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Sylt, Surfen & Meer

von Ben Bertram (Autor:in)
155 Seiten

Zusammenfassung

Wer sehnt sich nicht danach, dem öden Alltag zu entfliehen? Als Nick und seine besten Freunde Anton und Carlos die Flucht antraten, hatten sie keine Ahnung, was vor ihnen lag. Sie hatten nur ein Ziel: Raus aus Hamburg, sich eine Auszeit nehmen und für vier Monate mit einem Wohnmobil durch die Weltgeschichte reisen. Mit Surfequipment, dem Drang nach Freiheit und jeder Menge Ideen im Kopf starteten sie. Alle drei hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, wenn die Tour beendet sein würde. Sie wussten zwar genau, was sie nicht wollten, doch der Plan dafür, was sie anschließend machen sollten, fehlte komplett. Aber war es überhaupt heute schon notwendig einen Plan zu haben? War es nicht viel spannender eine Reise nach dem Motto „Der Tag, die Sorge“ zu starten? Los geht die Tour und manchmal werden sogar die Träume wahr, die man gar nicht geträumt hat! Manchmal musst du dich nur für das Richtige entscheiden und deine Träume realisieren. Denn wer keinen Mut zum Träumen hat, der hat auch keine Kraft zum Kämpfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Freunde

  • Es war Donnerstag, aber nicht ein Donnerstag wie sonst.

    Heute war ich zum ersten Mal mit Carlos zum Billard verabredet und ahnte nicht, wie viele Billard-Donnerstage noch folgen würden. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Tag ein Start für ein schönes Ritual war. Zum Glück ahnte ich auch nicht, dass dieses Billard-Match auch ein Start für sehr viele Billardpartien war, welche ich fast immer sang- und klanglos verlieren würde. Als wir mit dem Billard fertig waren und Carlos mich mit einem Trostbier verarztet hatte, kam irgendwie das Thema auf den Tisch, welches uns in den nächsten Jahren an jedem Donnerstag begleiten würde.

    Einfach mal abhauen, sich eine Auszeit nehmen und mit einem Wohnmobil für einige Wochen oder Monate durch die Welt düsen, natürlich im Sommer und am besten in einem Sommer, der auch noch gutes Wetter versprach. Leider ging es nicht. Wir waren damals beide noch in einer Beziehung und konnten eine solche Tour unseren Partnerinnen nicht antun. Nicht, dass wir dachten, es wäre zu stressig für unsere Freundinnen. Nein, so war es nicht. Es sollte eine Männertour werden, und das erste Gesetz einer Männertour war es, dass keine Frauen dabei waren.

    Zunächst war ich an der Reihe. Meine Beziehung mit Bibi zerbrach. Oh Mann ging es mir dreckig. Wir hatten uns, wie man so schön sagt, auseinandergelebt. Hätte ich nicht meine beiden besten Freunde gehabt, ich weiß nicht, was für einen Blödsinn ich angestellt hätte.

    Ein Jahr später ging es Schlag auf Schlag. Innerhalb einer Woche trennten sich kurz nacheinander Anton und Carlos von ihren Frauen. Bei Anton war es so, dass er von der Arbeit nach Hause kam und die Wohnung fast leer war. Immerhin lag ein Zettel auf dem Küchentisch und so konnte er lesen, was er bereits seit längerer Zeit geahnt hatte.

    Es tut mir leid, Anton, aber ich habe einen neuen Mann kennengelernt. Bitte melde dich nicht bei mir. Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft!

    Mehr stand nicht auf dem winzigen Zettel. Auch wenn es ihm sehr schwer fiel, hielt er sich daran. Er wollte seine Ex einfach nur schnell vergessen. Bei Carlos war es ähnlich, nur umgekehrt. Er konnte die Enge nicht mehr ertragen. Er brauchte seine Freiheiten und hatte eine Frau abbekommen, die alles konnte, nur keine Freiräume geben. So ging er und lebte, bis er eine kleine Wohnung gefunden hatte, in seinem Wohnmobil.

    Anton nahm bereits seit einiger Zeit an unseren Treffen am Donnerstag teil. Meistens kam er erst, nachdem Carlos und ich mit dem Billardmatch fertig waren. Wir saßen oft einige Stunden an unserem Stammtisch und machten Pläne, die wir wahrscheinlich nie umsetzen konnten. Aber es brachte uns verdammt viel Spaß zu träumen. Nach und nach wurde das Thema Männertour zum Hauptthema und wir sprachen und träumten jeden Donnerstag davon, einfach abzuhauen. Träumen war erlaubt, Träumen war wichtig und Träumen war schön. In Gedanken waren wir bereits um die ganze Welt getourt und hatten die lustigsten Abenteuer erlebt. Wir hatten Frauengeschichten, coole Berufe gefunden, an den schönsten Orten der Welt gelebt und wir hatten gesurft. Leider bisher nur in unseren Träumen.

    Als Lisa, die im Billard Café bediente und uns nun schon sehr lange kannte, sich heute zu uns setzte, sagte sie etwas, das irgendwie alles veränderte.

    „Was macht die Tour? Oder seid ihr noch immer dabei, nur von der Tour zu träumen? Denkt daran, auch ihr werdet älter und irgendwann ist die Chance, die Tour zu starten, vertan.“

    Als Lisa gegangen war, da sie andere Gäste bedienen musste, sahen wir uns eine ganze Zeit fragend an.

    Carlos war es, der Wort ergriff, auch wenn er nicht viel sagte, sondern lediglich eine kurze Frage stellte.

    „Und nun?“

Auf zur Arbeit

  • Als ich aufwachte, blickte ich durch mein Schlafzimmerfenster direkt in die Sonne. Ich machte meine Augen schnell wieder zu und sah viele kleine bunte Punkte hüpfen und springen, aus denen sich Kreise und andere merkwürdige Symbole bildeten. Draußen war strahlend blauer Himmel, und wenn ich den Stand der Sonne richtig einschätze, musste es ungefähr acht Uhr sein. Ich überlegte kurz, ob ich dieses tolle Wetter nicht ausnutzen musste und den neuen Tag mit einer Schale Milchkaffee und einem leckeren Frühstück im Schweinske beginnen sollte, entschied mich jedoch lieber dafür, liegen zu bleiben. Ich drehte mich um und zog mir die Decke wieder bis zum Hals hoch, um zumindest noch eine Stunde zu schlafen. Der Milchkaffee und mein Frühstück konnten noch etwas auf mich warten. Als ich gerade dabei war, wieder im Land der Träume anzukommen, hörte ich mein Handy.

    „Welcher Trottel schickt mir am Samstag um diese Uhrzeit eine WhatsApp?“, dachte ich und ärgerte mich, da es sich genau in diesem Moment mit dem Weiterschlafen für mich erledigt hatte.

    Ich war wach und langsam kam ich auch an dem Punkt an, dass mein Gehirn in der Lage war, einigermaßen klare Gedanken zu fassen. Zunächst wunderte ich mich darüber, dass mein Kopf hämmerte und ich überlegte, weshalb ich gestern meine Rollos gar nicht runtergelassen hatte. Nach und nach erinnerte ich mich an den gestrigen Abend. Ich hatte mich mit Carlos zum Billard getroffen und die Klatsche meines Lebens von ihm bekommen. Vernichtend hatte ich verloren, und anschließend sind wir noch an die Drinks gegangen und haben uns Geschichten von früher erzählt. Wahrscheinlich waren es die Geschichten, die wir uns bestimmt schon tausend Mal erzählt hatten und die wir uns garantiert auch noch tausend Mal erzählen werden.

    Okay, die Kopfschmerzen kommen vom Bacardi und die Rollos sind oben, da ich gestern zum Runterlassen wohl nicht mehr in der Lage war, dachte ich und die ersten beiden Fragen des heutigen Tages hatte ich bereits geklärt. Ich war schon ein wenig stolz auf mich.

    Jetzt siegte die Neugier und ich stand auf, um mein Handy aus der Hosentasche zu holen. Ich sah mir zunächst die Gegend um mein Bett herum an, konnte meine Jeans hier jedoch nicht erblicken. Nachdem ich auch im Bad und im Wohnzimmer nicht fündig wurde, gab es nur noch die Möglichkeit, die Hose in der Küche zu finden. Ich hob sie auf und nahm das Handy aus der Tasche. Carlos hatte geschrieben und als ich den Text las, musste ich lachen.

    Moin Nick, bist du gut angekommen? Ich habe einen Brummschädel und muss gleich los zum Klettern. Aber dir wird es ja nicht besser gehen, ich hoffe dein Arbeitstag wird nicht zu stressig. Gruß C.

    „Oh Manno, nicht nur ich habe wohl zu tief in Glas geschaut. Carlos verwechselt sogar Samstag mit Freitag“, dachte ich und ging ins Bad, um mir mit der Zahnbürste und ganz viel Zahnpasta den ekligen Geschmack aus dem Mund zu vertreiben. So richtig half mir das Zähneputzen leider nicht, und so ging ich in die Küche, füllte den Wasserkocher und tat zwei hoch gehäufte Löffel löslichen Kaffee in meinen blauen Lieblingsbecher mit der Sylt-Kuh darauf. Kurze Zeit später duftete es nach Kaffee und außer, dass ich aus dem viel zu vollen Becher auf meinen Küchenboden kleckerte, verbrannte ich mir mit dem viel zu starken Gesöff auch noch die Zunge.

    Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich völlig kaputt aufs Sofa. Mein Hintern hatte die Sitzfläche noch gar nicht richtig berührt, da stand ich auch schon wieder und machte mich auf den Weg zurück in die Küche, um auf mein Handy zu schauen. Nun befanden sich nicht nur Kaffeeflecken auf dem Küchenfußboden, sondern auch auf dem Holzfußboden im Wohnzimmer und im Flur. Als ich mein Handy in der Hand hielt und den Bildschirmschoner mit dem Motiv von Sergej Barbarez, der aus meiner Sicht letzten wirklichen Persönlichkeit vom HSV, beiseite gedrückt hatte, musste ich mich bei Carlos entschuldigen. Er hatte nicht den Samstag mit Freitag verwechselt. Wir hatten heute Freitag! Klar, Carlos und ich gehen immer am Donnerstag zum Billard. „Wieso komme ich da jetzt erst drauf?“, waren meine panischen Gedanken. An meinem Kleiderschrank angekommen, warf ich mich schnell in irgendwelche Klamotten. Zeit zum Auswählen hatte ich nämlich nicht, ich musste jetzt los zur Arbeit. Nachdem ich noch einen großen Schluck Kaffee genommen hatte, griff ich nach meinem Schlüssel, verließ türknallend die Wohnung und ging mit großen Schritten zum Ohlsdorfer Bahnhof.

    Auf dem Weg dorthin begann ich zu rechnen, wie lange mein heutiger Bürotag werden müsste, damit ich nicht zu viele Minusstunden machen würde. Ich hätte es lieber bleiben lassen sollen, da es mir echt die Laune verdarb. So entschloss ich mich dazu, dass es mir total egal war, wie viele Minusstunden es werden, da ich bei diesem schönen Wetter spätestens um dreizehn Uhr mein Büro wieder verlassen werde.

    Vom Ohlsdorfer Bahnhof dauerte die Fahrt mit der S-Bahn fünfzehn Minuten bis zum Bahnhof Berliner Tor, und so hätte ich immerhin circa dreieinhalb Stunden auf meinem Gleitzeitkonto verbuchen können. Zumindest dann, wenn diese dämliche S-Bahn das gemacht hätte, wofür sie gedacht war. Aber es wurde mal wieder gebaut oder irgendwelche Vollpfosten waren auf den Gleisen unterwegs, sodass es einen Polizeieinsatz gab. Was es auch immer war, die S-Bahn fuhr nicht und ich musste die U-Bahn nehmen. Das bedeutete, dass ich zunächst neun Stationen bis zum Bahnhof Jungfernstieg fahren konnte, dort umsteigen durfte und anschließend noch weitere zwei Stationen fahren musste, um an meinem Zielbahnhof anzukommen. Beim Bahnhofsbäcker holte ich mir noch schnell einen Cappuccino und verpasste so die Abfahrt meiner Bahn. Ist ja nicht so schlimm, dachte ich mir, da die Bahn morgens alle fünf Minuten fuhr. Pustekuchen! Morgens fährt die Bahn zwar alle fünf Minuten. Allerdings war es jetzt schon so spät, dass der Fahrrhythmus inzwischen auf zehn Minuten ausgedehnt worden war.

