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Sylter Schmetterlingslachen

Schmetterlinge lachen auch auf Sylt

von Ben Bertram (Autor:in)
275 Seiten

Zusammenfassung

Durch die vielen Fenster konnte ich Leben erkennen. Ja, meine Pension auf Sylt war zu neuem Leben erwacht und ich war glücklich darüber. Es fühlte sich gut an. Gut? Nein, heimelich und warm, waren die passenderen Worte. Es war beinahe wie früher. Bei der ersten Eröffnung der Pension, hatte ich das Gefühl, die Wolken schmecken zu können. Ich hatte mit meinem besten Freund etwas Großartiges erreicht und mir war klar, dass ich diesen Moment für immer in mir tragen würde. Auch meine damaligen Worte kannte ich noch ganz genau und ich erinnere mich daran, dass ich sie meinem besten Freund ins Ohr geflüstert hatte: „Jetzt wissen wir, wie Wolken schmecken!“ Großartig fühlte es sich auch heute an und so musste ich lächeln, als ich neugierig in Pias Zaubergarten ging und den Schmetterlingen bei ihrem Blumentanz zusah. „Ob es wohl wirklich funktioniert?“ Leise. Nein! Sehr leise, waren meine Worte, während ich mich immer näher an die tanzenden Schönheiten herangetastet. „Das ist doch verrückt. Hey, ich kann tatsächlich euer Lachen hören.“ Stolz darauf einen Neuanfang gewagt zu haben, ließ ich mich ins weiche Gras fallen und richtete meinen Blick hinauf zu Pia. Ich war angekommen, meine Insel und auch die Liebe, hatten mich wieder! Nur wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß wie Wolken schmecken! -Novalis-

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sylter Schmetterlingslachen

~ Schmetterlinge lachen auch auf Sylt! ~

Ben Bertram

Alle Rechte vorbehalten!

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors!

Im Buch vorkommende Personen und die Handlung dieser Geschichten sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Text Copyright © Ben Bertram, 2020

Impressum:

Text:

Ben Bertram

Alsterdorfer Straße 514

22337 Hamburg

E-Mail: BenBertram@web.de

Covergestaltung:

Ben Bertram

Motivbild:

© Ben Bertram

Korrektorat / Lektorat:

M. Dress / D. Awiszus

Vorwort (Jetzt und hier)

Viel zu lange war ich nicht hier gewesen!

Ich hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, dieses, für mich fast magische Fleckchen Erde, zu besuchen. Dieser Ort war besonders und ich wollte nicht zulassen, diese Magie mit negativen Gedanken und Gefühlen zu belasten.

Immerhin war diese, fast etwas verwunschene Stelle, bereits seit meiner frühesten Kindheit mein Lieblingsplatz.

Mein Platz? Nein, er war der Zufluchtsort von meiner Oma und mir. Hier hatten wir unsere Freude geteilt, haben zusammen gelacht und auch gemeinsam so manche Träne verdrückt. Mit einigen Tränen hatten wir den Boden begossen, während wir mit anderen die Alster gefüllt haben. Selbstverständlich waren auch einige Tränen vor Trauer dabei. Zum Glück jedoch, hatten wir die meisten aus Freude vergossen.

„Erinnerst du dich noch daran, als wir mit meinem kleinen Taschenmesser unsere Anfangsbuchstaben in den Baumstamm geschnitzt haben? Nicht einmal meinen Eltern durftest du von unserem Ort erzählen.“ Ein Schmunzeln lag auf meinen Lippen, während ich in den Himmel blickte und leise zu meiner Oma sprach.

Dann setzte ich mich in Bewegung und ging zu dem Baum, an dem sich unser Kunstwerk befand. Um es zu erreichen, musste ich mich auf die Fußspitzen stellen. Immerhin waren seitdem viele Jahre vergangen. Jahre, die der Baum zum Wachsen genutzt hatte. Aber auch Jahre, die unsere Schnitzkunst überdauert hatte. Sanft, fast zärtlich, strich ich über unsere Initialen, die von einem eingeritzten Herzen umsäumt waren.

„Danke, für alles.“ Wieder waren meine Worte an Oma Anna gerichtet, während mein Blick zu dem großen Findling hinüber wanderte. Deutlich erkannte ich den großen Stein, der wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit im Wasser lag und auf dem ich so häufig gesessen hatte.

Ich lächelte. Allerdings nur kurz, da mir meine Gedankenwelt keine Pause gönnte.

Selbst in meiner schlimmsten Zeit, die zum Glück endlich vorüber war, hatte ich mir in meinem Herzen ein Stückchen Frieden bewahrt. Dieser Ort war in meinen Gedanken mein Zufluchtsort geblieben. Er war es selbst in Momenten, in denen ich mich in den tiefsten Löchern befand. Auch dann, wenn ich glaubte, dass alles in meinem Leben sinnlos war, wenn mir jegliche Lebenskraft fehlte.

Ja, in diesen Augenblicken sah ich mich als kleiner Knirps hier sitzen und Steine in den kleinen Flusslauf werfen. Ich sah Oma Anna und mich Hand in Hand hier spazieren gehen. In der anderen Hand hielt ich eine Tüte mit Brotkrumen, die wir an Enten, Gänse und Schwäne verfütterten.

Manchmal war ich in meinen Gedanken auch ohne meine Oma hier. Ich konnte mich dann auf dem großen Stein dort drüben sitzen sehen. Erkannte, dass ich meine nackten Füße in das kühle Wasser der Alster steckte und sah mich Steine werfen. Wenn ich es schaffte, einige der flachen Steine zum „flitschen“ und springen zu bringen, freute ich mich. Tatsächlich erwischte ich mich in diesen Momenten beim Lachen – oder zumindest beim Grinsen. Ja, ich hatte auch während meiner beschissenen Zeit Momente voller Freude. Es waren nur wenige und sie standen in keinem Verhältnis zu den der negativen Zeit, die mich fast komplett gefangen hielt. Die mich quälte und die nicht bereit war, mich loszulassen.

Allerdings war es auch eine Zeit, in der ich gelernt hatte, dass Mut und Stärke wichtige Dinge im Leben sind. Dass man, wenn man sie mit Freundschaft und Liebe vereint, alles schaffen kann.

Gedankenversunken hatten mich meine Füße längst zum schmalen Flusslauf hinuntergeführt. Ich stand am naturbelassenen Alsterufer und konnte jetzt einfach nicht anders. Ich musste meinen Tränen freien Lauf lassen und erst, als sie langsam etwas weniger wurden, tat ich, was ich tun musste. Ich zog meine Schuhe und Strümpfe aus, stellte sie am Ufer ab und watete durch das flache Wasser der Alster. Ich brauchte nur wenige Schritte, um den Findling zu erreichen. Nachdem ich mich gesetzt hatte und meine Füße im Wasser baumelten, schloss ich die Augen.

Es war dunkel. Falsch! In mir gab es diese Dunkelheit, die ich leider viel zu gut kannte. Trotzdem spürte ich mit geschlossenen Augen die Wärme der Sonne und sah kleine Lichter hinter meinen Lidern tanzen. Ich hatte keine Angst mehr vor der Dunkelheit. Nein, ich hatte gelernt mit ihr umzugehen und mochte sie inzwischen sogar in einigen Augenblicken.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich Schmetterlinge am Alsterufer tanzen. Doch ich sah sie nicht nur tanzen, sondern konnte sie dabei sogar lachen hören.

Auch wenn dieser Augenblick nicht dafür geschaffen war, konnte ich nicht anders, als nach meinem Handy zu greifen. Ich kam nicht umhin und ich wusste auch, was Oma Anna in diesem Moment gesagt hätte.

„Watt mutt, dat mutt.“ Ich lächelte, während ich die Worte leise aussprach.

Ich wählte mich durch das Handymenü und erreichte schnell die App, über die ich meinen Blog bedienen konnte. Nach einem kurzen Blick zur Sonne, die nicht nur schien, sondern die ich auch wieder in meinem Herzen hatte, tippte ich los. Nein, ich tippte nicht einfach, ich flog mit meinen Daumen über die Handytastatur.

Nur mit dir

... kann ich Schmetterlinge lachen hören.

Warum gibt es dieses Phänomen? Oder ist es vielleicht gar keins? Wenn es aber kein Phänomen ist, was ist es denn dann?

Ist es vielleicht die Liebe, die uns von unserem ersten Augenblick an erfasst hat?

Findest du nicht auch, dass die Lösung auf der Hand liegt? Dass sie direkt greifbar für uns ist und wir manchmal nur nicht den Mut haben, nach dieser Antwort zu greifen?

Wenn ich mit dir spazieren gehe. Vielleicht am Meer und mit nackten Füßen im flachen Wasser. Meine Nase halte ich dabei in die Sonne und spüre mein schneller schlagendes Herz.

In diesen Augenblicken kann es mir passieren, dass ich die Schmetterlinge lachen höre. Ich höre sie sogar am Meer, dort wo es eigentlich gar keine Schmetterlinge gibt.

Es kann mir passieren, dass ich in den Himmel hinaufsehe und Wolken erkenne. Nein, keine dunklen und bedrohlichen Wolken. Ich sehe Wolken, die zu diesem wunderschönen sonnigen Tag passen. Helle Wolken, vielleicht Schäfchenwolken. Aber auch Wolken, aus deren Form ich mir das bilde, was ich mir wünsche. Was ich aus ihnen sehen möchte.

Die Wolken am Himmel sind greifbar für mich. Sie sind greifbar, obwohl sie doch unendlich weit von mir entfernt sind.

Warum es so ist?

Weil ich dich -meinen Lieblingsmenschen- neben mir habe. Weil ich mit dir die Schmetterlinge lachen hören kann und weil ich in diesen Momenten auch wieder probieren möchte, wie die Wolken schmecken!

Es gibt Menschen in unserem Leben, mit denen man sich nichts Sehnlicheres wünscht, als gemeinsam die Wolken zu schmecken. Doch was bedeutet dieser Satz eigentlich?

Meine Antwort ist, dass wir in diesem Moment glauben, dass wir alles gemeinsam schaffen können.

Nicht nur schaffen. Auch erschaffen, wünschen und träumen.

Träumen!? Die Träume, die wir in diesem Moment haben, fühlen sich großartig an. Sie sind großartig und wenn der Mensch, mit dem wir in diesem Augenblick am Strand spazieren gehen, ebenso fühlt, kann aus diesem du und ich das große WIR werden.

Wenn man gemeinsam an Dinge glaubt, gemeinsam Träume lebt und gemeinsam an seinen Wünschen arbeitet, können wir alles erreichen.

Es muss kein Strand sein. Das Meer kann ruhig hunderte von Kilometern entfernt sein. Wir benötigen auch kein wunderschönes Tal oder eine besondere Bergspitze. Der romantische See hat zwar seine Reize, aber auch dieses Gewässer ist nicht notwendig.

Wenn es einen Menschen in unserem Leben gibt, mit dem wir Schmetterlinge lachen hören, dann können wir uns an JEDEM Ort befinden. Dann genügt das eigene Sofa, der triste Fußweg vor dem Wohnhaus oder ein Einkaufszentrum. Wenn dieses Gefühl da ist, dann erreicht es uns überall.

Ja, wenn dieses Gefühl da ist, kann man sogar ein Dach über dem Kopf haben während man dabei ist, gemeinsam die Wolken zu schmecken.

Ich hatte das Glück, die Wolken schmecken zu dürfen und werde Pia, Hasi und meiner Oma Anna, immer dankbar dafür sein.

Genau, wie ich inzwischen gelernt habe, dass die Schmetterlinge für uns lachen. Nein, dass sie mit uns zusammen lachen.

Danke dafür, mein kleiner Schmetterling, meine Jonna!

Als ich mit meinem Blogeintrag fertig war, stellte ich ihn direkt online. Ich musste meine geschriebenen Worte nicht nochmals lesen, da sie direkt aus meinem Herzen geflossen waren.

Dann schloss ich die App und ließ mein Handy in die Tasche meines Kapuzenpullis gleiten.

„Manche Wege sind einfach nur Scheiße und einige Zeiten sind so hart, dass man glaubt, an ihnen zu zerbrechen. Zum Glück habe ich nicht aufgegeben.“ Dann schloss ich die App, steckte das Handy in die Tasche meines Kapuzenpullis und ließ meinen Blick vom Wasser zum Ufer schweifen. Ein wunderschöner Schmetterling saß dort auf einer Wildblume und streckte seine Flügel der Sonne entgegen.

„Hey, wer bist denn du? Wie wunderschön und selten du doch bist. Ich habe einen wie dich noch nie gesehen.“ Erneut machte ich eine kurze Pause. Dieses Mal jedoch, da ich vor Glück lächeln musste.

„Dieser wunderschöne Schmetterling ist wie du“, sage ich leise zu mir selbst, während ich verträumt auf dem Findling saß und an unsere erste Begegnung denken musste.

