostsee. Zitternd hielt ich Mimi kurze Zeit später in meinen Armen und war mir nicht sicher, wer von uns beiden mehr fror. Ich hatte bis auf ihre Schuhe alles gefunden, und so gingen wir zurück zur Promenade.

    „Zu mir können wir nicht, mein Freund Carlos hat Besuch. Bei dir sind Anton und Angie. Was machen wir jetzt?“

    „Wir können zu mir. Ich habe mir hier eine kleine Wohnung gemietet. Angie wohnt im Haus ihrer Eltern. Ich habe also sturmfreie Bude.“ Zum Glück war es nicht weit und wir wären noch um einiges schneller dort gewesen, wenn wir nicht ständig zum Küssen und Fummeln stehengeblieben wären. Doch irgendwann waren wir da und konnten endlich richtig über uns herfallen. Es war Erotik pur. Wir ließen alle Hemmungen fallen. Erst gegen fünf Uhr schliefen wir völlig erschöpft und auch noch etwas gezeichnet vom Alkohol ein.

    Ich wurde wach, löste mich aus Mimis Umklammerung, sah auf die Uhr und ging aufs Klo. Es war noch stockdunkel, da wir erst dreißig Minuten geschlafen hatten. Während ich auf der Toilette war, hörte ich Geräusche, konnte diese aber nicht zuordnen. Eigentlich interessierte es mich auch nicht, was es für Geräusche waren. Als ich zurück ins Bett krabbeln wollte, war es leer. Ich ging auf den Balkon, da ich dachte, Mimi würde dort eine Zigarette rauchen. Doch Mimi war nicht auf dem Balkon. Zurück in der Wohnung angekommen, blieb ich stehen und dachte nach.

    „Mimi? Mimi, wo bist du?“, rief ich und bekam keine Antwort. Ich sah im Bad nach, wo sie gar nicht sein konnte, da die Wohnung nur aus einem Zimmer und dem Bad bestand. Ich hätte sie sehen müssen, wenn sie ins Bad gegangen wäre. Mimi war natürlich nicht im Bad und ich ging zurück, kniete mich auf den Fußboden und sah unter dem Bett nach. Da Mimi auch hier nicht zu finden war, sah ich nun in den Schränken nach, anschließend nochmals im Bad und ganz zum Schluss stand ich wieder auf dem Balkon, um nach ihr zu suchen. Ich konnte suchen, wo ich wollte. Mimi war nicht zu finden. Diese verdammte Wohnung hatte ungefähr fünfunddreißig Quadratmeter und ich suchte hier seit über zehn Minuten eine Frau. Das kann doch nicht wahr sein. Im Zimmer lagen ihre Klamotten, die sie am letzten Abend getragen hatte. Daneben lagen ihre Zigaretten und der Wohnungsschlüssel lag ebenfalls auf dem Tisch. Ich bekam Angst, griff mein Handy und rief bei Anton an. Nachdem es gefühlte fünfundzwanzig Mal geklingelt hatte, legte ich auf. Er ging nicht ans Telefon, da er sich entweder noch in einer heißen Nummer befand oder tief und fest schlief. Obwohl ich seit einigen Jahren keine Zigarette mehr angerührt hatte, griff ich nach Mimis Packung, ging auf den Balkon und rauchte. Lecker war es nicht, gut tat es trotzdem. In Gedanken sah ich mich schon in dicken Buchstaben auf der nächsten Ausgabe der Rügener Zeitung stehen. Junge, nackte Frau vermisst! Ihr Lover weiß angeblich von nichts!

    So oder so ähnlich stellte ich mir die Schlagzeilen vor und überlegte, was ich machen sollte. Einfach verschwinden? Nach der Polizei rufen? Oder sollte ich hier warten, bis ich über Anton Kontakt zu Angie herstellen konnte? Ich zündete mir auf dem Balkon die nächste Kippe an und wollte gerade eine Nachricht an Anton schreiben, als ich vom Balkon aus jemanden auf der Straße gehen sah.

    Welch ein merkwürdiges Outfit waren meine Gedanken, während ich vom Balkon auf die Straße hinab sah. Als die Person näher kam, sah ich, dass es eine Frau war, die lediglich mit einer grauen Jogginghose und einem Handtuch über den Schultern, bekleidet war.

    „Hier gibt es Menschen, die gibt es sonst nirgends“, dachte ich und schrieb weiter an meiner Nachricht für Anton.

    „Nick.“ Ich hörte meinen Namen und ging in die Wohnung, da ich dachte, Mimi hätte mich gerufen. Doch es war niemand zu sehen.

    „Mimi?“, sagte ich und bekam keine Antwort. Ich ging zurück auf den Balkon. Als ich mich abermals weiter mit der WhatsApp beschäftigen wollte, hörte ich wieder meinen Namen.

    „Nick. Hey Nick.“ Das Rufen kam nicht aus der Wohnung und so stand ich auf und sah vom Balkon auf die Straße hinunter. Unten stand Mimi und war mit einer grauen Jogginghose und einem Handtuch bekleidet.

    „Was machst du da unten und warum läufst du in diesem Outfit herum?“, fragte ich und bekam zur Antwort:

    „Nick, später! Lass mich einfach nur schnell rein. Bitte.“ Ich nahm den Schlüssel und ging hinunter zur Haustür. Schnell nahm ich Mimi in den Arm und brachte sie zurück in die Wohnung. Die Jogginghose ließ sie an, während sie sich obenherum einen dicken Kuschelpulli anzog. Nachdem auch ihre Füße in drei Paar Socken eingepackt waren und ich einen großen Becher Tee für jeden von uns beide gekocht hatte, saßen wir mit dem Tee und einer Zigarette in der Hand auf dem Balkon.

    Die Sonne ging langsam auf und nach kurzem Schweigen konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen, wo Mimi eigentlich war und weshalb sie in diesem Outfit aus der Wohnung abgehauen war.

    „Nick, es tut mir leid. Du musst mir glauben, es ist mir auch unendlich peinlich und ich wollte dir auch keinen Schrecken einjagen.“

    „Das hast du aber. Einen ganz schön großen Schrecken sogar!“

    „Kann ich mir vorstellen. Aber es war keine Absicht. Nick, ich habe nichts davon mitbekommen, bis ich nackt im Treppenhaus stand.“

    „Verstehe ich nicht.“

    „Ich war schlafwandeln. Das mache ich manchmal, aber sowas wie letzte Nacht ist mir noch nie passiert. Ich muss aufgestanden sein und die Wohnung einfach verlassen haben. Als ich wach wurde, stand ich nackt im Treppenhaus, und da ich nicht wusste, welches meine Wohnung war, bin ich in den Keller gegangen und habe mir die Hose und das Handtuch aus dem Wäschekeller geholt. Dann habe ich vor dem Haus gestanden und gerufen, aber du hast nicht reagiert.“

    „Da habe ich wohl gerade die ganze Wohnung nach dir abgesucht.“

    „Na ja, ich habe mich dann auf den Weg zu Angie gemacht, dort hat aber niemand geöffnet, und so bin ich wieder zurückgegangen und habe dich zum Glück auf dem Balkon stehen sehen. War ich da froh.“

    Die Becher waren leer und uns wurde kalt.

    „Ich mache mich dann auf den Weg. Du willst sicherlich auch etwas Schlaf nachholen wollen“, sagte ich zu Mimi.

    „Ja, etwas müde bin ich schon. Nick, ich möchte noch ein wenig mit dir im Bett kuscheln. Bleib noch einen Augenblick. Bitte!“ Wir gingen rein und legten uns aufs Bett.

    „Darf ich deine Haut spüren?“

    „Klar.“ Jeder von uns zog sich selber aus und wenige Sekunden später lagen wir engumschlungen unter der dicken Bettdecke. Es blieb nicht beim Kuscheln, doch kurz bevor wir miteinander schliefen, sah Mimi mich an und sagte:

    „Nick, ich habe einen Mann. Ich bin verheiratet und möchte meine Ehe nicht aufs Spiel setzten. Wir werden keine Handynummern tauschen und uns niemals wiedersehen.“

    „Okay.“ Wir schliefen trotzdem miteinander, und es war ein ganz anderes Miteinander schlafen als heute Nacht. Die Leidenschaft der Nacht wich der Zärtlichkeit. Ich genoss es, Mimi im Arm zu halten, hatte gleichzeitig jedoch das Bedürfnis, aus ihrer Wohnung und aus ihrem Leben zu verschwinden. Als sie eingeschlafen war, löste ich mich aus ihrer Umarmung und stand auf. Ich sah sie, während ich meine Sachen anzog an und hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Kein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Mann, sondern komischerweise ein schlechtes Gewissen gegenüber Antje. Ich gab Mimi ganz vorsichtig einen Kuss auf die Stirn und ging zur Tür. Als ich leise die Tür ins Schloss zog, ging mir ein Satz, den Mimi gestern Abend gesagt hatte, durch den Kopf und ich musste über diesen Satz lachen. Denn wenn Mimi eines geschafft hatte, dann, dass unser Abend zu einem unvergesslichen Abend wurde.

    „Du hast vergessen zu erwähnen, dass ihr zwischendurch noch mit den Delfinen zur Lagune geschwommen seid.“ Carlos grinste, als er mit drei Bechern Kaffee aus dem Küchenbereich des Wohnmobils zurück in den Schlafbereich kam. Ich hatte meinen Freunden, nachdem ich am Wohnmobil angekommen war und sie geweckt hatte, die Geschichte meiner Nacht erzählt. Wir lagen auf unseren Betten und hielten, dank Carlos, nun bereits den zweiten Becher Kaffee in der Hand. Zu dem Satz mit den Delfinen sagte ich nichts. Ich wusste selbst, wie unglaubwürdig meine Geschichte war und entschied mich daher fürs Schweigen.

    „Wie war es mit Blondie?“, wollte Anton wissen.

    „Sehr nett, wir haben viel über das Surfen gesprochen.“

    „Und sonst?“, hakte Anton nach.

    „Wusstet Ihr, dass Vicky vor einigen Jahren Deutsche Vizemeisterin im Surfen war?“ Carlos vermied es seit einigen Tagen, Blondie zu sagen, wodurch mir bewusst wurde, dass Blondie etwas in ihm ausgelöst hatte. Sie bedeutete ihm etwas, und so wie ich Carlos kannte, würde er jetzt auch keine weiteren Details von gestern Abend verraten. Als Anton nochmals nachhaken wollte, was gestern beziehungsweise heute Nacht so gelaufen war, fuhr ich ihm über den Mund.

    „Nein, woher sollten wir davon wissen. Aber dann passt ihr zwei ja gut zusammen.“ Eine Antwort darauf bekam ich nicht. Stattdessen verließ Carlos das Wohnmobil und sagte im Vorbeigehen zu uns:

    „Ich bereite schon mal die Bretter vor.“

    „Er ist verliebt“, sagte Anton zu mir.

    „Stimmt“, war meine Antwort und ich freute mich sehr für Carlos.


Training

  • Anton und ich waren wieder eingeschlafen. Die Nacht hatte anscheinend nicht nur bei mir Spuren hinterlassen, und so spielten wir noch Matratzenhorchen, während Carlos auf dem Vorplatz sämtliche Vorbereitungen für unser täglich stattfindendes Training abgeschlossen hatte und auf uns wartete. Irgendwann schaute er ins Wohnmobil und sah uns tief schlummernd auf den Betten liegen. Carlos schnappte sich sein Brett und ging alleine zum Strand. Er bereitete sich vor und ging aufs Wasser, um Dinge zu probieren, die er lange nicht mehr gemacht hatte. Der gestrige Tag, als er gemeinsam mit Blondie auf dem Wasser war, hatte ihm neuen Antrieb gegeben. Er wollte sich heute selbst testen. Er wollte testen, was er noch drauf hatte und wieviel Mut er noch besaß. Die Wellen waren ähnlich hoch wie gestern, und nachdem er sich warmgefahren hatte, begann er damit, die ersten Sprünge zu probieren. Einige klappten auf Anhieb, einige ließen ihn ordentlich abmaulen, wie er sich ausdrückte, wenn er einen fiesen Abgang ins Wasser machte. Doch sein Ehrgeiz war wieder da, er bemerkte, dass es viel besser ging, als er es vermutet hatte - viel besser sogar, als er es zu träumen gewagt hätte. Seine Sprünge wurden höher und seine Loopings besser. In dem Moment, als er tatsächlich einen Rückwärtslooping ausprobierte und sich dabei tierische abmaulte, wurde ihm klar, dass er noch genauso verrückt war, wie er es damals zu seiner besten Zeit gewesen war. Er saß inzwischen auf dem Brett und lachte. Er war glücklich, er war wieder dabei! Ja, er war wieder ein richtiger Surfer. Es fühlte sich gut an, und als er, während er auf dem Brett saß, lautes Klatschen hörte, schaute er zum Strand. Carlos stellte sich auf sein Brett, fuhr mit Vollspeed zum Ufer, sprang vom Brett ab, ließ sein Brett treiben und lief durch das flache Wasser zum Strand. Er hob Vicky in die Luft, drehte sich mit ihr im Arm und gab ihr einen dicken Kuss.

    „Wofür war der Kuss?“

    „Dafür, dass du mich gestern wieder zum Surfer gemacht hast. Als wir gestern zusammen auf dem Wasser waren, da hat es bei mir wieder klick gemacht.“

    „Hey, ich war nur dabei. Du hast es ganz alleine geschafft.“

    „Nein, du bist schuld. Du bist schuld daran, dass ich wieder glücklich bin.“

    „Schön, dass du so glücklich bist.“

    „Wo ist dein Brett? Komm mit aufs Wasser.“

    „Ich kann heute nicht. Ich muss auch gleich wieder los, mein Papa braucht meine Hilfe.“

    „Schade. Sehen wir uns heute Abend?“

    „Heute Abend muss ich auch arbeiten. Aber morgen habe ich den ganzen Tag frei.“

    „Okay, dann sehen wir uns morgen zum Surfen.“

    „Ich habe eine Idee, ich hole dich um neun Uhr am Wohnmobil ab, wir packen deine Surfsachen mit in meinen Wagen und ich zeige dir hier auf der Insel tolle Orte zum Surfen.“

    „Super, ich freue mich.“

    „Ich mich auch. Bis morgen Carlos.“

    „Bis morgen.“ Während Vicky sich auf den Weg machte, stand Carlos schon wieder auf seinem Brett und ritt Wellen ab.