    Angelehnt an eine Wand stand ich, mit dem Gesicht zur Sonne, auf dem Bahnsteig und trank meinen Cappuccino. Zeitgleich mit der Ankunft meiner Bahn hatte ich meinen Becher leer, und so ging mein Plan, mir die Bahnfahrt mit einem leckeren Cappuccino zu verschönern, nicht auf. Wobei dies ja nicht das Erste war, was heute nicht funktioniert hatte. Die Bahn war ziemlich gut gefüllt, und ich fragte mich, ob alle anderen Fahrgäste heute auch nicht aus dem Bett gekommen waren oder bei diesem schönen Wetter einfach nur frei hatten. Ich beschäftigte mich nur kurz mit diesen Gedanken. Stattdessen lehnte ich mich lieber gemütlich gegen die Scheibe und sah aus dem Fenster. Ich sah meine schöne Stadt an mir vorbeiziehen und blickte neidisch auf die Menschen, die es sich bereits mit Decken auf den Wiesen gemütlich gemacht hatten oder an einem der vielen Kanäle spazieren gingen.

    „Hamburg ist einfach wunderschön“, dachte ich und bekam gerade noch mit, dass ich bereits am Jungfernstieg angekommen war. Ich sprang auf, stieg aus und musste mich kurz orientieren. Es war gar nicht so einfach herauszufinden, welchen Ausgang ich nehmen musste, um mit der anderen Bahn weiterfahren zu können. Unterirdisch ging ich an Kiosken und Bäckereien vorbei und war tapfer, da ich es schaffte, trotz Kaffeedurst an den Geschäften vorbei zu gehen. Ich wollte nicht noch mehr Zeit verplempern. Am Ende meines unterirdischen Weges musste ich rechtsherum und mit einer Rolltreppe zu meinem Bahnsteig hinunter fahren. Viel interessanter fand ich allerdings das Schild, das auf der linken Seite den Weg zum Jungfernstieg und zu den Barkassen anzeigte. Sehnsüchtig sah ich nach links, nahm aber den Weg nach rechts. Ich hatte mir vorgenommen, auch jetzt noch tapfer zu sein, da ich meinen eigentlichen Weg zur Arbeit fortsetzen wollte. Ich stand auf der Rolltreppe, die mich hinunter zum Bahnsteig brachte, und konnte sehen, dass meine Bahn in einer Minute ankommen sollte.

    Das passte ja endlich mal gut. „Wenigstens brauche ich hier nicht noch mehr Zeit verschenken“, dachte ich, als die Bahn tatsächlich pünktlich in den Bahnhof einfuhr. Nachdem alle Fahrgäste ein- und ausgestiegen waren, fuhr die Bahn los und musste, wenn nichts Außergewöhnliches geschehen würde, in wenigen Minuten in meinem Zielbahnhof einfahren.

    Allerdings ohne mich!

    Ich stand zur gleichen Zeit, als die Bahn den Bahnhof Jungfernstieg verließ, auf der Rolltreppe und fuhr den Weg, den ich eben gekommen war, wieder zurück. Die Rolltreppe führte mich hinauf zum Tageslicht. Als ich oben angekommen war, nahm ich die nächste Abbiegung und folgte dem Schild zum Jungfernstieg, das mich zur Binnenalster und den Barkassen führte. Mit jeder Stufe konnte ich mehr blauen Himmel erkennen und als ich oben angekommen war, blickte ich auf die Alster, sah Segelboote, konnte auf der anderen Seite der Alster einen Reisezug erkennen und fühlte mich plötzlich frei. Es zog mich am Alsteranleger entlang zum Alex. Zu einem Lokal direkt an der Alster, von dem aus man von der einen Seite auf das Geschehen in der City und von der anderen auf die Alster blicken konnte. Ich entschied mich für den Alsterblick und hatte auch noch das seltene Glück, einen freien Strandkorb zu erwischen. Nachdem ich dort Platz genommen hatte, fiel mir ein, dass ich noch etwas zu erledigen hatte und griff zum Handy. Ich stellte mein Handy auf keine Rufnummernübermittlung um und wählte die Telefonnummer meines Chefs. Nach dem fünften Klingeln sprang sein Telefon auf einen anderen Apparat und ein Kollege nahm ab.

    „Nick hier. Sag mal, ist der Dicke heute gar nicht im Büro? Ich habe schon einige Male probiert, ihn zu erreichen, hatte aber bisher kein Glück.“ Zur Antwort bekam ich, dass der Dicke heute tatsächlich nicht im Büro war, sondern einen Kundentermin hatte.

    „Gibst du bitte Bescheid, dass ich heute krank bin und nicht komme“, bat ich meinen Kollegen und verabschiedete mich. Meine Hoffnung war, dass mein Kollege, die Frage der freundlichen Bedienung, nicht gehört hatte. Sollte es jedoch so gewesen sein, hätte ich es jetzt auch nicht mehr ändern können.

    „Was darf es sein, brauchen Sie die Frühstückskarte?“ Diese Frage bekommt man schließlich normalerweise nicht gestellt, wenn man krank im Bettchen verweilte.

    Alex

    Ich genoss mein Frühstück in der Aprilsonne und bestellte mir anschließend noch einen Milchkaffee, da ich so gar keine Lust hatte, meinen sonnigen Platz aufzugeben.

    „Nick, Nick, bist du es wirklich?“ Ich hörte eine Stimme, sah aber niemanden und die Stimme kam mir auch nicht wirklich bekannt vor.

    „Du bist es, Nick . Dass ich dich nochmal wiedersehe. Was machst du hier?“ Zu diesen Worten sah mich eine Frau um den Strandkorb herum an und schien sich wirklich sehr darüber zu freuen, mich hier zu sehen. Meine Freude war nicht annähernd so groß, dafür meine Verwunderung immer größer. Ich hatte das Gefühl, diese Frau noch nie in meinem Leben gesehen zu haben und überlegte krampfhaft, woher ich sie kennen würde. Leider half mir auch kräftigstes Überlegen nicht im Geringsten weiter.

    „Mensch Nick. Ich freue mich wirklich total. Ich hatte schon Angst, dass ich dich nie wieder sehen würde. Um ehrlich zu sein, bin ich sogar davon ausgegangen und nun treffe ich dich hier. Welch ein Glück, dass wir beide am selben Tag frei haben und wir uns dann auch zufällig hier treffen.“ Kurz hatte ich ein schlechtes Gewissen. Es war genau in dem Moment, als die mir unbekannte Frau etwas von zusammen einen freien Tag haben gesagt hatte. Es war kein schlechtes Gewissen darüber, dass ich nicht die gleiche Begeisterung für unser Treffen empfand, sondern ein schlechtes Gewissen meinen Kollegen gegenüber, die arbeiten mussten, während ich hier saß und den Tag genoss. Allerdings verließ es mich ebenso schnell, wie es gekommen war.

    Jetzt stand sie bereits vor meinem Strandkorb, und bevor ich irgendetwas sagen oder machen konnte, setzte sie sich neben mich. Mein Gedächtnis war noch immer nicht aufgefrischt, obwohl ich mir die Frau inzwischen genauer angesehen hatte und es durchaus hässlichere Frauen in Hamburg gab. Sie war, nennen wir es mal, vollschlank, hatte lange glatte, pechschwarze Haare und dunkle Augen. Sie war sehr schön und dabei noch auf eine ganz bestimmt Art interessant.

    Mir war klar, dass die Frau mich verwechselt haben musste, an eine solche Frau hätte ich mich garantiert erinnert. Es war eine Frau, die man nicht einfach so vergisst, selbst dann nicht, wenn es nur ein kurzes Date vor sehr langer Zeit gewesen wäre. Während ich noch überlegte, ob das Wort interessant oder doch lieber verrucht, besser als Beschreibung zu der schönen Unbekannten passte, bestellte sie sich einen Cappuccino und ein Glas Wasser. Kurze Zeit später lehnte sie ihren Kopf gegen meine Schulter und wiederholte ihre Worte von eben.

    „Mensch Nick. Ich freue mich wirklich total. Ich hatte echt Angst, dass ich dich nie wieder sehen würde.“

    „Ich freue mich ebenfalls“, log ich. Am liebsten hätte ich Carlos oder Anton angerufen, um einen der beiden als Telefonjoker zu nutzen. Denn eines war klar. Als ich diese Frau kennengelernt hatte, falls ich sie überhaupt kennengelernt hatte, war einer der beiden dabei.

    „Wie kommt es, dass du alleine hier bist?“, wollte meine verruchte, ich hatte mich in meinen Gedanken inzwischen auf verrucht festgelegt, Strandkorbnachbarin jetzt von mir wissen. Plötzlich bekam ich etwas Angst. Was wusste sie über meine gescheiterte Beziehung? War sie eventuell sogar eine neue Freundin meiner Ex? Eine Freundin, die mich aushorchen sollte? Diese Fragen schossen in meinen Kopf und vorsichtshalber stellte ich mich blöd.

    „Mit wem sollte ich denn hier sein, wen hast du erwartet?“, fragte ich und war stolz auf meine total unverfängliche und zugleich doch sehr verfängliche Frage.

    „Na mit deinem Bruder“, bekam ich zur Antwort und ich war froh, dass meine Angst unbegründet war. Hätte Bibi eine Freundin auf mich gehetzt, wäre diese garantiert besser vorbereitet gewesen.

    „Bruder? Ich habe keinen Bruder. Bevor du auf noch so eine Idee kommst, eine Schwester habe ich ebenfalls nicht.“

    „Er hat mir gesagt, dass er dein Bruder ist. Wohlbemerkt dein jüngerer Bruder. Außerdem musste ich ihn um Erlaubnis fragen, ob ich dich küssen dürfte. Das habe ich dann natürlich auch getan.“

    „Und wie soll mein angeblicher Bruder heißen?“ Jetzt wurde ich doch neugierig.

    „Keine Ahnung. Das weiß ich nicht mehr. Aber er war sehr nett und tüchtig angetrunken. Wobei, angetrunken waren wir ja alle.“

    „Dann beschreibe meinen Bruder doch einfach mal. Oder weißt du nicht mehr, wie er aussieht?“

    „Doch klar. Er sieht ein wenig aus wie du. Nur etwas dicker.“

    „Geht's vielleicht auch etwas genauer?“

    „Na, er hat auch eine Glatze und hatte, glaube ich, etwas Bart am Kinn. Halt wie du.“ Endlich war mir klar, welchen Telefonjoker ich hätte ziehen müssen. Carlos war raus, da er Haare hatte und keinen Bartspielkram im Gesicht trug. Ich war an dem Abend also mit Anton on Tour. Nur wo? Sagte meine kleine Verruchte nicht eben etwas davon, dass alle dort betrunken waren? Darauf ließ sich doch aufbauen. In Gedanken war ich bereits dabei, einen Befragungsplan zu entwickeln.

    „Was überlegst du?“

    „Ich denke grade darüber nach, wann es war, als wir uns getroffen haben“, log ich und hoffte auf einen weiteren Hinweispunkt.

    „Wann es war? Ist die Frage jetzt echt dein Ernst?“, hörte ich meine Strandkorbnachbarin fragen. Ihrem Tonfall nach ging ich davon aus, dass sie mir jetzt eine Szene machen würde und ich als Belohnung dafür anschließend wieder den Strandkorb für mich alleine hätte. Doch Pustekuchen. Nichts war es mit meiner Vermutung.

    „Na, im September haben wir uns getroffen. Wann denn sonst? Lotto King Karl spielt doch immer im September im Stadtpark. Die Konzerte laufen doch unter dem Motto, Lotto schließt den Stadtpark ab. Wusstest du das nicht? Ich dachte, dass du mit deinem Bruder immer dabei bist.“

    „Er ist nicht mein Bruder.“

    „Ja, sorry. Wusstest du das mit Lotto echt nicht?“

    „Doch, klar weiß ich das. Ich wusste nur nicht mehr genau, bei welchem Konzert im September es war. Immerhin waren wir drei Mal dort. Übrigens, manchmal spielt Lotto auch im Mai im Stadtpark. Dann lautet das Motto, Lotto schließt den Stadtpark auf! Welches Konzert war es denn nun?“ Aus der Nummer bin ich ja ganz gut rausgekommen, freute ich mich. Allerdings gab es noch das Namensproblem. Meine Strandkorbnachbarin mit Kleine Verruchte anzureden, war ganz sicher nicht die netteste Variante.

    „Es war das letzte Konzert. Hui, hatten wir vier dort Bier und Kurze verhaftet. Wobei, hatte dein Bruder nicht immer Bacardi anstatt Bier in der Hand? Natürlich hatte er. Wir mussten immer drei Bier, einen Bacardi und dazu acht Kurze holen.“ Nun gab es plötzlich noch eine Person, an die ich mich nicht erinnern konnte. Was für eine Freundin hatte sie dabei? Und überhaupt, an abwechselndes Getränkeholen konnte ich mich auch nicht erinnern. Viel schlimmer war für mich allerdings das Problem, dass ich noch immer nicht ihren Namen kannte. Sollte ich doch Anton als Telefonjoker nehmen? Allerdings würde ich einen hohen Betrag darauf wetten, dass auch Anton weder den Namen meiner kleinen Verruchten, noch den Namen ihrer Freundin kannte. Ich würde sogar darauf wetten, dass er sich, genauso wenig wie ich mich, an diesen ominösen Abend mit den beiden Mädels, erinnern konnte. Sonst hätten wir garantiert schon einige Male über diesen Abend gesprochen und gelacht.

