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Lina

Großes Herz & kleine Füße

von Ben Bertram (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

Das Leben ist spannend. Kinder erleben Dinge, die für Erwachsene ganz normal sind. Doch mit Kinderaugen und Kinderohren, erscheinen sie ganz anders. Gemeinsam mit ihrem Vater erlebt sie Abenteuer und erkennt, wie wichtig Freunde sind. Auch ihre besten Freundin Emmy ist dabei und gemeinsam wird jedes Problem gelöst. Kommt mit und begleitet Lina durch ihre Kinderwelt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Linas großer Urlaub



Ferien sind einfach cool.

Vor allem dann, wenn auch noch die beste Freundin zur gleichen Zeit ihre Ferien in Hamburg verbringt. Drei lange Wochen hatten Emmi und Lina großen Spaß. Gemeinsam wurde Eis gegessen, Fahrrad gefahren und auf der Kükeninsel gespielt. Wasserschlachten waren ebenfalls an der Tagesordnung, da der Sommer in Hamburg in diesem Jahr ein richtig toller Sommer war.



Viel zu schnell vergingen die ersten drei Ferienwochen und auch, wenn Lina sich total auf den Urlaub mit ihren Eltern freute, war sie etwas traurig. Immerhin konnte sie Emmi jetzt für zwei Wochen nicht sehen.

Während Emmi sich mit ihren Eltern im Wohnmobil auf die Reise machte, ging es für Lina mit dem Flugzeug in den Süden.

Zwei Wochen war Badeurlaub angesagt, und Lina konnte es kaum erwarten, mit ihrem Papa in den Wellen zu toben.

Nur ein Foto durfte ihr Vater in diesem Jahr nicht von ihr machen. Zumindest keins, auf dem sie im flachen Wasser stand und in die Kamera gucken musste.

Beim letzten Urlaub tat sie es nämlich, und als ihr Papa auf den Auslöser der Kamera drückte, war von Lina plötzlich nichts mehr zu sehen.

Eine riesige Welle hatte sie erwischt. Nachdem sie zunächst viel Wasser geschluckt hatte, wurde sie an das Ufer gespült und hatte vor Schreck geweint. Gemein an der Sache war allerdings, dass ihr Vater gelacht hatte, anstatt ihr zu helfen.

Nein, Wellenfotos waren in diesem Jahr absolut tabu.



Nachdem sie in Hamburg gestartet waren, landete das Flugzeug ungefähr drei Stunden später am Urlaubsort.

Auf ihrem Schoss hatte Lina ihren kleinen Rucksack, in dem sie - neben Teddy und ihrem Kuschelkissen - auch ihre drei Lieblingsketten verstaut hatte. Ohne diese Dinge wäre ein Urlaub kein richtiger Urlaub. Das Kissen und ihren Teddy brauchte Lina zum Schlafen und die Ketten waren dafür gedacht, sie am Abend umzunehmen, wenn sie in die Mini-Disco gehen wollte.

Puh, war es heiß. Innerhalb von wenigen Sekunden waren Lina und ihre Eltern total nass geschwitzt. Zum Glück dauerte es noch ein paar Minuten, bevor der Bus, der sie zu ihrer Ferienanlage bringen sollte, starten würde.

An einem Stand mit frischem Obst und kalten Getränken wurde zunächst ein Stück Melone gegessen und sich dann für die Busfahrt mit Getränken eingedeckt.



Die Fahrt zur Ferienanlage dauerte zum Glück nur fünfundvierzig Minuten, und wenn der Bus nicht so häufig an anderen Hotels gehalten hätte, wären sie noch sehr viel schneller dort gewesen.

Lina saß neben ihrem Papa und war ganz schön müde, da sie heute Morgen sehr früh aufgestanden war.

„Papi, gibst du mir Teddy und mein Kissen?“

„Das lohnt sich doch gar nicht mehr. Wir sind gleich da.“

„Bitte, Papi.“

Als Linas Vater sich umsah, konnte er den kleinen Rucksack nicht sehen. Auch Linas Mutter konnte ihn nicht finden und zuckte fragend mit den Schultern.

„Bekomme ich nun Teddy?“ Lina war bereits im Halbschlaf, als sie die Frage stellte.

„Wo hast du Deinen Rucksack hingestellt?“ Statt eine Antwort von seiner Tochter zu bekommen, musste Linas Papa mit ansehen, wie seine kleine Maus in Tränen ausbrach.



Erst als der Bus bereits an der Ferienanlage angehalten hatte und die Koffer neben dem Bus standen, bekam Linas Vater eine Antwort.

„Den habe ich bestimmt am Getränkestand vergessen.“ Wieder brach Lina in Tränen aus.

Ein Blick von Linas Vater genügte und Linas Mutter wusste, was zu tun war. Während die Koffer in die Ferienwohnung gebracht wurden, ging sie Hand in Hand mit Lina zum Eistresen, der sich in der Eingangshalle befand.

„Wo ist Papa?“

„Der kommt gleich wieder. Papa muss nur schnell etwas regeln.“



Der Bus fuhr wieder los.

Da die Ferienanlage von Lina und ihren Eltern die Letzte auf der Tour war, ging es für den Busfahrer direkt von hier zurück zum Flughafen.

Auf dem Sitz, der sich direkt hinter dem Busfahrer befand, saß Linas Vater und hoffte, dass der Rucksack noch immer am Getränkestand stehen würde.

