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Leinen los!

Jake, Sylter Inselhund

von Ben Bertram (Autor:in)
140 Seiten
Reihe: Jake, Sylter Inselhund, Band 2

Zusammenfassung

Mit Vertrauen und Liebe haben wir etwas erreicht, wonach sich viele ein Leben lang sehnen. Mein Herrchen und ich sind Freunde geworden, und jeder neue Tag ist ein weiterer Teil unseres gemeinsamen Abenteuerfilms. Der Tag, die Sorge ist unser Motto, und ich muss zugeben, dass ich diese Art zu leben sehr genieße. Doch ich lebe nicht nur ins Blaue hinein. Auch wenn ein Leben auf Sylt dazu einlädt, versuche ich täglich, neue Ziele zu erreichen. Schließlich habe ich einen großen Nachholbedarf, da ich die ersten Monate meines Lebens wenig Gelegenheit dazu hatte. Als Straßenhund ging es ausschließlich ums Überleben. Darum, etwas Essbares zu finden und am nächsten Morgen wieder die Augen zu öffnen. Jetzt kann ich mir andere Ziele setzen und mache es mit großer Freude. Welche es sind? Ich möchte neue Spiele lernen, endlich wie ein richtiger Rüde pieschern und Hundefreunde haben. Allerdings gibt es auch noch meinen größten Traum. Ich möchte ohne Leine am Strand toben. Leinenlos sein und Ben beweisen, dass ich immer zu ihm zurückkommen werde. Ob ich meine Ziele erreiche und mein Traum realistisch ist? Begleitet mich doch einfach und seid dabei!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Erinnerungen





Manchmal fühle ich mich noch immer wie in einem Traum. Nein, ich habe das Gefühl, in einem falschen Film zu sein. Wo war dieser Horrorfilm abgeblieben? Mein Albtraum, in dem ich als Straßenhund so gelitten hatte? Versteht mich nicht falsch. Natürlich ist ein Leben ohne Tritte und Prügel sehr viel lebenswerter. Sich nicht mehr verstecken zu müssen und mit knurrendem Magen durch die Gegend zu schleichen, fehlte mir keinesfalls. Auch die nach mir geworfenen Steine und Beschimpfungen der Menschen, die fast noch mehr geschmerzt hatten, fehlten mir nicht.

Trotzdem war es so, dass ich mein Glück in einigen Momenten nicht wirklich fassen kann. Der Hundegott, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte ein Einsehen mit mir gehabt. Irgendjemand war der Meinung, dass ich genügend Leid erlebt hatte. Tatsächlich wurde ich dazu auserkoren, in einen neuen Lebensabschnitt springen zu dürfen. Falsch! Es war nicht einfach nur ein neuer Abschnitt.

Als dieser Typ mich bei meiner Pflegefamilie in Eckernförde besuchen kam, begann mein Leben erst richtig - zumindest mein neues Leben.

Es war der Moment, in dem der Horrorfilm geendet hatte und ich in einen Abenteuerfilm einsteigen durfte. Nur einsteigen? Nein, ich war als Besetzung für eine der beiden Hauptrollen auserkoren worden. Ich durfte die begehrte Rolle neben einem Menschen spielen. Wieder falsch! Nicht spielen, sondern leben.



Mein Abenteuer hatte gleich mehrere Namen. Ich hatte einen eigenen Menschen bekommen. Einen, der von diesem Tag an mein Herrchen war. Ben hieß dieser Kerl, und er schaffte es in kürzester Zeit, dass ich ihm mein Vertrauen schenkte. Warum es so war? Weil er mir ebenfalls bedingungslos vertraute. Er tat es, ohne mich wirklich zu kennen, was mir wahnsinnig imponierte. Aber nicht nur das. Ich bekam auch etwas anderes von meinem Herrchen. Mir wurde Liebe geschenkt. Auch wenn ich sie bis zu diesem Augenblick nicht gekannt hatte, genoss ich sie sofort. Diese Liebe ließ mich aufblühen. Meine Ängste verschwanden mit jedem Tag etwas mehr, und irgendwann war ich bereit dazu, selbst Liebe zu schenken. Ben hatte es verdient, meine Liebe zu bekommen. Wir waren nicht nur Hund und Herrchen. Nein, uns verband viel mehr. Ich durfte sein gleichberechtigter Freund sein, und jeder Tag begann mit einer Menge Vorfreude auf die schönen Dinge, die mich erwarteten. Nein! Auf die Sachen, die von UNS in Angriff genommen wurden.

Unser Abenteuerfilm war ein Blockbuster, und ich genoss ihn sehr. Nicht nur, weil er auf dem schönsten Fleckchen der Welt spielte und ich mich direkt am ersten Tag in die Insel Sylt verliebt hatte.



Erinnert ihr euch noch an die letzten Worte aus meiner ersten Story? An meine Träume und Wünsche, die ich gemeinsam mit Ben erreichen wollte?

Mit meinem neuen blauen Ball möchte ich gemeinsam mit Ben spielen. Auf drei Beinen zu pieschern, war mein großer Wunsch, und dann wurde es auch Zeit, endlich Hundefreundschaften zu schließen.

Allerdings hatte ich auch noch meinen größten Traum. Nur zu gerne wollte ich ohne Leine laufen. Zumindest am Strand. Dort, wo es die meisten anderen Hunde auch taten.

Ob sich meine Träume und Wünsche erfüllen? Ob ich meine Ziele erreiche? Und ob Ben und ich noch andere tolle Dinge erleben?

Ihr werdet es erfahren. Zwar noch nicht heute, allerdings schon ganz bald!



Genauso waren meine Worte, und ich kann euch versprechen, dass es ebenso spannend und lustig weitergeht.



Habt Freude mit meinen neuen Erlebnissen.