    Ich versuchte, mich weiterhin meinem Namensfindungsprojekt auf Umwegen zu nähern. Mein Plan war es, ihr Fragen über ihre Freundin zu stellen und dabei ganz schlau zu versuchen, auch ihren Namen zu erkunden. Leider war mein Plan bereits nach meiner ersten Frage gescheitert.

    „Sag mal, wie hieß deine Freundin eigentlich? Ihren Namen habe ich total vergessen“, sagte ich und bekam als Antwort:

    „Meine Freundin? Ich habe dieses Mädel durch dich und deinen Freund kennengelernt. Ihr habt sie mir vorgestellt, und nach unserem Abend habe ich sie auch nie wieder gesehen. Sie ist doch mit dir und deinem Freund am Bahnhof Rübenkamp in die gleiche Bahn gestiegen. Ich musste in die andere Richtung fahren. Und zwar leider ganz alleine und ohne dich.“

    „Rübenkamp in die Bahn gestiegen? Warum Rübenkamp? Alte Wöhr ist doch viel dichter von der Open Air-Bühne entfernt.“

    „Von der Open Air-Bühne schon. Aber das Schach Café liegt halt direkt am Bahnhof Rübenkamp.“

    „Schach Café? Waren wir dort auch noch?“

    „Klar. Sag jetzt nicht, dass du dich da auch nicht mehr dran erinnerst. Aber an den Spaziergang dorthin kannst du dich hoffentlich erinnern?“ Jetzt hatte ich genug von meinem blöden Rumgeeier. Ich wollte gerade die Frage nach ihrem Namen stellen und auch erfahren, was es mit diesem ominösen Spaziergang auf sich hatte, als sie nach ihrem Handy griff. Sie wurde angerufen, was meinen Plan abrupt durchkreuzte.

    „Hallo Mama. Antje hier. Ich bin noch in der Stadt im Alex und genieße mit Nick das tolle Wetter. Ja Mama, es ist der Nick aus dem Konzert. Ja, ich habe ihn hier zufällig getroffen. Stimmt, du hattest recht damit. Man sieht sich immer zweimal.“

    Den Namen hatte ich nun. Aber die Brocken, die ich während Antjes Telefonat mit ihrer Mama aufschnappte, machten mir Angst. Das Thema jetzt mit ihr zu vertiefen, wollte ich ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, ich musste hier weg, da ich nicht hören wollte, wie sehr diese bis eben für mich unbekannte Frau in mich verliebt war. Wobei, unbekannt war sie mir noch immer, ich kannte nun lediglich nur ihren Vornamen.

    „Sag mal Nick, fällt dir eigentlich gar nichts an mir auf?“ Mal ganz ehrlich, diese Frage ist doch schon echt beschissen zu beantworten, wenn man jemanden kennt. Aber was sollte ich einer für mich fremden Frau auf diese Frage antworten. Ich blieb also meinen kurzen Antworten treu und stellte, anstatt zu antworten, eine Gegenfrage.

    „Sollte mir etwas auffallen?“

    „Ja, ich habe deine Tipps umgesetzt.“ Na prima! Damit konnte ich wirklich viel anfangen. Ich sah sie an und sagte, um überhaupt etwas zu sagen,

    „Du trägst schwarzen Nagellack. Find ich echt gut.“

    „Den hatte ich auch beim Lottokonzert drauf. Allerdings fandst du ihn dort schon sehr sexy bei mir.“ Inzwischen fand ich unsere Fragerunde extrem blöd und anstrengend. Ich nahm mir vor, es ihr in diesem Moment sehr deutlich mitzuteilen.

    „Bekomme ich einen Tipp?“, sagte ich stattdessen und ärgerte mich dabei über mich selbst.

    „Nick, ich sag es dir einfach. Du hast mir auf dem Konzert gesagt, dass ich die dämliche Schminke weglassen soll, da ein schönes Gesicht keine Schminke benötigt. Außerdem meintest du, dass mir Sport bestimmt gut tun würde.“ Ich verschluckte mich an meinem Milchkaffee, und während Antje mir auf den Rücken klopfte, nahm ich mir vor, nie wieder Alkohol anzurühren. Mir war es superpeinlich, was ich eben hören musste. Ich hatte tatsächlich zu einer Frau gesagt, dass sie hässlich geschminkt und dazu noch viel zu dick war. Allerdings musste ich zugeben, dass mir Antje, so wie ich sie heute kennengelernt hatte, extrem gut gefiel. Trotzdem hielt ich es für angebracht, mich für meine Äußerungen, von denen ich nichts mehr wusste, zu entschuldigen.

    „Sorry Antje, auch wenn Alkohol keine Entschuldigung sein darf, hätte ich es lieber nicht sagen sollen.“

    „Kein Problem Nick. Außerdem hattest du ja Recht. Ohne deine Worte hätte ich es wohl nie geschafft, mit Sport anzufangen.“

    Ich verabschiedete mich kurz und ging auf die Toilette. Auf dem Weg dorthin blieb ich stehen und drehte ich mich nochmal zu Antje herum. Sie saß nicht im Strandkorb, sondern stand am Geländer, mit dem Rücken zu mir und fütterte, mit ihren Keksen vom Milchkaffee, die Schwäne. Antje sah gut aus. Sie hatte eine wirklich tolle Figur, und ich bemerkte plötzlich ein komisches Gefühl in meinem Bauch. Ein ähnliches Gefühl, wie ich es auch damals hatte, als ich Bibi zum ersten Mal sah. Allerdings wehrte ich mich dagegen. Nie wieder wollte ich diese Gefühle zulassen. Zu sehr hing mein Herz noch an Bibi, obwohl unsere Beziehung lange vorbei war. Doch ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Menschen so dicht an mich heranzulassen. Immer wenn ich seitdem merkte, dass ich für eine Frau Gefühle entwickelte, machte ich dasselbe. Ich machte mich ganz schnell aus dem Staub. Als ich von der Toilette zurück war, standen erneut zwei Milchkaffees auf dem Tisch. Antje hatte bestellt und ich fühlte mich bestätigt, eben auf dem Klo das Richtige getan zu haben, als ich Carlos eine WhatsApp mit den Worten:

    HILFE, NOTFALL, HOL MICH HIER RAUS, RUF MICH AN, SOFORT, geschickt hatte.

    „Das ist aber wirklich nett von dir“, sagte ich und deutete auf den Milchkaffee, während ich mich wieder in den Strandkorb setzte. Gerade als Antje wieder mit einem neuen Thema anfangen wollte, klingelte mein Handy.

    „Das ist Carlos. Was der wohl um diese Uhrzeit von mir will. Das muss was Wichtiges sein.“, sagte ich, bevor ich das Telefonat annahm.

    „Was? Ehrlich? Man, wie beschissen! Klar komme ich sofort zu dir! Nein, bleibe ganz ruhig. Ich bin sofort da! Bis gleich!“ Ich versuchte, die Worte sehr ruhig und doch sehr bedeutsam rüberzubringen, damit Antje bereits während des Telefonats mitbekam, welch fürchterliches Ereignis passiert sein musste.

    „Sorry, ich muss los. Du hast es ja eben mitbekommen, einem Freund ist etwas Superblödes passiert und er braucht dringend meine Hilfe.“

    „Ja, ich habe es gehört. Ist es sehr schlimm?“

    „Sehr schlimm ist bekanntlich relativ. Aber ich muss jetzt echt los. Es war nett, dich mal wieder zu sehen.“ Ich machte bereits die ersten Schritte und entfernte mich eilig vom Strandkorb, als Antje rief.

    „Nick, hey Nick, warte kurz. Ich fand es auch schön, dich hier zu treffen. Wenn du magst, können wir es wiederholen.“

    „Klar, können wir bestimmt“, antwortete ich und schon machte ich denn nächsten Schritt. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich noch gar nicht bezahlt hatte und ärgerte mich darüber, da ich so nicht einfach verschwinden konnte. Ich ging zurück zum Strandkorb und winkte dabei zur Bedienung.

    „Bleibst du doch?“, fragte Antje.

    „Ich muss noch bezahlen.“

    „Dann kannst du mir doch schnell noch deine Handynummer geben.“ Antje griff während ihrer Worte in die Handtasche und zog ihr Handy heraus.

    „Sag mal die Nummer.“ Der Satz, dass ich meine Handynummer nicht auswendig kannte, war zwar blöd. Noch blöder war allerdings der Satz, dass ich meine Nummer auch nicht in meinem Handy gespeicherte hatte und ich sie ihr daher nicht geben konnte. Während ich diesen Müll erzählte, hatte ich meine Rechnung beglichen und konnte mich endlich auf den Weg machen, Carlos bei seinen Problemen zu helfen.

    Billard

    „War sie wirklich so schlimm?“, wollte Carlos wissen, während wir eine Pause beim Billard machten und mit Currywurst Pommes gegen unseren Hunger ankämpften.

    „Nein, gar nicht. Ich muss sogar sagen, dass ich sie sehr interessant fand. Nett war sie sowieso. Es war wohl eher diese merkwürdige Situation im Alex. Ich habe dort gesessen und plötzlich kommt eine Frau und erzählt mir von einem Abend, von dem ich echt so gar nichts mehr wusste. Weißt du, was ich meine? Ich hatte keinen Schimmer davon. Klar waren Anton und ich bei Lotto und wir hatten garantiert wie immer viel Spaß. Aber von Antje oder dem andern Mädel weiß ich nichts. Gar nichts!“

    „Aber gleich abhauen? Du hättest dich doch von ihr aufklären lassen können.“

    „Ich bin aufgeklärt“, sagte ich und wir mussten beide lachen.

    „Ich glaube, diese Worte, die Antje am Telefon zu ihrer Mutter gesagt hatte, waren zu viel für mich. Auf eine verknallte Tussi habe ich echt keinen Bock. Außerdem gibt es immer noch Bibi in meinem Leben.“

    „Es gab Bibi in deinem Leben.“

    „Aber in meinem Herzen ist sie noch immer. Ich kann nichts dagegen machen.“ Carlos sah mich an und merkte, dass es keinen Sinn hatte, tiefer in das Thema Bibi einzusteigen und so sagte er lieber:

    „Du bist dran mit Aufbauen“ und deutete dabei auf den Billardtisch.

    Eine Stunde später gesellte sich Anton zu uns.

    Wir gaben die Kugeln am Tresen ab und setzten uns an unseren Lieblingstisch. Ich ärgerte mich noch etwas über meine Billardklatsche, die ich schon wieder von Carlos erhalten hatte. Zwei zu neun hatte ich verloren, aber immerhin war bei jedem Spiel nur noch die schwarze Kugel auf dem Tisch. Also eigentlich relativ knapp. Aber verloren ist halt verloren, und das Wort eigentlich ist eigentlich sowieso überflüssig. Wieder begann Carlos unser Männergespräch mit dem Thema Antje und dem geheimnisvollen Abend bei Lotto.

    „Sag mal Anton, geht es dir echt wie Nick? Hast du auch keinen Schimmer, was an dem geheimnisvollen Abend alles passiert ist?“ Sein dämliches Grinsen hätte er sich meiner Meinung nach schenken können. Allerdings hätte ich es an seiner Stelle ganz sicher nicht anders gemacht. Anton konnte sich immerhin daran erinnern, dass wir wohl zwei Mädels kennengelernt hatten. Aber von einem Spaziergang, geschweige denn von einem Besuch im Schach Café, hatte sein Gehirn ebenfalls nichts gespeichert. Allerdings fiel ihm ein, dass er irgendwann in seinem Handy einen Namen gefunden hatte, den er nicht kannte. Da er weder wusste, wer diese Person war, noch wie sie in sein Handy gekommen war, löschte er den Kontakt einfach. Er glaubte, sich zu erinnern, dass dort Sandra gestanden hatte. War sich aber nicht ganz sicher.