Natürlich war die Chance nur sehr gering, aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

Ruckzuck waren sie am Flughafen. Die Fahrt ging, ohne die Zwischenstopps an den Hotels, sehr schnell, und nachdem sich Linas Vater von dem Busfahrer verabschiedet hatte, lief er direkt zum Getränkestand.

Es war kein Rucksack zu sehen. Weder vor noch neben dem Stand, konnte Linas Vater den Rucksack entdecken.

Doch es gab noch eine Möglichkeit. Vielleicht wurden Linas Sachen ja gefunden und abgegeben.

Leider hatte der freundliche Verkäufer Linas Sachen nicht hinter seinem Tresen liegen.

Enttäuscht wollte sich Linas Vater gerade auf den Weg zu einem Taxi machen, als jemand hinter ihm herlief und rief,

„Warten Sie. Hallo, bitte warten Sie doch.“ Eine Frau kam hinter ihm her und fuchtelte mit ihren Armen.

„Da hinten ist eine Art Fundbüro. Schauen Sie mal dort nach.“ Noch bevor Linas Vater sich bedanken konnte, war die junge Frau schon wieder im Getümmel verschwunden.“



Als das Taxi die große Auffahrt zur Ferienanlage hinauf fuhr, stand Lina bereits mit ihrer Mama an der Hand am Eingang und wartete.

„Lag mein Rucksack am Getränkestand?“ Aufgeregt stellte Lina die Frage und sah ihren Vater erwartungsvoll an, als er aus dem Taxi stieg.

„Nein. Am Getränkestand war nichts zu finden.“ Enttäuscht sah Lina erst ihren Vater und anschließend ihre Mutter an.

Während Linas Vater seine linke Hand hinter seinem Rücken hervorzauberte, sagte er freudig und laut:

„Aber im Fundbüro habe ich ihn bekommen.“ Strahlend und glücklich sprang Lina auf Papas Arme.

„Papili, du bist der beste Papa der Welt!“

Nachdem Lina den Rucksack überprüft und erkannt hatte, dass noch alles da war, stand einem tollen Urlaub nichts mehr im Weg.



„Es ist gut zu wissen, dass man sich stets auf den besten Papa der Welt verlassen kann.“ Stolz sagte Linas Papa diese Worte. Allerdings leise und nur zu sich selbst.



Linas Papa sagt komische Sachen



Lina war schon sehr verwundert, als sie dabei war, den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen. Ihre Spiele hatte sie bereits an der langen Wand ihres Zimmers übereinandergestapelt. Der Turm aus Spielen war zwar ziemlich krumm, aber er stand. Stolz sah sie ihn an und war sich sehr sicher, dass ihr Papa sich darüber freuen würde.

Immerhin hatte sie die großen Kartons nach ganz unten gepackt und dann die anderen, kleineren Spiele darauf gestellt.

Neben den Spielen gab es einen weiteren Stapel. Alle CDs waren dort aufgetürmt und nach Hörspielen geordnet.

Toll fand Lina die Idee von ihrem Vater allerdings nicht. Wenn sie jetzt ein Hörspiel der „Wilden Hühner“ hören wollte, musste sie die CD mitten aus diesem Turm herausziehen. Beim ersten Versuch war der CD-Turm sogar umgekippt. Was allerdings ein noch sehr viel schwierigeres Problem darstellte, war es, wenn Lina die CD wieder in den Stapel zurücklegen wollte.

Sie musste alle CDs, die über den „Wilden Hühnern“ lagen, herunternehmen, die CD an ihren Platz legen und alle anderen wieder darauf stellen.

Aber vielleicht hatte Lina auch nur noch nicht den einfachen Trick entdeckt. Ganz bestimmt gab es eine bessere Möglichkeit. Warum hätte ihr Papa es sonst so von ihr verlangen sollen?



Lina nahm sich fest vor, ihren Vater heute Abend danach zu fragen, und damit sie es nicht vergessen würde, schrieb sie es auch gleich auf einen Zettel.

Auf dem Zettel hatte sie schon eine andere Frage notiert.

Schließlich hatte ihr Vater gesagt, dass sie alle ihre Schuhe vor das Bett stellen sollte. Doch jetzt konnte sie nur noch über Umwege in ihr Bettchen krabbeln. So richtig praktisch fand sie es nicht.

Okay, Lina hatte zwar eingesehen, dass es nicht toll von ihr war, fünf Paar Schuhe in die Küche zu stellen. Aber immerhin waren sie in der Küche nicht so doll im Weg wie jetzt vor ihrem Bett.



Zum dritten Mal fiel dieser blöde T-Shirt-Stapel nun schon um. Was Lina wirklich ärgerte, war allerdings noch viel mehr, dass sie nicht schuld daran war. Ohne, dass sie gegen den Stapel gekommen war, kippte er einfach zur Seite. Sie musste ihn nicht nur immer wieder aufbauen, sondern auch mindesten drei dieser verflixten T-Shirts immer wieder zusammenlegen.

Eine völlig überflüssige Arbeit und außerdem auch eine Arbeit, die nur sie machen musste. Die Klamotten ihrer Eltern lagen nämlich noch immer im Kleiderschrank, und Lina vermutete, dass sie dort auch liegenbleiben würden.



Gespannt war Lina auch auf die Antwort von ihrem Papa, was mit ihren Jacken passieren sollte.