    Als wir beide wach wurden, war es bereits Nachmittag und Carlos war noch immer auf den Wellen unterwegs. Mit unseren Brettern unterm Arm gingen wir zum Strand und sahen Carlos, wie er auf seinem Brett am Strand saß und Pause machte. Anton ging mit seinem Brett auf das Wasser. Er hatte heute ein Paddel dabei, da er etwas von Stand Up Surfen, was eigentlich Paddling war, gelesen hatte und es ausprobieren wollte. Ich setzte mich neben Carlos und sah ihn an.

    „Du Nick, ich muss dir was sagen.“

    „Was gibt es denn?“

    „Es ist wieder da.“

    „Ich weiß.“

    „Was weißt du? Ich habe doch noch gar nichts gesagt.“

    „Dein altes Surffieber ist wieder ausgebrochen. Dieses unheilbare Surffieber hat dich wieder erreicht.“

    „Woher weißt du?“

    „Ich habe es gestern in deinen Augen gesehen und ich sehe es jetzt. Ich freue mich für dich.“

    „Danke.“

    „Möchtest du mir noch etwas sagen?“

    „Sollte ich?“

    „Nur wenn du willst.“

    „Du meinst Vicky?“

    „Ich meine nicht Vicky. Ich meine dich. Du magst sie sehr. Oder?“

    „Ja, woher weißt du?“

    „Wenn es nicht so wäre, hättest du heute Morgen mehr von eurem gestrigen Abend erzählst.“

    „Aber es passt jetzt doch nicht. Wir sind auf Männertour und diese Tour hat gerade erst begonnen.“

    „Hey, keiner hat gesagt, dass wir hier schnell wieder weg müssen. Wenn du sie wirklich so magst und sie dich auch, dann habt ihr nach der Tour alle Zeit der Welt, na ja fast zumindest. Am Donnerstag ist immer Billard, das kannst du ihr gleich beibringen.“ Wir lachten und ich nahm mein Brett, um auch noch ein wenig zu trainieren. Carlos blieb auf seinem Brett sitzen und gab uns gutgemeinte Hinweise. Allerdings können einem, wenn man für etwas zu blöd ist, auch gutgemeinte Hinweise auf den Keks gehen.

    Während Carlos dabei war, den Grill zu starten, deckte ich den Tisch. Anton war heute der Getränkewart und besorgte die notwendigen Biere.

    „Jungs, wir müssen heute etwas besprechen“, warf Carlos in die Runde. Zwischen Karbonaden, Würstchen und Salt begann er mit den Themen, die ihn beschäftigten.

    „Zwei Punkte gibt es. Wir müssen uns Gedanken machen, wie unsere Tour weitergehen soll. Ich meine, wohin wollen wir fahren. Dann ist auch noch die Frage offen, ob ich nun euer Surftrainer sein soll oder ob ihr schon genug davon habt.“

    „Ich würde gerne weiter üben und ein besserer Surfer werden. Ich muss zugeben, dass es mir wirklich viel Spaß macht.“

    „Was meinst du Anton?“

    „Also, ich habe Angst um mein Knie und manchmal auch leichte Schmerzen. Deshalb möchte ich nur noch Stand Up machen. Das ist eine total coole Sache. Wann und wohin unsere Tour weitergeht, ist mir egal. Ich finde es hier total schön und noch geht mir Rügen nicht auf den Geist. Meinetwegen können wir noch hierbleiben.“

    „Meinetwegen auch“, sagte ich und schickte unseren Getränkewart los, um neues Bier zu holen.

    „Was ist mit dir Carlos?“, fragte Anton, als er mit den Bieren zu uns zurückkam.

    „Ich möchte gerne weiter den Trainer spielen. Allerdings möchte ich auch weiter an mir trainieren. Ich möchte herausfinden, wie gut ich wieder werden kann.“

    „Und die Tour?“, wollte Anton wissen.

    „Tja, unsere Tour. Mir gefällt es hier sehr gut und ich finde, wir sollten noch hierbleiben. Aber wenn ihr los wollt, dann fahren wir weiter.“

    „Trinken wir auf Rügen und darauf, dass Carlos bald wieder mit der Nummer 2004 an den Start gehen wird.“ Anton warf uns die Flaschen zu und wir stießen an.

    Erst jetzt fiel Carlos auf, dass Anton eben etwas von der Nummer 2004 erwähnt hatte.

    „Woher kennst du meine alte Segelnummer?“

    „Ich kann lesen und nicht nur auf dem Wasser, sondern auch im Internet surfen. Aber du kannst mir mal etwas verraten. Warum bist du bei Wettkämpfen ausgerechnet mit der 2004 gestartet?“

    „Als ich damals in die Tour eingestiegen bin, hatte ich das Ziel, bis zum Jahr 2004 deutscher Meister zu werden. Die Nummer sollte ein Ansporn für mich sein.“

    „Willst du die Nummer jetzt ändern?“

    „Das brauche ich nicht. Erstens fahre ich keine Wettkämpfe mehr und zweitens wird sie wahrscheinlich inzwischen vergeben sein.“

    Ich hörte bei diesem Gespräch einfach nur zu und murmelte versehentlich:

    „Wir werden sehen, was passiert“, anstatt es nur zu denken.

    „Was hast du gesagt?“

    „Ich? Äh, nichts. Prost!“


Sie fehlt!

  • Leider war Antje dieses Wochenende nicht auf Rügen. Zumindest entdeckte ich sie nirgends, und so konzentrierte ich mich auf das Surftraining. Für Montag und Dienstag hatte Carlos einen richtigen Trainingsplan für mich erarbeitet. Am Mittwoch fuhren wir zu einer der Stellen, die Carlos von Vicky gezeigt bekam. Oh Mann, hier zu surfen, war schon eine andere Liga, und so lag ich ziemlich viel im Wasser. Anton paddelte wie ein verrückter und hielt sich dabei relativ gut auf dem Brett. Er hatte eine neue Sportart für sich gefunden und trainierte wie ein Verrückter. Den Donnerstag verbrachten wir mit einer Inseltour, da unsere Körper vom vielen Sport nach einer Erholung schrien. Plötzlich war schon wieder Freitag und ich erwischte mich immer öfter dabei, dass meine Gedanken bei Antje waren und ich hoffte, sie dieses Wochenende endlich wieder zu sehen.

    Ja, sie fehlte mir.

    Den Tag selbst verbrachten wir mit unseren Brettern auf dem Wasser. Vicky war heute ebenfalls dabei, da Carlos und sie gemeinsam Sprünge üben wollten. Anton probierte Drehungen im Weißwasser aus und ich sprang beim Surfen über die ersten kleinen Wellen und blieb tatsächlich manchmal sogar nach einer Landung auf dem Brett stehen. Am späten Nachmittag packten wir unsere Sachen zusammen und schmissen den Grill an. Vicky saß im Gras vor dem Wohnmobil. Sie wurde erst zum Salatmachen degradiert und anschließend von uns zum heutigen Getränkewart gewählt. Gegen neunzehn Uhr piepte Antons Handy. Er las die Nachricht und schaute etwas verwirrt. Sein Blick erinnerte mich an den Blick, den er bei meiner damaligen Claudia-Aktion auf Sylt hatte und so fragte ich:

    „Alles gut?“

    „Fast.“

    „Fast ist eine echt coole Antwort. Die hilft mir allerdings nicht weiter.“

    „Ich weiß nicht, von wem die WhatsApp ist.“

    „Lies mal vor.“ Dies tat Anton auch prompt: Hallo junger Mann, ich hoffe, es geht dir gut. Wollte mich einfach mal melden und hoffe, du bist deshalb nicht böse. Lieben Gruß Anna

    „Die ist nicht für dich“, sagte Carlos.

    „Da hat jemand an eine falsche Nummer gesendet“, meinte Vicky.

    „Kennst du denn eine Anna?“, fragte ich.

    „Nein, ich kenne keine Anna.“

    „Dann haben die beiden recht. Mach dir keinen Kopf.“ Ich sah Vicky an und sie verstand meinen Blick. Vicky stand auf, um uns neue Getränke zu holen, allerdings nicht, ohne zu erwähnen, dass sie die Wahl zum Getränkewart beim nächsten Mal anfechten würde. Eine Stunde später machten wir uns alle zusammen auf den Weg zur Promenade. Dort angekommen, zog ich Anton am Arm, damit wir beide uns etwas zurückfallen lassen konnten.

    „Willst du die beiden alleine lassen?“

    „Nein, hast du das Plakat nicht gesehen?“

    „Nein, welches?“

    „Da vorne kommt wieder eins, schau es dir an. Aber bitte so, dass die beiden nichts mitbekommen.“

    „Gibt es wieder eine Strandparty?“

    „Nein, besser.“

    Dann waren wir beim nächsten Plakat angelangt. Es war die Ankündigung für ein großes Surfevent. Jeder durfte daran teilnehmen und es gab sogar Preisgeld. Es fand von Donnerstag bis Sonntag statt und zwar Anfang Juni.

    „Du meinst, wir melden Carlos dort an?“, fragte mich Anton.

    „Nein.“

    „Nein? Dann verstehe ich nicht, was du willst.“

    „Wir melden Carlos und Vicky dort an.“

    „Du Arsch!“

    „Danke.“

    „Bitte.“

    Während wir weiter gingen, hielt ich Ausschau nach Antje. Ich hoffte, dass sie dieses Wochenende wieder auf der Insel auftauchen würde. Leider sah ich sie bisher nicht und ich erwischte mich dabei, dass ich tatsächlich etwas traurig darüber war.

    „Denkst du schon wieder an Bibi?“, wollte Anton wissen.

    „Nein.“ Ausnahmsweise brauchte ich bei meiner Antwort auf die Bibi-Frage von Anton mal nicht zu lügen.

    „Wirklich nicht?“

    „Nein, wirklich nicht.“

    „An Antje?“

    „Aber nur ein bisschen.“

    Wir hörten Vicky rufen. Allerdings kam das Rufen von hinter uns, worüber wir uns wunderten, da die beiden doch die ganze Zeit vor uns gingen. Vicky und Carlos saßen an einem Tisch vor der Bar, in der Anton und ich erst vor kurzen versackt waren. Da wir bei unserem Gespräch so vertieft waren, bemerkten wir nicht, dass die beiden vor uns abgebogen waren und sich an einen freien Tisch gesetzt hatten. Wir liefen einfach weiter.

    „Ihr Träumer“, schmiss uns Carlos entgegen, während wir uns setzten.

    Am Samstag ging ich mit Anton gleich nach dem Frühstück los, um neue Lebensmittel zu kaufen. Carlos ließen wir alleine am Wohnmobil zurück, da es übertrieben war, zu dritt einkaufen zu gehen. Zumindest begründeten wir es ihm gegenüber so, da unser eigentlicher Plan war, ihn und Vicky beim Surfevent anzumelden. Leider stand auf den Plakaten nichts davon, wo man sich zum Anmelden hinbegeben musste, und so fragten wir uns durch, bis wir schließlich bei der Kurverwaltung ankamen. Hier sollte es einen Schalter für den Kurkartenverkauf geben, an dem es auch die Anmeldeformulare für das Surfevent gab. Anton drückte an der Tür, doch es tat sich nichts. Mein blöder Spruch, dass er es lieber mit Ziehen probieren sollte, war zwar berechtigt, leider jedoch ebenfalls erfolglos. Wir waren zu früh, da die Kurverwaltung erst um zehn Uhr öffnete und wir noch zwanzig Minuten warten mussten. Endlich war es so weit und wir taten heute etwas, was wir sonst immer ziemlich behämmert fanden. Als die Tür vom Personal aufgeschlossen wurde, gingen wir mit schnellen Schritten zum Schalter, um nicht eine Ewigkeit warten zu müssen. Vor der Tür hatte sich inzwischen eine ziemlich große Menschentraube versammelt, die den gleichen Schalter wie wir ansteuern wollte. Zum Glück waren wir aber die Jüngsten, was hier und jetzt allerdings auch nicht besonders schwierig war, da die versammelte Menschentraube auch als Rentnertreffen durchgegangen wäre. So erreichten wir den Schalter als Erste.

    „Dann benötigen wir noch den Personalausweis von Herrn Carlos Schulze“, sagte die junge Frau hinter dem Tresen der Kurverwaltung.

    „Den haben wir nicht.“

    „Dann kann ich die Anmeldung nicht ausstellen.“

    „Ist das nicht ein etwas übertriebener Formalismus und ziemlich kleinkariert von dir?“, dachte ich und sagte lieber die Worte:

    „Wie schade. Herr Schulze kommt erst am Tag des Events auf die Insel und er hat an diesem Tag auch noch Geburtstag. Wir wollten ihn doch so gerne mit diesem tollen Event als Geburtstagsgeschenk überraschen. Mir ist klar, dass Sie Ihre Anweisungen haben. Aber gibt es keine andere Möglichkeit?“ Ich sah die junge Frau dabei mit meinem seit vielen Jahren geübten Dackelblick an.

    „Aber wirklich nur ausnahmsweise. Aber am Tag des Events muss Herr Schulze den Personalausweis vorzeigen.“

    „Das wird er. Eine Bitte habe ich noch. Die Segelnummer, mit der Herr Schulze starten möchte, ist die 2004. Können Sie dies bitte noch vermerken?“

    „Da muss ich nachsehen, ob die Nummer bereits vergeben ist. Einen Moment bitte.“ Einen kurzen Augenblick später bekam ich die Info, dass Carlos mit der Nummer 2004 starten konnte und er die Nummer zusammen mit den Werbeaufklebern am Tag des Rennens erhalten würde.

    „Vielen Dank. Wie kann ich Ihre Mühe nur wieder gut machen?“, fragte ich, wie man diese Frage halt so stellt und erwartete die Antwort: „Das brauchen Sie nicht, das hab ich doch gerne gemacht.“ Allerdings sah mich die junge Frau an und sagte:

    „Sie können es wieder gut machen, wenn sie heute Abend mit mir etwas trinken gehen.“

    „Was trinken gehen?“, fragte ich, während Anton die Kurverwaltung verließ, um zu lachen.

    „Heute Abend kann ich nicht. Aber ich vermute, dass Sie doch bestimmt eine Mittagspause haben. Ich könnte Sie in der Mittagspause zum Kaffeetrinken abholen“, sagte ich, obwohl ich wirklich keine Lust hatte, mich mit ihr zu treffen. Aber für einen Freund muss man manchmal ein Opfer bringen und immerhin hatte sie es gerade möglich gemacht, dass Carlos einen Startplatz bekam, obwohl unsere Anmeldung für ihn nicht regelkonform war.

    „Und?“, fragte Anton, als ich die Kurverwaltung verlassen hatte.