    Um ehrlich zu sein, hatte Anton sowieso mich im Verdacht, diesen ominösen Namen in sein Handy gespeichert zu haben. Genau wie damals auf Sylt, als ich, während er unter Dusche stand, meinen Namen in seinem Handy durch Claudi ersetzt hatte. Wir hatten drei Tage viel Spaß durch diese Austauschaktion. Besser gesagt, ich hatte viel Spaß, da ich ihm regelmäßig Nachrichten mit dem Namen Claudi geschickt hatte und er, außer seiner Schwester, keine Person mit diesem Namen kannte. Ich redete ihm ein, dass er diese Claudi wohl beim Feiern kennengelernt hatte und sich nur nicht mehr daran erinnern konnte. Manchmal wünschte ich ihm einen schönen Abend oder schrieb davon, dass es schade sei, dass er sich nicht mehr bei mir melden würde. Er versuchte, mir in seinen Antworten einerseits zu vermitteln, dass er sich sehr wohl noch an sie erinnern konnte, andererseits gab er sich Mühe, mit Fragen herauszufinden, wer ich eigentlich war und woher wir uns kannten. Am dritten Tag saßen Anton und ich im Strandkorb und blickten auf das Meer. Ich schob wieder das Thema Claudi an, doch er hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Anton hatte sein relativ neues Handy in der Hand und versuchte, sich mit einigen Menüpunkten auseinanderzusetzen, die er von seinem vorherigen Handy nicht kannte. Gerade waren wir bei der Thematik der Vibration angelangt und er wollte gerne, dass sein Handy, wenn es auf lautlos gestellt wurde, vibriert. Ich nahm das Handy, ging auf Profile und stellte es für ihn ein. Auf seine Frage, ob es nun funktionieren würde, antwortete ich nicht. Stattdessen nahm ich wortlos mein Handy aus der Hosentasche und rief ihn an. Antons Handy fing an zu vibrieren. Doch anstatt sich darüber zu freuen, blickte er mich irritiert an und meinte:

    „Jetzt ruft die auch noch an.“

    „Wer?“, wollte ich wissen.

    „Na diese Claudi!“ Meine Antwort war zunächst ein Grinsen, woraus ein kurzes Lächeln und direkt im Anschluss ein Lachen wurde. Endlich hatte Anton es geblickt und sofort platzte ein

    „Du Riesenarsch“ aus ihm heraus. Doch er lachte mit und änderte etwas später den Namen Claudi wieder in Nick. Dass ich den Rest des Tages der Zahlungsmann in Sachen Drinks gewesen bin, ist wohl logisch. Aber drei Tage Spaß war es mir allemal wert.

    „Was hat eigentlich das Nachdenken bei euch ergeben?“

    „Welches Nachdenken?“, wollte Anton wissen. Ich wusste, was Carlos meinte, und da ich im Moment echt keine Lust auf meine Arbeit hatte, sagte ich:

    „Also ich bin dabei. Ich habe gestern mit meinem Chef besprochen, dass ich erst vier Wochen Urlaub nehme und anschließend drei Monate unbezahlt freimachen möchte. Er gibt mir nächste Woche Bescheid, ob es klappt. Wir könnten dann am ersten Mai die Biege machen und hätten noch vierzehn Tage Zeit, die Route zu planen.“

    „Ich habe doch nicht das notwendige Geld dazu und frei bekomme ich bestimmt auch nicht. Wir haben im Moment total viel zu tun.“

    „Sag mal, spinnst du Anton? Die wollen dich zum Jahresende entlassen und hatten dir doch sowieso schon eine Abfindung geboten. Nimm die doch einfach und lass es dir den Sommer über gut gehen. Was machst du dir Gedanken darüber, ob die Firma viel zu tun hat? Die interessiert es doch auch nicht, was ab dem nächsten Jahr aus dir wird.“

    „Du hast gut reden, Carlos. Dein Geld kommt jeden Monat und das, ohne arbeiten zu müssen. Du brauchst dir keine Gedanken über dein Einkommen zu machen.“

    „Nein, brauche ich nicht. Aber so viel Geld ist es nun auch wieder nicht, was ich von der Berufsunfähigkeitsversicherung bekomme, und außerdem wäre es mir auch lieber gewesen, wenn ich damals meinen Surfunfall nicht gehabt hätte. Immer ohne Schmerzen zu sein, wäre echter Luxus für mich.“

    „War ja nicht böse von mir gemeint“, sagt Anton und es war ihm anzumerken, dass ihm seine Worte von eben unangenehm waren.

    „Wie kommen wir jetzt weiter?“, wollte ich wissen.

    „Zunächst bestellen wir noch drei Drinks“. Carlos winkte Lisa an unseren Tisch. Da sie hier schon seit einigen Jahren als Bedienung arbeitete und wir Stammgäste waren, wahrscheinlich sogar ihre Lieblingsstammgäste, brachte sie die Drinks gleich mit.

    Wie jeden Donnerstag, war die Nacht auf Freitag sehr kurz. Aber immerhin hatte ich heute geschnallt, dass ich zur Arbeit musste und wir nicht Samstag hatten. Die Bahn fuhr ausnahmsweise auch mal pünktlich, und so war ich bereits sehr früh unterwegs. Allerdings nicht, ohne mir vorher noch zwei Laugenbrötchen und einen Kaffee zu besorgen. In der Bahn dachte ich an den gestrigen Abend und hoffte, dass unser Plan Wirklichkeit werden würde. Ich wartete den ganzen Tag sehnsüchtig auf die Info von meinem Chef, obwohl ich eigentlich wusste, dass diese erst nächste Wochen kommen sollte. Anton wollte heute ebenfalls mit seinem Vorgesetzten darüber sprechen, dass er doch lieber die ihm damals angebotene Abfindung nehmen würde. Wir waren alle bereits über vierzig Jahre alt und sagten uns, wenn wir nicht jetzt etwas Verrücktes machen, wann dann? Gegen zehn Uhr bekamen Carlos und ich eine WhatsApp von Anton. Er hatte tatsächlich mit seinem Chef gesprochen und sollte die Antwort, genau wie ich auch, in der nächsten Woche bekommen. Nun standen für die nächste Woche bereits zwei entscheidende Antworten aus. Nicht nur Anton und ich konnten es kaum abwarten, die Antwort zu bekommen. Auch Carlos wartete und hoffte, dass unsere Männertour stattfinden würde.

    Es war ein komisches Wochenende. Normalerweise ging das Wochenende immer viel zu schnell vorbei. Kurz nachdem es begonnen hatte, musste ich bereits wieder an meinem Schreibtisch sitzen, hatte einen Becher Kaffee vor mir und konnte auf dem Kalender erkennen, dass ich noch viel zu viele Arbeitstage bis zum nächsten Wochenende vor mir hatte. Diesmal war es anders, komplett anders sogar. Der Samstagvormittag lief gar nicht und ich war froh, als Anton mich um vierzehn Uhr abholte und wir ins Stadion fuhren. Eine Stunde später saßen wir mit Getränken und Würsten versorgt auf unseren Plätzen und hofften auf einen Sieg. Immerhin wollten wir in der nächsten Saison gerne wieder Erstligafußball in Hamburg erleben. Als wir nach dem Spiel am Bierstand zwischen dem Stadion und der Arena, der Heimat unserer Handballspieler, standen, war das Spiel schnell abgehakt. Es gab leider mal wieder schlechten Fußball, aber immerhin einen Sieg vom HSV. Janny und Jonny kamen mit je zwei Bieren in der Hand auf uns zu und drückten uns eine leckere Kaltschale in die Hand.

    „Schau mal, zwei Sylt-Groupies“, sagte Anton lachend, als er die Mädels erblickte. Mit „Hey du Bayernzecke“, begrüßte ich Jonny, die Fan dieser komischen, aber total erfolgreichen Mannschaft aus dem Süden war und mal wieder die zweite Dauerkarte von Janny nutzen durfte. Es gab Küsschen links, Küsschen rechts, und nach kurzer Zeit war das Spiel abgehakt. Wir unterhielten uns über den Surf-Cup Sylt, der in fünf Monaten starten würde und auf dem wir uns vor einigen Jahren kennen gelernt hatten.

    „Wann gibt es eigentlich das Essen?“, wollte Janny wissen.

    „Wenn ihr Zeit habt oder eure Männer euch mal einen Abend frei geben“, sagte ich und lächelte. Das Essen steht seit einigen Jahren aus. Während eines Surf-Cups trafen wir uns nach einer durchzechten Nacht zum Frühstück in einem Steakrestaurant. Dort haben wir darum gewettet, dass der HSV am Abend gewinnt. Jonny und ich hatten auf den HSV getippt und verloren. Wir blieben noch eine ganze Zeit am Stadion und unterhielten uns mit vielen ehemaligen Fußballkollegen von uns.

    Der Sonntag zog sich unendlich. Über Nacht war auch noch das Wetter umgeschlagen und es regnete den ganzen Tag. Eine Stunde ging drauf, während ich mich im Fitnessstudio quälte. Zum Glück gab es heute am Nachmittag zunächst Formel 1 und anschließend noch Handball im Fernsehen, sodass ich einfach mal einen Gammeltag einlegen konnte und später während des Tatorts auf dem Sofa einschlief.

    „Heute Abend um acht Uhr im Billard Café!“, mehr stand nicht in der Nachricht, die Anton an Carlos und mich geschickt hatte. Wir hatten Mittwoch und ich saß beim Lesen der Nachricht in der Sonne bei einem Cappuccino und machte Mittagspause. Mein Chef hatte mir noch immer keine Antwort auf meine Anfrage zum unbezahlten Urlaub gegeben. Ich überlegte, ob es besser wäre, eine Nachfrage zu starten, oder ich lieber doch noch bis morgen warten sollte. Als ich nach der Mittagspause zurück an meinem Büro war, lag ein Zettel auf meinem Schreibtisch. Um vierzehn Uhr sollte ich bei meinem Chef sein.

    Über eine halbe Stunde war ich zu früh im Billard Café eingetrudelt. Trotzdem setzte ich mich an unseren Tisch und klönte mit Lisa, während ich auf meine Freunde wartete. Pünktlich trafen Anton und Carlos fast zeitgleich ein. Ein kurzes Winken genügte und wir bekamen drei Getränke an den Tisch gebracht. Es war still, irgendwie unheimlich still, an unserem Tisch.

    „Ich muss euch was sagen.“ Anton durchbrach die Stille und tatsächlich fing er direkt an, von dem Gespräch mit seinem Chef zu berichten. Anton erzählte uns alles sehr ausführlich und als er zum Ende kam, sagte er:

    „Und somit habe ich jetzt das notwendige Geld, dafür keinen Job mehr und eine ungewisse berufliche Zukunft vor der Nase. Aber das ist mir egal. Die Hauptsache ist doch, dass ich dabei sein kann, wenn unser Vorhaben startet. Sag mal Carlos, was machen wir eigentlich, wenn Nick keinen unbezahlten Urlaub bekommt. Fahren wir dann alleine? Canceln wir dann unseren Plan? Ich meine, es war unser gemeinsames Ziel, mit dem Wohnmobil on Tour zu gehen. Wir können es doch nicht ohne Nick durchziehen. Oder doch? Sag mal Carlos, was meinst du?“ Anton war in Redelaune. und es sprudelte nur so aus ihm heraus. Er war glücklich über seinen Mut. Zum ersten Mal in seinem Leben machte er etwas Verrücktes. Ich meine, etwas richtig Verrücktes. Nicht eine Sache wie Appetit auf zwei Kugeln Meloneneis haben und sich vier kaufen. Oder das fünfundvierzigste T-Shirt zu besorgen, da er noch keins in orange/blau hatte, sondern nur eins in blau/orange. Nein, diesmal wagte er etwas, bei dem eine ungewisse Zukunft vor ihm lag. Er überlegte, wie er es seinen Eltern beichten sollte, und ich wusste, dies war ein großes Problem für ihn. Immerhin kannten wir uns nun schon über zwanzig Jahre und nach so einer Zeit weiß ein Freund, wann und womit sein Freund Probleme hat.

    „Was meinst du, wenn wir einfach still und leise unsere Tour beginnen und du deinen Eltern von unterwegs eine E-Mail schickst, dass du für die nächsten vier Monate auf großer Tour bist?“, schlug ich Anton vor.

    „Das geht nicht, meine Eltern haben keinen E-Mail-Anschluss.“

    „Und wenn du ihnen eine WhatsApp sendest?“

    „Dann wissen sie nicht, wie sie diese öffnen sollen.“

    „Dann mach es wie früher und verschicke eine Postkarte.“

    „Aber stell dir vor, die kommt nicht an.“

    „Dann schickst du vorsichtshalber eine zweite hinterher“, mischte sich Carlos ein, stand anschließend von seinem Platz auf und setzte sich auf die Armlehne meines Stuhls.

    „Wie cool ist das denn? Ich freue mich total!“, sagte Carlos, während er mich in den Arm nahm. Anton saß etwas irritiert auf seinem Platz und blickte zu uns rüber.

    „Worüber freust du dich?“, wollte er von Carlos wissen.

    „Auf den ersten Mai.“

    „Auf den ersten Mai?“, wiederholte Anton.

    „Ja, auf den ersten Mai. Anders gesagt, auf unseren Tourstart.“

    „Also fahren wir zwei auf jeden Fall?“

    „Wir zwei fahren auf jeden Fall“, sagte Carlos und lachte laut, während er vor Freude eine Flasche Bacardi, zwei Flaschen Cola und einen Eisbottich quer durch den Laden bestellte.