Von der gemeinsamen Garderobe im Flur sollte sie die Jacken entfernen. Aber warum ihr Vater, nachdem sie gefragt hatte, wohin sie die Jacken legen sollte, gesagt hatte, dass sie die Jacken auf ihrem Bett ausbreiten sollte, verstand sie noch immer nicht.

„Voll unpraktisch“, hatte sie gedacht, es aber nicht gewagt zu sagen. Schließlich wirkte ihr Vater etwas genervt, und Lina wusste nur zu gut, wann sie lieber den Mund halten sollte.



Lina sah sich in ihrem Zimmer um, und so richtig gut gefiel es ihr nicht, was sie dort sah. Überall waren Stapel verteilt. Neben den T-Shirts gab den Hosenstapel, der etwas schräg stand und nur noch hielt, weil er an den Stapel der Pullis angelehnt war.

Das ganze Zimmer war voll, und eine Aufgabe hatte sie noch zu erledigen.

Ihr Blick ging weiter durchs Zimmer, und in ihrem Kopf grübelte sie, wo um Himmelswillen sie ihre gesamte Playmobilsammlung aufbauen konnte.

Viel Platz war nicht mehr und so entschied sie sich dafür, das Playmobil-Hotel, den Reiterhof und den Zoo im Zickzack um die Stapel aus Klamotten und CDs herumzubauen.

Mit einem lauten Scheppern flog der Turm aus CDs um. Die eine Hälfte lag im Zimmer verteilt auf dem Fußboden, während Lina dabei war, unter der anderen Hälfte herauszukrabbeln.

Nicht nur, dass sie diesen blöden Stapel jetzt noch mal aufbauen musste. Nein, Lina konnte die ganzen blöden CDs auch wieder neu sortieren. Außerdem tat ihr Knie weh, da sie dort am dollsten von den dämlichen Dingern getroffen wurde. Garantiert bekam sie jetzt auch noch einen blauen Fleck, auf dem ihre Mutter wieder aus Spaß an der Freude herumdrücken würde.

Lenny würde auch fragen, woher sie den blauen Fleck hatte. Was sollte sie ihm denn bloß als Antwort geben? Ganz sicher konnte sie ihm nicht die Wahrheit sagen. Er würde sie doch für einen Dussel halten, wenn sie zugeben würde, dass sie von einem CD-Stapel begraben worden war.



Schuld an allem war Papa, und als sie auf die Uhr sah, erkannte sie, dass ihr Papa in einer halben Stunde wieder zurück sein würde.

Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen, da ihre Playmobilsammlung noch immer in den Kisten im Schrank verstaut war und sie den Auftrag hatte, alles in ihrem Kinderzimmer aufzubauen.

Als Lina den Schlüssel hörte und jemand dabei war, die Wohnungstür aufzuschließen, war sie nervös. Immerhin war sie mit dem Aufbau noch nicht ganz fertig.

Zum Glück war es Mama.



Als Linas Mutter das Kinderzimmer betrat, sah sie sich verwundert um und überlegte, ob sie lachen oder doch lieber weinen sollte.

„Wie sieht es denn hier aus?“

„Magst du es? Ich bin fast fertig. Papa ist bestimmt ganz doll stolz auf mich.“ Freudig lachend saß Lina in dem Chaos, das sie in den letzten zwei Stunden angerichtet hatte.

„Was hast du denn gemacht?“ Eigentlich hätte Linas Mutter sprachlos sein müssen. Doch ihre Neugier war größer.

„Papa wollte es so.“ Achselzuckend antwortete Lina ihrer Mutter.

„Findest du es toll?“ Linas Mama musste einfach nachhaken.

„Nein. Ich finde es voll unpraktisch. Aber jetzt muss ich schnell weitermachen. Ich brauch nur noch den Zoo aus dem Schrank zu nehmen und aufzubauen. Dann bin ich fertig, und Papa kann sich freuen, dass ich alles geschafft habe.“



Linas Mama verließ wieder das Zimmer, um sich in der Küche einen Kaffee zu kochen.

Als Lina einige Minuten später zu ihrer Mutter in die Küche kam, griff sie nach ihrer Hand.

„Komm mit, Mama. Ich bin fertig, und du musst mir sagen, wie du es findest.“

Am Eingang vom Kinderzimmer blieben sie stehen.

Lina hielt ihre Mama vom Betreten des Zimmers ab. Sie hatte Angst, dass etwas umkippte, falls sie gemeinsam in das Zimmer gehen würden.

Allerdings wäre es auch gar nicht möglich gewesen, das Zimmer zu zweit zu betreten. Es war einfach zu voll.

Alle Sachen von Lina waren im Zimmer verteilt. Es war nicht möglich, einen Fuß vor den anderen zu stellen.

Es gab nur noch einen Platz im Kinderzimmer, an dem man sich bewegen konnte. Der große und leere Wandschrank stand mit geöffneten Türen in der Ecke vom Zimmer und wunderte sich, falls sich Schränke überhaupt wundern können, darüber, dass alle Sachen, die eben noch in ihm lagen, jetzt überall verteilt waren.

„Ob Papa sich sehr freut?“

„Ganz bestimmt – ich bin mir sicher.“ Nach ihrer Antwort konnte Linas Mutter ihr Lachen nicht mehr verbergen.

„Mama, warum lachst du so doll?“

„Mir ist einfach danach. Ich glaube, das soll dir lieber Papa nachher erzählen. Komm Lina, wir gehen ins Wohnzimmer und gucken Fernsehen.“

„Jetzt schon?“

„Was willst du sonst machen? In deinem Zimmer kannst du ja schließlich nicht spielen.“



Mit einem Kakao und Keksen saßen Papas Mädels vor dem Fernseher, als sie die Wohnungstür hörten.