    „Ich hole sie um dreizehn Uhr zum Kaffee ab. Wir treffen uns in ihrer Mittagspause. Heute Abend geht gar nicht, stelle dir mal vor, ich sitze irgendwo mit ihr und Antje sieht mich. Die Mittagspause ist auf eine Stunde begrenzt, die werde ich schon überstehen.“

    „So hässlich ist die doch gar nicht“, meinte Anton und ich erwiderte:

    „So schön aber auch nicht.“

    „Du, Nick, wir haben die Anmeldung für Blondie, äh, ich meinte für Vicky vergessen.“

    „Kennst du ihren Nachnamen?“

    „Nein.“

    „Also können wir sie nicht anmelden.“

    „Dann fragen wir sie oder Carlos nach ihrem Nachnamen.“

    „Und womit willst du begründen, dass wir den Namen brauchen? Willst du was vom Poesiealbum erzählen?“

    „Stimmt, fragen ist blöd. Komm wir trinken einen Kaffee und überlegen weiter.“ Ich wusste zwar nicht, was Anton noch überlegen wollte, hatte aber ebenfalls Kaffeedurst. Wir entschieden uns jedoch dafür, erst den Einkauf zu starten. Als wir fertig waren, saßen wir mit vier vollen Tüten bewaffnet an einem Tisch auf der Promenade und blickten auf das Meer. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor, und die ersten Urlauber kamen mit ihren Strandtaschen zum Strand und mieteten Strandkörbe.

    „Was macht ihr zwei den schon hier? Wollt ihr gar nicht aufs Wasser hinaus?“

    „Wir mussten einkaufen. Du isst und trinkst uns ja seit einigen Tagen alles weg“, antwortete ich und grinste.

    „Und du? Was machst du hier?“

    „Ich muss arbeiten. Mein Papa braucht meine Hilfe. Bis später.“

    „Ja, bis später.“

    „Weißt du, was Vicky arbeitet?“, fragte ich Anton. Doch er schüttelte nur mit dem Kopf, da er auch keine Ahnung hatte.

    „Meier“, rief ich plötzlich und sah Anton dabei an. Er antwortete mit:

    „Ricken“ und grinste. Er war davon ausgegangen, dass ich das Spiel starten wollte, bei denen man immer einen Namen nennen musste, der mit dem letzten Buchstaben des Wortes begann, welches der andere vorher genannt hatte.

    „Vicky heißt Meier mit Nachnamen, du Honk.“

    „Wie kommst du darauf? Hast du plötzlich hellseherische Fähigkeiten oder hattest du eine Eingebung?“ Da ich im Gegensatz zu Anton Vicky beobachtet hatte, während sie zur Arbeit gegangen war, wusste ich nun ihren Namen und zeigte auf ein Schild.

    „Lies mal.“

    „Was soll ich lesen?“

    „Da vorne.“

    „So lecker. Erbsensuppe, Wurst und Getränke.“

    „Das Schild daneben.“

    „Eis. Jede Kugel nur achtzig Cent.“

    „Auf der anderen Seite.“

    Strandkorbvermietung Meier las Anton jetzt und ich sagte nichts. Als Anton gerade fragen wollte, ob das Schilderraten noch weiter ginge und was genau es mit Blondies Nachnamen zu tun hätte, sah er sie aus der Hütte, auf dem das Schild Strandkorbvermietung Meier angebracht war, kommen. Vicky zeigte einer Familie den Korb, den die Familie eben gemietet hatte, und ging zur Hütte zurück. Vor der Hütte saß ein Mann, den sie vorhin mit einer Umarmung und einen Kuss auf die Wange begrüßt hatte. Ich stand mit den Worten:

    „Bin gleich wieder da“ auf und war zehn Minuten später tatsächlich wieder zurück.

    „Wo bist du gewesen?“ Ich winkte mit einem Zettel und Anton konnte erkennen, dass es sich um eine weitere Anmeldung für unser Surfevent handelte.

    „Für Vicky?“

    „Klar. Wenn ich schon nachher einen Kaffee mit der jungen Dame aus der Kurverwaltung trinken muss, kann sie mir auch noch einen Gefallen tun.“ Wir hatten unseren Plan durchgeführt und einkaufen waren wir auch. Nachdem wir die Tüten ausgepackt hatten, machte sich Anton auf den Weg zum Strand, wo Carlos schon dabei war, für das Event zu trainieren, von dem er noch gar nichts wusste.

    Nachdem ich Bobby eine Stunde auf dem Rasen laufen ließ, ging ich zurück zur Promenade, um mein Versprechen einzulösen. Die Stunde war ganz nett, allerdings würde es keine Wiederholung geben. Da war ich mir sehr sicher. Es war einfach nur ein dahin plätscherndes Gespräch, bei dem ich hoffte, dass die Mittagspause der jungen Frau endlich vorbei ging. Auf keine der Anspielungen, dass wir uns unbedingt wieder sehen müssen, sprang ich an, da ich kein Interesse an meiner Begleitung hatte und mit meinen Gedanken sowieso die ganze Zeit nur bei Antje war. Endlich war ihre Pause vorbei und ich konnte, nachdem ich mich direkt auf den Weg zum Wohnmobil machte, auch aufs Wasser hinaus.

    Zusammen mit meinen Freunden verbrachte ich den restlichen Tag auf der Ostsee. Am Abend saßen wir kaputt, aber zufrieden vor dem Wohnmobil und sahen Bobby beim Löwenzahnfressen zu. Wir waren mit dem Essen bereits fertig, redeten über das Surfen und lauschten dabei der Brandung, die durch den Wind heute bis zu uns hinauf zu hören war. Carlos erzählte uns Geschichten über sich und andere Surfer, während Anton und ich gespannt zuhörten. Wir hörten sogar so gespannt zu, dass wir Bobby vergessen hatten zu beobachten. Daher krochen wir jetzt alle zusammen über den Rasen, durch die Beete und suchten in Gebüschen, bis wir unseren Ausreißer schlafend und an einen alten Baumstamm angelehnt, gefunden hatten.

    Wir lachten, tranken unsere Biere aus und gingen los, um Party zu machen.


Die Lüge

  • Ich hatte Carlos lange nicht so glücklich gesehen. Was nicht bedeutete, dass er ansonsten als Trauerkloß durch die Weltgeschichte ging. Aber er war anders. Carlos hatte den ganzen Tag ein Lachen auf den Lippen, seine Augen funkelten wieder. Wenn er auf seinem Brett stand, wirkte er frei. Ich hatte schon viel über das Surfen und über die Surfer gelesen und versuchte mich immer einzufühlen in diese Magie, die die Surfer über ihr Leidenschaft und ihr Leben beschrieben. Aber so richtig nachvollziehen konnte ich es nicht. Jetzt war es anders. Dadurch, dass ich seit fast einem Monat selber täglich auf dem Brett stand, konnte ich einiges besser nachempfinden. Aber durch Carlos wurde mir klar, dass Surfen kein Hobby war. Surfen ist nicht nur Leidenschaft, nicht nur Adrenalin und nicht nur Freude. Nein, Surfen ist für diese Menschen der Lebensinhalt. Es ist einfach alles für sie. Es gab für Carlos, seit wir durch unsere Männertour hier auf Rügen gelandet waren, gestrandet passt fast noch besser, keine Zwänge mehr. Er nahm sein Brett, steuerte das Meer an und fühlte sich grenzenlos. Nein, wir alle waren grenzenlos. Grenzenlos glücklich darüber, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Unsere Tour war genau das, was uns in unserem jetzigen Lebensabschnitt gut tat. Wir dachten nur selten an früher, wir planten so gut wie nie über den nächsten Tag hinaus. Wir lebten im Jetzt und was das Schönste dabei war, wir genossen es.

    „Ich nehme einen Kaffee“, sagte Carlos zur Bedienung, als wir die nächste Runde bestellten. Auf unsere Frage, „Weshalb Kaffee?“, sagte er, dass er morgen mir Vicky zum Surfen will, da reichlich Wind angesagt war und sie gemeinsam an ihren Sprüngen arbeiten wollten.

    „Ich auch einen Kaffee“, rief Anton der Bedienung hinterher. Ich brauchte nicht zu fragen warum, da er es mir von alleine erklärte.

    „Dann gehe ich morgen auch ganz früh runter zum Strand und mache Stand Up. Neulich war es schon hammergeil und bei noch höheren Wellen muss es gigantischen Spaß machen.“ Auch er war von dem Surfvirus infiziert.

    „Ist wohl klar, dass ich auch dabei bin. Sag mal, haben wir zwei Paddel? Dann mache ich morgen auch Stand Up mit dir.“

    „Vicky hat Paddel in ihrem Kombi. Ich lege morgen eins davon raus, wenn ich abgeholt werde. Du musst aber mit daran denken“, meinte Carlos.

    „Du aber auch“, sagte ich zu Vicky und sah sie an, da sie sich gerade zu uns gesellt hatte.

    „Klar, aber nur, wenn du bei der nächsten Wahl zum Getränkewart nicht für mich stimmst.“

    „Versprochen“, sagte ich und kreuzte meine Finger.

    Antons Handy meldete sich und er zog es aus der Hosentasche, um nachzusehen, wer ihm geschrieben hatte.

    „Hört mal“, sagte er und las und die Nachricht vor.

    Hey Anton, möchtest du dich nicht melden? Schade, ich hatte meinen ganzen Mut zusammengenommen, um dir zu schreiben. Na ja, einen Versuch war es wert. Dir und deinen Freunden noch eine tolle Tour. Gruß Anna.

    „Wieder diese Anna? Ist ja irgendwie komisch.“

    „Ja Carlos, die gleiche Nummer und der gleiche Name.“

    „Nun überlege doch mal genau. Wem hast du deine Nummer gegeben?“, forderte ich Anton auf.

    „Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung!“

    „Aber diese Nachricht kann eindeutig kein Versehen sein. Sie schreibt dich mit Namen an und sie weiß von unserer Tour.“

    „Steckst du wirklich nicht dahinter?“, wollte er von mir wissen.

    „Nein! Surferehrenwort.“

    „Schreib zurück und frage, wer sie ist“, forderte Carlos ihn auf.

    „Was soll ich ihr denn schreiben?“

    „Nur mit dir ist der Sand immer ein wenig weicher“, sagte ich lachend, da dieser Spruch Anton und mich seit Jahren begleitete. Immer wenn er mir die Frage stellte, was er schreiben sollte, bekam er von mir diesen, oder das Original mit dem Schnee aus dem alten Tom Hanks Schmachtfilm, als Antwort.

    „Nein, jetzt mal im Ernst, hast du eine Idee?“

    „Die Wahrheit.“ Carlos mischte sich ein.

    „Was heißt die Wahrheit?“

    „Ganz einfach. Schreib, dass du keine Ahnung hast, wer sie ist.“

    „Und wenn es jemand ist, dessen Handynummer ich gelöscht habe?“

    „Dann ist es egal. Wenn sie dir nicht egal gewesen wäre, hättest du die Nummer nicht gelöscht. Überhaupt, wann hast du zuletzt Handynummern gelöscht?“

    „Das ist schon lange her.“

    „Siehst du!“

    „Was meinst du?“ Anton sprach mich an, doch ich hatte die letzten Minuten nicht zugehört. Was nicht daran lag, dass mich das Thema nicht interessiert hatte, sondern daran, dass Antje einige Tische weiter saß und mich nicht registriert hatte.

    „Nick. Was meinst du?“, Anton wiederholte seine Frage, und da ich nicht fragen wollte, wie der Stand unseres Gespräches gerade war, sagte ich einfach:

    „Carlos hat recht.“

    Während Anton versuchte, eine vernünftige Nachricht zu formulieren, stand ich auf und ging zu Antjes Tisch hinüber.

    „Darf ich?“, fragte ich, während ich mich zu ihr setzte.

    „Du sitzt ja schon.“ Mehr kam nicht als Antwort.

    „Ich freue mich, dass du hier bist“, sagte ich und war mir nicht sicher, ob sie das gleiche dachte.

    „Sicher?“

    „Ja. Was ist los mit dir?“

    „Nichts.“

    „Genau. Dann möchte ich dich aber nicht erleben, wenn was los ist.“

    „Ist doch egal.“

    „Trinken wir noch einen Kaffee oder ein Bier zusammen, bevor du mich wieder wegschickst?“, wollte ich wissen.

    „Können wir.“

    „Kaffee oder Bier?“

    „Wenn es schon sein muss, dann Bier.“ Ich kommentierte ihren Satz lieber nicht. Ich überlegte vielmehr krampfhaft, was sie haben könnte und bestellte schnell das Bier, bevor sie mir weglaufen würde. Nachdem wir angestoßen hatten, startete ich einen neuen Versuch.

    „Sagst du jetzt, was los ist? Und komme nicht wieder mit diesem gelogenen nichts.“

    Antje erzählte mir, dass sie schon gerne letztes Wochenende auf die Insel gekommen wäre, aber leider arbeiten musste. Sie hatte sich die ganze Woche auf heute gefreut, und als sie hier ankam, musste sie hören, dass ich mit einer anderen rumgemacht hatte.

    „Es steht dir doch frei. Wir kennen uns kaum und eine Beziehung haben wir auch nicht. Aber ich hatte mich gefreut, dich zu sehen. Und dann, kaum bin ich auf der Insel, erfahre ich solche Sachen.“ Ich dachte sofort an meine Nacht mit Mimi und wollte gerade mit den Themen, viel Alkohol und schwanzgesteuert beginnen, als Antje sagte:

    „Und dann noch mit dieser notgeilen Inselschlampe!“

    „Inselschlampe?“, dachte ich. Ich war mir ziemlich sicher, dass Mimi nicht von der Insel kam.

    „Ja, sie war schon während der Schulzeit eine Schlampe, und es gab hier auf der Insel wohl noch nie eine Party, auf der sie alleine blieb oder nach der sie alleine nach Hause gegangen ist. Man Nick, die ist so billig! Warum gerade die?“

    „Mimi konnte ihre Schulzeit nicht zusammen mit Antje verbracht haben. Mimi war mindestens acht Jahre jünger als Antje, und sie werden hier auch garantiert nicht die gleichen Partys besucht haben“, dachte ich und fühlte mich etwas unschuldiger.

    „Ganz ehrlich, ich weiß nicht, was du meinst.“

    „Du weißt nicht, was ich meine? Willst du mir jetzt etwa erzählen, dass du nicht mit Kathleen unterwegs gewesen bist und nicht mit ihr etwas getrunken hast?“

    „Ich kenne keine Kathleen“, sagte ich, und wenn die Situation nicht gerade einen so blöden Stand erreicht hätte, hätte ich wohl darüber lachen müssen. Immerhin war der Name Kathleen aus meiner Sicht einer dieser typischen Ossinamen, der in keiner meiner Aufzählungen fehlte.