Begegnungen





In den letzten Tagen und Wochen hatte ich viele Begegnungen mit fremden Menschen und Hunden gehabt. Zum Glück musste ich dabei keinerlei negative Erfahrungen machen, was meinem Selbstbewusstsein natürlich sehr gut tat. Außerdem war es ein tolles Gefühl für mich, da ich so endlich begriff, dass nicht alle Menschen böse waren. Alle anderen Menschen außer Ben natürlich!

Von negativen Erlebnissen gab es in meinem Leben vor Sylt immerhin schon genug. Es waren so viele, wie andere Hunde sie vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht hatten. Nein, nicht falsch verstehen. Ich wünsche anderen Vierbeinern nichts Schlechtes. Allerdings war ich der Meinung, dass eine gerechtere Verteilung durchaus angebracht gewesen wäre. Bei der Verteilung aus dem Gülleeimer hatte ich damals leider viel zu laut und ohne es eigentlich auch zu wollen, HIER geschrien.

Dafür durfte ich jetzt aber auch etwas erleben, was ebenfalls nicht viele Hunde erfahren durften. Zumindest ging ich davon aus, und wenn es nicht so sein sollte, würde ich es allen anderen Hunden selbstverständlich von ganzem Herzen gönnen.

Ich hatte einen Menschen abbekommen. Allerdings nicht irgendeinen, sondern einen ganz besonderen. Schon damals bei unserer ersten Begegnung hatte er diese außergewöhnlichen Worte gewählt, die wir seit diesem Tage gemeinsam lebten. Auf die Frage meiner damaligen Pflegefamilie, ob er sich mit Hunden auskannte und bereits einen Hund gehabt hatte, war seine Antwort:

Nein ich hatte noch keinen Hund. Aber ich glaube zu wissen, dass alle Hunde Vertrauen und Liebe geschenkt bekommen möchten. Genau das möchte ich mit diesem kleinen Mann erleben; es ihm schenken.“

Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht mehr ganz genau weiß, ob es damals genau diese Worte waren. Dafür war ich in diesem, für mich großartigen Augenblick viel zu aufgeregt gewesen. Aber dieser Satz kommt der Aussage meines Herrchens ziemlich nahe. Die Worte „Vertrauen und Liebe schenken“ waren auf jeden Fall dabei, und ich weiß schon jetzt genau, dass sie uns ein Leben lang begleiten werden.

Damals? Irgendwie muss ich direkt über meinen Gedanken lachen. Immerhin war ich gerade mal wenige Wochen bei meinem Menschen. Allerdings waren wir bereits ein solch eingespieltes Team, das mir unsere gemeinsame Zeit schon sehr viel länger vorkommt. Nur noch selten denke ich an die Vergangenheit zurück, in der ich Ben noch nicht begleiten durfte. Ich war ein Straßenhund auf Zypern gewesen und kam, nachdem ich von einer Tierfreundin eingefangen wurde, nach Eckernförde.

Tja, und dann kam Ben.



Seit dem 31. Januar lebe ich mit meinem Menschen auf Sylt, darf die Sonnenseiten des Lebens kennenlernen und kann glücklich sein, ohne Angst haben zu müssen, dass mich mein altes Leben doch wieder einholt.



Gestern hatte es hier auf der Insel ein besonderes Fest gegeben. Die Biike sorgte jedes Jahr dafür, dass viele Menschen auf die Insel kamen und feierten. Es gab Fackelumzüge, Grünkohl wurde gegessen, und am Abend versammelten sich die Menschen am Feuer. An mehreren Orten auf Sylt wurden diese Feuer entzündet, und wahrscheinlich hatten alle einen Heidenspaß. Leider konnte ich den Spaß nicht selbst beurteilen, da Ben an diesem Tag einen großen Bogen um die Feierlichkeiten gemacht hatte. Zum Glück, da mir viele Menschen und laute Geräusche noch immer Angst machten.

Nächstes Jahr laufen wir beim Fackelumzug mit. Und wenn du magst, dann gehen wir sogar abends zum Feuer.“

Muss das sein? Okay, aber nur, wenn ich dann keine Angst mehr vor solchen Dingen habe.

Klar freute ich mich darüber, dass Ben mir auch solche besonderen Ereignisse auf Sylt zeigen wollte. Wenn ich jetzt jedoch daran dachte, dabei sein zu müssen, ging mir ganz schön der Stift. Bestimmt gab es hier auch andere tolle Ereignisse, an denen nicht gleich solche Menschenmassen teilnahmen.

Bereits einige Tage vorher war die Insel ziemlich voll geworden. Unzählige Urlauber waren angereist und hatten meinen bis dahin fast leeren Strand in ein Menschengewimmel verwandelt. Allerdings waren auch viele Hunde am Strand unterwegs, und ich sah häufig mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu ihnen hinüber. Natürlich freute ich mehr sehr, dass ich die Urlaubshunde beschnuppern konnte. Mich mit ihnen auszutauschen, machte mir viel Spaß, und häufig war ich ordentlich aufgeregt, wenn ein großer Hund auf mich zukam. Da ich Ben an meiner Seite hatte, stieg jedoch nie ein Angstgefühl in mir auf.

Mein weinendes Auge kam immer dann zum Vorschein, wenn ich die anderen Hunde toben und spielen sah. Klar tobte ich auch. Allerdings immer nur an dieser blöden Leine, ohne die mich Ben noch immer nicht laufen ließ. Zumindest am Strand hätte mein Herrchen es doch machen können? Was sollte dort passieren? Autos gab es hier doch schließlich keine.

Selbstverständlich erkannte Ben meinen traurigen Gesichtsausdruck immer sofort. Auch konnte ich seine Worte verstehen, die er mir fast immer sofort leise in meine kleinen Schlappohren flüsterte:

Ach Jake. Ich weiß, dass du auch gerne mit den Hunden toben möchtest. Dass du flitzen willst und dass es ohne Leine viel besser geht. Aber du musst mich auch ein wenig verstehen. Wir trainieren doch noch. Bald versuchen wir es mal ohne Leine.“ Meistens kniete er bei seinen Worten neben mir im Sand und strich dabei sanft über mein Fell.