    Als Lisa die Bestellung brachte, fragte sie, ob dies bedeutete, dass wir tatsächlich unsere Tour starten. Gleichzeitig hörte sie von Anton ein „Nein!“ sowie von Carlos und mir ein „Ja!“. Während Anton und Lisa leicht merkwürdig guckten, lachten Carlos und ich.

    „Hast du Nick nicht richtig zugehört?“, wollte Carlos von Anton wissen.

    „Mann, Anton. Alter, wir fahren!“, Carlos nahm jetzt Anton in den Arm und Lisa ging zum Tresen, um mit vier Erdbeerlimes zurückzukommen.

    „Auf die Tour!“, rief Lisa und hob ihr Glas, um mit uns anzustoßen. Wir standen auf, um diesem Drink einen gebührenden Rahmen zu gebieten. Nachdem wir es sechs Mal klirren hörten, hatte jeder sein Glas am Mund und ließ das rote, süße Zeug durch seinen Hals laufen. Die Frage, wann ich gesagt hatte, dass ich frei bekam, verkniff Anton sich. Er nahm sich vor, Carlos oder mich später einmal zu fragen. Es war ein verdammt anstrengender Abend. Lisa musste noch einige Male mit einer Runde Erdbeerlimes an unseren Tisch kommen, und sie hatte heute auch keine Chance, sich dem Mittrinken zu entziehen. Zwei Stunden später schickte ihr Chef sie ganz zu uns an den Tisch. An Arbeit war bei ihr heute nicht mehr zu denken. Dafür war sie uns bei unserer Planung behilflich. Sie übernahm das Schreiben und erinnerte uns immer wieder an Dinge, an die wir drei nicht dachten, die jedoch notwendig waren. Sie hatte halt den Blick einer Frau.

    Erst sehr spät verließen wir heute das Billard Café, und ich beneidete Carlos darum, dass er am nächsten Morgen keine Arbeitsverpflichtung vor der Nase hatte. Er versuchte, uns einzureden, dass es auch sehr anstrengend für ihn werden würde, da er um zehn Uhr beim Klettern sein musste. Allerdings hatte er mit seinem Versuch keine Chance bei uns.

    Planungen

    Die nächsten Tage liefen sehr schnell. An meine eigentliche Arbeit verschwendete ich während der Arbeitszeit nur wenige Gedanken. Meistens notierte ich mir irgendwelche Dinge, die mir noch für unsere Tour einfielen. Ansonsten telefonierte ich mit Carlos und Anton. Da Carlos die meiste Zeit hatte, war er für das Organisieren und die Besorgungen verantwortlich. Außerdem war er der Besitzer des Wohnmobils und wusste daher am besten, wie viel Platz wir für Vorräte oder anderen Krimskrams hatten.

    Ein Fiat, soviel wusste ich. Auf die Fragen meiner Kollegen konnte ich bisher nicht mit sehr viel mehr antworten, und so hatte ich mir für heute vorsichtshalber einen Zettel mit Daten über das Wohnmobil in meine Hosentasche gesteckt. Die erste Kollegin stellte mir schon gegen sieben Uhr eine Frage nach dem Wohnmobil und unserer geplanten Strecke. Zur Strecke allerdings konnte ich auch heute nur die gleiche Antwort wie immer geben.

    „Wir fahren einfach drauf los, werden mal hier und mal da sein. Anton und ich verlassen uns ganz auf den Routenplaner Carlos. Wir werden nach Wetterbericht immer in die Richtung der Sonne fahren und versuchen, da Carlos ein leidenschaftlicher Surfer ist, die besten Surfgebiete anzusteuern. Aber weißt du was? Pass mal auf.“ Ich kramte den Notizzettel aus meiner Tasche und las stolz einige Daten ab.

    „Wir fahren mit einem Fiat Ducato, Rapido 860 F, natürlich einem Diesel. Das Ding ist sechseinhalb Meter lang und hat eine Breite von über zwei Meter. Knapp drei Meter ist das Wohnmobil hoch und es hat vier Schlafplätze.“ Mehr wusste ich nicht über unser Wohnmobil. Nur, dass Carlos damit schon etliche Touren gemacht hatte und bei seinen Erzählungen nur Positives, besser gesagt, nichts Negatives erzählt hatte. Mein Handy meldete sich in diesem Moment bestimmt zum zehnten Mal. und ich las die Frage:

    „Wisst ihr Chaoten eigentlich, dass wir nur ein Wohnmobil und keinen LKW haben ...?“

    Ich überlegte, ob Carlos wohl auf meine letzte Nachricht geantwortet hatte, in der ich noch einige aus meiner Sicht sehr wichtige Vorschläge gemacht hatte. Ich fand zum Beispiel für regnerische Abende eine Autorennbahn angebracht und auch mein Tischfußballspiel würde, wenn wir es zusammenklappten, bestimmt irgendwo einen vernünftigen Platz finden. „Na ja, vielleicht hatte Anton ja auch etwas an Carlos geschrieben, was unangebracht war“, dachte ich und machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Nachdem ich die nächste WhatsApp gelesen hatte und gerade antworten wollte, da Carlos tatsächlich dagegen war, eine Autorennbahn und ein Tischfußballspiel mitzunehmen, kam der Dicke in mein Büro.

    „Chef, was gibt's?“, sagte ich, während ich mein Handy auf den Schreibtisch legte.

    „Du hast jetzt genau drei Möglichkeiten. Entweder stellst du dein Handy heute und morgen aus, entweder stellst du es heute und morgen auf leise, oder du stellst es heute auf leise und nimmst morgen deine restlichen Überstunden“, sagte der Dicke und lächelte dabei. „Der kann ja richtig nett sein“, waren meine erstaunten Gedanken.

    „Dann entscheide ich mich für die dritte Variante. Danke Chef.“ Ich war wieder alleine in meinem Büro und griff zum Handy. Nach kurzer Zeit unterbrach ich meine WhatsApp, um das Handy auf leise zu stellen. Immerhin hatte ich es versprochen. Dann schrieb ich die Nachricht weiter.

    „Hallo Carlos, hallo Anton, ich habe morgen schon frei. Der Dicke kann richtig nett sein, wenn er will! Freue mich auf die Tour mit euch Chaoten!“

    Die Stunden bis zum Feierabend vergingen unendlich schnell. Nicht, dass ich viel gearbeitet hätte. Dazu kam ich nicht. Ich musste bestimmt noch zwanzig Mal meinen Zettel aus der Hosentasche ziehen, um die Daten vom Wohnmobil abzulesen. Denn in einer Sache waren Anton und ich gleich. Keiner von uns hatte Ahnung von Autos. Und die zu einem Auto gehörigen Daten und Infos, konnten wir uns schon gar nicht merken. Komischerweise fiel mir jetzt auch wieder die Geschichte ein, als Anton und ich einen Kurztrip nach Sylt unternommen hatten. Am Abend vor der Abreise von der Insel hatten wir schon fast alles gepackt und im Auto verstaut. Während ich in der Badewanne lag, brachte Anton die restlichen Sachen zum Auto. Plötzlich klingelte mein Handy und ich sprang aus der Wanne. Anton war dran und ich dachte, er wollte mich verarschen, als er sagte, dass der Wagen nicht anspringen würde.

    „Wie witzig. Für den blöden Scheiß holst du mich aus der Wanne?“

    „Kein Witz, mein Wagen springt echt nicht an.“

    „Und was soll ich jetzt dabei machen?“

    „Los komm runter“, befahl Anton. Ich zog mir schnell etwas über und auf dem Weg nach unten überlegte ich, was wohl tatsächlich passiert war. Sprang sein alter, roter Toyota wirklich nicht an? Klar konnte es der Grund sein. Immerhin hatte der Wagen bereits seine besten Jahre hinter sich. Ich vermutete aber, dass Anton irgendwelchen Mist im Kopf hatte und mich nur ärgern wollte.

    „Da bin ich.“

    „Wird auch Zeit. Was hast du noch so lange gemacht?“

    „Nichts, außer mich anzuziehen.“

    „Hör mal“, sagte Anton, während er im Wagen saß und den Schlüssel umdrehte. Ich hörte nichts. Was daran lag, dass es nichts zu hören gab. Der Wagen war tot.

    „Lass mich mal versuchen.“ Anton überließ mir den Fahrersitz und den Wagenschlüssel. Doch auch bei mir passierte nichts. Die Gurke machte so gar kein Geräusch und ich stieg aus.

    „Was machen wir?“, fragte Anton.

    „Weiß nicht!“

    „Mach mal mit dem Hebel die Motorhaube auf.“

    Ich sah Anton fragend an. Selbstverständlich hatte ich keine Ahnung, wo sich dieser Hebel befand. Anton kletterte auf den Beifahrersitz, und so suchten wir jetzt gemeinsam nach einem Hebel, den wohl jeder andere Autofahrer sofort gefunden hätte. Als wir ihn endlich fanden und ich ihn benutzte, freuten wir uns, dass die Motorhaube tatsächlich aufsprang. Nun standen wir beide vor dem Wagen und blickten auf, für uns beide zumindest, böhmische Dörfer. Wir hatten absolut keine Ahnung, wonach wir Ausschau halten sollten. Okay, den Behälter für das Wischwasser und den Stab zum Ölstand messen, haben wir entdeckt. Beides half uns jedoch nicht wirklich weiter, und so beließen wir es dabei. Wir lachten lieber über unsere reichlich blinde Aktion.

    „Wir könnten noch mal in den Kofferraum gucken“, sagte ich zu Anton.

    „Stimmt, ob wir in die Motorhaube oder in den Kofferraum gucken, ist wahrscheinlich echt egal“, bekam ich zur Antwort, und wir lachten weiter. Eine Stunde später kam der von Anton angerufene ADAC. Es war irgendeine Autowerkstatt von der Insel, die allem Anschein nach für den ADAC hier auf Sylt tätig war.

    „Wo liegt das Problem?“

    „Das Problem liegt nirgends. Es steht vor dir.“ Fragend sah uns der Typ an. Dass wir mit Humor bei ihm nicht landen würden, war uns sofort klar. Anton übernahm das Wort und versuchte, sachlich zu bleiben.

    „Mein Wagen springt nicht an. Er sagt keinen Ton und steht nur wie tot auf dem Parkplatz.“

    „Gib mal den Schlüssel.“ Der Typ nahm den Schlüssel und setzte sich in den Wagen. Wenige Sekunden später steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und drehte diesen herum. Das Geräusch eines laufenden Motors erklang. Anton und ich fühlten uns erleichtert und blamiert zugleich. Trotz eines guten Trinkgelds fuhr der Typ ziemlich angesäuert davon. Wahrscheinlich hätte er an einem Samstagabend um einundzwanzig Uhr lieber etwas anderes gemacht, als zwei blöde Hamburger unnötigerweise zu besuchen. Nach drei Stunden und ungefähr fünf Bacardi-Cola später lachten wir in der Wunderbar noch immer über unsere heldenhafte Aktion.

    Als ich mit meinen Gedanken fertig war, fragte mich ein Kollege, weshalb ich so blöd grinste.

    „Ab morgen habe ich frei, und dann seht ihr mich vier Monate nicht“, sagte ich. Ich hatte keinerlei Antrieb, die Autogeschichte, die wirklich ziemlich peinlich war, in meiner Firma zu erzählen.

    Heute war schon wieder Donnerstag, und wir überlegten, ob wir unseren heutigen Billardabend ausfallen lassen sollten, entschieden uns aber dagegen, da man an Ritualen festhalten muss. Wir hätten garantiert auch total Ärger von Lisa bekommen, wenn wir, ohne Tschüss zu sagen, für vier Monate verschwunden wären. Ich notierte noch einige Dinge, die ich gerne mitnehmen wollte, jedoch nicht wusste, ob es platztechnisch möglich war. Auch Anton hatte vorsorglich einen solchen Zettel dabei, als wir uns am Abend im Billard Café trafen.

    „Anton, wir brauchen gar nicht weiter diskutieren. Das Mofa kann nicht mit, und für das Bauchmuskelübungsgerät haben wir auch keinen Platz im Wohnmobil. Übungen für die Bauchmuskeln kann man übrigens genauso gut auch ohne Gerät machen. Und Nick, kannst du mir verraten, was du mit der Wii auf unserer Tour anstellen willst?“

    „Klar kann ich das. Wenn mal schlechtes Wetter ist, können wir lustige Sportspiele machen und brauchen nicht den Fernseher einzuschalten.“

    „Um Wii zu spielen, muss man sehr wohl den Fernseher einschalten“, sagte Carlos und lachte. Als er ausgelacht hatte, meinte er weiter:

    „Die Wii bleibt zuhause. Dafür ist kein Platz. Oder wir nehmen alternativ den Laptop nicht mit.“ Carlos hatte gewonnen und wir sahen ein, dass wir das Wohnmobil nicht mit unnötigem Kram vollstopfen sollten. Meine anderen beiden Vorschläge erwähnte Carlos gar nicht erst. Auch ich hielt lieber meine Klappe.