    „Lüge mich nicht an.”

    „Ich lüge nicht!“ Auch mein Ton wurde lauter und Anton, Carlos und Vicky blickten zu uns herüber.

    „Dann sag mir doch mal, was du heute Nachmittag gemacht hast.“

    „Ich war auf dem Wasser.“

    „Bitte Nick lüge mich nicht an. Du kannst machen, was du willst. Du bist ein freier Mann. Aber warum lügst du?“

    „Ich lüge nicht!“

    Antje wollte aufstehen und gehen, doch ich hielt sie am Arm fest. Zwar nur ganz leicht, doch es genügte, um sie am Aufstehen zu hindern. Ich konnte sie nicht gehen lassen. Es wäre schon nicht gegangen, wenn ich tatsächlich heute Nachmittag irgendwelchen Blödsinn gemachte hätte, doch ich war mir keiner Schuld bewusst. Ich war den ganzen Nachmittag mit meinen Freunden auf dem Wasser und hatte dabei fast durchgehend an Antje gedacht.

    „Bitte bleib.“

    „Warum sollte ich bleiben?“

    „Weil ich gerne möchte, dass wir das Missverständnis aufklären.“

    „Es gibt kein Missverständnis. Ich weiß, was passiert ist.“

    „Doch, es scheint ganz offensichtlich ein Missverständnis zu geben. Es ist nämlich heute Nachmittag nichts passiert. Ich war auf dem Wasser und habe dabei an dich gedacht.“

    „Nick, wenn ich bleibe und wir es hier auflösen, wird es peinlich für dich werden.“

    „Kann nicht sein. Ich habe nichts gemacht.“

    „Warte“, sagte Antje und ging in die Bar hinein. Kurze Zeit später stand sie wieder vor unserem Tisch. Allerdings hatte Antje jetzt eine Frau an ihrer Seite. Es war die Frau aus der Kurverwaltung, bei der ich Carlos und Vicky heute Morgen fürs Surfevent angemeldet hatte und zum Dank für diese Ausnahme, die sie für mich gemacht hatte, mit ihr einen Kaffee trinken gehen musste.

    „Letzte Chance Nick. Willst du es selber erzählen, oder soll ich Kathleen bitten, dass sie die Geschichte nochmal erzählt?“, fragte Antje.

    „Setzt euch doch, ist gemütlicher.“ Ich erntete für meinen Satz einen bösen Blick von Antje, erwiderte diesen allerdings mit einem Lächeln. Beide setzten sich hin und ich schlug vor, dass Kathleen, dessen Namen ich bis eben nicht kannte, da wir uns heute Nachmittag, warum auch immer, nicht vorgestellt hatten, die Geschichte erzählen sollte. Antje lehnte sich zurück. Es war allerdings kein Zurücklehnen, wie man es macht, wenn man genüsslich auf etwas wartete. Sie hatte, glaubte ich zu erkennen, selber Angst davor, Kathleens Geschichte nochmals zu hören. Sie wollte das Thema zwar geklärt haben, allerdings konnte ich in ihren Augen eine Art Angst erkennen. Vielleicht war es die Angst davor, dass wir nach diesem Gespräch getrennte Wege gehen würden. Dachte sie vielleicht sogar, dass Kathleen mir etwas bedeuten würde? Ich saß auf meinem Stuhl und hatte meinen Oberkörper nach vorne gebeugt. Gespannt wartete ich auf die Geschichte, die ich gleich erfahren würde. Immerhin war ich ja ein Teil von ihr. Kathleen war die Situation inzwischen sichtlich unangenehm, und sie stammelte unsere angebliche Liebesgeschichte nur mühsam vor sich hin. Allerdings erzählte sie in dieser Version auch nur das, was wirklich geschehen war. Als sie fertig war, sah Antje ganz erstaunt zu Kathleen und fragte,

    „Und weiter? Was ist mit dem Rest der Geschichte?“

    „Es gibt keinen Rest“, erwiderte sie kleinlaut.

    „Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst.“

    „Ja, mache ich.“

    Schweigend sah Antje mich an. Dann durchbrach sie ihr Schweigen endlich.

    „Da habe ich dir wohl Unrecht getan.“

    „Könnte man so sagen.“

    „Diese blöde Schlampe. Ich war gerade auf der Insel und habe sie auf der Promenade getroffen, als sie mir auch schon erzählte, was für ein toller Mann du bist. Was du für schöne Hände du hast und wie gut du mit diesen streicheln kannst. Küssen sollst du übrigens auch sehr gut können.“

    „Sie hat guten Geschmack“, sagte ich und grinste Antje dabei frech an.

    „Wie kann ich es wieder gutmachen?“

    „Ganz einfach komm mit rüber zu unserem Tisch.“

    „Mache ich.“

    „Schön, dass du da bist.“

    „Das finde ich auch.“Antje sah mir dabei tief in die Augen.

    Anton hatte noch immer sein Handy in der Hand und auf meine Frage, ob schon eine Antwort gekommen sei, erfuhr ich von ihm, dass er noch nichts geschrieben hatte. Ihm fiel einfach nichts Gutes ein und meine Idee mit dem weicheren Sand wollte er auch nicht schreiben.


Anton und die Nachricht

  • Am nächsten Tag waren wir ganz früh am Strand und warteten auf Wellen. Wobei Anton und mir die Wellen bereits hoch genug waren. Carlos, Vicky und Antje hätten jedoch lieber die Wellen gehabt, die der Wetterdienst angesagt hatte. Auch Antje war eine gute Surferin. Ich glaubte langsam, dass alle Insulaner surfen konnten und viele davon sogar sehr gut. Als wir am Abend zusammen vor dem Wohnmobil saßen, piepte Antons Handy.

    „Die ist von Anna. Oder?“ Vicky sah ihn an.

    „Stimmt, woher weißt du?“

    „Weibliche Intuition. Was hat sie geschrieben?“

    „Ja.“

    „Was JA?“

    „Sie hat JA geschrieben.“

    „Einfach nur JA?“

    Da ich dieses wahnsinnig intelligente Gespräch unterbrechen wollte, mischte ich mich ein und fragte Anton:

    „Was hattest du ihr geschrieben, worauf sie mit JA geantwortet hat?“

    Anton las seine Ausgangsnachricht vor und sah uns an. Hallo Anna, kennen wir uns?

    Wir vier warteten gespannt auf das, was Anton noch geschrieben hatte. Doch wir warteten vergebens. Er las nichts weiter vor, da es nicht mehr zum Vorlesen gab.

    „Du hast geschrieben, Hallo Anna, kennen wir uns? Mehr nicht?“

    „Mehr nicht.“

    Keiner von uns konnte etwas sagen und zwar einige Minuten lang nicht. Es war nicht so, dass wir sprachlos waren, obwohl man bei einer solchen Nachricht gut und gerne hätte sprachlos sein können. Wir konnten einfach vor lauter lachen kein Wort über die Lippen bringen. Immer wenn sich einer von uns ein wenig beruhigt hatte, wurde er von den anderen wieder angesteckt. Anton lachte ebenfalls mit. Nachdem er seine Nachricht und die dazugehörige Antwort von Anna nochmals gelesen hatte, merkte er selbst, was für eine schwachsinnige Frage er gestellt hatte. Einheitlich waren wir jedoch der Meinung, dass die Antwort von Anna extrem cool war! Irgendwann brachte ich ein

    „Und nun?“ heraus.

    Carlos schlug vor, dass Anton lediglich ein Schön zurückschreiben sollte, was uns wieder in Gelächter verfallen ließ. Vickys Vorschlag wurde abgelehnt. Sie meinte, dass ein Anruf das Beste wäre. Ich hatte die Idee, nichts zu schreiben und auf eine weitere WhatsApp von Anna zu warten, was auch keine Zustimmung fand. Anton selber hatte keine Idee und so kam Antjes Vorschlag zum Einsatz. Antje diktierte ihren Vorschlag nochmals ganz langsam, damit Anton die Nachricht direkt verfassen konnte. Kurz bevor Anton auf Senden drückte, las er die Nachricht laut vor.

    „Hört mal zu. Hallo Anne, vielleicht liegt es an meinem Alter, aber ich würde sagen, dass ich dich nicht kenne. Kannst du mir eventuell einen Tipp geben, damit ich wieder ruhig schlafen kann. Ich danke dir schon jetzt. Lieben Gruß Anton, so okay?“, fragte Anton in die Runde.

    „Nein nicht okay.“

    „Was fehlt?“, wollte Anton von Antje wissen.

    „Fehlen tut nichts.“

    „Was ist dann?“

    „Ich an deiner Stelle würde nicht Anne schreiben, sondern Anna mit ihrem richtigen Namen ansprechen.“

    „Ups.“ Anton änderte Anne in Anna und schon flog die Nachricht zu ihrem Empfänger.

    Carlos kam mit neuen Getränken aus dem Wohnmobil, und als er zum Baumstamm sah, wo eben noch Bobby tief und fest geschlafen hatte, bemerkte er, dass sie nicht mehr an diesem Platz saß.

    „Bobby-Alarm“, rief er in die Runde und alle wussten, was jetzt angesagt war. Wir suchten die Wiese, die Gebüsche und alle anderen Stellen rund um das Wohnmobil ab, leider vergebens. Bobby war nicht zu finden. Nochmal krochen wir fünf auf allen Vieren durch die Gegend und sahen überall dort nach, wo wir eben bereits gesucht hatten. Wir setzten uns kurz auf unsere Stühle und überlegten, wo wir noch suchen konnten. Vicky schlug bereits vor, Zettel zu schreiben und diese auf dem Campingplatz zu verteilen.

    „Wenn du ein Bild von ihr hast, können wir es entwickeln lassen und auf jeden Zettel eins kleben“, schlug Vicky weiter vor. Zum Glück war es nicht notwendig. Als Carlos sein Bier vom Boden hochheben wollte, sah er Bobby. Sie lag unter dem Tisch und war mit der Vernichtung einer Löwenzahnpflanze beschäftigt.

    „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute ist so nah“, zitierte Antje und alle waren froh, dass Bobby wieder bei uns war. Wobei, eigentlich ist sie ja gar nicht weg gewesen. Es piepte und alle sahen gespannt und erwartungsvoll auf Anton.

    „Meine Schwester hat geschrieben“, sagte er, und als er unsere enttäuschten Gesichter sah, grinste er blöd.

    „Anna“, sagte er jetzt. Wieder sahen wir ihn gespannt und erwartungsvoll an, doch er sprach nicht weiter.

    „Lies vor oder lass das Handy rüberwachsen.“ Vicky war extrem neugierig.

    „Dann hört mal gut zu. Sie schreibt: Hallo Anton, ich kann dich beruhigen. Ich glaube, du kennst meinen Vornamen gar nicht. Wir haben SIE zueinander gesagt. Da hatte ich aber nicht dran gedacht. Lieben Gruß von Frau Plate.“

    „Und? Hilft es jemanden weiter?“, fragte Anton und blickte in die Runde. Er konnte in drei fragende Gesichter sehen und mich sagen hören:

    „Siehst du, manche Wünsche erfüllen sich doch.“ Alle anderen konnten mit der Nachricht und mit dem Namen Frau Plate natürlich nichts anfangen. Wie auch, sie waren bei unseren Beste-Freunde-Gesprächen nicht dabei gewesen.

    „Wenn die beiden schon Geheimnisse vor uns haben und nix verraten wollen, kannst du uns wenigstens ne Info geben?“, bat Vicky und sah Carlos dabei an.

    „Geht nicht. Ich habe echt keine Ahnung, wer Frau Plate ist und in welchen Kreisen Anton verkehrt. Ich treibe mich eher dort herum, wo sich geduzt wird.“

    „Ich sag nichts, oder wie Vicky sagen würde, nix.“

    „Nick, du bist ein Arsch. Ich versuche mir dieses blöde nix doch schon abzugewöhnen.“

    „Dann probiere es weiter, noch klappt es nix.“ Ich musste in Deckung gehen, da ich außer mit Beschimpfungen auch mit Eiswürfeln beworfen wurde.

    „Aber ich verrate es euch“, sagte Anton und sprach nach kurzer Gedankenpause weiter.

    „Frau Plate ist eine Krankenschwester. Um genauer zu sein, eine Medikatöse.“ Ich unterbrach Anton, da ihn Antje, Vicky und Carlos leicht unsicher anblickten.

    „Er meint Arzthelferin.“

    „Genau. Frau Plate ist meine Arzthelferin. Also nicht meine, sondern die von meinem Arzt. Ach, ihr wisst schon, wie ich es meine. Ich war am Tag vor unserem Tourneestart …“.

    „Welcher Tourneestart?“, fragte Antje.

    „Er meint unsere Männertour mit dem Wohnmobil und wollte Tourstart und nicht Tourneestart sagen.“ Diesmal übernahm Carlos das Erklären.

    „Ja, ich war kurz vor dem Tourstart, wegen meiner Knieschmerzen, beim Arzt und dort war eine superhübsche und meganette Medikatöse.“ Aus vier Kehlen wurde nun zeitgleich „Arzthelferin“ gerufen,

    „Ist ja gut, da war diese Arzthelferin. Wir sahen uns immer an und jeder versuchte, irgendwelche Wege zu gehen, um den anderen sehen zu können. Ich war bestimmt fünf Mal auf Klo, da ich auf diesem Weg immer am Schalter vorbei gehen musste, an dem sie saß.“

    „Sie saß am Schalter? Ist sie dort für das Licht zuständig?“, fragte Carlos und lachte sich schlapp.

    „Meinst du Rezeption?“, fragte Antje.

    „Nein, den Empfang. Eine Rezeption gibt`s im Hotel“, verbesserte ich Antje.

    „Sag ich doch. Dort saß sie und machte ihren Job. Als ich beim Doktor fertig war, hatte ich keinen Mut, sie anzusprechen. Außerdem ging am nächsten unsere Tournee los.“

    „Unsere was?“, Carlos lachte und wir machten mit.

    „Die Tour, du Honk.“ Schnell verbesserte sich Anton.

    „Immerhin hast du ihr ja deine Handynummer gegeben“, sagte Carlos.