Aber wann ist dieses bald? Hast du schon eine Idee? Leider hatte ich auf meine Fragen bisher keine Antworten bekommen. Doch ich bemühte mich, geduldig zu sein.



Wir hatten uns heute gerade auf den Weg zum Strand gemacht, und der Übergang an der Strandstraße lag bereits vor uns. Gleich würden wir die Promenade erreichen, und dann waren es nur noch einige Schritte und eine der coolen Holztreppen, die zwischen uns und dem Strand.

Natürlich mussten wir einen Zwischenstopp machen. Wie fast immer ging mein Herrchen auch heute auf diesen kleinen Aussichtspunkt und machte von dort aus ein Foto. Ein Foto? Nein, in jede Richtung schoss er ein Bild, damit er diese Fotos mit seinen Freunden teilen konnte. Nachdem er es endlich auf irgendwelchen Internetplattformen hochgeladen hatte, ging es weiter. Zügig liefen wir die Treppe hinab und waren direkt an der Ecke angekommen, wo links Gosch an der Promenade lag.

Dann erschrak ich. Etwas Unheimliches war auf uns zugekommen. Wie aus dem Nichts war es plötzlich aufgetaucht und hatte dafür gesorgt, dass ich zur Seite sprang und einfach nur weg wollte! Ich zog an der Leine und hörte auch nicht wieder damit auf.

Jak … Stopp ... Bleib!“ Doch ich hörte nicht auf meinen Menschen. Ganz im Gegenteil, ich zog immer mehr, immer stärker und heftiger. Mein Ziel war es, vor diesem mir unbekannten Ungetüm zu flüchten. Wir mussten weg hier, damit wir schnell in Sicherheit waren.

Sitz!“ Laut und deutlich hatte ich Bens Wort gehört.

Aber nur kurz. Komm Ben, lass uns abhauen. Kannst du das unheimliche Teil nicht sehen? Das will uns angreifen. Nur meinem Herrchen zuliebe hatte ich eine sitzende Position eingenommen. Allerdings berührte mein Hintern nicht den Boden der Promenade, da ich in dieser Habachtstellung besser losrennen konnte. Ängstlich sah ich zu Ben und wartete darauf, dass wir von hier verschwinden.

Was ist los, kleiner Mann? Warum hast du Angst?“ Während Ben sprach, hatte er sich neben mich gehockt.

Stell dich wieder hin. Biete dem Ding keine Angriffsmöglichkeit. Hey, ich brauche dich noch. Das Teil da will uns angreifen. Komm lass uns an den Strand verschwinden. Vielleicht finden wir zwischen den Tetrapoden ein gutes Versteck. Dort können wir uns verschanzen, bis die Gefahr vorbei ist.

Hast du wirklich Angst davor? Komm wir gehen hin.“ Das gefährliche Ding hatte sich inzwischen drei Meter entfernt von uns auf die Lauer gelegt. Flach und ruhig lag es auf der Promenade, und es schien so, als würde es nur darauf warten, uns aus dem Hinterhalt anspringen zu können. Es stellte sich tot und glaubte wirklich, uns damit reinlegen zu können.

Hingehen willst du? Übertreibe es nicht. Manchmal ist Angst besser als Mut. Lass uns lieber schnell verschwinden. Noch liegt es ruhig da, aber gleich wird es uns bestimmt angreifen.

Komm jetzt.“ Ben war wieder aus der Hocke aufgestanden und machte den ersten Schritt auf unseren gefährlichen Gegner zu.

Muss das sein? Ängstlich schlich ich hinter meinem Herrchen her, blieb allerdings hinter seinem Rücken versteckt. Immerhin war es seine Idee, auf das Ding zuzugehen, und genau aus diesem Grund durfte er gerne die vorderste Front sein.



Als wir nur noch einen Meter entfernt waren, frischte der Wind wieder auf. Eine kleine Windböe wirbelte über die Promenade, und im gleichen Augenblick entschloss sich auch das Teil dazu, uns anzugreifen. Es sprang los und kam auf uns zu. Das Ding war clever - es hatte auf den Wind gewartet und nutzte ihn auf eine ähnliche Art und Weise, wie es auch die Surfer mit den Wellen taten.

Pass auf, Ben. Jetzt greift es an. Komm wir hauen ab. Noch immer stand ich hinter meinem Herrchen. Dann lief Ben los, und ich folgte ihm.

Hey falsche Richtung! Du läufst ja hinter dem gefährlichen Ding her. Ich verstand nicht warum, musste Ben aber folgen, da ich an der Leine hing.

Mit einem langen letzten Schritt, der fast ein Sprung war, hatte mein Herrchen das böse Biest eingeholt und getötet. Mit seinem Fuß stand er auf unserem Gegner; auf dem Teil, das jetzt zu unserem Opfer geworden war. Wir hatten es besiegt und somit nicht nur uns, sondern auch die anderen Menschen auf der Promenade gerettet. Mein Mensch war ein Held. In diesem Augenblick war er zum Retter der Insel geworden. Von jetzt an wusste ich, dass er mich vor jedem noch so gemeinen Gegner beschützen würde. Mein Herrchen flüchtete nicht vor Gefahren, sondern sah ihnen ins Auge und kämpfte gegen sie. Nein, er vernichtete sie sogar. So, wie er es jetzt auch getan hatte.

Ben mein Held! Danke fürs Retten.

Mein Blick war stolz auf mein Herrchen gerichtet. Sein Fuß stand noch immer auf dem Teil, was dafür sorgte, dass es sich nicht rühren konnte. Ob es vielleicht sogar bereits gestorben war, konnte ich nicht erkennen. Näher ran wollte ich zum Nachsehen allerdings auch nicht. Die Windböe von eben war inzwischen verschwunden, und es herrschte Stille auf der Promenade. Wie in einem Film war es. Wie im Moment des Happyends, wenn das Gute über das Böse gesiegt hatte.