„Wir kennen uns noch gar nicht so wirklich lange und doch habe ich das Gefühl, als hätte es dich schon immer in meinem Leben gegeben. Wahrscheinlich hast du mich bereits seit meiner Kindheit begleitet.

Bestimmt hast du es. Allerdings in Form eines Schmetterlings.“ Ich musste über meine Worte schmunzeln und mir wurde warm um Herz. Dann fiel mein Blick zurück auf das Wasser der Alster und ich konnte mein Spiegelbild deutlich im Flusslauf erkennen.

Erst, als ich meine großen Zehen etwas bewegte, verschwamm meine Silhouette. Genau, wie es meine Gedanken taten und ich aus dem Jetzt dorthin gebracht wurde, wo vor gar nicht langer Zeit mein neues Leben begann.

Die letzte Runde

Sehr früh war ich heute wach geworden, lag allerdings noch eine ganze Weile mit geschlossenen Augen da. Gedanken um den heutigen Tag kreisten durch meinen Kopf. War ich wirklich vorbereitet? Konnte ich diesen Ort, der für einige Wochen zu meinem Zuhause geworden war, wirklich ohne Angst verlassen? War ich tatsächlich in der Lage, im normalen Leben zu bestehen? Ich wusste es noch immer nicht.

Nachdem ich meine Augen geöffnet hatte, konnte ich mein Gepäck im dunklen Zimmer stehen sehen. Es war an der Zeit zu gehen. Ich hatte keine andere Wahl, da der Tag gekommen war, hier meine Zelte abzubrechen. Nein, ich ging nicht freiwillig und doch musste es sein, da es keine Möglichkeit für ein Bleiben gab.

Gepackt hatte ich bereits gestern Abend, und so lagen jetzt noch einige Stunden vor mir, die ich auf irgendeine Art und Weise überbrücken musste.

Da an Schlaf nicht mehr zu denken war und ich keinen Bock mehr hatte Löcher in meine Zimmerdecke zu starren, setzte ich mich auf. Leider half diese aufrechte Position auch nicht, um die gefühlten tausend verschiedenen Gedanken, aus meinem Kopf zu vertreiben. Zu viele Dinge ratterten durch meinen Kopf und so sehr ich mich auch bemühte, ich wurde sie einfach nicht los. Vielleicht wollte ich sie aber auch gar nicht loswerden. Immerhin gehörten diese Gedanken zu mir und eigentlich war es sogar wichtig, dass sich all diese Dinge in meinem Kopf festsetzten. Sie forderten von mir, dass ich sie lösen sollte und ich wusste sogar, dass ich es auch tun musste. Doch selbst nach den letzten sieben Wochen, nach der Zeit hier in dieser teilweise obskuren, nein vielleicht sogar skurrilen Umgebung, war ich nicht in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nein, ich konnte keine Lösungen finden, und alle Fragen blieben somit auch am heutigen Morgen unbeantwortet.

Wie immer, schob ich sie auch jetzt einfach weg. Ich verdrängte sie. Ich tat genau das, was ich am besten konnte und fühlte mich gut dabei. Gut, obwohl ich wusste, dass es falsch war.

Als ich meine Vorhänge aufzog und auf den, im Dunkeln liegenden Wald blickte, hatte ich eine Idee. Ich wollte raus. Hinaus in die Freiheit. Dorthin, wo ich in den letzten Wochen sehr viel Zeit verbracht hatte. Dass wir erst fünf Uhr morgens hatten, war mir egal. Egal? Nein, ich freute mich darüber, da ich so nicht befürchten musste, andere Menschen in den Fluren des riesigen Gebäudes zu begegnen.

Fünf Minuten später war ich zu einem Teil des Waldes geworden und ging die Wege, die ich auch in den letzten Wochen gefühlte tausende Male gelaufen war.

Meistens war ich dabei alleine unterwegs, da ich häufig nicht in der Lage war, die Gesellschaft anderer Menschen zu ertragen. Ich wollte keine Gespräche führen, und meine Ausrede dafür hatte ich mir selbstverständlich auch zurechtgebastelt. Der Wald und die Stille gehörten zusammen und wir Menschen hatten keinesfalls das Recht, den Wald seiner Stille zu berauben.

Doch es gab auch Tage, an denen ich mich besser fühlte und mir nach Gesellschaft war. In diesen Momenten ging ich meine Wege gemeinsam mit Christian oder Tommy.

Allerdings gab es tatsächlich eine Person, mit der ich auch, wenn ich nicht gut drauf war, Spaziergänge unternahm. Mit Charly fühlte ich mich stärker und es tat mir gut, diesen besonderen Menschen an meiner Seite zu haben.

Charly, Tommy und Christian. Alle drei waren auf ihre Art ganz außergewöhnliche Menschen und ich war sehr froh darüber, sie hier kennengelernt zu haben. Ich empfand es als angenehm, dass sie in mein Leben getreten waren und ich fühlte mich in ihrer Gegenwart häufig wohl.

Als ich dreißig Minuten später wieder auf dem Klinikgelände angekommen war, hatte der Frühstücksraum bereits geöffnet. Doch Essen konnte ich jetzt nichts. Ich wari9 viel zu aufgewühlt und hatte auch keine Lust, alleine im Speisesaal zwischen den vielen unbekannten Menschen zu sitzen. Ich war der letzte unserer „Gang“, da Charly, Tommy und Christian die Klinik bereits in den letzten Tagen verlassen hatten.

Trotzdem ging ich in den Saal hinein. Allerdings nur, um ihn wieder eilig, dafür aber mit einem gefüllten Kaffeebecher in der Hand, zu verlassen. Schnurstracks machte mich auf den Weg zur Terrasse, wo sich zu dieser Uhrzeit meistens noch niemand aufhielt. Auch heute war keiner da und so konnte ich, alleine mit mir und meinen Gedanken, den ersten Kaffee des Tages genießen.

Leider musste ich doch noch einmal zurück in den Speisesaal. Ehe ich mich versah, war der Becher schon wieder leer. Ich war wohl so in Gedanken, dass ich das Koffein förmlich inhaliert hatte und brauchte nun dringend Nachschub.

Als ich den Raum betrat blieb ich stehen und sah zunächst grinsend zu dem Tisch, an dem ich oft mit Christian und Tommy gegessen hatte. Ja, wir hatten einige lustige Momente zusammen dazu noch und das große Glück gehabt, nahezu gleichzeitig hier gelandet zu sein.

Mein Blick ging weiter und blieb erst wieder an dem Tisch hängen, an dem ich häufig mit Charly gesessen hatte. Es fiel mir nicht schwer, meine negativen Gedanken beiseite zu schieben, um sie durch viele positive Erinnerungen an Charly und mich zu ersetzen. Wir hatten tolle Gespräche geführt, einmalige Augenblicke erlebt, und gemeinsamen Spaß hatten wir sowieso im Tagesangebot. Leider verstand ich noch immer nicht, was genau der Grund für den Keil war, der irgendwann und wie aus dem Nichts, von Charly zwischen uns platziert wurde. Dieser Keil war ohne Vorwarnung eingeschlagen und hatte dafür gesorgt, dass von einem Moment auf den anderen alles anders zwischen uns war.

Ich hätte Charly dafür hassen können. Entschied mich aber stattdessen dafür, keine negativen Gefühle zuzulassen, da ich unsere schönen Momente behalten wollte. Zumindest in meinem Kopf, mein Herz hätten sie gerne verlassen können, da sie an dieser Stelle unbeschreiblich wehtaten.

Dann spürte ich das, was ich gehofft hatte, nie wieder spüren zu müssen. Das, was mir genommen werden sollte. Ich hatte Angst!

Angst vor allem. Ganz plötzlich und wie so häufig ohne ersichtlichen Grund, war diese scheiß Angst wieder bei mir und hatte Besitz von mir ergriffen.

Würde sie tatsächlich mein ständiger Begleiter bleiben?

War sie mein Feind, der mich beherrschte und gegen den ich tatsächlich nichts unternehmen konnte? War ich die letzten Wochen ohne Erfolg behandelt worden?

Ich fühlte mich hilflos und verließ mit schnellen Schritten und ohne Kaffee, die Kantine.

Dieser Ort

Sieben lange Wochen hatte ich an einem Ort verbracht, der unheimlich und unreal zugleich war. Sieben Wochen, die mir wie eine Ewigkeit erschienen und die trotzdem wie im Fluge vergingen.

Es war eine Zeit, auf die ich in diesem Moment mit gemischten Gefühlen zurückblickte und obwohl ich froh war, diesen Lebensabschnitt endlich hinter mir lassen zu können, hatte ich auch Angst davor, von hier weg zu gehen. Ja, ich hatte Schiss, diesen manchmal wohligen und doch zugleich auch obskuren Ort zu verlassen. Immerhin war er fast zwei Monate lang meine Heimat, zumindest mein vorrübergehendes Zuhause, gewesen.

„Ich habe keine Heimat mehr. Weder hier, noch irgendwo anders!“ Ich sagte diesen Satz zu mir selbst und musste in diesem Moment an den Friedhof der Heimatlosen denken. An diese kleine Begräbnisstätte auf Sylt, der sich fast im Herzen von Westerland befand. Häufig hatte ich ihn besucht und mir die Kreuze angesehen, auf denen sich das Datum befand, an dem die Menschen damals auf Sylt angespült wurden.

Trotz allem wunderte es mich, dass ich ein solch beklemmendes Gefühl in mir trug. Inzwischen befand ich mich vor der großen Tür der Klinik und saß auf meinem Koffer. Auf dem Gepäckstück, in dem irgendwie die letzten sieben Wochen meines Lebens verstaut waren.

Dann musste ich lachen. Ja, ich lachte kurz auf. Immerhin hatte ich in den letzten Wochen einige Personen genau an diesem Platz hier verabschiedet und allen das Selbe mit auf den Weg gegeben. Was ich gesagt hatte? Ich hatte die Worte auch jetzt in meinem Kopf:

Sei froh, dass du hier weg bist. Endlich kannst du wieder atmen wie du möchtest und nicht so, wie es dir vorgegeben wird. Freue dich auf die Freiheit und darüber, dass du hier raus bist.

Tja, anderen Menschen Tipps zu geben war nicht wirklich schwer. Allerdings war es umso schwieriger, seinen, in diesem Fall meinen eigenen Weg zu finden und erst recht auch zu gehen.

Doch apropos gehen. Wie würde es bei mir weitergehen? Was hatte das Leben mit mir vor? Wohin sollte ich geführt werden? Und vor allem, welches war der Weg, der jetzt der Richtige für mich war?

Meine Schuldgefühle, diese beschissenen Ängste und meine negative Einstellung zum Leben waren besser geworden. Hier, an diesem Ort waren sie besser geworden. Allerdings fühlte ich mich hier auch sicher.

Ob ich aber auch im realen Leben mit meinen Ängsten klarkommen würde, wusste ich leider nicht. Blöderweise hatte ich aber auch mega Angst davor, es auszuprobieren.

Während ich diese Gedanken hatte, war sie wieder da. Diese scheiß Angst vor der Zukunft. Vor meiner Zukunft, auf die gerne verzichtet hätte. Ebenso, wie ich auf die Gegenwart verzichten konnte. Verzichten? Nein, ich hätte auf sie scheißen können!

Ich wollte zurück in die Vergangenheit. In meine Vergangenheit. Ich wollte in den Moment zurück, in dem mein Leben noch in Ordnung war. Zurück in die Zeit, als ich ein glückliches und nahezu perfektes, Leben geführt hatte.

Dass es nicht möglich war, hatte ich gelernt. Nein, ich hatte es nicht nur gelernt, sondern in den letzten Wochen auch begriffen und verinnerlicht. Zumindest verhielt es sich meistens so.

Doch jetzt, wo ich hier stand und wieder zurück in das normale Leben starten sollte, hätte ich mein gelerntes Wissen am liebsten sofort verdrängt. Was erwartete mich in der Realität? Konnte ich mich auch in der „freien Wildbahn“ zurechtfinden?

Mächtige Zweifel stiegen in mir auf.

Ich beobachtete mich selbst in der großen Glasscheibe der gewaltigen Eingangsfront. Meine Hose hing etwas, da ich in der Zeit hier viel Sport gemacht hatte. Joggen war zu meiner Leidenschaft geworden. Leider war ich inzwischen an einem Punkt angekommen, der mir nicht guttat. Es war so weit gekommen, dass ich mich selbst verachtete, wenn ich an einem Tag keine Runde gedreht hatte. Genau deshalb brachte ich, trotz meiner 185 Zentimetern, nur 75 Kilogramm auf die Waage.