    „Nein, habe ich nicht.“

    „Und woher hat sie die?“

    „Weiß nicht!“

    „Dann frag sie.“

    Der nächste WhatsApp Verkehr klärte uns auf. Anna hatte sich die Nummer heimlich aus der Patientenakte von Anton genommen. Sie entschuldigte sich auch bei ihm dafür, da die Patientendaten natürlich nicht für persönliche Zwecke entnommen werden durften. Es gibt ja den Datenschutz. Sie bat Anton auch darum, es auf keinem Fall jemanden zu erzählen. Dies versprach er ihr und bat uns, nicht darüber zu reden, da er es uns bereits verraten hatte. Im Übrigen verzieh er Anna auch großzügig, dass sie seine Handynummer aus seinen Patientendaten entnommen hatte. Allerdings nutzte er diese Aktion gleichzeitig dafür, sie zu erpressen. Sie musste sich den ersten Donnerstag und Freitag im Juni Urlaub nehmen und bis zum Sonntag zum Surfevent nach Rügen kommen.

    Die Antwort von Anna zu Antons Erpressungsnachricht, stand allerdings auch zwei Tage vor dem Event noch aus.


Überraschung

  • Was mich schon die ganze Zeit interessierte, ich aber bisher nie gefragt hatte, war, warum Vicky nur noch aus Spaß surfte. Immerhin war sie deutsche Vizemeisterin und nach so einem Erfolg einfach so aufzuhören, ist doch normalerweise Quatsch. Außerdem stand ihr in diesem Jahr erst ihr dreißigster Geburtstag bevor, und so konnte das Alter auch keine Rolle gespielt haben. Ich saß mit Carlos unten am Strand und wir sahen dabei zu, wie Vicky weit draußen auf dem Meer mit ihrem Brett unterwegs war.

    „Sag mal Carlos, warum surft Vicky eigentlich nicht mehr?“

    „Macht sie doch. Dahinten ist sie.“

    „Okay. War ne blöde Frage. Neuer Versuch. Warum surft sie nicht mehr als Leistungssportlerin? Immerhin war sie deutsche Vizemeisterin.“

    „Frag sie.“

    „Ich frag aber dich. Du wirst es doch wissen.“

    „Ich sag es aber nicht. Sorry Nick, ich habe es versprochen. Frage sie einfach. Ich vermute, sie wird es dir erzählen.“ Carlos ging zurück aufs Wasser. Fast zeitgleich kam Anton mit seinem Brett zum Ufer gefahren, nahm sich eine Flasche Apfelschorle aus der Tasche und setzte sich neben mich.

    „Heute ist Dienstag.“

    „Was du alles so weißt Nick. Ich bin stark beeindruckt.“

    „Mal im Ernst! Wollen wir Carlos wirklich erst am Donnerstagmorgen darüber informieren, dass er einen Startplatz beim Surfevent hat?“

    „Ich finde schon, dann kann er nicht mehr flüchten.“

    „Aber wenn er nicht will, haben wir auch nur wenig Zeit, ihn zu überzeugen.“

    „Stimmt auch. Also morgen Abend?“

    „Abgemacht.“

    „Sag mal Nick. Weiß Vicky schon von ihrem Start?“

    „Nein, natürlich nicht.“

    „Dann werfen wir morgen Abend den Grill an und sagen es beiden zusammen. Wann kommt Antje auf die Insel?“

    „Sie fährt morgen direkt nach der Arbeit los. Hast du etwas von Anna gehört?“

    „Leider nicht. Ich glaube, ich frag nachher mal nach, was mit ihr ist.“

    Anton und Carlos waren vom Einkaufen noch nicht zurück, als Vicky am Wohnmobil auftauchte. Sie sah traurig aus. Ihre blauen Augen funkelten nicht wie gewohnt und sahen aus, als wenn noch vor kurzer Zeit Tränen aus ihnen gekullert wären.

    „Ahoi Vicky.“

    „Hi Nick.“

    „Was ist los?“

    „Am Wochenende ist unser alljährliches Surfevent.“

    „Ich weiß, auf der Promenade hängen Plakate davon. Bist du traurig?“

    „Meine Jahresdepressionen sind heute gekommen.“

    „Was bedeutet das?“

    „Ach Nick, jedes Jahr, wenn das Event losgeht, startet auch meine Depriphase.“

    „Warum?“

    „Weil ich gerne starten würde.“

    „Dann starte doch.“

    „Ich darf nicht.“

    „Dürfen Einheimische nicht starten?“

    „Doch klar. Mein Papa hat mir das Surfen verboten.“

    „Warum?“

    „Mein Bruder hatte vor einigen Jahren einen schweren Kite-Unfall. Eine Windböe hat ihn erwischt und hochgehoben. Bei der Landung ist er mit voller Wucht auf den Strand geknallt, und nach einigen Operationen und vielen Wochen Krankenhausaufenthalt ist er daran gestorben. Seitdem hat Papa mir es verboten, und wenn er wüsste, dass ich es heimlich mache, würde er mich wahrscheinlich umbringen.“

    „Und wenn du einfach übermorgen startest? Vielleicht erkennt er dann, wie wichtig dir das Surfen ist? Vielleicht ist er sogar stolz auf dich?“

    „Komisch, das gleiche hat Carlos auch schon gesagt.“

    „Dann scheint ja was Wahres dran zu sein.“ Vicky lachte etwas und ihre blauen Augen blitzten wieder etwas mehr.

    „So gefällst du mir schon besser. Möchtest du etwas trinken? Du brauchst auch nicht den Getränkewart zu machen. Der Getränkewart ist heute mein Job.“

    „Hast du ein Bier für mich?“

    „Klar. Warte, ich hole es.“ Als ich mit den Getränken zurück war, konnte ich Vicky nicht sehen. Erst als ihre blonden Haare kurz über den Tisch lugten, sah ich sie, zumindest einen Teil von ihr. Sie kniete auf dem Boden und fütterte Bobby mit Löwenzahn, den sie auf dem Weg hierher gesammelt hatte.

    Der Mittwoch begann morgens um sechs Uhr für uns, wenn auch nicht ganz freiwillig. Wir wurden von einer Nachricht für Anton geweckt, der mal wieder vergessen hatte, sein Handy leise zu stellen. Während wir ihn leicht angesäuert ansahen, verriet er uns den Inhalt der Nachricht.

    „Anna kommt morgen. Sie wird am Nachmittag bei uns sein. Sie hat bis Sonntag ein Zimmer gemietet.“

    „Das freut mich für dich. Können wir jetzt noch ein wenig schlafen?“, fragte Carlos und drehte sich wieder auf die andere Seite.

    Konnten wir nicht. Anton war wach. Und wenn Anton wach war, hatten wir auch keine Chance mehr zu schlafen. In Hamburg wäre er jetzt unter die Dusche gegangen. Dies hatte er hier auch einmal versucht und dafür den Einlauf seines Lebens von Carlos, erhalten. Carlos fragte damals in einem unwirschen Ton, was das Duschen bringen sollte, wenn wir eine Stunde später im salzigen Wasser surfen wollten. Geduscht wird am Abend, war seine deutliche Ansage. Allerdings hielt er seine Predigt mit etwas deutlicheren Worten, da er keine Lust hatte, den Wassertank andauernd aufzufüllen.

    Also standen wir jetzt auf. Besser gesagt blieben wir wach im Bett sitzen und tranken Kaffee. Zwei Kaffee und einige Frühstücksbananen später machten wir uns auf den Weg zum Wasser. Da wir leider nur wenig Wind hatten, legten wir für einige Stunden einen Strandtag ein.

    Mein Handy klingelte, da Antje am Wohnwagen angekommen war und uns, ich hoffte hauptsächlich mich, vermisste. Da während unseres Telefonates auch Vicky angekommen war, machten wir uns alle drei auf den Weg hinauf zum Campingplatz. Während wir uns nacheinander unter die Dusche stellten, warfen die Mädels den Grill an. Mit nur einer Gegenstimme wurde Antje zum Getränkewart gewählt und war nach kurzer Diskussion über das Thema Gleichberechtigung, auch damit einverstanden.

    „Ich hatte heute Morgen meinen ganzen Mut zusammengenommen und wollte mich für morgen anmelden.“

    „Wo anmelden?“, fragte Antje und Vicky klärte uns auf, dass sie gerne am morgen beginnenden Surfevent teilgenommen hätte.

    „Wann musst du starten? Wir sind natürlich als Zuschauer dabei. Dürfen wir?“

    „Wir werden alle nur als Zuschauer dabei sein. Es gibt keine freien Startplätze mehr“, sagte Vicky und sah bei diesem Satz sehr traurig aus.

    „Dass du den Mut hattest, es zu versuchen, ist doch toll“, antwortete Carlos und nahm Vicky in seine starken Arme.

    „Ja, aber genützt hat es nix.“

    „Doch, du weißt jetzt, dass du den Mut dazu hattest und du wirst es wieder versuchen.“

    „Hast du es versucht?“, wollte Vicky von Carlos wissen.

    „Was versucht?“

    „Dich wieder bei einem Surf-Cup anzumelden.“

    „Bei mir ist es etwas anderes.“

    „Warum?“

    „Ich bin zu alt.“

    „Für seine Träume ist man nie zu alt.“

    „Für diese Art Träume schon.“

    „Wirst du es machen, wenn ich dich darum bitte?“

    „Was machen?“

    „Dich wieder für einen Cup anmelden.“

    „Mal sehen.“

    „Warum mal sehen? Mache es für mich, wenn du es nicht für dich machen willst.“

    „Okay, aber nur mit dir zusammen.“

    „Abgemacht“, sagte Vicky und gab Carlos einen Kuss.

    Ich verschwand kurz im Wohnmobil und kam mit zwei Umschlägen wieder heraus. Grinsend setzte ich mich auf meinen Platz, schaute nach, ob Bobby noch schlafend an der Baumwurzel lag und verteilte zwei Flaschen Apfelschorle an Carlos und Vicky sowie zwei Biere an Antje und Anton. Ein Bier behielt ich in der Hand.

    „Was soll das?“, fragte Carlos und schaute erst auf seine Apfelschorle und dann auf mich.

    „In der der letzten Phase der Vorbereitung ist Alkohol verboten.“

    „Welche Vorbereitung? Los, gib mir dein Bier. Du kannst gerne meine Apfelschorle trinken.“ Ich streckte meinen Arm aus, allerdings nicht den, in dem ich mein Bier hielt, sondern den mit dem Umschlag.

    „Was ist das?“

    „Mach ihn auf.“ Carlos wollte den Umschlag gerade aufreißen, als ich „Stopp“ rief.

    „Warte, ihr könnt die Umschläge auch gleichzeitig öffnen.“ Jetzt gab ich auch Vicky ihren Umschlag. Fragend sah sie mich an.

    „Auf drei“, sagte Anton. Antje, Anton und ich fingen an zu zählen. Als beide den Umschlag geöffnet hatten, wurde es still. Zumindest bis zu dem Moment, als Vicky jubelnd aufsprang, auf meinen Schoß hüpfte und mir einen dicken Dankeskuss gab. Das gleiche tat sie anschließend bei Anton. Carlos war eher ruhig und aus seinem Blick war nicht zu erkennen, ob er sich freute oder wütend auf Anton und mich war. Dann nahm er seine Apfelschorle in die Hand, drehte den Deckel ab und während er die Flasche in die Luft hielt, sagte er:

    „Auf den Surf-Cup!“ Anton und ich waren erleichtert. Alle nahmen ihre Flasche in die Hand, und wir stießen mit drei Bieren und zwei Apfelschorlen auf Vicky und Carlos sowie das erste Surfevent der beiden seit vielen Jahren an. Als Anton mit einer Flasche Erdbeerlimes und fünf Gläsern aus dem Wohnmobil kam, schaute Carlos ihn fragend an.

    „Ich denke, die Vorbereitung hat für Vicky und mich bereits begonnen?“

    „Hat sie ja auch. Aber wie für alles im Leben, gibt es auch für die Vorbereitung eine Ausnahme.“

    „Und der Grund für den Erdbeerlimes ist?“

    „Wir stoßen nochmal auf morgen an.“

    „Nochmal auf das Surfevent?“

    „Nur indirekt.“

    „Und direkt?“

    „Darauf, dass wir morgen nicht mehr nur zu fünft sind.“

    „Gute Idee!“

    „Auf Anna“, rief ich und Anton ergänzte:

    „Und darauf, dass es ihr bei uns gefällt.“


Event

  • Carlos war super aufgeregt, und so war auch diese Nacht bereits um sechs Uhr vorbei. Es waren noch vier Stunden, bis die Starter zum Eintragen in die Meldeliste beim Eventgelände sein mussten. Vicky kam mit ihrem alten Kombi gegen acht Uhr zu uns, und Carlos begann damit, sein Equipment im Kombi zu verstauen. Um neun Uhr fuhren die beiden los. Wir erinnerten sie noch an die Personalausweise und gingen kurze Zeit später zu Fuß hinterher. Auf dem Weg dorthin konnte ich Antje endlich die Stelle zeigen, die ich vor unserem Wiedersehen auf der Strandparty als Abkürzung genommen hatte. Antje nahm mich in den Arm und sagte:

    „So etwas machst du aber nicht wieder.“

    „Ich habe es nicht vor“, sagte ich und wir gingen weiter.

    Alle Starter hatten sich eingetragen und am Strand war ganz schön was los. Überall lagen Surfbretter und Segel. Die Surfer liefen aufgeregt durch den abgesperrten Surferbereich, und auch zu dieser frühen Stunde waren schon sehr viele Zuschauer auf der Promenade und am Strand, um sich das Surfevent anzusehen. Für heute wurden, da die Wellen für Sprünge nicht hoch genug waren, zunächst Kursrennen angesetzt. Bei Kursrennen wird auf dem Meer mit Hilfe von Bojen und Tonnen ein Parcours abgesteckt. Die Surfer starten in Gruppen und die schnellsten kommen jeweils eine Runde weiter. Die Platzierungen werden gewertet, und am Ende der Veranstaltung gibt es neben den Siegern der einzelnen Rennen auch den Gesamtsieger. Gleiches gilt für die Disziplinen Slalom und Freestyle.

    Wir drei suchten unsere Freunde und fanden sie. Vicky stand mit einigen anderen Surferinnen zusammen und redete. Als sie uns sah, winkte sie und kam kurz zu uns rüber.

    „Ich bin ganz schön aufgeregt. Aber es ist toll, wieder dabei zu sein, und es ist irre, wie viele der Surfer ich noch kenne.“

    „Wir wünschen dir ganz viel Glück“, sagten wir und gingen, um Carlos zu suchen. Carlos kniete neben seinem Segel und war dabei, die Werbelogos, die von den Veranstaltern verteilt wurden, am Segel zu befestigen.