Dann bückte sich mein Herrchen und griff mit der Hand nach dem von ihm überwältigten Feind.

Pass auf, Ben! Vielleicht stellt es sich nur tot. Ich hatte Angst um mein Herrchen.

Als Ben das gefährliche Ding in der Hand hielt, sah er mich zunächst nur an. Dann begann er zu lachen, und noch einen Augenblick später sagte er:

Jake, du kleiner Feigling. Das ist doch nur eine Plastiktüte. Die tut keinem was.“

Tatsächlich? Bist du dir ganz sicher?

Komm, kleiner Mann, wir bringen dieses Umwelt verschmutzende Teil in den Müll.“ Schon hatten wir uns auf den Weg zum nächsten Abfalleimer gemacht, um diese Plastiktüte zu entsorgen.

Auch wenn ich keine Angst vor dem Ding haben musste, war ich froh, als Ben den Deckel vom Mülleimer wieder verschlossen hatte.

Woher weiß mein Herrchen nur all diese Dinge?, dachte ich und war stolz auf meinen Begleiter.



Alleine bleiben





In der letzten Nacht wurde ich in meinen Träumen von einer großen weißen Plastiktüte gejagt. Es war das fiese Ding vom gestrigen Tag. Dieses Teil, gegen das wir gekämpft hatten.

Doch nicht nur mein Leben hatte sich dank Ben und Sylt verändert. Auch bei meinen Träumen war es so. Früher endeten alle meine Träume damit, dass mir etwas Schreckliches passierte. Ich war immer der Verlierer und wurde häufig mitten im Traum von meinem Herrchen geweckt, da ich vor Angst jaulte.

Mein Plastiktütentraum war anders ausgegangen. Ich hatte die Tüte besiegt. Sie wurde von mir gejagt, und ich war es auch, der sie am Ende meines Traumes in einen Mülleimer geworfen hatte. Zum ersten Mal war ich der Sieger in einem meiner Träume. Ich war ein Held und genoss es sehr. So sehr sogar, dass ich mit einem Lächeln auf meiner kleinen Hundeschnauze schlief.

Woher ich das weiß? Ganz einfach. An diesem Morgen war Ben vor mir wach und hatte mir beim Schlafen zugesehen. Als ich meine Augen geöffnet hatte, wurde ich zunächst angelächelt. Dann erst hatte Ben zu mir gesprochen.

Guten Morgen, Jake. Du hast mit einem Lachen auf deinen Lippen geschlafen. Wenn du wüsstest, wie niedlich das ausgesehen hat, würdest du dich selbst darüber freuen.“

Zeig mal. Du hast doch bestimmt ein Foto davon gemacht. Klar hast du. Du knipst doch immer alles von mir. Voller Vorfreude sah ich mein Herrchen an.

Mist. Ich habe gar kein Bild gemacht. Wie konnte ich das denn nur vergessen?“ Mit der flachen Hand schlug sich Ben gegen die Stirn.

Trottel. Der Gedanke war mir einfach rausgerutscht. Normalerweise dachte ich niemals so über mein Herrchen, und ein kleines bißchen schämte ich mich in diesem Augenblick sogar dafür.

Ich bin echt ein Trottel. Aber nächstes Mal mache ich ein Foto. Ganz bestimmt. Dann kann ich es dir zeigen. Echt Jake, du warst so süß.“

Okay. Wenn du dich selbst so nennst, dann brauche ich mich auch nicht zu schämen. Erleichtert machte ich einige Schritte auf mein Herrchen zu. Dann stellte ich meine Vorderpfoten auf seinen Knien ab und gab ihm ein Küsschen.



Die morgendliche Hunderunde hatten wir bereits hinter uns gebracht. Erschöpft waren wir wieder in unseren vier Wänden angekommen, und Ben hatte sich sofort daran gemacht, meine Futterschüssel zu füllen. Als ich aufgegessen hatte, trank ich noch ein Schlückchen und sprang anschließend auf meine Sofaecke. Schnell hatte ich mich gemütlich eingerollt und wollte gerade meine Äuglein schließen, als ich Ben erblickte.

Was wird das denn? Wir waren doch eben erst am Strand. Müssen wir schon wieder raus? Mein Blick war auf Ben gerichtet, der dabei war, seine Jacke überzuziehen.

Geh mal schön alleine. Ich bleibe auf dem Sofa und ruhe mich aus. Ganz bestimmt werde ich nicht schon wieder in die Kälte hinausgehen. Es waren eben höchstens drei Grad draußen, und in den paar Minuten ist es ganz sicher nicht wärmer geworden.

Ben kam auf mich zu. Vor dem Sofa blieb er stehen und sah mich an. Während er mich streichelte, drangen Worte in meine Schlappohren.

Du bleibst hier kleiner Mann. Ich muss kurz einkaufen gehen.“

Okay. Ich wäre sowieso nicht mitgekommen. Beruhigt rollte ich mich zusammen und versteckte meine müde Schnüffelnase zwischen den Beinen.

Mein Herrchen war schon längst an der Wohnungstür angelangt, als ich die Situation endlich begriff.

Hey. Du kannst mich doch nicht alleine lassen. Ich war bisher noch nie alleine in der Wohnung. Schnell war ich vom Sofa gesprungen und zu meinem Herrchen gelaufen. Noch bevor er durch die Tür verschwinden konnte, hatte ich ihn erreicht. Immer wieder sprang ich an ihm hoch und stupste ihn mit meinen Vorderpfoten dabei an. Auch sein in die Knie gehen beruhigte mich nicht. Schon gar nicht taten es seine Worte.