    „Sag mal, habt ihr auch solche Probleme bei der Klamottenauswahl? Hat wirklich jeder nur so viel Platz, wie du uns aufgeschrieben hast?“, wollte Anton von Carlos wissen, und ich strich eine Frage von meinem Zettel, da ich die gleiche Frage auch noch stellen wollte.

    „Ja, so ist es. Mehr Platz ist nicht vorhanden. Wir können, wenn Ihr wollt und es euch nicht stört, eine gepackte Tasche von jedem unter dem festen Bett hinten im Wagen verstauen. Aber dort müssen die Klamotten auch bleiben, da im Schrank echt nicht mehr Platz ist, als ich bereits diverse Male gesagt habe. Aber was jammert ihr eigentlich. Ich muss sogar noch meine Surfsachen einpacken. Die alleine nehmen schon ganz schön viel Platz weg.“ Da es uns nicht wirklich störte, wenn drei gepackte Taschen unter dem Bett standen, waren Anton und ich dafür. Wir hofften zwar auf schönes Wetter, hatten jedoch keine Garantie und mussten daher klamottentechnisch auf alles eingestellt sein. Auch die restlichen Fragen wurden relativ schnell geklärt, und so hatten Anton und ich bald nur noch durchgestrichene Punkte auf unseren Zetteln. Offen war lediglich ein Punkt von mir, und diesen hatte ich nicht auf meinem Zettel notiert, da es mich sowieso die ganze Zeit beschäftigt hatte.

    „Verrätst du uns nun endlich, wie die Tour aussieht?“

    „Gut sieht sie aus“, meinte Carlos und grinste blöd.

    „Wo geht es lang? Welche Orte sehen wir uns an?“

    „Ihr habt gesagt, ihr wollt euch überraschen lassen und dabei bleibt es.“ Da wir wussten, dass weiteres Nachhaken nichts bringen würde, hielten wir einfach den Mund und nahmen uns vor, diese Frage auch nicht wieder zu stellen.

    Am Freitag weckte mich kein Wecker. Ich erhielt auch weder eine WhatsApp noch einen Anruf. Geweckt wurde ich heute von einem furchtbaren Geraschel. Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer, machte die Balkontür auf und setzte meine Landschildkröte, die auf den Namen Bobby hörte, auf den Balkon. Als ich wieder im Bett lag, fiel es mir wie Schuppen aus meinen nicht vorhandenen Haaren. Was sollte ich während der Tour mit Bobby machen? Meinen Eltern konnte ich sie nicht vier Monate aufs Auge drücken und meine beiden besten Freunde waren mit mir unterwegs. Außerdem musste ich mir eingestehen, dass mir Bobby wahrscheinlich auch fehlen würde, da ich sie die letzten fast sechs Monate schon nicht gesehen hatte. Erst im März hatte ich sie wieder aus dem Keller befreit, und nun wollte ich sie nach ihrem wohlverdienten Winterschlaf nicht schon wieder abgeben müssen. Doch wie sollte ich sie mitnehmen? Das Terrarium war viel zu groß, und in einem Karton wollte ich meiner griechischen Landschildkröte die Tour auch nicht zumuten. Immerhin besaß ich sie bereits fast sechsunddreißig Jahre und sie war einen gewissen Luxus gewöhnt. Bei meinem ersten Kaffee und zwei Scheiben Toastbrot mit Honig hatte ich plötzlich eine Idee. Eine sehr gute sogar und so fuhr ich zum Baumarkt. Ich kaufte breite Holzbretter und eine Glasscheibe, woraus ich einen Stall für Bobby baute. Die Glasscheibe brachte ich an einer der Längsseiten an, und so konnte sie auch etwas sehen, ohne sich den Hals dabei verrenken zu müssen. Etwas Angst hatte ich vor der Reaktion meiner Freunde. Immerhin war Bobby bisher nicht eingeplant und ihr neues Zuhause nahm schon einigen Platz weg. Aber ich war zuversichtlich, dass meine Überzeugungskraft groß genug sein würde. Ich hatte ja auch bereits auf die Wii, mein Tischfußballspiel und die Autorennbahn mehr oder weniger freiwillig verzichtet. Außerdem gab es auch keine andere Möglichkeit.

    Am frühen Nachmittag hatte ich alles fertig gepackt und meine Taschen standen im Flur. Ich nahm mein letztes Bier aus dem Kühlschrank und stellte diesen aus, da er jetzt leer war und in der nächsten Zeit nicht gebraucht wurde. Ich streckte meine Beine lang aus und ließ mir nochmals meine gepackten Sachen durch den Kopf gehen. Es fehlte nichts und so sprang ich ganz entspannt unter die Dusche.

    Als ich im Laufe des Nachmittags bestimmt zum siebten Mal durch die Wohnung ging, um die Fenster und die bereits gezogenen Stecker zu überprüfen, war ich beruhigt - zumindest für den Moment.

    Morgen werde ich die Strecke bestimmt noch einige Male abschreiten, dachte ich und irrte dabei. Ich ging bereits eine Stunde später die Strecke ab und war am Kontrollieren.

    Tanz in den Mai

    Nun musste ich mich aber auch beeilen. In zehn Minuten schlug es siebzehn Uhr und ich war um diese Uhrzeit mit Anton am Bahnhof verabredet. Als ich auf mein Handy sah, erkannte ich, dass er mir vor einer Viertelstunde eine Nachricht mit dem Inhalt

    „Bin schon da!“ geschickt hatte.

    Als ich am Bahnhof ankam, saß Anton auf dem Geländer davor und hielt ein Bier in der Hand. Drei weitere Bierflaschen, zum Glück für mich volle, standen auf dem Boden vor ihm. Nachdem ich ihn begrüßt hatte, griff ich nach einer der Flaschen. Wir tranken die erste Flasche aus und machten uns auf den Weg zum Bahnsteig. Die Fahrt war sehr lustig, da sich auch schon andere Männer und zum Glück auch Frauen auf den Weg zum Tanz in den Mai auf die Socken gemacht hatten. Am Ende unseres Abteils saß eine Gruppe von Frauen, die heute ohne ihre Männer unterwegs waren und das gleiche Ziel wie wir verfolgten: Spaß haben, einige Drinks vernichten und nachher in der Arena im Volkspark, die leider ständig ihren Namen wechselt, beim Lotto-Konzert ordentlich abzufeiern. Unsere Biere waren schnell vernichtet, und so mussten wir uns zwangsweise bei den Getränken der Frauengruppe bedienen. Die Frauen gaben gerne und ich vermutete, dass sie nicht nur gerne ihre Getränke gaben. Anton gab mir recht, als ich ihm dies ins Ohr flüsterte. Als eine der Frauen neugierig wurde und wissen wollte, was ich eben geflüstert hatte, dachte ich, dass es dich schon mal gar nichts angeht und sagte:

    „Dass uns ein toller Abend mit einer netten Damenrunde erwarten würde.“

    „Damen? Damen sind wir ganz bestimmt nicht“, bekam ich als Antwort und wurde dabei von ihr auffordernd angegrinst. Ihr Grinsen war wirklich ein Grinsen. Auf gar keinen Fall konnte man es als Lächeln bezeichnen. Als Anton fragte, weshalb sie die ganze Zeit so blöde Grimassen zog, da er ihren Satz nicht verstanden hatte, besser gesagt, er nicht zugehört hatte, flüsterte ich erneut:

    „Ich glaube, es liegt an ihren Liebeskugeln, die sie vergessen hat rauszunehmen.“ Die Frau gegenüber von Anton hatte nun, neben den Bier- und Prosecco-Flecken auch noch Flecken von Antons Getränk auf der Hose, da Anton sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Es störte sie allerdings eher weniger und sie lachte mit, ohne zu wissen, warum sie eigentlich am Lachen war. Endlich waren wir angekommen. Nach einem kleinen Fußweg erreichten wir den Buspendelverkehr, der uns zur Halle bringen sollte. Die Frauengruppe stieg ein und zog uns hinterher. So standen wir umringt von vielen Frauen im Bus und fuhren direkt zum Halleneingang. Den ersten Konzertbesuchern wurde schon auf der Fahrt im Bus schlecht, und ich glaube, dass es weder an der Hitze noch an der Busfahrt lag. Als wir ausstiegen, wurde auch einer unserer Frauen schlecht, und sie lief zu dem kleinen Grünstreifen, um sich die letzten Getränke nochmal so richtig durch den Kopf gehen zu lassen. Ihre Freundinnen gingen zu ihr. Anton und ich nutzten die sich uns gebotene Chance, um uns in die andere Richtung abzusetzen.

    Am Bierstand kamen wir relativ schnell dran. Wir setzten uns mit unseren Bierbechern auf die Treppenstufen, die zum Eingang hinauf führten. Von hier hatten wir einen guten Überblick und konnten gut erkennen, dass viele Leute hier waren, die wir bereits von anderen Konzerten kannten.

    „Meinst du, dass die aus dem Alex auch hier ist?“

    „Antje?“

    „Wenn sie so heißt?“

    „Kann sein. Immerhin war sie ja auch im September bei Lotto.“

    „Würdest du sie gerne sehen?“

    „Was ist das denn jetzt für eine Frage?“

    „Ja oder nein?“

    „Es würde Schlimmeres geben, als sie hier zu treffen.“ Anton war an der Reihe, Getränke zu holen. Wir sahen auf die Uhr und hatten noch genügend Zeit, um ein kühles Bier vor der Halle zu trinken. Mit vier Bieren und zwei Frauen kam er zur Treppe zurück. Alle setzten sich neben mich auf die Stufen. Leider konnte ich Anton nicht heimlich fragen, wie die beiden Mädels hießen. Mir war zwar bewusst, dass ich sie schon mal gesehen hatte, wusste aber weder, wo es war, noch kannte ich ihre Namen. Da Anton während der Unterhaltung keine von beiden mit Namen ansprach, wurde mir klar, dass ich mir die Frage sowieso schenken konnte. Beide Frauen waren nicht so wirklich unser Beuteschema. Allerdings gefiel mir eine von beiden besser, was allerdings lediglich daran lag, dass diese ihren Mund nicht so häufig aufmachte wie ihre Freundin. Bei der kam tatsächlich durchgehend irgendwelche gequirlte Angeberscheiße aus der großen Öffnung von ihrem Kopf. Die Nervige war der Typ von Frau, die drei Stunden nur über sich erzählte und anschließend, wenn sie fertig damit war, sagte: „Aber nun lass uns doch mal über dich reden. Wie findest du mich eigentlich?“

    Mir ging schon dieses dämliche Gerrit-Gerede auf den Keks. Hast du Gerrit dort gesehen? Wie findest du das neue Lied von Gerrit? Und so weiter und so weiter. Anton verkniff sich ihr gegenüber zum Glück die Frage, wer dieser Gerrit eigentlich sei. Er stellte mir die Frage erst, als die beiden Mädels neue Opfer gefunden hatten.

    „Gerrit ist der eigentliche Name von Lotto“, antwortete ich.

    „Ach so.“ Das Thema war gegessen, und die Mädels waren zum Glück für den restlichen Abend verschwunden. Wir verschwanden jetzt auch, allerdings nur aus der frischen Luft und machten uns auf den Weg in die Halle hinein. In etwas weniger als einer Stunde fing das Konzert an, und bevor die Schlangen am Eingang noch länger wurden, machten wir uns lieber bereits jetzt auf den Weg. Wie sonst auch hatten wir Karten für den Innenraum gekauft und stellten uns ungefähr dorthin, wo wir immer bei den Konzerten standen. Nicht ins ganz große Gedränge und so, dass wir relativ schnell zum Bierstand oder zum Klo kamen. Auch andere hatten anscheinend ihre Stammplätze, und so kannten wir viele der Besucher, die um uns herum standen. Die Frauengang aus der Bahn ging an uns vorbei, sie erkannten uns zum Glück nicht, da sie schon ziemlich betrunken und außerdem in Begleitung von neuen Männern waren.

    „Schau mal, die haben schon andere Opfer gefunden“, sagte Anton.

    „Die armen Kerle“, war meine Antwort, während ich mich nach der Frauenwelt umsah. Das Konzert ging los, und wir waren bereit dafür, mit frischen Getränken in der Hand, drei Stunden Party pur zu erleben. Schnell kam Anton mit irgendwelchen Mädels ins Gespräch. Ich musste plötzlich an Antje denken und sah mich um. Natürlich war sie nicht zu sehen. Erstens wusste ich nicht, ob sie überhaupt hier war und zweitens war es jetzt viel zu voll und auch zu dunkel, um überhaupt jemanden zu entdecken. So ging ich einen Meter weiter nach vorne, um nachzusehen, was Anton für Frauen angequatscht hatte.

    „Ganz okay“, sagte ich zu Anton.

    „Was?“, schrie er mir ins Ohr.