    „Hey ihr drei. Diese blöde Kleberei habe ich damals schon gehasst.“

    „Du machst es aber ganz gut“, antwortete Anton und grinste.

    „Schaut mal. Ich habe die Startnummer 2004 bekommen.“

    „Zufälle gibt es“, meinte ich augenzwinkernd und schlug Carlos auf die Schulter.

    „Das habe ich mir auch gedacht. Danke! So, jetzt lasst mich mal machen und geht einen Kaffee trinken.“ Carlos war nervös und wollte alleine sein. Wir taten ihm den Gefallen. Allerdings nahm ich ihn vorher noch kurz in den Arm und sagte:

    „Ich bin sehr stolz auf dich!“

    Abwechselnd starteten die Rennen der Frauen und der Männer. Vicky musste gleich im ersten Rennen an den Start und schaffte es knapp, eine Runde weiter zu kommen. Im dritten Männerrennen war Carlos dran und er setzte sich nach dem Start gleich mit großem Abstand von den anderen Surfern ab. Bei der dritten Tonne, an der gewendet werden musste, hatten ihn zwei Surfer eingeholt und auf dem Weg zur nächsten Tonne überholten sie ihn. Seine dritte Position konnte Carlos aber souverän ins Ziel retten. Beim nächsten Rennen erzielte Vicky tatsächlich einen Sieg. Ihre Freude war unbeschreiblich und ihr Freudenschrei war über den ganzen Strand zu hören. Sie sah heute, wodurch auch immer, besonders gut aus. Ich glaube, es lag daran, dass sie sich gerade ihren größten Traum erfüllte. Bis ins Halbfinale hatte es Vicky geschafft und sie freute sich schon auf den nächsten Durchgang.

    Carlos schaffte in seinem zweiten Rennen den zweiten Platz und kam eine Runde weiter. Besser gesagt, er war für zehn Minuten eine Runde weiter. Dann entschied die Jury, dass dem stattgefundenen Einspruch zugestimmt wird und Carlos daher disqualifiziert wurde. Er sollte bei einer Wende einen anderen Surfer behindert haben.

    „Spinnen die?“, fragte ich Carlos.

    „So ist das Leben.“

    „Du hast doch keinen behindert. Oder?“

    „Nein, habe ich nicht.“

    „Dann lege Einspruch gegen den Einspruch ein.“

    „Das kann ich mir sparen.“

    „Warum?“

    „Wenn ein zwölfmaliger deutscher Meister in der zweiten Runde ausscheidet und ein abgetakelter Ex-Surfer dafür eine Runde weiter kommt, kann so etwas schon mal passieren. Was meinst du, warum hier so viele Zuschauer stehen? Sind die wegen mir oder einem deutschen Meister hier?“ Ich schwieg.

    „Siehst du.“

    „Aber das ist gemein.“

    „So ist das Leben.“ Als ich hoffte, dass Carlos jetzt nicht sein Equipment zusammenpacken und nach Hause gehen würde, sagte er:

    „Aber im nächsten Rennen, da werde ich es allen zeigen!“

    „Genau!“ Ich war beruhigt.

    Der zwölfmalige Meister gewann den ersten Durchgang der Männer. Vicky kam bei den Frauen bis ins Finale und wurde dort Dritte. Ich war mir nicht sicher, ob sich Vicky oder Carlos mehr über Vickys dritten Platz gefreut hat.

    Die erste Runde vom nächsten Durchgang wurde gestartet und beide kamen in die nächste Runde. Nachdem beide auch die zweite Runde überstanden, waren jetzt alle Männer der dritten Runde auf dem Wasser und warteten auf den Startschuss. Carlos hatte einen guten Start und fuhr mit zwei anderen Surfern gemeinsam vorneweg. Kurz vor dem Ziel wurden die drei von einem vierten Surfer eingeholt, und so bogen an der letzten Tonne vier Surfer auf die Zielgerade ein. Es wurde spannend, und viele Zuschauer standen mit einem Fernglas in der Hand am Strand und stießen abwechselnd die Worte „Ah" und „Oh" aus. Es kamen nur drei der vier Fahrer in die nächste Runde. Carlos wurde Zweiter und konnte weiterhin vom Finale träumen. Er hatte es ins Halbfinale geschafft. Genau wie Vicky, die sogar wieder eines ihrer Rennen auf dem Weg ins Halbfinale gewonnen hatte. Zunächst wurde das Halbfinale der Frauen gestartet und es war sehr spannend. Keiner konnte sich absetzen, und so waren an der vorletzten Tonne noch alle Starterinnen eng beisammen. Als alle um die letzte Tonne gefahren waren, kamen sich zwei Surferinnen sehr nahe, und leider konnte keine von ihnen die für ein gutes Ergebnis notwendige Geschwindigkeit aufnehmen. An der letzten Tonne waren sie so weit zurück, dass sie keine Chance mehr auf die Finalteilnahme hatten. Leider war Vicky eine von beiden und somit hatte sie die Finalteilnahme wieder verpasst. Carlos hielt sich im Halbfinale richtig gut. Allerdings waren die anderen Surfer auch nicht schlechter. Als Carlos im Ziel ankam, war er Vierter und hatte das Finale knapp verpasst, da nur die ersten drei ins Finale einzogen.


Vickys Papa

  • Der erste Tag war vorbei und beide waren mit ihrer Leistung eigentlich zufrieden. Aber nur eigentlich, da sie schon sehr gerne in ein Finale eingezogen wären. Um achtzehn Uhr war Grillen angesagt und wir freuten uns schon alle auf den Abend. Vicky und Carlos mussten noch am Strand bleiben, um die Infos zu bekommen, wann und wie es morgen weiterging. Ich machte mich mit Antje auf den Weg zurück zum Wohnmobil, um den ersten Grillabend zu sechst vorzubereiten. Zeitgleich mit uns machte sich Anton auf den Weg zur Promenade. Anna und er hatten die Promenade als Treffpunkt ausgemacht, und nachdem die Rennen vorbei waren und sich die Aufregung bei uns gelegt hatte, stieg die Aufregung bei ihm. Er freute sich total auf Anna und hoffte, dass sie auch wirklich da sein würde. Während Antje den Salat schnitt, bereitete ich den Grill vor und stellte die Getränke kalt. Bobby war auch schon die ganze Zeit on Tour, und nachdem sie die restlichen Löwenzahnpflanzen vernichtet hatte, lag sie nun faul in der Sonne. Wir hörten den Kombi von Vicky und blickten in total freudige Gesichter. Kurz nach den beiden kam auch Anton um die Ecke. Er hielt Anna an der Hand und sah glücklich aus. Trotz der Vorbereitungsphase für morgen hatten nicht nur Anna, Antje, Anton und ich ein Bier in der Hand, auch Vicky und Carlos gönnten sich eine Kaltschale. Als wir gerade auf den heutigen Tag anstoßen wollten, hörten wir ein Auto.

    „Erwartet noch jemand Besuch?“ Alle verneinten meine Frage. Als ich in die Runde blickte und mein Blick bei Vicky stehen blieb, konnte ich einen total verunsicherten Gesichtsausdruck bei ihr erkennen. Alle schauten Vicky an, als sie sagte,

    „Das ist mein Papa.“

    Der Mann stieg aus und jetzt erkannte ich ihn auch. Er blieb vor dem Auto stehen und sah uns an, während er seine Mütze vom Kopf nahm. Während er auf uns zukam, wurde Vicky blass und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie Angst vor ihrem Papa hatte, oder ob es ihr schlechtes Gewissen war, da sie heimlich am Surf-Cup teilgenommen hatte. Herr Meier ging weiter. Als er den nächsten Schritt machen wollte, rief ich:

    „STOPP!“ Alle sahen mich merkwürdig an. So kannten sie mich nicht und Anna, die mich erst seit einer Stunde kannte, schaute total verwirrt.

    „Nick, es ist mein Papa“, sagte Vicky. Während ich in die Richtung von Herrn Meier ging und mich vor seinen Füßen bückte, erwiderte ich:

    „Ich weiß. Aber auch dein Papa muss nicht unbedingt auf Bobby treten.“ Ich hob Bobby hoch und sah Herrn Meier in die Augen.

    „Guten Tag Herr Meier. Mein Name ist Nick und die junge Frau auf meinem Arm ist Bobby.“ Meine Freunde waren wieder beruhigt und lachten. Als auch Vickys Vater mit lachte, entspannten sich Vickys Gesichtsmuskeln wieder und auch ihre Gesichtsfarbe wurde langsam wieder normal.

    „Ich möchte gerne mit Vicky reden.“

    „Können wir gerne machen“, erwiderte seine Tochter und ging auf ihn zu.

    „Komm, wir fahren nach Hause. Steig ein.“

    „Nein Papa, ich bleibe hier. Hier sind meine Freunde und wir wollen gleich grillen.“ Keiner von uns hatte eine Idee, wie es jetzt weitergehen würde. Carlos war auf dem Sprung, um einzugreifen, falls es zu schlimm für Vicky werden würde.

    „Vicky“, sagte ihr Papa mit seiner rauchigen Stimme. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein vorwurfsvolles oder doch ein normales Aussprechen ihres Namens war. Herr Meier sprach nicht weiter. Nach kurzer Zeit fing er dann doch wieder an.

    „Vicky, du weißt, wie sehr ich das Surfen hasse.“

    „Ja, aber …“

    „Bitte unterbrich mich nicht. Ich habe meinen Sohn und du deinen Bruder verloren und ich habe dich gebeten. Ich habe sogar darum gebettelt, dass du mit dem Surfen aufhörst.“

    „Papa, ich …“

    „Du sollst mich nicht unterbrechen! Vicky, ich will dir etwas sagen. Wenn du morgen wieder an diesem Surfevent teilnimmst …“ Wieder unterbrach Vicky ihren Papa und wir anderen erwarteten jetzt das Schlimmste. Ich ging davon aus, dass Vicky ab heute bei uns wohnen würde, da ihr Papa sie, bei einem morgigen Start, nie wieder sehen wollte.

    „Papa …“, Vicky wirkte völlig entsetzt und wurde schon wieder von ihrem Vater unterbrochen.

    „Also Vicky, wenn du morgen wieder an diesem Surfevent teilnimmst, dann sieh gefälligst zu, dass du auch gewinnst.“

    „Papa“, rief Vicky und sprang ihrem Vater in die Arme.

    „Es tut mir sehr leid, dass ich so dämlich war. Ich habe dich für etwas bestraft, wofür du gar nichts konntest. Und was noch viel schlimmer ist, ich habe dir deine Träume zerstört.“ Beide weinten. Als sie sich verabschiedet hatten und ihr Vater in den Wagen steigen wollte, rief Carlos:

    „Herr Meier.“ Vickys Vater drehte sich um und konnte gerade noch die Flasche Bier fangen, die Carlos ihm zugeworfen hatte.

    „Bitte bleiben Sie. Wir haben etwas zu feiern.“

    „Ja Papa, bitte bleib bei uns.“

    „Da kann ich mich wohl nicht wehren“, sagte Herr Meier und nahm Platz.

    „In was für einer Truppe bin ich hier eigentlich gelandet“, fragte Anna, allerdings ganz leise und nur Anton.

    „Ist es sehr schlimm mit uns?“

    „Sehr schlimm? Im Gegenteil! Es ist sehr schön. Superschön sogar!“

    Eine Stunde später nannten wir Herrn Meier beim Vornamen. Alle nannten ihn Ronald. Nur Anton rutschte immer wieder ein Rudolf raus. Aber das war ich von ihm gewöhnt. Namen sind für Anton Schall und Rauch, und die anderen werden sich auch noch daran gewöhnen. Zumindest kannte er unsere Namen und das war doch ein Anfang.

    Obwohl es ein schöner Abend war, brachen wir ihn um zweiundzwanzig Uhr ab. Vicky und Carlos mussten morgen wieder aufs Wasser und brauchten Schlaf. Carlos schlief bereits und Vicky war mit ihrem Vater losgefahren, als Anton und Anna aufbrachen. Anton wollte Anna zu ihrer Ferienwohnung bringen. Allerdings nicht, ohne vorher noch einen Strandspaziergang mit ihr zu unternehmen.


Die Sterne

  • Antje und ich waren alleine. Ich räumte den Tisch ab, während Antje einen großen Becher Tee für jeden von uns kochte. Als wir beide fertig waren, setzten wir uns nebeneinander auf einen Liegestuhl und blickten hinaus auf das Meer. Es war dunkel und wir konnten weit draußen auf dem Meer einige Lichter erkennen, die zu den vorbeifahrenden Schiffen gehörten. Über uns leuchteten die Sterne, und ich erkannte den Stern von Bibi und mir, da er am hellsten von allen Sternen leuchtete. Die Stille war fast unheimlich. Auf dem Campingplatz hatten auch die letzten Camper bereits ihre Wohnwagen geschlossen und die Lichter geloschen. Obwohl es kalt war, empfand ich es nicht so und trank langsam meinen Tee. Ich war über mich selbst erstaunt, dass ich eben nur kurz an Bibi und an unsere gemeinsame tolle Zeit gedacht hatte und meine Gedanken jetzt wieder im Alex waren. Ich dachte an den Tag, als mich Antje dort ansprach und ich nicht wusste, wer sie war. Ich überlegte, weshalb wir hier nebeneinandersaßen, obwohl ich mich an unser erstes Treffen beim Lotto-Konzert nicht erinnern konnte und ich mich bei unserem Treffen im Alex wie ein Arschloch benommen hatte. Eine Erklärung, weshalb ich mich im Alex so benahm, hatte ich bisher nicht gefunden. Ich glaubte, dass Anton recht hatte und es wirklich daran lag, dass ich vorher, beim Verlassen meiner Wohnung, das Türschild mit Bibis Namen darauf gelesen hatte.

    „Wenn unsere Tour vorbei ist, werde ich dieses Schild sofort entfernen“, waren meine Gedanken und gleichzeitig wurde mir klar, dass bereits über ein Viertel der Tour vergangen war. Einen kurzen Moment hatte ich Angst vor der Zukunft, denn wieder in den normalen Alltag eintauchen wollte ich nicht. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wieder konnte. Leider hatte ich aber bisher keine Alternative zum tristen Alltag gefunden und irgendwoher musste mein Geld ja schließlich kommen.

    Ich schob meine Gedanken beiseite und versuchte, an etwas anderes zu denken und mich darüber zu freuen, dass wir noch fast drei Viertel der Tour vor uns hatten.

    „Ist dir auch kalt?“, fragte ich Antje, ohne mich dabei zu ihr umzudrehen. Doch Antje saß gar nicht mehr neben mir. Ich war wohl ziemlich in meinen Gedanken verloren, dass ich ihr Verschwinden nicht mitbekommen hatte.