Jake, das muss sein. Ich muss zum Supermarkt gehen. Ich brauche Lebensmittel, und deine Leckerchen sind auch alle.“

Scheiß auf die Leckerchen! Du bleibst hier, oder ich komme mit. Auf gar keinen Fall werde ich hier alleine bleiben. Was ist, wenn Einbrecher kommen?

Es geht nicht anders. Du darfst nicht in den Supermarkt, und vor der Eingangstür werde ich dich dort nicht anbinden. Nachher habe ich zwei Hunde, wenn ich wieder rauskomme.“ Ich hatte weder seine Worte über den zweiten Hund noch sein dazugehöriges Lachen kapiert. Es war aber auch Wurst, da ich mein Herrchen sowieso nicht gehen lassen wollte. Mit meinen Vorderpfoten klammerte ich mich an seinen Arm.

Bitte bleib bei mir. Oder lass uns mit dem Auto fahren. Dann kann ich im Auto auf dich warten. So haben wir das doch sonst auch immer gemacht. Das kann ich, und du warst doch anschließend immer total stolz auf mich. Mein Blick wurde immer flehender.

Nein Jake. Du bleibst hier. Ich beeile mich auch. Versprochen.“ Nur widerwillig ließ ich von meinem Menschen ab und setzte mich brav auf den Teppich im Flur.



Nachdem Ben die Haustür von außen geschlossen hatte, war ich allein. Ganz alleine in unserer Wohnung. Es war ein schreckliches Gefühl, da ich Angst bekam. Angst davor, wieder alleine gelassen zu werden. Angst, wieder auf mich selbst gestellt zu sein.

Vielleicht hilft es, wenn ich mich auf meinen Platz lege? Schnell lief ich in das Wohnzimmer und sprang aufs Sofa. Nur kurz lag ich dort, dann hatte meine innere Unruhe gesiegt. Immer wieder hielt ich meine schwarze Lakritznase in die Luft. Ich hoffte darauf, Bens Geruch wahrzunehmen. Seinen Duft, den ich garantiert sofort erschnüffeln würde, wenn er wieder vor der Wohnungstür stand.

Leider tat sich nichts. Auch meine braunen Schlappohren, die die gleiche Farbe wie mein bernsteinfarbendes Fell hatten, hörten nichts. Zumindest nichts, was ich mit meinem Herrchen in Verbindung bringen konnte. Klar waren viele Geräusche zu erkennen. Einige machten mir etwas Angst, da ich alleine war. Mit Ben an meiner Seite hätten sie mich ganz bestimmt nicht gestört.

Aufgeregt und mit einer großen Portion Hilflosigkeit lief ich durch die Wohnung. Der Versuch, aus dem Fenster zu sehen und nach meinem Menschen Ausschau zu halten, schlug fehl. Ich war einfach zu klein und konnte nur in die Richtung des Himmels gucken. Da die Balkontür geschlossen war, gab es auch nicht die Chance, über das Balkongeländer hinweg die Straße im Auge zu behalten.

Plötzlich vernahm ich ein Geräusch. Irgendetwas hatte geklimpert, und meine Ohren hatten sich blitzartig wie von selbst aufgestellt. Ja, ich musste sofort die Richtung, aus der das Klimpern gekommen war, orten.

Die Haustür! Ja, das Geräusch kam von dort, und so machte ich mich wie ein geölter Blitz auf den Weg dorthin.

Das ist doch Bens Schlüssel? Nur kurz musste ich überlegen, dann war ich mir sicher, die Lösung gefunden zu haben.

Ben, bist du das? Sag doch was. Los, gib mir ein Zeichen. Erwartungsvoll stand ich an der Wohnungstür und bemerkte dabei selbst, wie mein Schwanz vor Freude heftig wedelte.

Endlich wurde die Tür geöffnet. Bereits durch den kleinen ersten Spalt konnte ich mein Herrchen erschnuppern. Doch ich konnte ihn nicht nur riechen, sondern zum Glück auch hören. Dann erblickte ich mein Herrchen und konnte meine Freude nicht zurückhalten. Immer wieder sprang ich an ihm hoch. Ich versuchte, ihm Küsschen zu geben und lief dabei um ihn herum.

Alles gut, mein kleiner Mann. Ich bin doch wieder da. So sehr freust du dich?“ Ein Strahlen lag auf Bens Gesicht.

Wo warst du so lange? Du warst ja eine Ewigkeit weg. Mach das nie wieder. Noch immer sprang ich vor Freude an meinem Herrchen hoch.



Endlich standen die Einkaufstaschen auf dem Boden. Ben hatte seine Hände frei und begann auch sofort damit, mich zu streicheln. Ein aufgeregtes Huhn war nichts gegen mich. Wie ein Kreisel drehte ich mich immer wieder aufs Neue. Dann stellte ich mich auf meine Hinterbeine und legte meine Vorderpfoten auf Bens linkem Arm ab. Während er mich mit seiner anderen Hand kraulte, gaben wir uns gegenseitig ein Küsschen nach dem anderen.

Nie wieder darfst du für so viele Stunden verschwinden!

Du tust ja so, als wenn ich Stunden oder Tage weg gewesen wäre. Dabei waren es doch nur zwanzig Minuten. Jake, du bist echt ein Clown.“

Ganz nah stand ich bei meinem Herrchen in der offenen Küche, während Ben dabei war, die Einkäufe wegzupacken. Ganz sicher würde ich ihm heute nicht mehr von der Seite weichen.

Heute? Nie wieder! Waren meine Gedanken, während wir einen Augenblick später unsere Stammplätze eingenommen hatten. Als ich auf dem Sofa lag, saß Ben auf seinem Schreibtischstuhl und war dabei, irgendwelche Sätze in den Computer zu befördern. Wie das überhaupt möglich war und warum er es eigentlich machte - ich hatte keine Ahnung. Allerdings war ich mir sicher, dass Ben es mir irgendwann erklären würde.