„Hallo, ihr Süßen. Was macht ihr denn?“ Linas Vater war zurück.

„Wir schauen uns einen Film an. Mama hat es erlaubt.“

„Um diese Uhrzeit?“ Erstaunt sah Linas Vater auf die Uhr.



Nachdem er sich die Jacke ausgezogen hatte, schnappte sich Lina die Hand ihres Vaters und ging mit ihm in die Richtung des Kinderzimmers.

„Bekomme keinen Schreck“, hörte er seine Frau, begleitet von lautem Lachen, rufen.

Sprachlos sah Linas Papa in das Kinderzimmer hinein.

„Bist du stolz auf mich? Ich habe alles gemacht, was du gesagt hast.“

„Was ich gesagt habe?“ Zu mehr kam Linas Vater nicht. Ihre Mama stand bei den beiden und sagte:

„Komm, Lina, wir schauen uns weiter den Film an. Dein Papa hat jetzt etwas zu erledigen.“

Lina saß schon wieder im Wohnzimmer, als ihre Mutter lachend zu ihrem Vater sagte:

„Deine Tochter hat alles gemacht, was du von ihr verlangt hast. Aber ich glaube, dass Lina noch etwas zu klein ist, um Ironie zu verstehen. Dann leg mal los und beseitige das Chaos. Falls du uns suchen solltest, wir sind im Wohnzimmer.“

Lachend ging Linas Mutter zu ihrer Tochter zurück.



Als die beiden erst ein lautes Scheppern und anschließend ein noch lauteres Fluchen hörten, wussten sie, dass gerade der CD-Stapel umgekippt war.

Dann hörten sie eine Stimme:

„Manchmal ist der direkte Weg vielleicht der bessere.“



Lina will Prinzessin werden



Und Lina wusste auch ganz genau, warum!

Auch ihre Freundinnen wollten es. Aber das war gar nicht der Grund dafür, warum Lina seit heute ebenfalls dieses Ziel hatte.

Bisher wollte sie immer Tierpflegerin oder vielleicht auch Ärztin werden. Ärztin aber nur, wenn sie dabei kein Blut sehen musste. Spritzen wollte sie auch nicht geben, und seitdem sie neulich geimpft wurde, war sie sich auch sicher, dass sie niemals jemand anderem eine Impfung geben könnte. Daher hatte sich ihr Plan geändert.

Schuld war Frau Moritz, als sie Lina die Mathearbeit zurückgeben hatte. Fünf von fünfundzwanzig möglichen Punkten hatte Lina nur erreicht.

Zunächst fand sie es gar nicht so schlimm. Immerhin konnte es jedem passieren, dass man eine Mathearbeit so richtig versemmelte.

Aber, dass Frau Moritz eine Unterschrift von Linas Eltern auf der Mathearbeit haben wollte, fand Lina nun wirklich sehr gemein und nicht wirklich nötig.



Heute hätte Lina die unterschriebene Arbeit wieder abgeben müssen. Leider hatte sie es jedoch versäumt, ihren Eltern an den letzten drei Tagen die Arbeit zu zeigen.

Um ehrlich zu sein, hatte sie etwas Angst davor, Ärger von ihren Eltern zu bekommen, und so lag die Arbeit noch immer gut verstaut im Schulranzen.

„Aber morgen bringst du die Arbeit mit.“ Es war keine Bitte von Frau Moritz. Sie sprach in einem energischen Ton, der Lina etwas Angst machte.

Der Schultag war für Lina ab diesem Moment gelaufen. Sie hatte nur noch einen Gedanken im Kopf. „Wie kann ich Papa am besten von der Arbeit erzählen?“ Immer wieder kreisten diese Worte durch ihren Kopf, und als die Schule endlich beendet war, hatte sie noch immer keinen wirklich tollen Plan.



Als sie mit Emmi an der Bushaltestelle saß, hatten die beiden Freundinnen eine Idee. Wer zuerst darauf gekommen war? Sie wussten es nicht mehr.

Nebeneinander setzten sie sich ins Gras, und jede hatte ein Schreibheft auf ihrem Schoß. Immer wieder versuchten sich die beiden Freundinnen daran, die Unterschrift von Linas Papa nachzumachen.

Doch es gelang einfach nicht.

„Das ist eine blöde Idee“, sagte Lina irgendwann. Dann sah sie Emmi an und sagte:

„Wir bekommen das sowieso nicht hin. Außerdem ist es doch irgendwie wie lügen. Mein Papa und ich haben aber abgemacht, dass wir uns immer die Wahrheit sagen wollen.“

„Genau wie mein Papa und ich.“ Emmis Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

„Und was mache ich jetzt?“

„Deinem Papa die Mathearbeit zeigen.“

„Okay. Dann mach ich mich mal auf den Weg.“



Dass Lina keine Angst vor ihrem Vater zu haben brauchte, wusste sie eigentlich. Bisher hatten sie stets zusammen für alles eine Lösung gefunden.

Doch heute hatte sie nicht nur wegen der Arbeit ein schlechtes Gewissen. Nein, das schlechte Gewissen war viel stärker, da sie bereits vor drei Tagen diesen blöden Mathetest hätte unterschreiben lassen müssen.

Ihr Papa saß an seinem Schreibtisch und arbeitete, als Lina das Wohnzimmer betrat.