Meine dunkelblonden, leicht gewellten Haare, waren, genau wie mein Bart, inzwischen viel zu lang geworden. Doch ich mochte es so. Ja, ich mochte es, obwohl die meisten Menschen der Meinung waren, dass es ungepflegt aussah. Irgendwie fühlte sich dieses Aussehen wie eine Maske an. Wie eine Verkleidung, unter der mich niemand erkennen konnte und die etwas mehr mir Sicherheit gab.

Außerdem, was wussten die anderen Menschen schon? Sie kannten weder meine Gedanken, noch den Grund für meine Typveränderung. Allerdings ging es sie auch nichts an. Während ich mir noch vor einigen Wochen immer die Mühe gemacht hatte mich zu erklären, hatte ich dies inzwischen abgelegt. Ich quittierte Fragen und Äußerungen zu meinem Aussehen lediglich mit einem müden Lächeln. Wenn überhaupt!

Noch eine ganze Weile war ich aufgestanden und sah mich in der Glasscheibe an. Nein, ich sah mich nicht einfach nur an! Ich musterte mich förmlich in dieser Fensterfront, die mir einen Freund, und doch zugleich auch eine fremde Person präsentierte.

Wie lange ich es tat? Ich weiß es nicht. Allerdings schaffte ich es irgendwann, meinen Blick von der Scheibe abzuwenden. Nein, ich hatte es nicht alleine geschafft. Ein kleiner Schmetterling hatte mir dabei geholfen. Er flog direkt an meiner Nasenspitze vorbei und meine Augen folgten ihm.

Andere Patienten gingen an mir vorbei und sahen mich an. Ob sie mich bereits die letzten Minuten beobachtet hatten? Woher sollte ich das wissen? Ich war in meiner eigenen Welt verschwunden. War in meiner Gedankenwelt, die zwar einem Nichts glich, in die ich allerdings trotzdem versunken war.

Wahrscheinlich beneidet ihr Trottel mich auch noch darum, dass ich heute abreisen darf! Dass ich dieses Gefängnis verlassen darf. Ihr seid so blöd! Da draußen spielt das Leben. Allerdings genau das Leben, für das wir zu dämlich sind. Da draußen wartet die Zukunft auf uns, die wir nicht in der Lage sind, für uns zu gestalten. Zum wievielten Male ich heute nun schon höhnisch über mich selbst lachte? Ich hatte nicht mitgezählt und egal war es mir obendrein auch noch.

Trotz allem waren die anderen Patienten und ich uns auch auf eine Art ähnlich. Genauso wie sie mich beneideten, verhielt es sich auch andersrum. Ja, ich war neidisch auf die Menschen, die mit ihren Behandlungsplänen in der Hand, auf dem Weg zu ihrer nächsten Anwendung waren.

Sie hatten hier einen geregelten Tagesablauf. Genau diese Routine hatte mir gutgetan und dabei geholfen, dass ich mein Leben wieder einigermaßen hinbekommen hatte. Ja, es tat mir gut. Selbst dann, wenn morgens um sechs Uhr mein Wecker geklingelt hatte und ich zur Kneipanwendung musste. Klar hatte ich mir häufig die Frage nach dem Sinn gestellt. Trotzdem stand ich immer pünktlich in der Schlange und wartete darauf, dass mir mit einem Schlauch die Beine abgespült wurden. Natürlich mit eiskaltem Wasser. Es war so kalt, dass es wehtat und meine Beine auch eine halbe Stunde später noch brannten, während ich im Speisesaal mein Müsli aß und einen Kaffee trank.

Warum ich gerade jetzt daran dachte? Ich hatte keinen Schimmer.

Aber irgendwie wusste ich gerade gar nichts und so wunderte ich mich auch nicht darüber, dass meine Gedanken nun plötzlich bei dem Tag landeten, an dem ich hier vor sieben Wochen aufschlagen durfte.

Ich war erneut in der Vergangenheit. In meiner Vergangenheit, und das, obwohl ich hier stand, um in die Zukunft aufzubrechen.

Gekommen war ich damals mit Burn Out, Depressionen und Ängsten. Ein gemeines Gemisch aus mir bis dato unbekannten Faktoren. Aus Krankheiten, die ich lediglich vom Hörensagen kannte und von denen ich, bis zu dem Tag, als ich von meinem Arzt die Diagnose erhalten hatte, auch nichts wusste.

Ich hatte mich in den Monaten zuvor allerdings häufig über mich selbst gewundert. Darüber, was aus mir geworden war und wie hilflos ich durch die Weltgeschichte lief. Ich bekam nichts mehr hin, fühlte mich ständig überfordert und hatte vor mir selbst, und vor allem anderen auch, Angst.

Ob es daran lag, dass sich mein Leben so extrem gewandelt hatte oder ob mein Leben sich durch die Krankheit verändert hatte? Auch heute konnte ich mir diese verkackte Frage nicht beantworten.

Aber ich hatte mir vorgenommen, an mir zu arbeiten. Ich wollte versuchen, die Tipps der Ärzte und Psychologen umzusetzen.

Auch wenn ich einige nicht wirklich für umsetzbar hielt!

Wie ich es am besten anstellen sollte? Was ich machen musste? Leider hatte ich keine Ahnung. Aber ich nahm mir vor zu kämpfen und es herauszufinden. Doch ob ich den Kampf gegen mich selbst gewinnen würde, ob ich eine reelle Chance hatte?

Logischerweise kannte ich auch diese Antwort nicht. Allerdings hatte ich damals bei meiner Ankunft in der Klinik die Hoffnung darauf, genau diese Antwort zu finden.

Frei - ob ich will oder nicht!

Als direkt neben mir ein Auto zum Stehen kam, zuckte ich kurz zusammen. Klar hatte ich es bemerkt, richtig wahrgenommen allerdings nicht, da ich mit viel zu vielen anderen Dingen beschäftigt war. Zum Beispiel mit der großen Glasscheibe am Eingangsbereich, die mir noch immer den mir bekannten Fremdling präsentierte.

Erst in dem Moment als ich eine Umarmung spürte, war ich in der Lage, mich aus meiner Gedankenwelt zu befreien und mich von meinem Spiegelbild zu lösen. Von dem Spiegelbild, das ebenfalls umarmt wurde und bei dem ich eine leichte Abwehrbewegung erkannt hatte.

Ich drehte mich in die Richtung, von der aus die Umarmung gestartet wurde. Zögerlich tat ich es, fast wie in Zeitlupe war meine Reaktion und es dauerte etwas, bis ich meinen Freund erkannte. Didi war es, der jetzt neben mir stand und mich zur Begrüßung in den Arm genommen hatte.

Stumm hielten wir uns fest und erst, als ein anderer Autofahrer auf die Hupe drückte, da Didi mit seinem Fahrzeug die Zufahrt versperrte, lösten wir uns wieder von einander.

Schnell landete mein Gepäck im Kofferraum und nachdem ich, über meine Schulter hinweg einen letzten Blick zur Klinik geworfen hatte, stieg auch ich ein. Meine Gefühle zu beschreiben war nicht möglich. Einerseits, da mir keineswegs nach Reden war, andererseits jedoch auch, da ich nicht Herr über mein Gefühlchaos war.

Der schnurrende Motor untermalte meine Abschiedsbilder. Über den Spiegel auf der Beifahrerseite nahm ich Abschied von dem Ort, der sieben Wochen lang mein Zuhause gewesen war. Die Klinik, die mir über einen langen Zeitraum hinweg Sicherheit gegeben hatte, wurde mit jedem gefahrenen Meter kleiner. Irgendwann verschwamm sie im Spiegelbild mit der Landschaft, bevor sie direkt im Anschluss komplett verschwand.

Sie war fort. Jedoch nur aus meinen Augen verschwunden, da sie in meinem Kopf präsenter war denn je.

Schweigend saßen mein Freund Didi und ich nebeneinander und obwohl ich merkte, dass Didi einige Fragen auf der Seele brannten, blieb er stumm. Wir fuhren durch die vielen kleinen Orte, die sich um die Klinik herum befanden, während ich versuchte, mich von meinem Leben der letzten sieben Wochen zu verabschieden.

Als wir uns bereits einige Zeit auf der Autobahn nach Hamburg befanden merkte ich, dass sich meine innere Spannung etwas löste und mir rutschten tatsächlich einige Worte über die Lippen.

„Danke fürs Abholen. Echt nett von dir.“ Mein Blick war nicht auf meinen Freund, sondern weiterhin aus dem Fenster gerichtet.

„Das ist doch wohl klar, Ben. Das mache ich doch gerne.“ Anschließend schwiegen wir wieder.

Der Weg nach Hamburg war nicht lang und schon einige Kilometer vor meiner ehemaligen Heimatstadt bemerkte ich, wie eine Beklemmung in mir aufstieg. Ich fühlte mich nicht wohl, bekam Angst und wäre am liebsten einfach wieder umgedreht. Tatsächlich war es mein Wunsch, mich von Didi wieder zurück in die Klinik bringen zu lassen.

Dort war ich sicher, da kannte ich mich aus und das Angenehme war außerdem, dass in der Klinik niemand Wunderdinge von mir erwartete.

„Du kannst bei mir wohnen.“ Wie aus dem Nichts drangen Didis Worte in meinen Gehörgang.

„Danke.“ Mehr sagte ich nicht, da ich mir über meine Zukunft bisher keine großen Gedanken gemacht hatte.

„Oder willst Du wieder bei deinen Eltern einziehen?“ Didi sah mich fragend an.

„Ich glaube nicht, dass es gut für mich wäre.“ Dort hatte ich die Zeit vor meinem Klinikaufenthalt gelebt. Ich war bei ihnen eingezogen, nachdem ich damals fluchtartig Sylt verlassen hatte. Nein, verlassen musste, da ich auf dieser Insel nichts mehr verloren hatte. Mich nichts mehr mit ihr verband und ich sie niemals wieder betreten wollte.

„Das habe ich mir auch gedacht. Deine Klamotten habe ich schon zu mir rüber geholt. Ich hoffe, es ist okay für dich.“

„Ja, alles gut!“ Didi war ein toller Freund und ich ärgerte mich darüber, dass ich nicht in der Lage war, mehr Gefühle zu zeigen und nettere Worte zu finden.

Durch die Tiefgarage gingen wir in Didis Reich. Nachdem wir uns einen Kaffee gekocht hatten, setzten wir uns auf den Balkon und schwiegen. Allerdings nicht lange, da ich mich mit den Worten,

„Sei nicht böse, aber ich muss kurz zu meinen Eltern und anschließend noch zu Oma Anna gehen“, verabschiedete.

„Warte kurz.“ Didi rief mir nach.

Erst als ich bereits an der Wohnungstür stand blieb ich stehen und drehte ich mich um. Ich fand mein Verhalten selber dämlich, aber ich hatte etwas zu erledigen und musste daher jetzt los.

„Hier, den wirst du vielleicht brauchen.“ Anstatt eines strafenden Blickes bekam ich einen Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt.

„Danke.“ Nachdem ich den Schlüssel in meine Hosentasche gleiten ließ, nahm ich Didi kurz in die Arme. Anschließend machte ich mich wortlos auf den Weg zu meinen Eltern.

Da sie höchstens dreihundert Meter von Didi entfernt wohnten, hatte ich mein erstes Ziel schnell erreicht.

Leider verließ ich es auch ebenso schnell wieder. Ich hielt es dort einfach nicht aus, mochte nichts erzählen, und meine Eltern sagten ebenfalls nur wenig bis nichts. Da ich mit meinen Eltern nicht schweigen konnte und ein beklemmendes Gefühl in mir aufstieg, dass sich mitten in meiner Brust festsetzte, hatte es keinen Sinn länger zu bleiben.

Ich war ihnen zwar unendlich Dankbar dafür, dass sie mich vor meinem Klinikaufenthalt fast ein halbes Jahr bei sich aufgenommen hatten. Als ich mit meinem Leben nicht mehr klargekommen war, tat es gut einen Unterschlupf zu finden. Doch ich hatte damals schnell bemerkt, dass es in meinem Alter keinen Nährwert hatte, in einem zwölf Quadratmeter großen Zimmer bei seinen Eltern zu leben. Ich liebe sie zwar sehr, konnte allerdings über schwierige Themen nur schlecht mit ihnen reden. Sie waren leider keine große Hilfe, und so hatte ich bereits damals häufig bei Didi übernachtet.

Damals! Immer wieder holte mich dieses Wort ein. Ich hasste dieses Damals inzwischen und doch hatte ich keine Wahl, ich musste mit diesem Damals klarkommen, musste mit ihm leben. Ein Leben lang würde es mich begleiten. Leider!

Ich hatte damals keine andere Wahl. Ich musste Sylt verlassen. Sylt und das Anwesen, auf dem ich viele Jahre so glücklich gewesen war und in das ich mein gesamtes Herzblut investiert hatte. Meine Pension, die ich so sehr geliebt hatte und die zu meinem Ort geworden war. Nein, nicht nur zu meinem Ort, sondern zu meiner Heimat.