Jetzt war es mir aber egal. Nach unserem ausgedehnten Strandspaziergang und der ganzen Aufregung von eben war ich einfach nur müde und kaputt.

Ich gab mir keine Mühe, meine Augen offenzuhalten. Mein Herrchen war beschäftigt, und ich gönnte mir eine Mütze voll Schlaf. Außerdem war er bei mir, und ich fühlte mich geborgen.



Bein hoch





Einige Male hatte ich es in den letzten Tagen so richtig verkackt. Ja, dieses Wortspiel war tatsächlich ziemlich passend, da ich mein Vorhaben leider noch immer nicht geschafft hatte umzusetzen. Häufig hatte ich bei anderen Hunden zugesehen, und eigentlich wusste ich ganz genau, wie es funktionierte und was ich zu tun hatte. Leider verhielt es sich aber noch immer so, dass ich meinem Herrchen nicht bewiesen hatte, dass auch ich ein richtiger Rüde war.

Nicht ein zu früh kastrierter kleiner Junge, der das Pinkeln auf drei Beinen niemals schaffen würde. Immer wenn ich dieses Thema im Kopf hatte, ärgerte ich mich aufs Neue über den 30. Januar. Es war der Tag, an dem Ben mich bei meinen Pflegeeltern in Eckernförde besuchen gekommen war. Tatsächlich hatte mein Pflegevater damals diesen saugemeinen Satz gesagt, dass ich mein Leben lang immer auf vier Beinen stehend pieschern würde. Doch nicht nur das! Er hatte Ben auch noch direkt ins Gesicht gesagt, dass ich mir dabei immer selbst auf die Pfoten pinkelte. Dass ich bei meinem kleinen Geschäft immer in meinem eigenen See stehen würde und man mir anschließend die Pfoten waschen muss.

Auch wenn der Typ damals recht gehabt hatte, fand ich es fies und gemein, dass er es meinem zukünftigen Herrchen direkt auf die Nase gebunden hatte. Es tat mir schließlich weh, solche Worte zu hören. Alleine der Gedanke daran, dass Ben mich aus diesem Grund nicht genommen hätte und ich nicht dieses fantastische Leben auf dieser wunderschönen Insel hätte führen können, sorgte für aufstehende Nackenhaare bei mir.

Auf die Pfoten piescherte ich mir nur noch selten, und in meinem eigenen See stand ich nur noch dann, wenn ich mächtigen Druck auf der Blase hatte. Immerhin war ich lernfähig gewesen und wusste, wie ich zu stehen hatte, damit mir dieses Missgeschick nicht mehr passierte. Ich hatte mir auch bereits einiges bei anderen Hunden abgeguckt. Immer wieder hatte ich dabei zugesehen, wie andere Rüden auf drei Beinen ihr Geschäft verrichteten. Meistens taten sie es an einem Baum, einem Laternenpfahl, oder aber an einem Strauch. Versucht hatte ich es bereits so manches Mal. Leider ohne wirklichen Erfolg. Entweder konnte ich mich für keinen Platz entscheiden und machte es dann doch auf meine Art, da der Drang des Wasserlassens zu groß geworden war. Oder ich hatte bei meinem Versuch auf drei Beinen schlichtweg mein Gleichgewicht verloren.

Wobei ich ja ehrlicherweise zugeben muss, dass ich auch nicht immer daran gedacht hatte. Wie jeder weiß, ist es schließlich nicht so leicht, aus seinen Gewohnheiten auszubrechen, sich angenommene Verhaltensmuster wieder abzugewöhnen.

Ben schien mein Piescherverhalten nicht zu stören. Wofür ich ihm auch wirklich sehr dankbar war. Trotzdem wollte ich nicht nur mir, sondern auch ihm beweisen, dass ich durchaus in der Lage dazu war, es richtig zu machen.



Als wir heute auf dem Weg nach Wenningstedt waren, hatten wir nicht den Strand für unseren Spaziergang ausgewählt. Wir waren vor den Dünen unterwegs und befanden uns auf dem Fußweg, der von vielen krummen Kiefern umsäumt war. Bereits häufig waren wir hier entlanggegangen. Auch wenn ich den Strand natürlich sehr viel schöner fand, machte es mir hier auch Freude entlangzulaufen. Überall konnte ich schnüffeln, und es gab viele Stellen, an denen bereits andere Hunde ihre Duftmarke gesetzt hatten. Dieser Weg war wie eine große Sonderausgabe einer Hundezeitung. Überall gab es etwas für mich zu erfahren.

Voller Aufregung und mit vielen News in meiner Nase, hatte ich schon ein paarmal gehalten und auf vier Beinen stehend mein kleines Geschäft erledigt. Als ich erneut der Meinung war, dass dieser Platz eine perfekte Stelle für eine Pieschpause war, sprang mich plötzlich der Satz meines Pflegevaters an. Warum diese Worte in diesem Moment in meinem Kopf waren? Ich wusste es nicht. Dafür wusste ich allerdings, dass dieser Moment mein Moment werden würde. Meiner? Nein - der Moment von Ben und mir.

Ungefähr fünf Meter von uns entfernt befand sich ein dünner Baum. Dieser Baum würde meiner werden. Er war kerzengerade gewachsen, hatte unten keine Zweige und stand direkt am Wegesrand. Dieser Baum kam für mein Vorhaben wie gerufen. Es schien fast, als wenn er extra für diesen Augenblick gepflanzt worden wäre. Ohne Leine hätte ich einen schnelleren Gang eingelegt. Ich wäre vorgelaufen und hätte mich auf dem Weg dorthin gründlich vorbereitet. Vorbereitet auf meinen großen Auftritt.

Was ziehst du denn so, kleiner Mann?“ Lachend hatte Ben zu mir gesprochen.

Warte mal ab. Gleich wird es cool. Jetzt waren es höchstens noch drei Meter, die ich von meinem Baum entfernt war.