    „Antje?“, sagte ich nun etwas lauter.

    „Ich bin im Wohnmobil.“

    „Was machst du dort?“

    „Bin gleich wieder bei dir.“ Antje kam mit frischem Tee auf mich zu.

    „Ist dir nicht kalt?“, fragte mich Antje.

    „Langsam schon.“

    „Wollen wir lieber reingehen?“

    „Nein, hier ist es so schön. Halt mal meinen Becher, ich hole schnell etwas aus dem Wohnmobil.“ Nun ging ich ins Wohnmobil und kam mit einer Wolldecke sowie meiner Bettdecke wieder heraus. Ich legte die Wolldecke auf die Liege und deckte Antje mit meiner Bettdecke zu.

    „Besser?“

    „Fast perfekt.“

    „Nur fast? Ich bin enttäuscht.“ Antje hob die Bettdecke an und machte ein Zeichen, dass ich auch zu ihr unter die Decke kommen sollte. Nachdem ich ebenfalls unter der Decke lag, sagte Antje:

    „Jetzt ist es perfekt.“ Mir ging ein Lied von Ina Müller durch den Kopf, in dem sie davon sang, dass tausend Sterne leuchten. Ich war mir aber leider nicht sicher, ob es für diesen Moment das richtige Lied war, da ich nicht textsicher genug war. Ich glaubte zu wissen, dass irgendwie auch die Strophe ‚Ich sitze hier ganz allein‘ darin vorkam

    „An was denkst du?“, wollte Antje wissen.

    „Willst du eine ehrliche Antwort?“

    „Klar.“

    „An Ina Müller.“

    „Na toll, wir sind hier unterm Sternenhimmel, liegen zusammen unter einer Bettdecke und du denkst an Ina Müller.“ Wir lachten. Ich erzählte Antje jetzt genauer, an was ich eben gedacht hatte. Sie kannte das Lied, wusste den genauen Inhalt allerdings auch nicht. Wir gingen inzwischen alle möglichen Lieder durch, die etwas mit Sternen zu tun hatten und einigten uns darauf, dass wir selbst ein Sternenlied schreiben wollten.

    „Sag mal, das Buch auf dem Bett von Anton, ist das selbst geschrieben?“

    „Ja. Warum fragst du?“

    „Berufskrankheit.“

    „Schreibst du auch?“

    „Nein. Dafür hätte ich zu wenig Fantasie. Mein Buch hätte höchstens zwanzig Seiten.“

    „Was machst du dann?“

    „Ich arbeite in einem Verlag.“

    „Interessanter Job.“

    „Sag mal, ob ich das Buch mal lesen darf?“

    „Klar, warum solltest du es nicht lesen dürfen. Es ist ja schließlich dafür geschrieben worden.“

    Anton kam zurück und Antje verabschiedete sich von uns. Wieder durfte ich sie nicht bringen, da sie mit dem Fahrrad da war und schnell nach Hause und ins Bett wollte. Aber bis zum Fahrrad konnte ich sie immerhin begleiten. Nach fünf Metern waren wir am Rad angekommen, da es hinter dem Wohnmobil stand.

    „Ich fahr dann los.“

    „Fahr vorsichtig.“

    „Klar.“ Antje stieg aufs Rad und fuhr los.

    „Antje“, rief ich und sie hielt an.

    „Was ist?“

    „Ich möchte dir noch was sagen.“

    „Was gibt's?“

    „Danke für den Abend.“

    „Gern geschehen.“

    „Der Abend war sehr schön.“

    „Das fand ich auch. Gute Nacht, Nick.“ Antje fuhr los.

    Anton hatte uns als Gutenachtgetränk noch ein Bier geöffnet. Während wir es tranken und uns gegenseitig die Ohren über Anna und Antje vollschwärmten, sprang ich plötzlich auf.

    „Was hast du?“

    „Bobby. Ich habe Bobby vergessen.“ Wir suchten alles ab, knieten auf dem Boden, krabbelten über den Rasen und krochen auf allen Vieren durchs Gebüsch. Kurz dachte ich darüber nach, wie ich Bibi erklären sollte, dass Bobby weggelaufen war, schob diesen Gedanken aber schnell wieder fort.

    „Scheiße, Scheiße, Scheiße“, sagte ich, während Anton, zum inzwischen achten Mal, an Bobbys Lieblingsplatz nachsah. Mit den Worten „Ich hole eine Taschenlampe“ ging Anton ins Wohnmobil und kam kurze Zeit später mit zwei Erdbeerlimes in der Hand wieder zu mir hinaus.

    „Hier, nimm.“

    „Ich kann keinen Kurzen trinken, während ich Bobby suche.“

    „Dann höre auf mit der Sucherei.“ Ich wollte Anton gerade einen Vortrag halten, wie viel mir meine Schildkröte bedeutete und er dies doch eigentlich wissen müsste, als ich kapierte.

    „Ist Bobby in ihrem Gehege?“

    „Ja.“

    „Wer hat sie reingesetzt?“

    „Keine Ahnung. Ist ja auch egal. Hauptsache, sie ist da. Trinkst du den Kurzen jetzt mit mir?“

    „Gerne!“

    „Prost“, sagten wir beide und verschwanden anschließend in unseren Betten.

    Ich lag noch längere Zeit wach und schaute durch das Fenster hinaus, um die Sterne zu betrachten. Den kleinen Wagen konnte ich erkennen. Ansonsten hatte ich aber nicht viel Ahnung von Sternenbildern. Meine Gedanken waren bei Antje und bei unserem heutigen schönen Abend. Schon lange hatte ich mich in der Nähe einer Frau nicht so wohl gefühlt wie heute Abend. Neulich bei der Strandparty war dieses Gefühl bereits vorhanden, allerdings noch nicht so stark. Ich hatte immer abgeblockt, wenn ich merkte, dass eine Frau mehr von mir wollte, oder wenn ich mich dabei erwischte, selber Gefühle für eine Frau zu entwickeln. Für eine Beziehung fühlte ich mich nicht bereit. Zu stark war Bibi noch in meinem Herzen. Dies dachte ich noch bis vor kurzer Zeit. Doch seit einigen Tagen wurde mir deutlich, dass sie gar nicht mehr in meinem Herzen weilte. Bibi war lediglich in meinem Kopf geblieben. Klar hatte ich Frauengeschichten. Aber nur solche, wo ich wusste, ich würde mich nicht verlieben. Es waren viele schöne Frauen dabei, viele mit Humor und viele mit Geld. Aber keine war wie Bibi. Klar sollte eine Frau schön sein und natürlich musste man zusammen lachen können. Das Geld war für mich völlig uninteressant. Meinetwegen hätte sie gar kein Geld besitzen brauchen. Wichtig war das Besondere an einer Frau. Sie musste einfach dieses Besondere haben. Irgendetwas, was mich faszinierte. Immer wenn mich Anton oder Carlos fragten, was denn dieses Besondere war und ich es beschreiben sollte, konnte ich es nicht. Es ist nicht zu beschreiben, es ist einfach da. Bibi hatte etwas Besonderes. und neulich auf der Strandparty und heute Abend auf der Liege unter der Bettdecke, da habe ich dieses Besondere auch entdeckt. Ja, auch Antje hatte dieses Besondere. Zumindest für mich. Ich hätte Antje heute gerne so viele Sachen gesagt, hatte es aber nicht hinbekommen. Es ist so einfach, einer Frau, mit der man einen netten Abend verbringen möchte, schöne Dinge zu sagen. Aber bei einer Frau, für die ich mehr empfinde, da konnte ich es nicht so leicht. Ich ärgerte mich über mich selbst und nahm mir vor, es bei meinem nächsten Treffen mit Antje erneut zu versuchen. Meine Augenlider wurden immer schwerer und nach einem letzten Blick zu Bibis und meinem Stern fielen mir meine Augen zu.

    Geweckt wurde ich von frischem Kaffeeduft. Anton saß auf meiner Bettkante und hielt mir einen Becher vor die Nase.

    „Aufstehen.“

    „Wie spät ist es?“

    „Neun Uhr. Hier, nimm den Becher.“

    „Danke.“

    „Habe ich gern gemacht.“

    „Ich meinte nicht den Kaffee.“

    „Nein? Was denn dann? Ich habe doch heute sonst noch gar nichts gemacht.“

    „Danke, dass du mein bester Freund bist. Du hattest auch recht mit dem Namensschild, ich nehme es in Hamburg gleich ab.“


Doppelt hält besser

  • Gerade noch rechtzeitig kam ich mit Anton an der Promenade an. Der zweite Eventtag begann in wenigen Minuten, und Vicky wurde in die erste Startgruppe gelost, sodass wir ihr Rennen fast verpasst hätten. Aber eben nur fast! Anna und Antje saßen bereits mit einem Kaffee bewaffnet am Strand und winkte uns, obwohl wir sie natürlich schon lange gesehen hatten.

    „Schön dich zu sehen“, sagte ich zu Anna.

    „Dich natürlich auch.“ Ich zwinkerte Antje zu und gab ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange. Antje sah mich an und deutete auf die andere Wange. Sie wollte auch dort einen Kuss von mir haben. Ich tat ihr gerne diesen Gefallen und setzte mich anschließend zu ihr.

    „Hallo Rudolf“, rief Anton, als er Vickys Papa an uns vorbeigehen sah.

    „Rudolf, er heißt Ronald!“, sagte Anna und lachte.

    „Setz dich zu uns“, forderten wir Ronald auf.

    „Geht nicht, ich bin viel zu aufgeregt. Nach dem Rennen komme ich.“ Er war noch nicht ganz fertig mit seinem Satz und schon war er wieder verschwunden. Er stellte sich in die erste Reihe, denn er wollte nichts verpassen.

    „Sieger des ersten Laufes ist eine junge Frau von unserer wunderschönen Insel Rügen. Vor einigen Jahren war sie bereits deutsche Vizemeisterin, und wir wünschen ihr weiterhin viel Glück bei ihrem Comeback. Bitte beglückwünschen sie unsere Vicky Meier mit einem großen Applaus!“, erklang es aus dem Lautsprecher. Vickys Vater war nicht zu halten. Durch die Absperrung hindurch lief er zu Vicky und nach einer innigen Umarmung half er ihr, das Brett aus dem Wasser zu tragen. Gleich im Anschluss musste Carlos starten. Neben einem Kuss bekam er von Vicky noch die Worte

    „Jetzt du!“ mit auf den Weg.

    „Als Zweiter des Durchganges hatte sich Carlos Schulze ebenfalls für die nächste Runde qualifiziert.“ Wieder gefiel uns, was der Moderator per Lautsprecher in die Menge rief. Die nächsten Runden überstanden die beiden ebenfalls. Carlos wurde im Halbfinale sogar Zweiter, während sich Vicky nur durch eine Disqualifikation einer anderen Surferin ins Finale rettete. Aber ein Frühstart muss halt bestraft werden.

    „Wir sind im Finale!“, rief Anna. Anton und ich waren erstaunt - erstaunt über ihr wir. Aber noch viel mehr als erstaunt darüber zu sein, freuten wir uns über Annas Aussage. Vickys Vater lief wie ein aufgescheuchtes Huhn über das Eventgelände. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt irgendetwas mitbekam, was nicht Vicky oder Vickys Surfbrett betraf.

    Das Frauenfinale wurde zuerst gestartet, und wir waren jetzt garantiert genauso aufgeregt wie Vickys Vater. Als die Startsirene ertönte und die Mädels mit voller Pulle auf die erste Tonne zusteuerten, sah ich Carlos, wie er unten am Strand stand und sich das Rennen ansah. Eigentlich hätte er zu dieser Zeit sein Brett vorbereiten müssen, da das Herrenfinale direkt im Anschluss gestartet wurde. Die ersten Finalisten waren bereits auf dem Wasser und machten sich auf den Weg zur Startlinie. Ich sprang auf und wollte in den abgesperrten Bereich laufen, wo die Surfer ihre verschiedenen Bretter und Segel liegen hatten. Als mich ein Aufpasser anhielt und nicht durchlassen wollte, erzählte ich ihm, dass ich der Servicemann von Carlos Schulze sei und konnte meinen Weg fortsetzen.

    Während Carlos vorne am Ufer stand und sich Vickys Rennen ansah, bereitete ich Carlos Brett für das Finale vor. Als ich fertig war, brachte ich es zu ihm und stand nun ungefähr einen Meter hinter Carlos, als zeitgleich Vicky als Siegerin die letzte Tonne passiert hatte. Carlos jubelte, der Moderator machte die Durchsage, dass in zwei Minuten das Herrenfinale beginnen würde, und ich drückte Carlos sein Brett in die Hand.

    „Mach zu Alter. Gleich ist dein Start.“ Carlos lief ins Wasser, sprang aufs Brett und schaffte es tatsächlich, kurz vor der Startsirene rechtzeitig bei den anderen Finalisten zu sein. Die Sirene ertönte und es ging los. Bis zur ersten Tonne war es sehr eng. Während die Männer auf dem Weg zur nächsten Tonne waren, wurden über Lautsprecher die Platzierungen vom Finale der Frauen durchgegeben.

    „Und der erste Platz in diesem Finale geht, und ich möchte gleich einen großen Applaus von Ihnen hören, an unsere Lokalmatadorin. Siegerin ist unsere Vicky Meier.“ Der Applaus, den sich der Moderator gewünscht hatte, kam. Vicky stand in diesem Moment bereits am Ufer und sah sich das Herrenfinale an. Es waren noch zwei Tonnen anzufahren, was bedeutete, dass die Männer noch zweimal wenden mussten. Abgesetzt von den anderen hatten sich der zwölfmalige Deutsche Meister und Carlos. Jetzt kam die vorletzte Wendung, und vom Ufer sah es so aus, als wenn beide gleichauf wären. Als die beiden Surfer die vorletzte Wendung hinter sich hatten, waren sie ganz nah nebeneinander, und beim Geschwindigkeit aufnehmen lag plötzlich einer der beiden im Wasser. Der andere fuhr weiter und hatte nun einen großen Vorsprung vor der letzten Tonne. Er drehte ein letztes Mal und fuhr als sicherer Sieger durchs Ziel. Der Jubel war groß. Zumindest bei uns. Carlos hatte gewonnen und wir liefen auf ihn zu, um ihn zu beglückwünschen.

    „Wir müssen warten, ob es noch einen Einspruch gibt und wie dieser behandelt wird“, sagte Carlos.