„Schwachsinn! Zu unserer Heimat!“ Laut rief ich diese Worte und es war mir egal, ob es jemand mitbekam.

Die Pension und das dazugehörige Anwesen waren alles für mich gewesen. Trotzdem war dieser Ort zu einem Platz geworden, an dem ich nicht länger bleiben konnte, da einfach zu viele Erinnerungen an ihm und an dieser Zeit, hingen. An einer Zeit, die nie wieder zu mir zurückkehren würde.

Nicht, weil ich es nicht wollte. Es ging einfach nicht. Es war zu viel geschehen, was nicht hätte passieren dürfen. Und was nicht möglich war, wieder rückgängig zu machen.

Leider hatte ich es auch nicht hinbekommen, in den letzten Monaten Oma Anna zu besuchen. Zunächst war ich nicht in der Lage, dann kam meine ätzende Krankheit und zuletzt musste ich in meinem „Gefängnis“ weilen. Doch heute galt es, diesen Umstand zu ändern.

Immerhin hatte ich es Oma Anna zu verdanken, dass ich die schönste Zeit meines Lebens auf Sylt verbringen durfte. Sie hatte mir mit ihrem Testament die Möglichkeit gegeben, ein Anwesen auf Sylt zu besitzen. Ein altes Anwesen, das ich mit meinem besten Freund Hasi zu einer Pension umgebaut hatte, und das mit der Hilfe von vielen weiteren Freunden zu einem traumhaften Fleckchen Erde geworden war. Zu einer Wohlfühloase, auf der ich mit meiner großen Liebe leben durfte.

Doch dann war ich plötzlich allein. Alles war anders und ich hielt es dort nicht länger aus. Das Leben konnte schon gemein sein. Das Gemeinste allerdings war, dass ich keine Antworten auf das Warum bekam.

Ohne zu wissen, weshalb etwas passierte und ohne Antworten auf ungeklärte Fragen zu bekommen, konnte man ganz schnell an diesem ungerechten Leben zerbrechen – so wie ich!

Nachdem mir bewusst war, dass alles keinen Sinn mehr hatte, packte ich meine Sachen. Ich verließ mein geliebtes Sylt, meine Wohlfühloase, die für mich längst keine Oase mehr war und ging zurück nach Hamburg.

Ich verließ meinen Traum, der unser Traum gewesen war, und den ich nicht alleine weiter träumen wollte. Mein Abschied galt nicht einfach nur der Insel. Man konnte sagen, dass ich mich gleichzeitig auch aus meinem eigenen Leben verabschiedet hatte.

Ich wusste nur zu gut, dass es eine feige Flucht war. Leider hatte ich keine Alternative zu ihr gefunden. Außerdem schien mein Entschluss damals eine vernünftige Entscheidung zu sein.

Nein, es fühlte sich nicht gut an. Jedoch allemal besser, als dort zu bleiben und an meiner Trauer und Einsamkeit zu zerbrechen.

Oma Anna

Als ich nach einem schönen Fußmarsch zunächst den Ohlsdorfer Friedhof erreicht und anschließend am Grabstein von Oma Anna angekommen war, konnte ich diesen kaum wiedererkennen. Nein, ich konnte ihn sogar tatsächlich kaum erkennen, da er vollkommen zugewachsen und alles um ihn herum verwildert war. Allem Anschein nach war ich der einzige Mensch, der hier zu Besuch kam, oder zumindest die einzige Person, die ein Interesse daran hatte, das Grab zu pflegen.

Warum waren die Menschen so? Oma Anna hatte, als sie noch am Leben war, für jeden ein offenes Ohr gehabt. Sie war für alle da gewesen und hatte geholfen, wo sie nur konnte. Ständig hatte sie Besuch von Freunden gehabt, die ihren Rat gebraucht hatten. Die auf die Empfehlungen und Tipps meiner Oma gehört hatten und so ein ruhigeres Leben führen konnten.

„Freunde? Pah, solche Menschen sind keine Freunde. Ist das hier die Belohnung dafür? Warum ist es in der heutigen Gesellschaft nur so, dass dieser alte Satz - Aus den Augen, aus dem Sinn! - eine immer größere Bedeutung einnimmt?“ Wütend sprach ich meine Gedanken aus und ließ meinen Blick dabei über das verwilderte Grab gleiten.

Da sich einige Gewohnheiten der Menschen niemals änderten, suchte ich hinter anderen Grabsteinen nach einer Rasenschere, einer Harke und natürlich auch nach einer Gießkanne. Viele Friedhofsbesucher lagerten diese Utensilien hinter den Grabsteinen, da sie so nicht ständig alle Gerätschaften hin und her schleppen mussten.

Schnell wurde ich fündig und richtet das Grab wieder her. Während ich fleißig am Werkeln war, erzählte ich Oma Anna dabei von meinem Aufenthalt in der Klinik.

Fast gleichzeitig war ich mit meiner Erzählung und dem Herrichten fertig und machte mich auf den Weg zu einer der vielen Wasserstellen, um die Gießkanne zu befüllen. Mit eben dieser und einem Kopf, der ebenso voll mit Gedanken war, stand ich nun wieder vor dem Grabstein und überlegte, wie ich meiner Oma die Sache mit dem Anwesen am besten erklären konnte.

Ja, ich hatte Angst davor meiner Oma zu erzählen, dass ich meinen Traum aufgegeben hatte. Hingeworfen war wahrscheinlich das bessere Wort dafür und ich spürte deutlich, wie ich zu zittern begann.

Während ich die Pflanzen goss, kamen auch die ersten Worte über meine Lippen.

Oma Anna erfuhr jetzt die Geschichte, die mich völlig aus der Bahn geworfen hatte.

Unsere Pension lief richtig gut und ich war glücklich darüber, zusammen mit meinem besten Freund Hasi auf Sylt zu leben. Wir lebten im wahrsten Sinne unseren Traum, und als dann auch noch meine große Liebe Pia in mein Leben trat, konnte es gar nicht besser sein. Ja, ich war glücklich. Richtig glücklich sogar und wahnsinnig stolz darauf, mein Leben mit meinem besten Freund und meiner Traumfrau auf Sylt führen zu dürfen.

Wir hatten noch unendlich viele Pläne und genossen trotzdem ein Leben im Jetzt, wie man es sich schöner nicht hätte wünschen können. Wir hatten Freude an jedem gemeinsamen Augenblick und starteten jeden unserer Tage mit einem Lächeln auf den Lippen.

Lachen ist etwas Tolles. Wenn man aber zusammen mit seinen Liebsten lachen darf, ist dies ein Gefühl, das durch nichts zu überbieten ist.

Doch dann kam dieser Tag. Ein Tag, den ich in jeder verfluchten Minute meines Lebens gerne rückgängig machen würde. Es war ein Tag, der einfach nicht hätte kommen dürfen und für den ich mein Leben opfern würde, um ihn anders ablaufen zu lassen.

Es mussten in Hamburg einige Dinge geklärt werden, die unsere Pension betrafen. Da ich an diesem Tag für die anreisenden Gäste verantwortlich war, fuhren Hasi, seine Freundin Johanna und Pia nach Hamburg. Sie hatten sich gleich am frühen Morgen auf den Weg gemacht, damit sie noch am selben Tag wieder zurück auf der Insel sein konnten.

Auf eine Bahnfahrt hatte keiner von ihnen Lust, da sie dann auch in Hamburg die Öffentlichen Verkehrsmittel hätten nutzen müssen.

Mit meinem Jeep waren sie on Tour gewesen und als ich, wie bei einem Telefonat am frühen Nachmittag besprochen, um 18 Uhr im Restaurant Diavolo saß und bei einem Kaffee auf sie wartete, war nichts von ihnen zu sehen.

Auf meine WhatsApp mit der Frage, ob sie den angepeilten Autozug verpasst hätten, bekam ich keine Antwort und auch meine Anrufe landeten zunächst im Nichts, bevor einige Minuten später, plötzlich die Telefone meiner Freunde gar nicht mehr zu erreichen waren.

Zunächst amüsierte ich mich noch darüber, da ich davon ausging, dass die drei Helden bestimmt mal wieder vergessen hatten ihre Akkus vor der Fahrt komplett aufzuladen. Ja, ich war mir sicher, dass ihre Handys einfach leer und ausgelutscht waren.

Fast zwei Stunden wartete ich, dann machte ich mich auf den Weg zur Pension. Eventuell hatten die Chaoten unsere Abmachung einfach vergessen und saßen bereits auf der Terrasse im Strandkorb und gönnten sich ein wohlverdientes Feierabendbier.

Doch niemand war da.

Längst hatte sich ein mächtiger Kloß in meinem Hals breitgemacht. Während sich meine Kehle immer mehr zuschnürte, wurde mein Kopf immer leerer. Zum Denken war ich nicht mehr in Lage. Alles was ich spürte und fühlte, waren Schauer, die sich wie Flutwellen über meinen Körper legten.

Zum bestimmt zweihundertsten Mal wählte ich die Handynummern meiner Freunde. Doch die Leitungen waren tot. Langsam und doch stetig, kroch Angst durch meinen Körper. Angst, die sich inzwischen auch in meinem Kopf festgesetzt hatte.

Unruhig tigerte ich durch die Zimmer. Immer wieder blieb ich an einem Fenster stehen und hielt Ausschau. Doch ich konnte niemanden erkennen. Es war totenstill auf dem Anwesen. Selbst die Bäume schwiegen. Kein Geräusch war zu hören, da es komplett windstill war. Wo war der Wind geblieben? Auf Sylt wehte er immer. Er gehörte hierher, genau wie auch Pia, Hasi und Johanna.

Dann hielt ich es nicht länger aus und ging zur Tür.

Als ich gerade den langen Weg unserer Auffahrt zum Eingangstor der Pension hinunter gehen wollte, kam mir ein Fahrzeug entgegen. Kurz keimte Hoffnung auf. Allerdings nur sehr kurz, da ich bereits am Motorengeräusch erkannte, dass es auf keinen Fall mein Jeep sein konnte.

Oder hatten meine Freunde eine Panne? Waren sie mit einem Leihauto unterwegs und würden gleich auf unsere Auffahrt biegen?

Leider war es kein Leihfahrzeug.

Ein Polizeiwagen kam auf mich zu und blieb direkt vor meinen Füßen stehen.

Den Fahrer kannte ich und nachdem ich Tom kurz und knapp begrüßt hatte und ihm jetzt mitteilen wollte, dass ich keine Zeit für einen Klönschnack hatte, da ich unruhig auf Pia und meine Freunde wartete, verschlug es mir direkt die Sprache.

Tom hatte noch gar nichts gesagt, doch ich sah seinen Blick und hoffte, dass er mir jetzt nicht genau das erzählen würde, was ich befürchtete.

Es durfte nichts Schlimmes passiert sein. Nein, es konnte einfach nicht so sein. Wir hatten ein tolles Leben und wir hatten noch unendlich viele gemeinsame Pläne, die nur darauf warteten umgesetzt zu werden.

Unser Leben war voller Glücksmomente und uns war klar, dass wir nur zusammen glücklich sein konnten. Wir waren keine einzelnen Personen mehr, wir gehörten zusammen und uns war klar, dass nichts und niemand auf dieser Welt in der Lage war uns zu trennen.

„Was ist passiert?“ Mein Blick war auf Tom fixiert, während ich mit zittriger Stimme zu ihm sprach.

„Ben, lass uns ins Haus gehen.“ Tom versuchte seine Hand auf meine Schulter zu legen, doch ich ging einen Schritt zurück. Ich brauchte in diesem Augenblick nicht seine, sondern Pias Hand.

„Nein. Das geht nicht. Ich muss zu Pia. Ist ihr etwas zugestoßen?“ Eine Antwort bekam ich nicht und so sah ich jetzt fragend und bittend zugleich in Toms Gesicht.

Ich wartete auf seine Antwort. Schnell musste sie kommen, da ich auf dem Sprung war. Ich musste los. Los zu Pia und zu meinen Freunden. Sie brauchten mich jetzt, da war ich mir sicher.

„Ben. Bitte lass uns ins Haus gehen.“ Tom sagte die gleichen Worte wie eben. Allerdings noch etwas eindringlicher.

„Nein!“, ich schrie Tom an und war kurz davor ihn zu schütteln. Was drehte er hier für einen Film? Er brauchte mir doch nur zu sagen, was mit den wichtigsten Menschen aus meinem Leben passiert war. Vielleicht noch, in welchem Krankenhaus sich meine Freunde befanden. Wo ich hin musste, um Pia zu besuchen, sie zu halten und ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebte.

Doch statt einer Antwort griff Tom erneut nach meiner Schulter und sah mir dabei tief in die Augen.