Du rennst, als wenn du mal musst. Was ja eigentlich gar nicht sein kann. Du machst ja seit zwanzig Minuten nichts anderes als zu pieschern. Bleib mal stehen, Jake, ich mache ein Foto von uns.“ Das Handy hatte mein Herrchen schon griffbereit in der Hand. Allerdings war mir nicht nach einem Bild. Ich hatte größere Ziele vor Augen.

Nix da. Bilder kannst du später machen. Jetzt bin ich dran. Warte mal ab, was gleich passiert.

Ich war weder stehengeblieben, noch hatte ich mich zu meinem Herrchen umgedreht. Klar hatte ich einen Befehl ignoriert. In solchen Momenten war es allerdings erlaubt. Zumindest war dies meine Meinung, und da Ben seinen Befehl nicht wiederholt hatte, schien er es wohl ebenso zu sehen.

Dann waren wir angekommen. Direkt neben dem Baum war ich stehengeblieben, und mein Herrchen hatte es mir gleichgetan.

Pass auf. Guckst du? Ich sah zu meinem Herrchen und wartete gespannt auf seine Reaktion.

Schon wieder pieschern? Meinst du, dass du für die Wässerung der Vegetation auf Sylt verantwortlich bist?“ Ben lachte über seine Worte, sah allerdings trotzdem weiterhin in meine Richtung.

Konzentriere dich, Jake. Ich maßregelte mich selbst, da ich es nicht sofort hinbekommen hatte, meine Beine zu sortieren. Zunächst hatte ich mein rechtes Hinterbein leicht angehoben. Was natürlich totaler Blödsinn war, da ich mich mit meiner linken Körperseite am Baum befand. Schnell stellte ich das falsche Bein wieder auf den Boden und schloss kurz meine Augen.

Ich kann das. Ich will das. Ich werde es jetzt hinbekommen! Sprach ich zu mir selbst.

Das sieht schon gut aus. Versuch es nochmals.“ Obwohl mein Herrchen leise zu mir sprach, bestärkten mich seine Worte in meinem Vorhaben.

Langsam hob ich mein linkes Hinterbein in die Luft. Als ich es bereits ein kleines Stückchen angehoben hatte, drehte ich meinen Kopf in die Richtung meines Beines. Ich wollte mich vergewissern, dass ich das richtige Bein in die Luft gestreckt hatte.

Perfekt.

Perfekt.“ Leise sagte mein Herrchen das gleiche Wort, das ich eben in meinem Kopf hatte.

Nicht umfallen. Auf keinen Fall darf ich jetzt das Gleichgewicht verlieren. Ich kann das. Ich will das. Ich werde es jetzt hinbekommen. Dann begann ich damit, mich auch noch auf eine zweite Sache zu konzentrieren. Gleichzeitig ein Bein angehoben zu haben und zu pieschern, war wirklich nicht leicht. Zumindest nicht für mich.

Du kannst das. Du willst das. Du wirst es jetzt hinbekommen.“ Mein Herrchen flüsterte diese Worte. Es war einfach magisch zwischen uns. Erneut wusste er, was ich zur Bekräftigung meines Tuns hören musste. Doch nicht nur das. Wie schon so häufig zuvor, hatte er meine Gedanken gelesen. Weshalb sonst wäre es möglich gewesen, dass er genau meine Worte wählte?

Dann ließ ich es laufen. Ohne es sehen zu können, spürte ich, dass mein Bein noch immer in der Luft war. In der Luft, während mein Strahl am Baumstamm landete und von dort auf den Waldboden lief, um anschließend in der Erde zu verschwinden.

Ich habe es geschafft. Stauend und stolz auf mich selbst, stand ich noch immer auf drei Beinen am Baum. Nein, nicht an irgendeinem Baum. An meinem Baum. Sozusagen an meinem Erstling.

Du hast es hinbekommen! Ich habe es immer gewusst.“ Ben sah mich liebevoll an.

Ja, habe ich. Erinnerst du dich noch an die Worte meines damaligen Pflegevaters? Erst während dieser Gedanken stellte ich mein Bein wieder auf den Boden ab.

Da hat sich deine Pflegefamilie wohl ganz schön geirrt. Du bist so klasse, kleiner Mann.“ Ben kniete inzwischen vor mir auf dem Waldboden. Mit seinen Händen umfasste er zärtlich meinen kleinen Kopf und drückte mir ein Küsschen auf die kalte Hundenase.

Ich bin wahnsinnig stolz auf dich.“

Sag mal, weinst du? Klar tust du das. Ihr Menschen seid echt komisch. Nur weil ich auf drei Beinen stehend gepinkelt habe, musst du doch nicht heulen. Trotz meiner Gedanken freute ich mich darüber.

Dann schleckte ich über Bens Gesicht und lächelte.

Und der Bach ist auch nicht über deine Pfoten gelaufen.“ Sein Lächeln wurde noch breiter.

Dafür kniest du Depp aber genau in meinem See. Zumindest dort, wo meine Piesche im Boden versunken ist. Belustigt sah ich mein Herrchen an.

Ach nö. Schau mal, wo drin ich hocke.“ Schon während Ben sprach, war er aufgestanden.

Habe ich doch längst gesehen. Was glaubst du, warum ich so lache?

Dann komm, kleiner Mann. Lass uns weiter.“

Sag mal Ben, bekomme ich gleich bei „Gosch“ zur Belohnung wieder ein Stückchen von dem leckeren Fisch?

Komm, Jake. Der Fisch wartet schon auf uns.“ Lachend machten wir uns auf den Weg.



Natürlich dachte ich ab diesem Moment noch nicht bei jedem kleinen Geschäft daran, immer eines meiner Hinterbeine in die Höhe zu heben. Aber ich tat es häufig, und ich war mir sehr sicher, dass ich irgendwann immer daran denken würde.