„Hallo, Papa.“

„Hallo, Kleine. Wie war es in der Schule?“

„Gut. Was machst Du?“

„Ich bin fleißig.“

„Das sieht toll aus, was du da gerade machst.“ Lina sagte diesen Satz, obwohl nichts offensichtlich Tolles zu erkennen war.

„Danke.“

„Du machst sowieso immer alles ganz toll.“

„Findest Du?“ Es fiel Linas Papa schwer, in diesem Moment ernst zu bleiben. Dass irgendetwas los war, hatte er längst bemerkt.

„Ja. Außerdem bist du der beste Papa der Welt.“

Linas Papa lächelte. Allerdings nicht wegen des Kompliments seiner Tochter, sondern weil er wusste, was jetzt kommen würde.

Er kannte seine kleine Maus sehr gut und war schon ganz gespannt darauf, wann sie mit ihrer Beichte beginnen würde.

Doch Lina druckste weiter herum.

„Gib her, Lina.“ Linas Vater wollte seine Tochter erlösen.

„Was soll ich dir geben?“

„Deinen Mathetest, den du schon seit ein paar Tagen vor mir versteckst. Ist er so schlecht geworden?“ Ohne wütend zu werden, sah Linas Papa seine kleine Maus an.

„Woher weißt Du das?“ Lina war erstaunt.

„Väter wissen alles.“ Mehr sagte Linas Papa nicht. Er drehte sich wieder zum Computer. Allerdings nicht, um zu arbeiten. Lina sollte nur sein Grinsen nicht erkennen.



Mit der Mathearbeit in der Hand und einem ganz schlechten Gewissen stand Lina einen kurzen Augenblick später erneut am Schreibtisch ihres Vaters.

„Nun gib schon her“, sagte ihr Vater und streckte seinen Arm aus.

Nur kurz überflog er den Test. Anschließend griff er nach seinem Kugelschreiber und setzte seine Unterschrift darunter.

Als Lina den Mathetest wieder in ihren Händen hielt, blieb sie bei ihrem Vater stehen und sah ihn erwartungsvoll an.

„Muss ich noch etwas unterschreiben?“ Fragend sah Linas Papa seine Tochter an.

„Nein.“

„Auf was wartest du dann?“

„Bekomme ich keinen Ärger?“

„Höchstens dafür, dass du mir die Arbeit erst jetzt zeigst.“

„Es tut mir leid.“

„Alles gut.. Aber ab morgen müssen wir dann wohl zweimal in der Woche Mathe üben.“



Nachdem Lina die Arbeit wieder im Schulranzen verstaut hatte, saß sie in ihrem Zimmer und überlegte.

Nach zehn Minuten stand sie auf und ging zurück zu ihrem Vater ins Wohnzimmer.

„Papa, wir müssen nicht Mathe üben.“

„Warum nicht?“ Linas Papa sah seine Tochter erstaunt an.

„Weil ich eine Prinzessin werden möchte. Eine Prinzessin braucht nicht zu rechnen. Die hat dafür ihre Angestellte.“

„Okay.“ Mehr sagte Linas Vater nicht. Stattdessen drehte er sich zu seinem Schreibtisch und arbeitete weiter.



Eine Viertelstunde später rief Lina aus ihrem Zimmer,

„Papa, ich gehe auf die Kükeninsel.“

„Aber nicht auf den Rasen setzen“, bekam sie als Antwort zu hören.

„Warum nicht?“

„Eine Prinzessin macht so was nicht.“

Das Telefon klingelte und Linas Vater konnte hören, dass Emmi am Apparat war.

„Papa darf ich mit Emmi und den anderen eine Wasserschlacht machen?“

„Nein Lina. Eine Prinzessin darf keine Wasserschlacht machen. Dabei kann man schmutzige Fingernägel bekommen und mit schmutzigen Nägeln dürfen nur normale Kinder herumlaufen.“ Linas Vater war stolz darauf, dass er nicht zu lachen begann.

„Aber die Jungs sind doch auch da.“

„Mit Jungs darf eine Prinzessin sowieso nicht spielen. Sie bekommt später einen Prinzen, den ihre Eltern für sie aussuchen.“

Lina sah ihren Vater erstaunt an. Sagte dann aber zu Emmi, dass sie heute nicht bei der Wasserschlacht mitmachen wollte.



Fünfzehn Minuten später stand Linas Vater auf und ging ins Kinderzimmer. Lina lag auf dem Bett und hörte sich ein Hörspiel der „Wilden Hühner“ an.

„Hier, kleine Maus. Gib den Brief morgen bitte Frau Moritz.“

Lina sah auf ihre Hand, in der sie den zusammengefalteten Zettel hielt, den sie eben von ihrem Vater bekommen hatte.

Anstatt den Zettel in ihrem Schulranzen zu verstauen, öffnete sie diesen und las nun schon zum zweiten Mal, was ihr Vater geschrieben hatte.

Liebe Frau Moritz,

leider kann Lina ab der nächsten Woche nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen.

Auch für das große Fußballturnier am Freitag möchte ich Lina hiermit entschuldigen.

Lina weiß jetzt, was sie später werden möchte. Sie möchte Prinzessin werden.

Da jeder weiß, welch schwerer Beruf dies ist, möchten wir ab heute mit der Vorbereitung dazu beginnen.