„Pia hatte zusammen mit Johanna und Hasi einen Autounfall.“ Starr und angespannt war sein Blick und ich erkannte deutlich, wie er versuchte, gegen das Zittern seiner Stimmbänder anzukämpfen.

„Wo muss ich hin? In welchem Krankenhaus liegen sie? Wie geht es ihnen?“ Nach meinen Fragen herrschte Stille. Ob es Sekunden, oder doch vielleicht sogar Minuten waren? Auch heute weiß ich es noch nicht.

„Ben, die drei sind tödlich verunglückt.“

„Was sind sie? Tödlich verunglückt? Das kann nicht sein. Du musst dich täuschen oder sie wurden verwechselt.“ Ich lachte, doch das Lachen blieb mir irgendwann im Hals stecken. Langsam kamen Toms Worte richtig bei mir an. Erst jetzt hatte ich ihre tatsächliche Bedeutung begriffen. Erst jetzt begriff ich, dass Tom sich nicht geirrt hatte. Ich verstand, dass ich mich nicht in einem verkackten Film, sondern tatsächlich in der Realität befand.

„Pia ist gestorben?“ Leise stammelte ich diese Worte.

„Ja. Komm jetzt, wir gehen ins Haus.“, Tom legte seinen Arm um meine Schulter und führte mich.

Als wir in der Küche saßen fragte ich, „Was ist mit Hasi?“

„Hasi und Johanna sind ebenfalls ums Leben gekommen. Der Wagen ist in einer Kurve von der Straße abgekommen. Sie sind gegen einen Baum geschleudert worden und waren sofort tot.“

„Wo?“

„Auf der Strecke zwischen der Autobahnabfahrt und Niebüll.“ Ob Tom noch mehr gesagt hatte? Ich weiß es nicht. Ebenso wenig, wie ich weiß, wann er mich verlassen hatte.

Es liefen keine Tränen über meine Wangen. Ich war leer und hatte keine Möglichkeit, auch nur irgendeinen Gedanken zu fassen.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, saß ich noch immer an der gleichen Stelle. Immer und immer wieder, hatte ich mir die Frage nach dem Warum gestellt. Eine Antwort fand ich nicht. Dafür wusste ich aber, dass ich ohne Pia und ohne meine besten Freunde, ebenfalls nicht mehr am Leben sein wollte. Was hatte mein Leben noch für einen Sinn?

Als Heike, die seit Beginn an bei uns angestellt war und schon vorher zu unserem Freundeskreis zählte, am nächsten Morgen in die Küche kam und das Frühstück für die Gäste vorbereiten wollte, blieb sie erschrocken stehen und sah mich an.

Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, nahmen wir uns in die Arme und weinten zusammen. Endlich schaffte ich es zu weinen und bemerkte, dass mir die Tränen guttaten. Leider änderten sie aber nichts daran, dass ich die wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren hatte. Mein bester Freund und meine große Liebe waren von mir gegangen. Einfach so hatten sie sich aus dem Staub gemacht, hatten sich von mir geschlichen und mich alleine gelassen. Alleine in einer Welt, die viel zu groß für mich war.

Plötzlich hasste ich die beiden dafür. Wie konnten sie so was machen? Warum war ich nicht mit in Hamburg gewesen? Dann wären wir noch immer zusammen. Zwar in einer anderen Welt, aber immerhin zusammen. Ich wollte ebenfalls nicht mehr leben und wünschte mir, einfach auf die andere Seite zu wechseln. Auf die Seite, die noch gestern so weit von mir entfernt war und an die ich bis dato keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte.

Keine zwei Stunden später verabschiedete Heike alle unsere Gäste, da wir auf Grund eines Trauerfalles für unbestimmte Zeit die Pension schließen mussten. Natürlich half Heike den Gästen dabei, andere Ferienunterkünfte zu finden.

Gäste, die bereits gebucht hatten, wurden auch von Heike darüber informiert, dass die Buchung hinfällig geworden war. Ich brauchte mich um nichts zu kümmern, wäre aber auch gar nicht in der Lage dazu gewesen.

Nachdem wir einige Tage später die Seebestattung von Pia, Johanna und Hasi hinter uns gebracht hatten, verließen Heike und ich das Anwesen. Alles was von mir blieb, war ein Zettel an der Eingangstür. Mit zitternder Hand hatte ich die Worte Auf unbestimmte Zeit geschlossen hinterlassen.

Ich konnte einfach nicht bleiben und war mir auch sicher, dass mich weder meine Pension, noch die Insel Sylt jemals wiedersehen würden.

Mit jedem Meter, den mich der Zug von Sylt wegbrachte, entfernte sich mein Leben von mir. Alles was blieb, war die Vergangenheit.

Ich hatte alles verloren, was mir wichtig war. Mein Leben hatte keinen Sinn mehr und eine Zukunft gab es für mich nicht. Was sollte ich mit einer Zukunft, an der Pia nicht beteiligt sein konnte.

Auch Heike fuhr zurück in ihre Heimat. Allerdings in einem anderen Zug. Ich wollte die Fahrt von der Insel alleine verbringen.

„Was soll ich nur machen? Kannst du mir sagen, wie mein Leben funktionieren soll? Bitte Oma Anna, du hattest sonst auch immer den richtigen Ratschlag für mich.“ Tränen liefen aus meinen Augen, als ich ihr alles erzählt hatte. Wie gerne hätte ich jetzt einen Rat von ihr bekommen. Ein Zeichen hätte mir auch genügt. Irgendetwas, was mir meinen Weg zeigte, meinen Weg ohne Pia. Und auch meinen Weg ohne Hasi und seine Freundin Johanna.

Doch ich bekam kein Zeichen und mir wurde erneut klar, dass ich leider ganz alleine auf der Welt war.

„Ich komme bald wieder. Tschüss, Oma Anna.“ Nach meinen Worten drehte ich mich um und ging.

Erst als ich mich bereits mehrere Schritte vom Grab entfernt hatte, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

Ich begriff, dass Pia jetzt meine Oma kennenlernen konnte und, dass Oma Anna meine Aufgabe übernommen hatte. Sie würde von nun an auf Pia aufpassen, und vielleicht passten beide zusammen ja auch irgendwie auf mich auf …

Hatte ich eben etwa tatsächlich einen positiven Gedanken gehabt? Ich wunderte mich darüber und ging.

Als ich einen kleinen bunten Schmetterling auf meiner Hand sitzen sah, freute ich mich darüber. Dann sah ich ihn mir genauer an und fand, dass er aussah, als würde er lachen.

Leider flog er davon, bevor ich mich vergewissern konnte, ob es wirklich so war.

Didi

Schon während meines Aufenthalts in der Klinik war Didi mein einziger Bezugspunkt zur Außenwelt gewesen. Ich wollte mich während der Reha, genau wie ich es bereits die Monate vorher getan hatte, abschotten. Meine Hoffnung war, dass ich in der Klinik lernen würde, mit meinem Schmerz, mit der Trauer und auch mit meiner Krankheit, umzugehen. Ich hatte gehofft und in einigen Momenten sogar geglaubt, dass es besser funktionieren würde, wenn ich mich ganz auf mich und meine Ärzte konzentrierte. Wenn ich keine Ablenkung hatte. Außerdem wurde mir von den Ärzten geraten, dass es besser wäre, keinen Besuch zu bekommen. Besucher würden mich ablenken und mich in die Vergangenheit zurückholen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass es kein Fehler war. Obwohl es sich selbstverständlich nur schwer beweisen lässt, ob es wirklich der richtige Weg für mich war.

Jetzt war ich froh, bei Didi zu sein. Die ersten Tage bei ihm taten mir gut und ich begann langsam wieder damit am realen Leben teilzunehmen. Zwar noch sehr eingeschränkt und mit dem Kopf voller Ängsten. Trotzdem machte ich mich an Tagen, an denen es mir etwas besser ging, auf den Weg und setzte mich in ein nettes Lokal. Natürlich nur dann, wenn es nicht allzu voll war.

Irgendwann störte es mich auch nicht mehr, wenn meine Tränen kullerten und andere Menschen mich deshalb verwundert ansahen. Diese Tränen gehörten zu mir. Früher hatte ich immer ein Lächeln auf den Lippen. Heute waren es halt Tränen, die mich begleiteten.

Immer wieder war es Didi, der mich aufbaute, mir Mut zusprach und sich um mich und mein Wohlbehagen kümmerte.

Dann saßen wir eines Abends tatsächlich zusammen bei einem Bier. Nein, nicht auf seinem Balkon, sondern im Biergarten und beobachteten vom dort aus das Treiben im Stadtpark.

Es war einer der ersten warmen Tage in diesem Jahr und ich genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf meiner Nasenspitze. Als Didi vor ungefähr zwei Stunden die Radtour mit mir gestartet hatte wusste ich nicht, wohin es ging. Ganz sicher war es auch gut so, da ich ansonsten einen lauten und energischen Einspruch eingelegt hätte.

Erst als wir anhielten und Didi bereits unsere Räder aneinandergeschlossen hatte, machte es bei mir klick. Doch da war es zu spät. Ich hatte keine Chance mehr, mich mit einer Ausrede vor dem Biergarten zu drücken.

Ich hatte es geschafft, endlich war ich einen Schritt voran gekommen und konnte wieder unter Leute gehen.

Richtig wohl fühlte ich mich dabei zwar noch nicht, doch es fühlte sich auf eine ganz bestimmte Art trotzdem gut an.

Immer häufiger starteten wir gemeinsame Unternehmungen und meine Lust auf das Leben wurde nach und nach wieder geweckt.

Ich stöberte im Internet, sah mir im TV Bundesligaspiele an und hatte sogar wieder Interesse daran, nach neuen Klamotten Ausschau zu halten. Doch als ich mich eines Morgens dabei erwischte, wie ich im Internet auf der Sylt-Seite nach irgendwelchen Neuigkeiten Ausschau hielt, verließ ich die Seite schnell wieder. Sylt und ich – das passte einfach nicht mehr. Zu viele negative Erinnerungen steckten in unserer Beziehung und ich wollte das, was ich mir in den letzten Tagen und Wochen erarbeitet hatte, nicht durch meine eigene Dummheit wieder kaputt machen. An meine Pension verschwendete ich zum Glück keine Gedanken und wenn es so war, schob ich sie einfach weg.

Viele Gespräche zwischen Didi und mir handelten von unserer früheren gemeinsamen Fußballzeit und es machte Spaß, in diesen Erinnerungen zu schwelgen. Auch mein Klinikaufenthalt wurde immer häufiger zum Thema. Mein Freund verpackte die Gespräche so geschickt, dass ich meistens gar nicht mitbekam, wenn ich über Dinge sprach, die eigentlich meine Geheimnisse bleiben sollten.

Allerdings tat es gut über alles zu reden. Auf diese Art und Weise lernte Didi in unseren Gesprächen auch Tommy und Christian kennen, mit denen ich in viele tolle Gespräche geführt hatte und die auf eine ganz bestimmte Art noch immer ein Teil meines Lebens waren.

Doch alles ließ ich mir nicht aus der Nase ziehen. Immerhin gab noch eine weitere Person, die mir viel bedeutete. Ich war nicht bereit, Didi mein Geheimnis zu verraten. Es ging einfach nicht. Zu viele unausgesprochene Worte lagen zwischen Charly und mir und wenn ich Didi davon erzählt hätte, hätte ich auch schlechte Sachen über Charly preisgeben müssen. Doch das konnte ich nicht. Falsch, ich wollte nichts schlecht machen, was gut für mich war.

Also hielt ich meinen Mund und war froh darüber, meine Gedanken an einen besonderen Menschen ganz für mich alleine zu haben.

Heute war Samstag und als ich vom Bäcker zurückkam, sah ich ziemlich merkwürdige Klamotten auf dem Sofa liegen.

Didi war wach und hatte das Radio auf eine Lautstärke eingestellt, die garantiert dafür sorgte, dass die Nachbarn heute mit Musik geweckt wurden.

„Die Brötchen sind da!“ Bereits zum dritten Mal rief ich diese vier Worte und hatte das Gefühl, dass Didi sie noch immer nicht gehört hatte.

Erst, als ich die Musik leiser gestellt hatte, bekam ich eine Reaktion. Zwar nicht zu meinem Satz, dass die Brötchen da waren, aber immerhin ließ Didi sich im Wohnzimmer blicken.

„Mach die Musik wieder laut! Musik muss man laut hören.“ Verständnislos wurde ich von meinem Freund angesehen.

„Willst du das ganze Haus wecken? Sag mal, hast du nen Knall?“ Ich grinste und wartete gespannt auf seine Antwort.