    „Alles ist gut“, sagte ich und sang lieber lauthals mit, als ‚Wer wird deutscher Meister? Ha, Ha, Ha, HSV …‘ gesungen wurde. Ich konnte gar nicht so schnell trinken, wie von den Mädels das Bier gebracht wurde. Ich hatte meistens zwei, manchmal sogar drei Becher in meinen Händen. Als ich ausnahmsweise nur einen Becher in der Hand hielt, konnte ich auf die Uhr sehen und erkennen, dass bereits die erste Hälfte des Konzertes vorbei war. Mir wurde aber auch klar, wenn wir die zweite Hälfte vom Konzert weiter diese Schluckzahl durchziehen, werden wir gnadenlos abstürzen. Ich wollte Anton gerade die Info geben, dass ich mich aufs Klo verabschiede und im Restaurantbereich anschließend ein Wasser trinken werde, als mir ein neues Bier in die Hand gedrückt wurde. Nun hatte ich wieder keine Hand frei, dafür aber zwei volle Biere in den Händen. Hinter mir standen zwei Frauen, die nicht zu unserer Clique gehörten. Ich drückte einer von beiden das frische Bier in die Hand und zog meinen Plan von eben durch. Mein halbvolles Bier stellte ich vor dem Klo auf einem Bistrotisch ab und war, als ich das Klo wieder verließ, gefühlte fünf Liter leichter. Am Tresen war es voll, sehr voll sogar und ich kannte dummerweise niemanden von den Menschen, die vor mir standen. Ich wollte mich gerade an das Schlangenende begeben, als mich ein Mädel ansah und fragte:

    „Was willst du trinken? Ich bring dir was mit.“

    „Ein Wasser bitte. Ich warte da am Tisch.“

    „Okay“, bekam ich zur Antwort und kurze Zeit später kam sie tatsächlich, mit zwei Getränken, auf mich zu. Allerdings mit zwei Bieren.

    „Hier“, sagte sie und drückte mir das eine Bier in die Hand.

    „Danke. Aber hatte ich nicht Wasser gesagt?“

    „Doch hast du. Aber ich dachte, du machst einen Witz.“

    „Trotzdem danke. Was bekommst du?“

    „Nur einen Kuss“, sagte sie und hielt mir ihren Mund hin.

    Sie bekam ihren Kuss, und die ersten Schlucke aus den Bieren tranken wir gemeinsam. Ich wollte gerade fragen, ob wir nicht wieder rein in die Halle gehen wollen, als sie schneller war und meinte:

    „So, ich muss wieder rein. Mein Freund ist irgendwo in der Halle und wartet bestimmt schon auf mich. Viel Spaß noch.“

    „Den wünsche ich dir auch.“ Noch immer über die Situation von eben grinsend, stand ich wieder bei Anton und den Frauen.

    „Was grinst du so?“, wollte eines der Mädels wissen.

    „Weil ich nach dem Toilettengang so erleichtert bin.“ Jetzt drehte sie ihren Becher um. Nicht ein einziger Tropfen Bier lief heraus. Es tropfte tatsächlich nicht mal ein ganz kleiner Tropfen auf den Boden. Während sie mir sagte, dass hier verdammt trockne Luft sei, fragte ich mich, wie sie einen Bierbecher so leer trinken konnte, dass kein Tropfen mehr enthalten war. Da ich nicht auf die Lösung kam, ging ich zum Bierstand und holte eine neue Runde.

    „Merkst du den Alkohol schon? Ich überhaupt nicht.“ Verständnislos sah ich Anton an und sagte lieber nichts. Es war allerdings auch nicht möglich, geschweige denn notwendig, da er sich bereits wieder umgedreht hatte und am Tanzen war. Sein Pegel war zwar noch nicht an der Oberkante seiner Unterlippe angekommen, allerdings fehlte nicht mehr viel. Es mussten schon einige Liter Bier gewesen sein, die wir vernichtet hatten. Daran lag es auch, dass die Frauen um uns herum immer schöner und attraktiver wurden. Meistens hatte jeder von uns zeitgleich zwei Frauen im Arm. Während sich die verschiedenen Frauen der Clique in der ersten Hälfte vom Konzert noch abwechselnd in unseren Armen befanden, waren es jetzt nur noch die Gleichen. Die anderen hatten sich zwischenzeitlich nach anderen Männern umgesehen und waren sehr schnell fündig geworden.

    Irgendwann wurde auch mit dem Knutschen begonnen. Als zum Ende des Konzertes von 13.000 Menschen gemeinsam ‚Hamburg meine Perle‘ gesungen wurde, waren wir nur noch zu viert. Nicht nur wir hatten die Lampen an, sondern auch die Hallenbeleuchtung wurde nun eingeschaltet. Ich holte noch schnell vier Bier und nach kurzer Zeit war wieder die gesamte Mädelsgang um uns herum. Allerdings hatte jede der Frauen einen Mann im Arm oder zumindest an der Hand.

    „Ab auf den Kiez!“, rief eine der Frauen, und jede der anderen Mädels sah dabei den neben ihr stehenden Mann an. Auch Anton und ich wurden mit diesem berühmten Dackelblick angesehen, doch wir verabschiedeten uns, da wir lieber ins Bett wollten. Immerhin ging morgen unsere Tour los. Der Abschied von uns fiel unseren beiden Frauen nicht sonderlich schwer - zumindest nicht mehr, nachdem ich gesagt hatte, dass sie auf dem Kiez ja bestimmt nicht lange alleine blieben, da es dort ja reichlich Opfer für sie geben würde. Beide waren nach meinem Satz ziemlich eingeschnappt und auf die Frage, was wir über sie denken würden, bekamen sie auch vorsichtshalber keine Antwort von uns. Wir wollten keinen Bierbecher an den Kopf bekommen und hielten vorsichtshalber den Mund, was bei uns allerdings eher selten vorkam. Als wir die Halle verließen, meinte Anton noch, dass ich vielleicht nicht unbedingt hätte Opfer sagen müssen, aber es war mir rausgerutscht, da es mit meiner Drehzahl relativ schwierig war, etwas anderes zu sagen, als ich gerade dachte. Außerdem gibt es doch kaum etwas Schöneres, als den Frauen beim Sammeln von Erfahrungen behilflich zu sein.

    „Ein weiser Entschluss“, hörte ich eine Stimme sagen, als ich mit Anton noch ein letztes Bier am Stand vor der Halle trank. Ich sah Antje, sie lächelte mich an und lief los, da sie mit ihren Freundinnen den fast abfahrenden Bus noch erreichen wollte. Der Fahrer machte die Tür nochmals auf, und ich konnte Antje nur noch im Bus verschwinden sehen.

    „Meinte sie das Bier oder, dass wir nicht mit den anderen Frauen mitgegangen sind?“, wollte Anton wissen.

    „Ich weiß nicht. Auf jeden Fall ist sie wirklich sehr schön.“

    Um 23:45 Uhr lag ich im Bett, als ich eine Nachricht von Bibi bekam.

    „Hi Nick, du bist bestimmt auch mit Anton bei Lotto gewesen. Wir fahren jetzt auf den Kiez. Kommt ihr auch? Würde mich freuen.“

    Ich schrieb zurück, dass ich bereits im Bett lag und dieses auch nicht mehr verlassen werde. Noch vor gar nicht langer Zeit hätte ich mich wieder angezogen und wäre zu ihr gefahren. Ich war stolz auf mich, dass ich es heute nicht tat und überlegte, woran es wohl lag. Ich schob es auf die Weisheit des Alters und nahm mir vor, es auch zukünftig genauso zu machen. Es wurde Zeit, diesen Weg zu gehen. Dann blickte ich auf die Uhr. Es fehlte nur noch eine Minute bis Mitternacht und ich musste grinsen, als ich dachte:

    „Es war ein schöner Abend, auch wenn er am eigentlichen Sinn vom Tanz in den Mai vorbeiging.“

    Abfahrt

    „Bist du schon wach?“, stand in der WhatsApp von Anton.

    Leider schaute ich erst auf die Uhr, nachdem ich mit einem „Jetzt ja“ geantwortet hatte. Ansonsten hätten garantiert noch andere Worte in meiner Nachricht gestanden. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und Carlos wollte mich erst in vier Stunden abholen, damit wir anschließend gemeinsam weiter zu Anton fahren konnten. Mein Telefon klingelte, und auf dem Display konnte ich den Namen Anton Notna erkennen. Allerdings hätte ich auch, ohne auf das Display zu schauen, den Anrufer mit einem vorwurfsvollen „Anton, was willst du?“ begrüßen können. Wer sonst hätte zu dieser Uhrzeit und nach der WhatsApp von vor fünf Minuten wohl anrufen sollen?

    „Nick, ich kann nicht mehr schlafen. Ich bin total aufgeregt und habe auch ein wenig Angst vor dem, was kommt“, sagte Anton und ich konnte ihn ja sogar verstehen. Mir erging es ähnlich, außer, dass ich ohne seine Nachricht jetzt noch schlafen würde.

    „Hey Toni, alles wird gut. Wir machen das Richtige. Du wirst es sehen.“ Anton meckerte nicht einmal darüber, dass ich ihn eben Toni genannt hatte und das, obwohl er es sonst hasste.

    „Sag mal Nick, willst du nicht schon jetzt zu mir kommen? Wir könnten dann gemeinsam frühstücken gehen und zusammen darauf warten, dass Carlos uns abholt.“

    „Zu dir kommen ist schlecht, weil meine Eltern erst gegen neun Uhr den Briefkastenschlüssel abholen, und außerdem würde mein Wagen dann die ganze Zeit bei dir stehen und nicht in der Garage. Aber pass auf, ich mache mich schnell fertig und dann hole ich dich ab. Auf dem Rückweg halten wir im Schweinske und dann warten wir zusammen bei mir auf unseren Routenplaner.“

    „Super, bis gleich.“ Die Erleichterung war in seiner Stimme zu hören. Allerdings war ich auch froh darüber, die nächsten Stunden nicht alleine verbringen zu müssen.

    Wir bestellten unser Frühstück und Anton fragte, ob ich auch meine Joggingsachen eingepackt hätte. Klar hatte ich, allerdings hatte ich vergessen, meine Badeshorts und Sonnenbrille rauszulegen. Ich schnappte mir einen Bierdeckel und notierte beides darauf, bevor ich ihn in meiner Hosentasche verstaute. Anton erzählte mir, dass er gestern noch wegen seiner Knieschmerzen beim Arzt war und jetzt wusste, dass die Schmerzen bei längerer Belastung deshalb da sind, da er eine leichte Arthrose im Knie hatte. Aber der Arzt meinte auch, dass es noch nicht ganz so schlimm sei und er ruhig weiter Sport machen könnte. Er sollte dabei nur nicht übertreiben. Dann grinste er und fing an, von der tollen Arzthelferin zu schwärmen.

    „Nick, du glaubst nicht, wie hübsch die war. Ein solches Lächeln hast du noch nicht gesehen. Die Augen von ihr haben mit gelächelt und ihre Ausstrahlung war einfach genial.“

    „Wie heißt sie?“, wollte ich wissen.

    „Frau Plate.“

    „Wie witzig! Meinst du nicht, dass mich ihr Vorname mehr interessiert?“

    „Den weiß ich nicht.“

    „Warum kennst du ihren Nachnamen, aber den Vornamen nicht? Habt ihr euch gesiezt?“

    „Nein, natürlich geduzt.“

    „Und den Vornamen deiner Traumfrau hast du von gestern auf heute vergessen?“

    „Ich habe den Vornamen nicht vergessen, da ich diesen nicht gekannt habe.“

    „Verstehe ich nicht.“

    „Den Nachnamen kenne ich von ihrem Namensschild.“

    „Hast du nicht nach dem Vornamen gefragt?“

    „Nee, mir fiel nichts ein, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen.“

    „Dir fiel nichts ein? Du bist doch der, der jede Frau vollquatscht.“

    „Aber nicht, wenn es eine solch tolle Frau ist.“

    „Die Handynummer hast du aber. Oder?“

    „Nein.“

    „Du Amateur! Na ja, du wirst ja die Nummer der Praxis haben.“

    „Ja, die habe ich.“

    „Na dann rufe sie doch einfach dort an, du kennst ja ihren Nachnamen.“

    „Geht nicht. Die Nummer habe ich auf einem Zettel notiert und der hängt an meiner Pinnwand.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass er mir gestern gar nichts von seiner Arzthelferin erzählt hatte und auf meine Frage, warum nicht, erzählte er:

    „Ich wollte nichts von ihr erzählen, da ich sie vergessen wollte, weil wir doch heute auf Männertour fahren. Hat aber nicht funktioniert.“

    Nach dem Frühstück fuhren wir zu mir und mussten nur noch eine halbe Stunde auf Carlos warten. Meine Eltern kamen, holten den Briefkastenschlüssel ab und verschwanden relativ schnell wieder. Sie konnten noch immer nicht verstehen, dass ich für vier Monate durch die Weltgeschichte düsen wollte. Ich glaube, sie waren zu konservativ dafür. Früher gab es so etwas halt nicht. Erst vier Wochen Urlaub machen und anschließend drei Monate unbezahlt frei zu nehmen, war für sie eine fremde Welt. Aber da mussten sie jetzt durch. Genau wie ich da durch musste. Immerhin waren es meine Eltern. Ich wurde von ihnen erzogen und hatte natürlich eine Menge von ihnen mitbekommen. Mir war auch etwas unwohl dabei. Vor allem, je dichter die Abfahrt kam. Aber es musste einfach sein …

    Einfach verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen, war das Motto, das nun für uns gelten sollte.