    Es war einer dieser Momente, wo Minuten zu Stunden wurden. Nach gefühlten zwei Stunden und tatsächlichen drei Minuten kam folgende Durchsage:

    „Nach Rückfrage bei unseren Bootschiedsrichtern auf dem Wasser möchten wir folgendes Rennergebnis mitteilen. Ich bitte alle Zuschauer um einen Riesenapplaus für unseren Sieger. Gewonnen hat Carlos Schulze.“ Wir hatten einen Doppelsieg. Es hatten wirklich beide ihre Finalrennen kurz hintereinander gewonnen.

    Als Carlos und ich alleine waren, sah er mich lange an.

    „Danke Nick.“

    „Hey, du hättest das gleiche für mich getan. Ich bin nur froh, dass das Segel gehalten hat und du gewinnen konntest.“

    „Das meinte ich nicht.“

    „Was denn?“

    „Danke, dass wir zusammen auf Tour sind. Danke, dass du mich wieder zum Surfen gebracht hast, und danke dafür, dass du Verständnis dafür hast, dass ich während unserer Tour viel Zeit mit Vicky verbringen möchte.“

    „Wir sind Freunde! Außerdem verbringst nicht du viel Zeit mit Vicky, sondern Vicky mit uns. Und übrigens, die Tour war deine Idee. Wenn sich jemand bedanken muss, dann ich. Ich fühle mich endlich wieder frei!“

    „Alles ist gut!“, sagte Carlos.

    „Ja. Alles ist gut und es wird gut bleiben!“ Es standen zwei Männer mit Tränen in den Augen am Strand und sahen sich an. Anton und unsere Mädels blieben ungefähr zwei Meter von uns entfernt stehen. Sie erkannten den Moment. Den kurzen Moment, den zwei Freunde jetzt für sich alleine haben wollten. Erst als Carlos mich mit den Worten

    „Hau ab, du Heulsuse“, wegschob, wurde aus unserem Zweierknäuel ein Sechserknäuel und alle zusammen landeten wir im Wasser. Für den nächsten Tag wurde noch mehr Wind angesagt, und es sollte, wie geplant, der Freestyle-Wettbewerb stattfinden. Heute war ab fünfzehn Uhr Schluss, und so trainierten Carlos und Vicky noch für morgen einige Sprünge. Vickys Vater saß am Strand und sah dabei zu. Er war stolz auf seine Vicky. Als ich ihm vorhin sagte, dass er auch sehr stolz auf sich selbst sein konnte, freute er sich sehr.

    Zu viert saßen wir vor unserem Wohnmobil in der Sonne. Anna versuchte, Bobby Kunststücke beizubringen, was nicht wirklich funktionierte. Plötzlich forderte Anna uns auf, genau hinzusehen, da sie uns dringend etwas zeigen musste.

    „Passt mal auf.“ Sie hielt Bobby einige Blätter Löwenzahn hin und saß dabei nicht ganz zwei Meter von Bobby entfernt.

    „Fällt euch was auf?“, wollte sie wissen.

    „Ja, Bobby hat Hunger“, sagte ich, als ich sah, wie Bobby auf den Löwenzahn zulief.

    „Das habe ich ihr eben beigebracht.“

    „Was? Dass Bobby, wenn sie Hunger hat, zum Futter läuft?“

    „Nein, dass Bobby kommt, wenn ich rufe und den Löwenzahn in der Hand halte.“

    „Na klar. Versuch es mal ohne den Löwenzahn“, sagte Anton und wir lachten. Anna war nur kurz eingeschnappt, lachte dann aber mit. Den Versuch, den Anton ihr eben vorgeschlagen hatte, verschob Anna auf morgen. Sie meinte, dass man ein Tier auch nicht überanstrengen sollte, und zwinkerte uns dabei zu. Anna und Anton machten sich auf den Weg zu einem Spaziergang, und so waren Antje und ich alleine.

    „Was machen wir Schönes?“, wollte Antje wissen. Ich überlegte kurz, ob ich mit Knutschen antworten sollte, verkniff es mir aber.

    „Reden“, sagte ich stattdessen.

    „Worüber?“

    „Über dich und mich.“

    „Du meinst über uns?“

    „So könnte man es auch sagen.“

    Am liebsten hätte ich das Lottokonzert und unser Treffen im Alex außen vor gelassen, dachte aber, dass beide Themen doch irgendwie zu uns gehören und wir darüber sprechen sollten.

    „Über das Lottokonzert?“, schlug ich vor.

    „Nicht nötig. Ich glaube, alles, was es dazu zu sagen gibt, haben wir bereits im Alex besprochen.“ Ich hatte gehofft, dass ich über das Lottokonzert etwas Schwung in unser Gespräch bringen könnte und so unser Treffen im Alex und mein saublödes Verhalten nur als Randnotiz anbringen musste. Ich wusste, wie blöd ich mich dort verhalten hatte und wollte, aus Angst vor einer Breitseite von Antje, dieses Thema total gerne ausgrenzen. Da Antje jedoch eben unser Treffen im Alex ansprach, musste ich damit wohl weitermachen.

    „Tja, unser Treffen im Alex. War wohl nicht mein Tag. Ich wollte dir gerne sagen …“ Ich wurde von Antje unterbrochen.

    „Nick. Das Lottokonzert war lustig und ich erinnere mich gerne an diesen Abend. Auch wenn du nichts mehr von dem Abend und mir weißt. Aber dafür habe ich einen gut bei dir. Aber das Alex. Nick, ich möchte …“ Diesmal unterbrach ich Antje.

    „Ich weiß, ich war total bescheuert, lass es mich versuchen zu erklären.“

    „Du sollst nichts versuchen zu erklären. Du sollst versuchen, mich ausreden zu lassen.“

    „Okay“, sagte ich kleinlaut und bereitete mich innerlich auf eine Predigt von Antje vor.

    „Also Nick, ich möchte kein Wort mehr über das Alex verlieren.“

    „Du möchtest was?“

    „Kein verflixtes Wort mehr über das Alex verlieren“, wiederholte Antje.

    Ich war mir nicht klar, wie Antje das meinte. Würde sie jetzt gehen? Hatte sie echt die Nase voll von mir?

    „Und nun“, fragte ich.

    „Und nun will ich einen Kuss von dir.“

    „Von mir?“, fragte ich unsicher.

    „Ja, du Hornochse. Oder denkst du, ich will einen Kuss von Bobby?“ Antje nahm mich in den Arm und wir küssten uns. Nicht nur einmal!

    „Und das Alex?“ Ich fragte vorsichtshalber nochmal nach.

    „Welches Alex? Ich bin noch nie im Alex gewesen und ich kenne auch keinen Alex“, sagte Antje und küsste mich wieder.

    „Wollen wir das Abendessen vorbereiten? Die anderen kommen bestimmt bald und werden sicherlich großen Hunger haben“, schlug Antje vor.

    „Können wir machen. Vorher möchte ich aber noch einen Kuss.“ Während wir uns leidenschaftlich küssten, kamen die anderen.

    „Dann wäre ja alles geklärt“, sagte Carlos und grinste.


Und was ist mit Bobby?

  • Nun waren wir drei Männer und drei Frauen. Unsere Männertour war bereits nach kurzer Zeit zu etwas anderem geworden. Zu etwas, was noch vor einigen Wochen keiner von uns wollte und vor allem zu etwas, was keiner von uns geplant hatte. Frauen sollten uns auf unserer Tour gestohlen bleiben. Nicht alle Frauen. Aber die Frauen, bei denen die Gefahr bestand, sich zu verlieben. Noch immer hing die Karte, die wir aus dem Kartenständer im Billard Café genommen hatten, an der Tür zum Wohnmobil. Frauen? Nein Danke! Trotz unseres Vorhabens hatte heute Abend jeder von uns eine Frau an seiner Seite, und jeder von uns war glücklich darüber. Aber nicht nur wir waren glücklich, auch Anna, Antje und Vicky waren es, und so war dieser Abend total harmonisch. Blödsinn dachte ich, als mir harmonisch in den Kopf kam. „Total schön!“, verbesserte ich mich in meinen Gedanken.

    Vickys Vater kam auch noch vorbei und hatte eine Kiste Lemon-Bier auf dem Gepäckträger seines Fahrrades.

    „Auf den Sieg“, sagte er und stellte die Kiste neben unseren Tisch.

    „Auf die Siege“, verbesserte Vicky ihren Vater. Nachdem Carlos die sieben Flaschen mit einem Messer geöffnet hatte, stießen wir unter lautem Siegesjubel miteinander an. Nur Carlos konnte die Flaschen auf diese Art und Weise öffnen. Wir anderen waren zu blöd dafür und hätten dabei höchstens die Flaschen oder das Messer kaputt gemacht. Das Thema des Tages war natürlich der Freestyle-Wettbewerb vom nächsten Tag. Alle versuchten, Vicky und Carlos Tipps zu geben, was natürlich total überflüssig war, da keiner von uns auch nur annähernd so gut surfen konnte wie die beiden. Vor allem vom Freestyle wussten wir nichts, außer von den Sachen, die wir von Vicky und Carlos gezeigt bekamen. Trotzdem hörten sich die beiden alle Tipps von uns an und sagten manchmal sogar, dass unsere Vorschläge gut wären. Ihre Gedanken dazu hätte ich allerdings viel lieber gelesen. Die beiden haben sich in ihren Gedanken garantiert über unsere Vorschläge kaputt gelacht.

    Als Vickys Papa gefahren war, machten Anna und Antje den Vorschlag, dass wir unsere Surfstars lieber in Ruhe und alleine lassen sollten, natürlich nur zwecks Vorbereitung. Nachdem wir alle zusammen aufgeräumt hatten, setzten wir den Vorschlag um. Anton ging mit in die kleine Ferienwohnung von Anna, und ich brachte Antje heute zum ersten Mal nach Hause und blieb auch bei ihr. Vicky und Carlos hatten das Wohnmobil für sich alleine und konnten sich daher vernünftig auf den morgigen Tag vorbereiten. Fragen zu ihrer Vorbereitung stellte keiner von uns, aber übertrieben haben die beiden sicherlich nicht. Immerhin wollten sie morgen wieder zu guter Leistung fähig sein.

    Antjes Wohnung hatte einen kleinen Balkon mit einer Bank darauf, auf der wir es uns gemütlich machten. Ich legte eine Wolldecke auf die Bank und hatte auch Antjes Bettdecke zum Einkuscheln auf den Balkon geholt. Antje kam mit zwei riesigen Bechern Tee auf den Balkon und krabbelte zu mir unter die Decke. Aus dem Hintergrund konnte ich leise Musik hören, da Antje eine CD angestellt hatte. Wir gingen wieder unserem neuen Hobby nach und blickten in den Himmel. Wir beobachteten und zählten dabei die Sterne. Antje zeigte mir einen großen, leuchtenden Stern am Himmel. Während ich noch überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass dieser Stern der Stern von Bibi und mir war, erzählte mir Antje, dass sie über diesen Stern mit ihrem Opa sprechen würde. Ihr Opa war gestorben, als Antje erst fünf Jahre alt war und um den Verlust ihres Opas besser überwinden zu können, zeigte ihr Vater Antje diesen Stern. Er erklärte ihr, dass ihr Opa dort oben am Himmel über sie wachen würde und sie immer, wenn sie Sehnsucht hatte, sich über diesen Stern zu ihrem Opa sprechen konnte. Es half ihr damals sehr und sie blieb bis zum heutigen Tage bei diesem Ritual. Ich hielt meinen Mund. Zumindest sagte ich nichts über Bibi, mich und diesen Stern.

    Wir hatten unseren Tee ausgetrunken. Nachdem wir die Becher auf den Tisch gestellt hatten, rückten wir noch enger zusammen. Antjes Haar duftete, ihre Haut war samtweich, und als wir uns gerade küssen wollten, sah mich Antje an und sagte:

    „Hör mal.“ Als ich genauer hinhörte, war das Lied ‚1000 Lichter‘ im Hintergrund zu erkennen.

    „Unser Lied“, sagte Antje.

    „Lass mich den Text erst mal hören, bevor wir es zu unserem Lied machen.“ Antje stand auf, stellte die Musik etwas lauter und kam zu mir zurück. Wir hörten zu und hielten uns gegenseitig im Arm.

    „Ist genehmigt.“

    „Was ist genehmigt?“, wollte Antje wissen.

    „Das Lied. Wir können es zu unserem Lied machen, es passt zu uns.“ Antje hatte die Fernbedienung mitgebracht und stellte unser Lied nochmal an. Meine Lippen suchten ihre, und da ihre Lippen dabei waren, auch meine zu suchen, fanden sie sich sehr schnell. Es waren sehr zärtliche Küsse, die nach mehr schmeckten. Sie schmeckten nach Nähe, nach Verlangen und sie schmeckten ganz stark nach Liebe.

    Ina sang noch immer, als ich am Morgen so gegen sieben Uhr neben Antje im Bett wach wurde. Ich sah sie an und war glücklich darüber, neben ihr zu liegen. Es war toll, sie beim Atmen zu beobachten. Ihre langen schwarzen Haare waren zum Teil über ihrem Gesicht verteilt, und ich fragte mich, wie sie so schlafen konnte, da es meiner Meinung nach doch total kitzeln musste. Vorsichtig und leise stand ich auf und zog mir meine Socken an. Antje wurde wach, sah mich an und fragte,

    „Willst du gehen?“

    „Ja.“

    „Aber warum?“

    „Es muss sein.“

    „Ich dachte, bei uns wäre mehr!“

    „Antje, es geht nicht anders.“

    „Und wenn ich bitte sage?“

    „Dann stehe ich trotzdem auf und gehe.“ Antje sah mich traurig an, und obwohl ich vorhatte, ernst zu bleiben, musste ich grinsen.

    „Warum grinst du?“

    „Weil ich gehe.“

    „Findest du es etwa auch noch lustig?“

    „Ein wenig schon. Jetzt muss ich mich aber echt beeilen.“

    „Nick. Erkläre mir, was ist. Habe ich etwas falsch gemacht?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739465388
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Nordfriesland Meer Liebesroman Freiheit Nordsee Abenteuer Sylt Sehnsucht Urlaub Liebe Humor

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram ist das Schreibpseudonym eines waschechten Hamburger Jung. Am 14.05.1968 erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er seit vielen Jahren pflegt. Er lebt in seiner Lieblingsstadt Hamburg und verbringt viel Zeit auf der Insel Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Dort wird er, wenn sein Blick auf das Meer gerichtet ist, von vielen neuen Ideen und Eingebungen „überfallen“.
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Titel: Sylt trifft Herzbegehren