„Klar, heute darf man laut Musik hören.“

Dass mein „Hast du nen Knall?“, nicht auf die Musik bezogen war, hatte Didi nicht registriert. Ich sah ihn erstaunt und belustigt zugleich an. Mein Kumpel trug eine Lederhose, die er wahrscheinlich noch aus den wilden achtziger Jahren besaß, und dazu ein Hemd, welches nicht hätte bunter sein können. Die Krönung jedoch war diese schwarze Ledermütze. Ich grübelte, woher er sie wohl hatte, traute mich aber nicht, ihn danach zu fragen.

„Was soll dieser Aufzug?“ Meine Neugier hatte gesiegt.

„Heute ist CSD.“ Kurz und knapp schmetterte Didi die Antwort in meine Richtung.

„Und?“

„Mensch, Ben, du Wurst. Der CSD ist die Abkürzung für den Christopher Street Day. Heute gehen die Schwulen und Lesben auf die Straße, um für ihre Rechte einzutreten.“

„Danke für die Info. Aber was der CSD ist weiß ich.“ Ein belustigtes Kopfschütteln begleitete meine Worte.

„Was fragst du denn dann so blöd?“ Didi sah mich leicht irritiert an.

„Ich frage mich, was dein komischer Aufzug soll.“

„Die rennen dort alle so rum.“

„Aha.“, mehr sagte ich nicht und machte mich daran, mir ein Brötchen zu schmieren.

Ich hatte seit meinem Klinikaufenthalt eine andere Ansichtsweise zu den Schwulen und Lesben unserer Welt. Charly hatte mir die Augen geöffnet und ich sah viele Dinge plötzlich aus einem anderen Blickwinkel. Einige Sachen konnte ich besser nachvollziehen, auch wenn ich mir noch längst nicht alles erklären konnte. Auf jeden Fall fand ich es albern, sich als Hetero in irgendwelche lächerlichen Kleidungsstücke zu schmeißen, die man sonst auch nicht trug. Hingehen war okay, aber doch bitte so, wie man auch im normalen Leben war.

Da ich aber nicht wusste, ob meine Meinung richtig war, hielt ich meinen Mund und ließ Didi einfach in seiner Verkleidung glücklich sein.

Auf gar keinen Fall!

„Bist du endlich fertig?“ Didi sah mich an, während ich auf dem Balkon saß und den Kaffeebecher auf meinem angewinkelten Knie abgestellt hatte. Es war gar nicht einfach so still zu sitzen, dass der Becher nicht vom Knie rutschte, und selbstverständlich war es mir nur möglich, da der Kaffee nicht mehr richtig heiß war.

„Fertig? Womit?“ Ich hatte heute nichts auf dem Zettel, und daher gab es auch keinen Grund, für irgendetwas fertig zu sein. Ich genoss den Moment und war glücklich darüber, dass ich wieder dazu in der Lage war.

„Verarsch dich selbst. Mach jetzt hinne!“ Irrte ich mich, oder war Didis Stimmlage tatsächlich mit einem genervten Unterton versehen. Warum? Es gab keinen Grund dafür.

„Sag mir lieber was los ist.“ Hatte ich etwas Falsches gemacht? Hätte ich nicht mit seiner Lieblingstasse auf meinem Knie balancieren sollen? Aber schließlich war nichts passiert. Das Ding war noch heil und genau deshalb sah ich meinen Freund fragend an.

„Zieh dich um und lass uns los.“ Didi streckte mir seinen Arm entgegen was dafür sorgte, dass ich automatisch nach seiner Hand griff. Gerade noch rechtzeitig konnte ich den Becher von meinem Knie nehmen. Dann wurde ich hochgezogen und schon standen wir uns Nase an Nase gegenüber.

„Umziehen? Warum soll ich mich umziehen?“ Ich sah an mir hinab und konnte keinen Modefauxpas erkennen.

„Damit wir endlich loskönnen.“

„Wir? Glaubst du tatsächlich, dass ich mit dir zum CSD gehe? Auf keinen Fall werde ich das machen!“ Erschrocken, fast etwas verängstigt, sah ich in Didis Augen. Auf einem solchen Event war es immer sehr voll. Viel zu viele Menschen waren an diesem Ort vereint und ich war mir sicher, dass dort sofort meine Angst zu mir zurückkommen würde. Allein die Bahnfahrt würde unerträglich für mich sein.

„Klar, glaube ich das! Mach schon, deine Klamotten liegen im Schlafzimmer auf dem Bett.“ Didi sprach mit Nachdruck. Sogar mit so viel, dass ich mich doch tatsächlich auf den Weg ins Schlafzimmer machte. Empfangen wurde ich von kunterbunten Klamotten, die auf meiner Bettdecke lagen. Ich wollte Didi soeben auslachen, als ich einen Ruf hörte, der dafür sorgte, dass ich mich umdrehte. Gerade noch rechtzeitig bekam ich meine Arme hoch und konnte das dunkle Teil fangen, das da auf mich zugeflogen kam. Tatsächlich hatte mir mein Freund auch so eine Ledermütze zugeworfen.

„Niemals werde ich diese Klamotten anziehen, und das Lederteil setzte ich schon mal gar nicht auf den Kopf!“ Auch ich sprach mit Nachdruck.

„War das ein Nein?“ Didi sah mich an.

„Das war sogar ein auf-keinen-Fall-Nein!“ Ich warf die Mütze auf das Bett und verließ umgehend den Raum.

Als auch mein Freund auf dem Flur angekommen war, sah er mich irritiert an.

„Was machst du da?“ Seine Stimmlage verriet, dass er mit meinem Tun nichts anfangen konnte.

„Ich ziehe mir Schuhe an.“ Ein Lachen untermalte meine Antwort.

„Danke, du Arsch. Das habe ich selbst erkannt. Warum machst du das?“ Er schien die Welt nicht zu verstehen.

„Ich denke, wir wollen zum CSD?“ Ich sah Didi an. Dann nahm ich ihn in die Arme und sprach weiter, „Danke, dass du dir so viel Mühe mit mir gibst und dass du meine Launen erträgst. Aber sei bitte nicht böse, dass ich mich nicht verkleiden möchte.“ Wir drückten uns kurz und schon machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof.

Ob ich Angst hatte? Selbstverständlich war es so. Doch irgendwie war mir heute danach, den nächsten kleinen Schritt zu wagen. Einen Schritt in mein neues Leben. Mit Didi an meiner Seite wollte ich es versuchen. Flüchten konnte ich von dort schließlich jederzeit.

Schon die Bahnfahrt zum Hauptbahnhof war irgendwie merkwürdig. Nicht nur Didi war verkleidet, sondern auch viele andere Menschen liefen in Klamotten rum, in denen sie sich sonst garantiert nicht auf der Straße herumtrieben. Ganze Gruppen waren auf dem Weg in die Stadt und der Alkohol floss in rauen Mengen.

Ich befürchtete, dass es nicht wirklich meine Veranstaltung werden würde. Was zum einen daran lag, dass ich Angst vor den Menschenmassen hatte, ich zum anderen aber auch tatsächlich das Gefühl hatte, hier fehl am Platz zu sein.

Ich hatte nichts gegen Menschen, die ihr Leben auf eine andere Art und Weise lebten und ich bin auch der Meinung, dass diese Menschen die gleichen Rechte wie alle anderen verdienten. Doch was wollte die Partyfraktion auf dieser Veranstaltung? Es ist doch schade, wenn eine gute Sache zu einem kommerziellen Event wird.

Oder ist es sogar gut, dass der Kommerz sich diesem Event angenommen hat? Bekommt es dadurch eine größere Reichweite? Wird es so präsenter und erhält der eigentliche Zweck so eine stärkere Intensität?

„Philip kommt auch.“ Ganz plötzlich und erst kurz bevor wir den Hauptbahnhof erreicht hatten, gab Didi mir diese Info, mit der er mich aus meinen Gedanken riss.

„Der Philip?“

„Klar. Welcher sonst? Er hat sich extra auf den Weg nach Hamburg gemacht.“

„Cool!“ Ich freute mich sehr darüber Philip zu sehen. Auch wenn ich mich wunderte, dass er sich ein solches Event antun wollte. Es war so gar nicht seine Hausnummer. Er hasste Großveranstaltungen und trieb sich lieber auf kleineren Events oder in gemütlichen Kneipen herum.

„Ich bin ja mal gespannt, was Philip für Klamotten trägt. Ob er wohl wie ich rumläuft? Oder ob er so wie du, einen auf Spaßbremse macht?“, Didi lachte und ich wusste, dass er es witzig gemeint hatte.

Eine Antwort gab ich nicht, obwohl ich die Frage mit hundertprozentiger Sicherheit hätte beantworten können. Philip würde in normalen Klamotten erscheinen. Das war so klar wie nichts anderes auf dieser Welt.

„Hey, du Lusche.“, war Didis Begrüßung, als er Philip in den Arm nahm. Anschließend war ich an der Reihe und konnte meinen Kumpel begrüßen. Eine ganze Zeit lang hielten wir uns fest und beendeten unsere Umarmung mit einem gegenseitigen Schulterklopfen. Erst jetzt kamen auch Worte über unsere Lippen.

„Du hast mir gefehlt.“ Gleichzeitig sagten wir diese vier Worte, die jeder von uns voller Überzeugung aussprach.

Ich hatte natürlich vorhin recht gehabt und musste daher grinsen. Selbstverständlich trug Philip lediglich Jeans und T-Shirt.

„Auf ins Getümmel. Lasst uns Spaß haben.“ Didi konnte es kaum erwarten und schon machten wir uns auf den Weg zum Jungfernstieg. Auch wenn ein Unbehagen in mir aufstieg, fühlte ich mich in Begleitung meiner Freunde relativ sicher.

Abgesetzt

Auch wenn ich zugeben musste, dass Didis Idee gut war und ich tatsächlich in so manchen Momenten Spaß hatte dem Treiben und den mächtigen Trucks zuzusehen, hielt ich es hier nicht länger aus. Zwei Stunden waren mehr als genug für mich. Außerdem erwischte ich mich immer häufiger dabei, wie ich mich umdrehte und in den Menschenmassen vergeblich nach jemandem Ausschau hielt.

Philip erging es wie mir. Auch er hatte keine Lust mehr auf die Menschenmassen, und die hämmernde Musik war für seinen Dröhnkopf verantwortlich. Da wir uns eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen hatten und uns sowieso nach reden zumute war, setzten wir uns einfach ab. Natürlich nicht, ohne Didi vorher darüber zu informieren. Eine Stunde später saßen wir, mit einem Sixpack Bier im Stadtpark auf der Wiese vor dem Planetarium, und starrten gemeinsam Löcher in den wolkenfreien Himmel.

Ganz plötzlich haute Philip eine Frage raus die mich verwirrte und auf die ich spontan keine Antwort fand. Wobei, natürlich hätte ich eine Antwort gehabt. Allerdings war ich tatsächlich überrumpelt, da ich niemals mit einer solchen Erkundigung gerechnet hatte.

Durfte ich darauf antworten? Ich war mir nicht sicher, immerhin war ich mir selber nicht im Klaren, was mich dazu veranlasste, mich so zu verhalten. Dennoch wollte ich meinen Kumpel auch nicht anlügen. Es gab also genau zwei Möglichkeiten für mich. Entweder die Wahrheit sagen oder Philip mitteilen, dass es ihn nichts anging.

Als die Frage ein weiteres Mal in meinen Gehörgang kroch und ich keine Lust auf blöde Ausflüchte hatte, bekam Philip die Antwort serviert.

„Du möchtest wissen, nach wem ich auf dem CSD gesucht habe? Woher willst du überhaupt wissen, dass es so war?“ Erstaunt sah ich zu Philip. Seine Menschenkenntnis war schon außergewöhnlich gut.

„Weil ich dich kenne.“ Ein fast fieses Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Damit, dass ich nur neugierig auf andere Menschen war, komme ich wohl nicht durch?“

„Unter Garantie nicht!“, Philip grinste mich erneut an.

„Nach Charly.“ Mehr sagte ich nicht.

Allerdings hatte ich keinesfalls mit Absicht eine so kurze, und für Philip völlig nichtssagende Antwort gegeben. Meine Gedanken waren sofort wieder dort angelangt, wo sie seit meiner ersten Begegnung mit Charly so häufig steckten.

Charly war besonders. Kein einfacher Mensch, aber doch ein Mensch, mit dem ich zusammen sein wollte. Nein, nicht nur wollte. Ich hatte ein Gefühl in Charlys Nähe, dass ich so nicht kannte. Ich fühlte mich wohl, geborgen und frei. Ich konnte mich fallenlassen und fühlte mich sicher. Ganz normale Dinge wurden mit Charly etwas größer. Unbedeutende Sachen hatten plötzlich eine Bedeutung für mich und ich war stolz und glücklich, wenn ich Zeit mit Charly verbringen durfte.