    Endlich war Carlos da und wir begannen damit, unser Gepäck im Wohnmobil zu verstauen. Carlos meinte irgendwann, ob wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank hätten. Ich verstand ihn, denn irgendwie hatten wir schon ziemlich viel Gepäck im Flur stehen, welches im Wohnmobil untergebracht werden musste. Anton verstand ihn nicht ganz, da er gerade mit zwei Taschen beladen im Treppenhaus stand. Er stellte die Taschen ab und kam zurück.

    „Klar haben wir. Warte kurz.“ Anton ging in meine Küche und stand einige Sekunden später mit drei Bechern in der Hand vor Carlos. Mit einem

    „Hier Bitte. Nimmst du die Becher, oder soll ich sie ins Wohnmobil bringen?“ streckte er Carlos die Becher entgegen.

    „Was soll ich damit?“, wollte Carlos wissen, während ich lachend in der Küchentür stand.

    „Du wolltest doch Becher haben“, entgegnete Anton. Carlos nahm die Becher und trug sie kommentarlos zurück in die Küche. Da sich meine beiden besten Freunde bestens bei mir auskannten, stellte er die Becher auf ihren Platz zurück, griff sich eine der Taschen, die im Flur standen, und trug dies kopfschüttelnd zum Wohnmobil.

    „Was hat er? Eben wollte er noch welche haben.“ Anton sah mich verständnislos an.

    „Mach dir keinen Kopf. Alles ist gut.“

    Endlich war alles verstaut, zumindest fast alles, da ich den beiden noch nichts von unserer weiblichen Begleitung gebeichtet hatte.

    „Äh, Jungs. Wartet mal kurz, ich muss euch noch etwas sagen.“

    „Was gibt's? Willst du auch noch drei Becher mitnehmen?“, fragte Carlos und setzte ein ironisches Lächeln auf.

    „Nein, will ich nicht.“ Wir beide lachten und Anton stand mit einem Fragezeichen über seinem Kopf neben uns und fragte:

    „Also doch Becher? Warum hast du sie eben wieder weggestellt?“

    „Willst du mich verarschen?“ Carlos war etwas genervt.

    „Nein. Wie kommst du darauf?“

    „Anton, wir brauchen keine Becher. Bitte lass sie im Schrank!“ Anschließend sah Carlos zu mir und meinte:

    „So Nick, jetzt du. Was willst du noch beichten? Ich warne dich, fang bloß nicht wieder von der Wii oder dem anderen Mist an.“

    „Bobby muss mit.“

    „Klar, mit Terrarium.“ Carlos lachte.

    „Nein, ohne.“

    „Ach, wir lassen sie einfach im Wohnmobil laufen.“ Carlos lachte weiter.

    „Nein, ich habe gestern ein neues Gehege für Bobby gebaut.“ Nun lachte Carlos nicht mehr, sondern ging in mein Wohnzimmer. Anton folgte ihm, während ich lieber im Flur stehen blieb. Meiner Meinung nach war es besser, in diesem Augenblick etwas Abstand von Carlos zu halten. Jetzt war es Anton, der lachte. Carlos zeigte mir lediglich einen Vogel.

    Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt und damit gerechnet, eine ganze Menge Überzeugungskraft und vielleicht sogar Erpressungsversuche aufbringen zu müssen. Aber der Drops war schneller gelutscht als gedacht. Anton schnappte sich Bobbys neues Gehege und trug es zum Wohnmobil. Carlos konnte es sich nicht verkneifen zu fragen, ob ihn noch weitere Überraschungen erwarten würden. Ich begann von der Wii zu sprechen, doch noch bevor ich meinen Satz beendet hatte, flog mir ein Sofakissen mitten ins Gesicht. Als ich mit meiner erneuten Steckdosenrunde fertig war und die Haustür abgeschlossen hatte, drehte ich mich kurz zur Wohnungstür um. Ich zog nochmals am Griff, ob die Tür auch richtig verschlossen war und blickte dabei auf mein Namensschild. Eine Träne kullerte, als ich las: Hier wohnen Bibi, Nick und Bobby.

    Anton hatte mir schon diverse Male gesagt, dass ich das Türschild endlich durch ein anderes ersetzten sollte. Aber ich brachte es einfach nicht über mein Herz. Ich hatte in der Wohnung alles verändert, aber ein Zeichen unserer Liebe musste bleiben. Schließlich war Bibi über viele Jahre meine große Liebe gewesen und ich war mich sicher, niemals wieder so lieben zu können.

    „Freudentränen oder Abschiedstränen?“, fragte mich Carlos. Anton war still, er wusste, welche Bedeutung meine Tränen hatten.

    „Ich hab nur was im Auge. Los Alter, gib Gas.“

    Mit einem „Ab in die Freiheit“ drückte Carlos auf das Gaspedal und unsere Tour begann.

    Drei Wessis im Osten

    „Nach Rügen?“

    „Klar!“, Carlos tat so, als ob es das Normalste der Welt sei, eine Männertour mit der Insel Rügen zu beginnen.

    „Wie bist du ausgerechnet auf Rügen gekommen?“, wollte ich wissen, doch Anton war schneller und hatte die Frage bereits gestellt.

    „Es ist eine Insel und ihr wolltet auf Inseln. Es ist schön und ihr wolltet schöne Flecken sehen. Ihr wolltet Strand und Meer. Beides gibt es dort reichlich. Auf Mega-Touren nach Spanien und Frankreich hattet ihr keine Lust und Rügen ist als erster Anlaufpunkt nicht so weit entfernt. Außerdem haben die Eltern von einem Kumpel von mir dort einen Campingplatz - direkt am Meer. Dort können wir umsonst mit dem Wohnmobil stehen. Gibt's noch weitere Fragen?“

    „Aber Rügen ist im Osten. Dort wimmelt es von Ossis!“, dachte Anton, doch diesmal war ich schneller und hatte es bereits herausposaunt.

    „Ja und? Dafür sind Wasser und die Brandung dort wie gemacht, um surfen zu lernen.“

    „Wer sagt, dass ich surfen lernen will?“

    „Pass mal auf Nick und du kannst auch gleich zuhören, Anton. Ich bringe euch das Surfen bei. Ob ihr wollt oder nicht. Wenn es einem von euch nicht gefällt, kann er aufgeben. Aber frühestens nach zwei Wochen.“ Das war ziemlich energisch. Aber so energisch, wie es war, genauso hatte Carlos ja auch recht. Eine solche Tour zu machen, ohne es auszuprobieren, wäre schon ziemlich beknackt von Anton und mir.

    „Aber …!“

    „Was gibt es noch für ein aber? War ich nicht deutlich genug?“ Carlos fuhr Anton über den Mund.

    „Aber dort wird es nur Frauen geben, die blonde Haare mit schwarzer Färbung oder schwarze Haare mit roter Färbung haben.“

    „Ja und? Sind wir wegen des Surfens, dem Meer und den Stränden unterwegs? Oder wegen der Frauen?“

    „Wegen beidem“, sagte Anton und ich mischte mich ein.

    „Wir werden bestimmt viele Pams, Janas, Kathleens und Frankas kennenlernen. Alle werden das Gesicht voller Metall haben. Sollte sich mit den Frauen dann noch mehr ergeben, werden wir auch erfahren, dass die Mädels noch mehr Metall an noch mehr Körperstellen versteckt haben.“

    „Und was wäre schlimm daran?“

    „Nichts“, riefen Anton und ich zeitgleich und lachten.

    „Auf nach Rügen“, rief Anton und drehte die Musik lauter. Der NDR spielte gerade das Lied ‚Im Wagen vor mir‘. Während Anton den Part der Männerstimme sang, übernahm ich die Strophen der Frau. Carlos schüttelte, während er fuhr, nur den Kopf. „Dies wird er auf unserer Tour noch häufiger machen“, dachte ich und verpasste fast meinen Einsatz. Aber gerade noch rechtzeitig konnte ich laut und fernab jeglicher Gesangskunst mit „Was will der blöde Kerl da hinter mir nur …?“ einsetzen.

    Carlos hielt sich demonstrativ die Ohren zu, musste aber doch lachen. Als das Lied endlich vorbei war, ging es den Ohren von Carlos wieder besser. Anton bat mich, ihm etwas zu versprechen.

    „Du Nick, wenn ich irgendwann mal auf einer Bühne stehe, dann hole ich dich rauf und wir singen das Lied zusammen.“

    „Warum solltest du auf einer Bühne stehen?“

    „Ich weiß nicht. Aber wenn es so sein sollte, dann machen wir es. Versprochen?“

    „Klar Anton. Ich verspreche es dir.“ Ich brauchte mir keinen Kopf über das Versprechen machen, welches ich eben gegeben hatte. Wann und wo sollte Anton schon auf einer Bühne stehen? Aber wie hieß doch unser Motto? Träume sind erlaubt!

    Ruckzuck waren wir da, und während wir die Brücke, die uns auf die Insel brachte, überquerten, fragte Carlos:

    „Wild oder auf einem Platz?“

    „Wild auf einem Platz“, rief Anton und ich ergänzte:

    „Aber der Platz darf nicht einzusehen sein. Hast du schon was für uns organisiert?“

    „Ihr seid echt blöd!“

    „Dann stell vernünftige Fragen.“

    „Ich will von den Herren wissen, ob wir auf dem Campingplatz oder einfach so in der wilden Natur übernachten wollen. Habt ihr es jetzt verstanden?“ Wir nickten.

    „Und? Bekomme ich auch eine Antwort?“

    „Entscheide du“, sagte Anton, während ich ein

    „Mir egal“ in die Runde warf.

    „Okay. Dann geht's auf den Campingplatz meiner Bekannten.“

    Wir hielten in Binz und fanden einen Parkplatz in der Nähe vom Meer. Es war früher Nachmittag, die Sonne schien, und da wir Wochenende hatten, war am Strand und auf der Promenade ordentlich was los. Jeder von uns war mit einem Becher Kaffee und einem Stück trockenen, leider sehr trockenen Kuchen bewaffnet, als wir es uns in einem freien Strandkorb gemütlich machten. Nach kurzer Zeit wurde es uns zu dritt im Strandkorb allerdings zu eng, und auf dem Fußteil war es Anton zu ungemütlich. Er stand auf und bezog einen freien Strandkorb direkt hinter uns. Carlos und ich machten es uns gemütlich. Wir streckten die Beine aus und hielten die Nasen in die Sonne. Die Sonnenbrillen lagen leider im Wagen. Wir mussten zum Schutz vor der blendenden Sonne unsere Augen schließen und schliefen relativ schnell und zeitgleich ein. Nase an Nase wachten wir auf und konnten uns direkt in die Augen sehen.

    „Na Süßer.“

    „Ich träume schon von dem durchgehenden Rededrang von Anton.“ Während Carlos dies sagte, hörten wir noch immer Antons Stimme.

    „Kein Traum.“ Ich lehnte mich vor und schaute um die Ecke, um zu versuchen herauszubekommen, mit wem Anton so lange telefonierte.

    „Kein Telefonat.“

    „Was dann?“

    „Sieh selbst!“ Ich deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten. Nachdem Carlos ebenfalls um die Ecke sah, waren wir auf dem gleichen Wissensstand. Anton saß in seinem Strandkorb und neben ihm lag eine Frau mit wasserstoffblonden, kurzen Haaren, die ihm ihren Bauch sowie ihr Tattoo darauf präsentierte. Er redete wie ein Wasserfall und sie schien es nicht zu stören. Sie genoss es allem Anschein nach sogar. Beide hielten einen Caipi in der Hand. Direkt neben dem Strandkorb stand eine große Kühltasche.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739420233
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Träume Meer Liebesroman Freundschaft Abenteuer Sylt Spannung Reise Urlaub Roman Humor

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram lebt in Schleswig-Holstein, und Sylt ist längst zu seiner zweiten Heimat geworden. Genau deshalb spielen die meisten seiner Romane auf dieser Insel. Das Schreiben ist längst nicht "nur" sein Hobby und so erfüllt er sich einen Lebenstraum als Autor.
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Titel: Sylt, Surfen & Meer