Einer Prinzessin ist es verboten, mit Jungs zu spielen, da sie später einen Prinzen heiraten muss, den andere für sie aussuchen. Außerdem darf sich eine Prinzessin keine Schrammen und Kratzer an den Knien holen. Es würde nicht gut aussehen, wenn sie bei Empfängen mit zerkratzen Beinen zu sehen wäre.

Bitte haben Sie Verständnis.

Liebe Grüße



Nachdem Lina diesen Brief zum dritten Mal gelesen hatte, ging sie erneut zu ihrem Papa.

„Muss ich diesen Brief wirklich abgeben?“

„Wenn du eine Prinzessin werden möchtest, schon.“

Lina überlegte. Aber nur ganz kurz. Dann sagte sie,

„Ich werde doch lieber Tierpflegerin oder Ärztin. Können wir morgen mit dem Üben für Mathe anfangen? Ich flitze jetzt zu Emmi und den Jungs zur Kükeninsel.“

„Ja, morgen ist ein guter Tag dafür.“



Grinsend sah Linas Papa aus dem Fenster und konnte erkennen, mit welcher Freude seine Tochter zu Kükeninsel lief.



„Manchmal reicht es, einfach auf den Prinzen zu pfeifen und dafür das Pferd zunehmen.“ Laut sprach Linas Vater diesen Satz und lachte dabei.



Lina macht Cappuccino



Auch Lina wurde nicht als Schulkind geboren.

Nein, sie war natürlich vorher ein kleines Mädchen und hatte super viel Spaß im Kindergarten.

Wie alle kleinen Kinder hat sie es geliebt, in der Sandkiste mit Baggermatsch zu spielen, und sah natürlich anschließend wie eine kleine Suddelsau aus.

Am schlimmsten natürlich an den Tagen, an denen noch wichtige Termine stattfinden sollten.

Immer, wenn ihr Papa es eilig hatte, und mit ihr direkt nach dem Kindergarten irgendwo hin musste, sah er eine kleine verdreckte Maus an der Eingangstür vom Kindergarten stehen.

Auch heute ahnte er schon das Schlimmste, als er auf dem Weg war, um Lina abzuholen.

Obwohl er Lina heute Morgen extra gesagt hatte, dass sie nachmittags noch zum Kinderarzt mussten, glaubte er nicht daran, seine kleine Maus in sauberen Klamotten vorzufinden.

Immerhin war heute tolles Wetter und Lina hatte garantiert vergessen, dass der Arztbesuch anstand.



Doch Linas Papa hatte eine klasse Idee.

Er packte Wechselwäsche für seine Tochter ein. Als er fünf Minuten vor der eigentlichen Abholzeit im Kindergarten angekommen war, war er immer noch stolz auf seine Idee.

Natürlich suchte er seine Tochter zunächst in der Sandkiste. Doch da war sie nicht. Nachdem er den ganzen Außenbereich abgesucht hatte, kam Linas beste Freundin zu ihm und sagte:

„Suchst du Lina?“

„Ja. Weißt du, wo sie ist?“ Erleichtert sah Lina Vater das kleine Mädchen an.

„Klar.“ Mehr kam nicht.

„Sagst du es mir auch?“ Linas Papa musste lachen.

„Lina ist im Haus.“



Etwas verwundert machte sich Linas Vater auf den Weg ins Haus und begann dort seine Maus suchen.

Endlich fand er sie auf dem Dachboden, der als Werkstatt für die Kinder eingerichtet war.

„Hallo, kleine Maus.“

„Hallo, Papa. Darf ich das Bild noch schnell fertig malen?“ Ohne sich umzudrehen, sprach Lina zu ihrem Vater und wirkte sehr beschäftigt.

„Dafür haben wir keine Zeit. Du musst dich doch noch umziehen.“

„Warum muss ich mich umziehen?“

Erst jetzt sah Linas Vater, dass die Klamotten von Lina sauber waren und er sich seinen Satz hätte sparen können.

„Du bist ja gar nicht schmutzig.“

„Ich sollte vorsichtig sein. Du hast es mir heute Morgen doch extra gesagt.“

Stolz auf seine Tochter ging er mit ihr Hand in Hand zum Auto. Sie mussten sich beeilen, da der Termin beim Kinderarzt schon in zehn Minuten sein sollte.



Eine Stunde später waren die beiden fertig und saßen im Garten.

Ihr Vater las Zeitung, während Lina in der Sandkiste saß und dabei war, Kuchen zu backen.

„Papa, was für Kuchen möchtest Du?“ Ein fragender Blick erreichte Linas Vater.

„Apfelkuchen wäre cool.“

„Okay. Möchtest du Sahne auf dem Kuchen haben?“

„Na klar.“

Wenige Augenblicke später hielt Linas Papa eine Sandform in der Hand und musste den Kuchen essen.

„Du isst ja gar nicht richtig.“ Lina war enttäuscht.

„Wie soll ich denn richtig essen?“ Verwundert sah Linas Vater seine Tochter an.

„Ich habe dir doch extra einen Löffel neben den Gartenstuhl gelegt. Der liegt da noch immer.“

„Oh. Entschuldige bitte. Ich hatte ihn gar nicht gesehen.“ Linas Papa schnappte sich den Löffel und schon ging es los.

„Möchtest du auch noch ein Eis?“

„Bei diesem schönen Wetter möchte ich natürlich ein Eis.“ Mit einem kräftigen Nicken bekräftigte er seine Worte.

„Was für Kugeln?“

„Egal.“

„Egal ist Quatsch. Jeder möchte seine Lieblingskugeln essen.“ Da hatte die kleine Maus recht.