Nein, ich hatte Pia weder vergessen noch verdrängt. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen, da ich meine Pia noch immer über alles liebte. Nie hatte ich während unserer Beziehung nach anderen Frauen geschaut. Ich brauchte es einfach nicht, da zwischen uns alles gestimmt hatte. Pia und ich waren ein Wir. Es gab uns ausschließlich als Uns. Nichts auf der Welt war so groß, wie wir es waren.

Trotzdem hatte sich Charly in meine Gedanken geschlichen. In meine Gedanken und sogar ein stückweit in mein Leben. Ein Mensch mit reichlich Ecken und Kanten hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Vielleicht als eine Art Vorbild, da ich vermutete, dass Charly seinen Weg ganz genau kannte. Vielleicht war es genau das, was mich faszinierte. Mir ging es früher ebenso und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als auch wieder einen Weg zu finden. Einen Weg zu finden? Nein, meinen Weg zu finden und ihn auch zu gehen!

Ich hatte gehofft meinen Weg mit Charly gehen zu können, da ich mich dabei sicher fühlte. Also nicht den kompletten Weg. Aber zumindest über die ersten Steine, die mir wie Felsbrocken vorkamen.

Tja, Charly war nicht nur anders, sondern auch das absolute Highlight meines Klinikaufenthaltes.

Als ich langsam aus meinen Gedanken zurückkam, saß Philip neben mir und sah mich irritiert an. Er hatte mich ganz gewiss die ganze Zeit beobachtet. Hatte mich dabei angesehen, wie ich glücklich und traurig zugleich, in meinen Erinnerungen gekramt hatte.

Allerdings war er dadurch noch immer nicht schlauer und als mir klar wurde, dass ich nur geträumt und ihm noch immer nichts erzählt hatte, musste ich lachen.

„Sorry, da war ich wohl kurz weg.“

„Habe ich gemerkt. Du musst nichts verraten, was du nicht erzählen möchtest,“ erreichten mich seine verständnisvollen Worte.

„Doch, ich möchte es dir erzählen.“ Ich hatte meinen Blick fest auf Philip gerichtet. „Wo war ich?“ Ich überlegte tatsächlich, an welcher Stelle ich eben meine Erzählung unterbrochen hatte.

„Wo du warst? Du hast außer dem Namen Charly nichts gesagt.“ Philip lachte und ich stieg mit ein.

„Ups …! Na dann wird es wohl Zeit.“ Ich grinste kurz und begann, von meiner ersten Begegnung mit Charly, zu erzählen.

„Es war während der Reha beim Mittagessen und ich saß mit Tommy, Christian und Holger an dem Tisch, an dem wir fast jede Mahlzeit zu uns nahmen. Von dort hatten wir eine tolle Sicht über den kompletten Speisesaal, und auch das Büfett war genau in unserem Blickfeld. Dann passierte etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte. Etwas, womit ich nicht rechnen konnte und etwas, was ich auch gar nicht wollte.“ Ich sah Philip an und versuchte seinen Blick zu deuten. Wusste er, was ich ausdrücken wollte?

„Was ist passiert? Oder besser gefragt, wodurch ist es passiert?“ Anhand seiner Nachfrage waren meine Bedenken fort. Philip hatte mich verstanden, und daher konnte ich meine Erzählung fortführen.

„Ich war vom einen auf den anderen Moment abwesend. Ich hatte Charly in der Schlange stehen sehen und war auf eine noch nie gekannte Art fasziniert. Einen Menschen mit einer solchen Ausstrahlungskraft hatte ich, außer natürlich Pia, noch nie erlebt. Charly überstrahlte alles, was ich in den letzten Monaten erlebt hatte. Okay, es war nicht wirklich schwierig, da mein Leben vor der Reha am Abgrund hing und in der Klinik nicht viele ansprechende Menschen herumliefen.“ Ich lachte kurz auf und konnte an Philips Lachen erkennen, dass er mich verstanden hatte.

„Weißt du, Philip, Charly war einfach anders und noch heute bin ich mir sicher, dass Charly mir auch außerhalb der Klinik ins Auge gestochen wäre.“ Ich hielt kurz inne, da vor meinen Augen ein Bild von Charly entstand und ich ein paar Sekunden benötigte, um mich zu sortieren.

„Anders? Was heißt anders? Ich habe da ja schon eine Idee. Aber ich warte noch etwas ab und höre dir einfach weiter gespannt zu.“ Philips Blick verriet mir, dass ich mit meiner Geschichte fortfahren sollte.

„Meine Augen hatten sich damals an einer Person verfangen, die eigentlich viel zu groß für mich war. Wobei ich beide möglichen Größen meine. Die Körpergröße und die Ausstrahlung. Das Lachen war der Hammer, die Haare saßen perfekt und das Outfit war so cool und lässig, dass man es fast mit gigantisch beschreiben konnte. Eine echt coole Sau mit Sonnenbrille im Haar und einem Blick, der ausdrückte -Denkt doch was ihr wollt, ich bin wie ich bin! -. Wie ich Charlys Gang beschreiben soll? Ich weiß es gar nicht genau.“ Logischerweise musste ich jetzt kurz darüber nachdenken. Es war wirklich nicht leicht, die richtigen Worte zu finden.

„Sag mal, Ben, wir sprechen aber noch immer über einen Menschen, oder?“ Philip sah mich mit großen Augen an.

„Hä? Wie meinst du das?“ Ich hatte die Ironie seiner Worte nicht verstanden und sah entgeistert zu meinem Freund.

„Egal. Erzähl einfach weiter.“ Ohne nochmal nachzufragen, erfüllte ich Philips Wunsch.

„Wahrscheinlich ist lässig der richtige Ausdruck für den Gang. Lässig und cool, gepaart mit einem Hauch Arroganz. Ja, so ist er ziemlich gut beschrieben.“ Erneut hielt ich meine Klappe, da ich wieder ein Bild von Charlys Gesicht vor mir hatte. Nicht einmal das Piercing sah prollig aus. Es passte einfach alles zusammen und ergab ein Gesamtbild, dass schön und interessant zugleich war.

„Darf ich dich etwas Fragen, Ben?“ Philips Blick war ernst, fast etwas angespannt.

„Seit wann fragst du vorher? Schieß los.“ Ich schenkte Philip ein Lächeln und wartete gespannt auf seine Frage.

„Also, wir waren vorhin auf dem CSD und jetzt schwärmst du so über diesen Charly, als hättest du vorher noch nie einen tollen Menschen gesehen. Sag mal, hast du plötzlich Geschmack an Männern gefunden? Nicht, dass es ein Problem für mich wäre, aber irritiert bin schon etwas.“ Ich konnte die Intensität der Worte fast spüren. Nein, sie waren sogar fast greifbar.

„An Männern? Wie kommst du darauf?“ Verwirrt stellte ich meine Gegenfrage und sah dabei mit ziemlicher Sicherheit dumm aus der Wäsche.

„Na, Charly und du …“, weiter kam Philip nicht.

„Charly ist eine Frau. Und zwar eine ganz besondere. Charlotte ist übrigens ihr richtiger Name.“ Kurz war es still. Anschließend lachten wir zusammen und klopften uns auf die Schultern.

Nachdem Philip auf die Uhr gesehen hatte, ging sein Blick in meine Richtung.

„Ich muss los. Wenn ich noch später fahre, wird der Zug nachher zu voll sein.“ Nachdem ich ihn zur Bahn gebracht hatte, die ihn zum Hauptbahnhof bringen würde, machte er sich auf den Weg nach Lübeck.

Ich hingegen startete vom Stadtpark aus einen Spaziergang und war froh darüber, einen tollen Tag mit super Gesprächen gehabt zu haben.

Didi war noch on Tour als ich die Wohnung betrat. Freudig darüber, meine Gedanken alleine sortieren zu können, setzte ich mich mit einem Bier in der Hand auf den Balkon.

Die Frage, warum ich Charly heute nicht auf dem CSD getroffen hatte, schob ich schnell von mir fort. Ich hoffte, dass die Fragen nach ihr irgendwann komplett aus meinem Kopf verschwanden.

Ihren Abschied von mir, hatte ich noch immer nicht verstanden. Doch anstatt sie dafür zu verurteilen oder sogar zu hassen, entschied ich mich, sie weiter zu schätzen. Ja, ich vermisste sie, dass wurde mir heute beim CSD mal wieder mehr als deutlich. Ich vermisste ihre Freundschaft und die Art, wie sie mir als „mein großer Bruder“, die Leviten las.

Schlechtes Gewissen

Nicht das penetrante Schnarchen von Didi hatte mich heute geweckt. Viel mehr war es die quälende Frage, ob ich mich überhaupt irgendwann auf eine andere Frau einlassen durfte. Immerhin war Pia erst vor fast acht Monaten von mir gegangen, und genau aus diesem Grund lag ich jetzt mit einem schlechten Gewissen unter meiner Bettdecke und starrte gegen die Zimmerdecke. Zumindest solange, bis ich das Gefühl hatte, von dem weißen Beton erdrückt zu werden.

Langsam und leise stand ich auf und ging hinaus auf den Balkon, wo ich von einem strahlendblauen Himmel und der längst aufgegangenen Sonne in Empfang genommen wurde. In den Blumenkästen tummelten sich bereits die ersten Bienen, und sogar ein kleiner Schmetterling saß auf einer der Pflanzen.

„Hey, wie schön du bist.“ Anstatt zu antworten bewegte der kleine Falter seine Flügel und flog davon. Allerdings nicht, ohne vorher eine Ehrenrunde um meinen Kopf zu drehen.

Nachdem ich mich auf einen Liegestuhl gesetzt hatte, kamen meine Gedanken zu mir zurück. Zunächst war es Pia, die mich eine ganze Weile lang begleitete. Ich sah ihr wunderschönes Gesicht vor mir und stellte mir vor, wie sie meine Hand hielt und wir am Sylter Strand spazieren gingen.

Nach und nach huschten andere Bilder durch meinen Kopf. Zunächst waren Tommy und Christian präsent, die allerdings ziemlich schnell von Charly-Gedanken abgelöst wurden.

Das es völlig egal war, ob ich mich auf irgendeine Art und Weise vielleicht sogar in Charly verliebt hatte, war nur nebensächlich. Immerhin war unsere Zuneigung zueinander ganz plötzlich zu einer Einseitigen meinerseits geworden.

Doch darum ging es mir nicht. Nein, es ging mir nicht um Charly und darum, ob wir vielleicht doch füreinander geschaffen waren.

Zumindest jetzt nicht, da mich mein Gewissen quälte.

Durfte ich Gefühle für eine andere Frau entwickeln? Mich vielleicht sogar verlieben? Wäre es nicht viel zu früh für eine andere Frau in meinem Leben? Was würde Pia, die mich sicherlich von irgendwo aus immer im Auge hatte, wohl über mich denken? Würde sie etwa denken: Aus den Augen aus dem Sinn?

Nein, diese Gedanken durfte Pia einfach nicht haben, da es so nicht war!

Die Zeit mit Pia war gigantisch und wenn sie noch leben würde, hätte ich nie die Idee gehabt, mich nach anderen Frauen umzusehen. Doch leider gab es Pia nicht mehr. Sie hatte mich verlassen, ohne es zu wollen. Sie war einfach nicht mehr da.

In meinem Kopf und in meinem Herzen war sie noch immer meine ständige Begleiterin. Ich war in einigen Momenten über unsere gemeinsame Zeit ebenso glücklich, wie ich in anderen Momenten unendlich traurig darüber war, dass ich kein gemeinsames Leben mehr mit ihr führen durfte.

Warum ich mir diese Gedanken überhaupt machte? Weshalb ich heute mit dieser verflixten Dauerschleife aufgewacht war? Keine Ahnung! Vielleicht lag es tatsächlich daran, dass ich gestern beim CSD viele schöne Menschen, auch schöne Frauen, gesehen hatte. Ja, vielleicht war es so. Ich wusste es nicht.

Das Einzige was ich wusste, war, dass ich leider keine Ahnung hatte, wohin mich mein Weg führte. Welche Kurven, Steine und Äste sich mir in den Weg legen würden. Wie auch? Ich wusste ja nicht mal, wie ich die schon vorhandenen Hindernisse wegräumen, oder zumindest umgehen konnte.

Doch seit einigen Tagen war ich einen kleinen Schritt weiter. Ich wusste jetzt, dass das Leben und ich wieder Freunde werden konnten, auch wenn ich noch einen weiten Weg vor mir hatte.

Leider stellte ich mir, parallel zu den guten Gedanken, auch ebenso häufig die Frage, ob ich mit dem Leben überhaupt wieder befreundet sein wollte. Mit diesem Leben, von dem ich so hart bestrafft wurde. Von diesem beschissenen Leben, das mir nicht nur meine Traumfrau, sondern auch meinen besten Freund und meine komplette Lebensfreude, geraubt hatte.