Bens Sprung





Da war er wieder. Mit jedem Schritt, den wir uns dem Strandübergang näherten, wurde der Duft der weiten Welt intensiver. Hoch in die Luft hielt ich meine Lakritznase, damit ich jede Kleinigkeit, die der Wind in unsere Richtung pustete, einfangen konnte. Mein Drang, über den Aufgang zum Strand zu gelangen, war riesengroß, und so zog ich wie verrückt an der Leine.

Nicht so schnell. Hey kleiner Mann, ziehe nicht so. Stopp Jake!“ Bens letzte Worte waren laut und deutlich. Fast hart hatte mein Herrchen sie ausgesprochen. Doch wie auch immer man seine Betonung auch nennen wollte, sie hatte dafür gesorgt, dass ich stehenblieb und Ben über meine Schulter hinweg ansah.

Nun komm schon. Lass uns toben. Der Strand ruft. Kannst du ihn nicht hören?

Dann gingen wir weiter, und ich versuchte, mich sogar etwas zusammenzureißen und nicht mehr so stark wie eben an der Leine zu ziehen. Als wir jedoch den Punkt erreicht hatten, von dem aus ich das Meer sehen konnte, waren alle meine guten Vorsätze vergessen. Fast magisch zog mich der Strand zu sich. Mit jedem meiner Schritte legte ich mich mehr in die Leine.

Hey, du Nase, du bist doch kein Schlittenhund.“ Ben lachte während seiner Worte. Dann hatten wir endlich die Schräge vor dem Restaurant „Sunset Beach“ erreicht. Schnell und doch vorsichtig liefen wir sie hinab, und bereits Sekunden später hatten wir den Strand erreicht.

Komm Ben. Lass uns laufen. Schnell laufen und toben. Meinetwegen auch springen.

Als wenn mein Herrchen mich verstanden hätte, liefen wir los.

Attacke, Jake. Mal sehen, wer schneller ist?“

Ich natürlich. Ohne Leine wäre ich es übrigens noch um einiges mehr.

Komm zur Buhne. Lass uns springen. Zeig mir, wie weit du springen kannst.“ Beim Laufen sah Ben mich an und schrie seine Worte über den schier endlos wirkenden Strand. Inzwischen hatten wir Vollspeed erreicht. Meine Ohren wehten im Wind, und alle meine vier Pfoten waren teilweise gleichzeitig in der Luft.

Gleich musst du springen!“ Seine Worte hätte Ben sich sparen können. Immerhin konnte ich die Buhne selbst erkennen.

Springen. Endlich mal wieder springen! Ich freute mich so sehr darauf, gleich über das Buhnending zu hüpfen.

Jetzt Jake. Pass auf!“ Laut rief mein Herrchen in meine Richtung. Trotz des Windes konnte ich ihn jedoch deutlich verstehen.

Pass du lieber auf. Da liegt ein großer Stein vor deinen ...

Weiter kam ich nicht. Während ich meinen Gedanken abbrach, stolperte Ben und kam gerade noch vor der Buhne zum Stehen. Ich hingegen hatte bereits zum Sprung angesetzt und befand mich hoch über der Buhne. Mein Ruck an der Leine, den ich selbstverständlich nicht mit Absicht gemacht hatte, sorgte zunächst dafür, dass Ben das Gleichgewicht verlor und anschließend direkt über die Buhne fiel. Während seines Sturzes ließ er die Leine los, so dass zumindest ich meinen Sprung beenden und anschließend vernünftig auslaufen konnte.

Wenige Sekunden später war ich zum Stehen gekommen und drehte mich schnell zu Ben um. Sein Gesicht und seine Hände waren voll im Sand gelandet, während der Oberkörper halb auf den Steinen der Buhne lag. Seine Beine zeigten in die Luft, und obwohl es wirklich saulustig aussah, war mir in diesem Augenblick nicht danach, zu lachen. Nein, ich machte mir Sorgen um mein Herrchen, und ich hoffte, dass ihm nichts Schlimmes passiert war.

Ist dir was passiert? Tut was weh? Sag was. Du kannst doch noch sprechen? Muss ich einen Krankenwagen holen? Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich es hätte anstellen sollen, machte ich mir Gedanken darüber. Eine große Sorge um mein Herrchen stieg in mir auf. Wie konnte ich ihm jetzt nur helfen? Nachdem ich einige Sekunden einfach nur dagesessen hatte, ging ich langsam in seine Richtung. Ben begann, sich ebenfalls wieder zu bewegen. Einfach schien es nicht für ihn zu sein. Blöd war nur, dass ich nicht beurteilen konnte, ob es an seiner merkwürdigen Position oder doch vielleicht an irgendwelchen Schmerzen lag.

Die Beine und seinen Oberkörper hatte mein Herrchen inzwischen etwas geordnet. Zumindest waren sie jetzt auf der gleichen Seite der Buhne angelangt. Sie befanden sich auf der Seite, wo sich auch sein Kopf, seine Hände und die Arme gesucht hatten.

Ben lag trotzdem einfach nur da. Dann begann er, sich den Sand aus dem Gesicht zu reiben. Mit meiner Schnuppernase war ich inzwischen an seinem Gesicht angekommen.

So wird das doch nichts. Mit deinen sandigen Händen verreibst du den Sand doch lediglich. Warte, ich helfe dir.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739407555
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Meer Pets Freundschaft Sylt Tierliebe Haustier Liebe Strand Humor

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram ist das Schreibpseudonym eines waschechten Hamburger Jung. Am 14.05.1968 erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er seit vielen Jahren pflegt. Er lebt in seiner Lieblingsstadt Hamburg und verbringt viel Zeit auf der Insel Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Dort wird er, wenn sein Blick auf das Meer gerichtet ist, von vielen neuen Ideen und Eingebungen „überfallen“.
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Titel: Leinen los!