„Okay. Dann nehme ich Melone, Cappuccino und Orange.“

„Cappuccino habe ich nicht als Eis. Den trinkt man doch.“ Kopfschüttelnd sah Lina ihren Vater an und wartete auf seine Antwort.

„Dann nehme ich halt Schokolade.“

Mit einem anderen Sandförmchen kam Lina an der Liege an und gab ihrem Papa sein Eis. Während Linas Vater das Eis löffelte, saß seine Tochter wieder in der Sandkiste und spielte Bäcker.



Eine ganze Zeit später, hörte Linas Vater seine Tochter rufen.

„Papi, möchtest du auch einen Cappuccino?“

„Ein Cappuccino wäre jetzt richtig toll“, bekam Lina zur Antwort.

Vertieft in seine Zeitung saß Linas Vater im Gartenstuhl. Dass es schon seit einigen Minuten relativ ruhig im Garten war, hatte er gar nicht mitbekommen. Auch, dass er noch immer keinen aus Sand und Wasser gemischten Cappuccino in der Hand hielt, kam ihm jetzt gerade komisch vor.

Plötzlich wurde es laut. Es war ein Geräusch, das er kannte, aber in diesem Moment nicht zuordnen konnte.

Er sah zur Sandkiste, konnte seine Tochter aber nicht sehen.

Leicht irritiert, sah er sich im Garten um. Lina war verschwunden, und er hatte keine Idee, wo seine kleine Maus wohl stecken könnte.

Dann nahm er wieder dieses laute Geräusch wahr. Linas Vater sah sich um und plötzlich erkannte er das Geräusch.

Der Sprung über den Liegestuhl war kein Problem. Leider stand auf der anderen Seite noch immer die Sandform mit dem leckeren Eis auf dem Boden. Genau darauf landete Linas Vater und lag, da er das Gleichgewicht verloren hatte, der Länge nach auf dem Rasen.

Doch das Geräusch war noch immer zu hören.

Schnell rappelte er sich auf und lief über die Terrasse in die Küche.

Gerade noch rechtzeitig konnte er Lina zur Seite nehmen. Einige Sekunden später schoss der heiße Milchschaum genau in die Richtung, in der Lina eben noch gestanden hatte. Sie hatte vergessen, den Schlauch für den Milchschaum, in den Becher zu stecken.



Die ganze Küche war voller Schaum, der sich langsam wieder zurück in die flüssige Variante von Milch auflöste.

Aber es war Linas Vater egal. Den Dreck konnte man wieder wegwischen. Er war nur froh, dass seiner Tochter nichts passiert war.

„Lina, was hast du denn gemacht?“ Verwirrt sah er seine Tochter an, die mit klebrigen Händen in der Küche stand.

„Du wolltest doch einen Cappuccino haben.“

„Aber doch einen aus Sand und Wasser. Genau, wie du auch den Kuchen und das Eis gemacht hast.“ Lina sah ihren Vater erstaunt an.

„Aus Baggermatsch gibt es doch aber nur Kuchen und Eis.“

„Tatsächlich? Das habe ich nicht gewusst.“ Entschuldigend hob Linas Papa seine Hände und verkniff sich ein Lachen.

„Aber so was weiß doch jedes kleine Kind.“

„Da habe ich jetzt wohl etwas dazugelernt.“



Während Lina nun wieder in der Sandkiste saß und dabei war, für ihren Vater einen Kuchen zu backen, musste ihr Vater schmunzeln.

Er stand in der Küche und putzte.

„Da habe ich heute wohl etwas gelernt“, sagte er leise zu sich selbst, und sprach anschließend weiter:

„Cappuccino gibt es also nur als echtes Getränk.“

Und genau einen solchen machte er sich jetzt auch. Den hatte er sich verdient. Dazu gab es sogar Kuchen. Natürlich Selbstgemachten von Lina.



„Manchmal können wir Erwachsenen von Kindern wirklich noch etwas lernen.“ Während Linas Papa sprach, sah er seine Tochter voller Stolz an.



Linas erste Schuldisco



Schon die ganze Woche gab es in den Pausen nur ein Thema – die Schuldisco am Freitag.

Es war aber nicht nur einfach irgendeine Schuldisco, es war die erste, an der Lina und Emmi teilnehmen durften.

Endlich waren sie alt genug, um zusammen mit ihren anderen Klassenkameraden am Freitagabend in die Schule zu gehen und zu feiern.



Seit Tagen lief immer wieder die gleiche CD in Linas Musikanlage, und obwohl die Zimmertür geschlossen war, waren die Lieder nicht zu überhören. Ganz sicher kannten, neben Lina und ihren Eltern, auch sämtliche Nachbarn die CD längst auswendig.



Doch an die Musik hatten sich die Erwachsenen längst gewöhnt.

Nicht gewöhnen wollte sich Linas Papa jedoch an die Frage, ob Lina sich am Freitag auch schminken durfte.

Klar hatte er nichts gegen etwas Nagellack, und gegen einen leicht schimmernden Lippenstift war auch nichts einzuwenden.

Doch musste es mehr sein? War seine kleine Prinzessin nicht noch viel zu klein, um mit Lidschatten und anderen Kosmetikartikeln im Gesicht durch die Gegend zu laufen?

Würde es nicht noch früh genug kommen?