„Pia war eine tolle Frau! Denk daran, sie würde nicht wollen, dass du dich verkriechst.“

Ob Didi Gedanken lesen konnte wusste ich nicht. Ich vermutete allerdings, dass es nicht so war. Trotzdem sagte er diese Worte, als er sich zu mir setzte.

Stumm sah ich ihn an, versuchte allerdings, als Didi mich nun ebenfalls ansah, seinen Blicken auszuweichen. Ich mochte jetzt nicht über meine Vergangenheit reden. Weder über Pia, noch über Hasi, und über Charly sowieso nicht. Gerade gestern hatte ich mir selbst einmal mehr bewiesen, wie sehr ich noch an der Freundschaft zu ihr hing. Tatsächlich stellte ich mir manchmal die Frage, ob es zwischen uns eine besondere Freundschaft, oder doch vielleicht eine Art Verliebtheit gewesen war.

Klar, wäre es besser gewesen Charly zu vergessen. Doch wie sollte ich es anstellen? Schließlich gab es keinen Schalter den ich umlegen konnte, den ich einfach von einem Ja auf ein Nein hätte stellen können.

Ich war an einem Punkt angekommen, an dem sich zwei Frauen auf vollkommen unterschiedlichen Wegen von mir verabschiedet hatten. Doch egal, was auch immer vorgefallen war, ganz egal, was mir Pia und Charly mit ihren Abgängen angetan hatten, eine Sache konnten sie beide nicht ändern.

Es gab einen Punkt, den nur ich selber zu entscheiden hatte, den sie mir nicht nehmen konnten. Meine Liebe zu ihnen. Eine Liebe, die unterschiedlicher nicht sein konnte. Während ich Pia von ganzem Herzen liebte, schätzte ich bei Charly diese unkomplizierte Art, mit der wir miteinander umgegangen waren. Sie hatte mich in der Reha an die Hand genommen und mir einige neue Wege gezeigt. Charly war es, die mich aus meinem Loch gezogen hatte, und dass, obwohl sie ebenfalls zur Behandlung dort war.

„Ich werde dich immer lieben, Pia! Und dich, Charly, auch. Nur eben anders.“ Leise sagte ich diese Sätze und mein Blick ging dabei hinauf in den Himmel. Meine Liebe sollte bleiben, meine Gedanken an wunderschöne Zeiten würde ich nie im Leben verdrängen, auch wenn es nicht leicht für mich war, damit umzugehen.

„Gleich ist er ganz kalt.“

„Was? Wer?“ Ich erschrak kurz, als ich Didis Stimme vernahm und hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

„Dein Kaffee. Gleich hast du Eiskaffee in deinem Becher.“ Mein Freund lachte kurz auf.

„Den hatte ich total vergessen. Was liegt heute an?“ Während ich einen Schluck zu mir nahm, wartete ich auf Didis Antwort.

„Keine Ahnung. Wollen wir mit dem Rad zum Stadtpark?“ Ich fand die Idee super und keine Stunde später, saßen wir auf unseren Rädern und traten in die Pedale.

Und nun?

Ich hatte bereits seit einiger Zeit auf die Frage von Didi gewartet.

Wobei ich mir eingestehen musste, dass ich mir genau diese in den letzten Tagen schon einige Male selbst gestellt hatte. Auch eben, als wir auf unseren Rädern zum Stadtpark unterwegs waren, hatte sie sich in meinem Kopf festgesetzt.

Wir lagen inzwischen auf der großen Stadtparkwiese und beobachteten andere Menschen dabei, wie sie Spaß am Leben hatten. Ich konnte deutlich erkennen, dass sie in diesem Augenblick Freude spürten und diese auslebten.

Noch vor einigen Wochen hatte ich keine Hoffnung darauf, auch wieder freudige Momente erleben zu dürfen. Nein, mit Freude und Spaß, ja, sogar mit Lachen hatte ich nichts mehr am Hut. Mein Dasein bestand aus Trauer und ich war froh darüber, dass ich diese grausame Zeit hinter mir gelassen hatte. Ja, ich war glücklich darüber, in manchen Augenblicken wieder glücklich sein zu dürfen. Es zu können!

„Und nun?“, klar wusste ich, worauf die Frage meines Freundes gezielt war. Trotzdem wich ihr aus und stand auf. Ich brauchte noch etwas Zeit, um zu antworten. Ja, ich konnte diese Worte jetzt nicht sagen. Nicht sagen, obwohl ich mir eben auf dem Fahrrad selbst die Antwort gegeben hatte.

„Und nun hole ich uns einen Kaffee.“ Ich grinste und sah meinen Freund an.

Auf Didis Blick ging ich nicht ein. Ich zog meine Chucks an und machte mich auf den Weg zum Kiosk. Zum Glück war ich schon weit genug weg, bevor Didi noch etwas sagen konnte.

Wären doch alle Wege so einfach zu gehen, wie dieser Weg zum Kiosk. Dachte ich, während ich in der Schlange stand und darauf wartete, meine Bestellung aufgeben zu können.

Dass der Kaffee nicht bereits kalt war als ich wieder bei Didi angekommen war, wunderte mich selbst. In Gedanken versunken machte ich Schritte wie in Zeitlupe. Noch langsamer zu gehen wäre nicht möglich gewesen. Ich hätte stehenbleiben müssen.

Aber meine Gedanken taten gut und ich wurde mit jedem Schritt, den ich näher zurück zu unserem Platz kam, sicherer. Ja, mir war klar, dass ich meinem Freund eine Antwort auf seine Frage schuldig war. Doch nicht nur das. Ich war mir zum ersten Male seit langer Zeit im Klaren darüber, dass ich meinem Leben wieder einen Sinn geben musste. Mein Mut war stärker als die Angst und ich fühlte mich dadurch groß und kräftig.

„Hier, dein Kaffee.“ Da Didi mich nicht hatte zurückkommen sehen, zuckte er kurz zusammen.

„Danke, Ben.“ Nachdem mein Freund mir einen der Becher abgenommen hatte, setzte ich mich und sah ihm tief in die Augen. Es war ein fester Blick, ein mutiger und einer, mit dem ich meinen folgenden Worten Nachdruck verleihen wollte.

„Ich fahre nach Sylt.“, mehr sagte ich nicht und war gespannt, welche Reaktion mich erwarten würde.

Um ehrlich zu sein, war ich nicht nur auf Didis Reaktion, sondern auch auf meine eigene, gespannt. Schließlich war es ein ziemlicher Unterschied, ob man über Dinge lediglich nachdachte, oder sie lauthals rausposaunte. Immerhin konnte ich ab diesem Augenblick darauf festgenagelt werden.

Neugierig hörte ich in mich hinein, versuchte zu fühlen und zu spüren, was diese Aussage in mir auslöste. Dann nickte ich beruhigt. Tatsächlich war alles gut. Noch immer spürte ich keine Angst. Auch jetzt stand ich noch zu dem, was ich eben gesagt hatte.

Ich freute mich darüber, war allerdings etwas erstaunt, dass noch immer keine Antwort von Didi gekommen war. Hatte er mich nicht verstanden? Nein, so konnte es nicht sein.

Noch immer sahen wir uns tief in die Augen. Es schien so, als würde er versuchen, über diesen Weg meine Gedanken zu lesen. Erst, als ein farbenfroher Schmetterling auf einer Blüte neben uns Platz nahm, löste Didi seinen Blick. Anschließend kam auch Bewegung in seinen Körper.

Doch anstatt zu antworten, hob mein Freund seinen Arm, nippte an seinem Kaffee und sah mich anschließend erneut an. Einige Sekunden war sein Blick starr auf mich gerichtet. Dann begann er zu reden.

„Willst du wirklich? Ich halte es für keine gute Idee.“

„Ja.“ Mehr als dieses eine Wort sprach ich nicht. Es genügte als Antwort und da ich mit diesen beiden Buchstaben meine Schuldigkeit getan hatte, stieg ich in Didis Schweigen mit ein.

Im Gegensatz zu den letzten Monaten, hielt ich die Stille heute nicht aus. Das Schweigen fühlte sich unbehaglich an. Viel zu häufig hatte ich in den letzten Monaten geschwiegen und es gab keinen Grund dafür, es weiterhin zu tun. Schon gar nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick, der für mich riesig und bedeutend war. Ich war über meinen Schatten gesprungen. Hatte etwas getan, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Ja, ich war stolz auf mich und außerdem glücklich darüber, dass Didi mich in diesem wichtigen und großen Moment begleitete, dass er jetzt bei mir war.

Komischerweise war ich auch nicht enttäuscht darüber, dass er nicht weiter nachhakte. Nein, ich hatte ihn längst durchschaut. Er wollte mich testen. Wollte wissen, ob ich den Mut hatte, ganz von selbst über meine Gefühle und Pläne zu sprechen.

Natürlich ging sein Plan auf und nachdem ich einen Schluck Kaffee getrunken hatte, begann ich zu erzählen.

„Ich muss zurück nach Sylt.“ Mit diesen Worten begann ich und mein Freund hing aufmerksam an meinen Lippen. „Weißt du, Didi, ich kann mich nicht so einfach von der Insel verabschieden, die mir und Pia so viel bedeutet hat. Auf der ich mit ihr und Hasi so lange gelebt habe und glücklich war.“ Mein Blick hing an Didi und ich freute mich über sein zustimmendes Nicken. Dann sprach ich erneut weiter. „Weißt du, auch die Pension hat es verdient, nicht vollständig zu verkommen und ich möchte sehen, wie ich diesen, für mich magischen Platz, in gute Hände übergeben kann. Leben will ich dort nicht mehr. Zu viele Erinnerungen hängen an diesem Ort. Jedes einzelne Zimmer, jede Pflanze im Garten und sogar jeder Kaffeebecher würde mich ständig an die Zeit erinnern, in der ich der glücklichste Mensch auf diesem Erdball war.“ Eine Träne kullerte über meine Wange. Daher musste ich kurz innehalten. Mein Blick war dabei ins Nichts abgeschweift. Noch vor einigen Wochen, vielleicht sogar auch nur Tagen, wäre ich jetzt aufgesprungen und geflüchtet.

Doch ich blieb sitzen und schluckte. Ich schluckte hart und konnte förmlich spüren, wie sich mein Kloß verflüchtigte. Ich freute mich darüber und führte meine Sätze fort.

„In Oma Annas Testament war festgelegt, dass ich das Anwesen nicht verkaufen darf. Aber hierfür habe ich bereits eine Idee. Ich würde das gesamte Geld vom Verkauf spenden und so andere Menschen damit glücklich machen. Es gibt einfach zu viele Menschen, denen es nicht gut geht, die vom Leben hart getroffen wurden. Nein, die bestraft wurden. So wäre es auch im Sinne von Oma Anna. Da bin ich mir sicher. Trotzdem muss ich selbstverständlich noch zum Friedhof, um alles mit ihr zu besprechen. Was sagst du zu meinem Vorhaben?“ Erwartungsvoll sah ich Didi an.

„Klingt gut.“, wieder waren es nur zwei Worte, die über seine Lippen kamen.

„Und weiter?“ Mir genügte seine Antwort nicht.

„Nichts weiter. Ich finde, dass dein Plan vernünftig klingt. Wann willst du starten?“ Ohne mir Honig um den Mund zu schmieren, antwortete Didi und ich war ihm dankbar dafür.

„Donnerstag setze ich mich in den Zug.“

„Gleich morgens?“

„Ja, ich nehme um kurz nach Neun die Bahn. Die erste, die ich mit dem Schleswig-Holstein-Ticket nehmen darf.“ Ich hatte mein Vorhaben bereits durchdacht und die Eckdaten abgecheckt.

„Wie lange willst du bleiben?“ Eine Frage nach der anderen verließ Didis Mund.

„Ich hoffe, dass ich schnell wieder von der Insel kann. Mir ist schon ganz mulmig, wenn ich nur daran denke dort zu sein.“ In diesem Moment spürte ich einen kleinen Schauer und entdeckte Gänsehaut auf meinen Armen.

„Das verstehe ich, aber du wirst es schaffen.“ Endlich begleitete ein Mut machendes Lächeln Didis Worte.

„Logisch. Ich bin doch schon groß.“, ich lachte und wusste dabei ganz genau, dass meine Angst ab jetzt von Tag zu Tag ansteigen würde.

„Willst du noch einen Kaffee?“ Mein Freund war während seiner Frage bereits aufgestanden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739485348
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Meer Träume Liebesroman Freundschaft Fernweh Sylt Urlaub Strand Leben Insel Roman Abenteuer Humor

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram lebt in Schleswig-Holstein, und Sylt ist längst zu seiner zweiten Heimat geworden. Genau deshalb spielen die meisten seiner Romane auf dieser Insel. Das Schreiben ist längst nicht "nur" sein Hobby und so erfüllt er sich einen Lebenstraum als Autor.
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Titel: Sylter Schmetterlingslachen