Ob Linas Vater Angst davor hatte, dass seine kleine Prinzessin langsam dabei war, Flügel zu bekommen, oder ob es irgendetwas anderes war, was ihn davon abhielt, ihr die Erlaubnis zu geben?

Er wusste es nicht.



Jeden Tag, wenn Lina die Frage stellte, ob sie sich am Freitag auch schminken dürfte, bekam sie die gleiche Antwort.

„Das müssen wir doch heute noch nicht entscheiden“, war die Standardantwort. Natürlich wusste Linas Papa, dass er irgendwann eine Entscheidung treffen musste. Noch gestern Abend hatte er mit seiner Frau über das Thema gesprochen. Doch zu einer Lösung waren sie auch nach diesem Gespräch nicht gekommen.



Freudestrahlend kam Lina an diesem Freitag aus der Schule. Natürlich war Emmi bei ihr, und da Lina am dichtesten von allen an der Schule wohnte, waren noch zwei weitere Freundinnen mit dabei.

Endlich war der große Tag gekommen. Jetzt waren sie nicht mehr die kleinen Mädchen, die nicht an einer Schuldisco teilnehmen durften. Ab heute hatten sie einen weiteren großen Schritt gemacht. Es war einer der größten Tage in ihrem Leben. Von nun gab es andere kleine Mädchen, die sie darum beneideten, zur Schuldisco gehen zu dürfen.

Doch zunächst wurde die Vorratskammer geplündert. Jeweils mit einer vollen Schüssel Kellogs mit Milch marschierten die Mädels aus der Küche zurück in Linas Zimmer.

Die Zimmertür wurde geschlossen und die Musik voll aufgedreht.



Alles war gut. Lina und ihre Mädels hatten großen Spaß und auch Linas Papa ging es gut, da er sich darüber freute, dass seine Tochter ihren großen Abend vor sich hatte.

Zumindest war alles gut, bis Lina um halb sechs aus ihrem Zimmer kam. Sie hatte ihre Fingernägel bereits mit einem fast durchsichtigen Nagellack lackiert, und auch ihre Lippen schimmerten in einem ganz zarten Rosa.

Richtig schick sah sie aus, und noch ahnte ihr Papa nicht, welche Frage Lina ihm gleich stellen würde.

Er ahnte es nicht, obwohl er es hätte wissen müssen. Doch er hatte die Antwort auf Linas tägliche Frage nicht nur verschoben, sondern irgendwie auch komplett verdrängt.

„Du, Papa ... die anderen schminken sich jetzt. Darf ich es auch machen? Bitte!“

Auch wenn er eigentlich dagegen war - wie sollte Linas Papa, in diesem Moment und bei diesem herzzerreißenden Blick, dem Wunsch seiner Tochter widerstehen?

„Ja, darfst Du“, sagte er, obwohl er fand, dass sie schon ganz toll aussah, und kein weiteres Schminken notwendig war. Glücklich strahlte Lina bis über beide Ohren und lief zurück in ihr Zimmer.

Sogar die Musik war nun aus. Nur ab und zu konnte Linas Papa ein leises Kichern hören, und er hatte schon die schlimmsten Befürchtungen, wie sein kleines Mädchen gleich zur Schuldisco gehen könnte.



Kurz vor halb sieben öffnete sich die Tür vom Kinderzimmer. Die Schuldisco sollte in zehn Minuten beginnen, und die Mädchen mussten sich auf den Weg machen, damit sie nicht zu spät kämen.

Linas Papa erschrak, als das erste Mädchen, dessen Namen er gar nicht kannte, oder ihn bereits wieder vergessen hatte, im Wohnungsflur erschien.

„Wie schrecklich!“ Zum Glück dachte Linas Papa diese Worte nur und war sehr froh, sie nicht ausgesprochen zu haben. Immerhin ging es ihn ja nichts an. Außerdem hatte er dieses Mädchen schon häufig so rumlaufen sehen. Fast immer, wenn er Lina von der Schule abgeholt hatte, ging dieses Mädchen so an ihm vorbei.

Als das zweite Mädchen aus dem Kinderzimmer kam, stieg seine Angst noch weiter an. Das Mädchen sah aus, als wäre es in einen Tuschkasten gefallen und hätte anschließend versucht, die Farben gleichmäßig im Gesicht zu verteilen.

„Mist. Was habe ich nur getan?“, dachte Linas Vater. War es richtig, seiner Tochter das Schminken zu erlauben? Hätte er nicht auf sein Gefühl hören müssen und das Schminken untersagen sollen?

Doch jetzt war es zu spät dafür. Die Mädels waren fertig für ihren großen Abend, und Zeit für ein Abschminken wäre sowieso nicht mehr gewesen.

Dann kam Emmi um die Ecke. Sie war schon sehr viel dezenter geschminkt und sah ausgesprochen niedlich aus.

Doch eine fehlte noch.

Lina war noch immer nicht zu sehen, und die Neugier in ihrem Vater stieg von Sekunde zu Sekunde an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739425047
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juli)
Schlagworte
Schule Träume Kinder Vorlesen Geschichten Mädchen Lesen Erzälung Erzählungen Kurzgeschichten

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram ist das Schreibpseudonym eines waschechten Hamburger Jung. Am 14.05.1968 erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er seit vielen Jahren pflegt. Er lebt in seiner Lieblingsstadt Hamburg und verbringt viel Zeit auf der Insel Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Dort wird er, wenn sein Blick auf das Meer gerichtet ist, von vielen neuen Ideen und Eingebungen „überfallen“.
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Titel: Lina