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Gestrandet auf Sylt

Heimathafen Sylt

von Ben Bertram (Autor:in)
92 Seiten
Reihe: Heimathafen Sylt, Band 1

Zusammenfassung

Als kleiner Junge hatte ich einen Traum. Ich wollte Musiker werden, in einer berühmten Band spielen und ein Star sein. Und wisst ihr was? Ich habe ihn mir erfüllt und bin stolz darauf. Mein Name war Joshua Richter, und ich durfte fünfundzwanzig Jahre lang Keyboarder der erfolgreichen Band „Mitch and the Pirates“ sein. Falsch! Zu der Zeit, die mir am meisten bedeutete, hörten wir auf den Namen Strandpiraten. Inzwischen nenne ich mich Jannik und habe mich von meinem Traum, der längst zum Alptraum geworden war, verabschiedet. Die Jubiläumstour sollte in Hamburg mit einem Paukenschlag enden, und ich war es, der für diesen gesorgt hatte. Doch was macht man, wenn ein Traum zerplatzt? Wenn man sich in seinem Leben nicht mehr wohlfühlt und zu einer Person geworden ist, mit der man sich selbst nicht mehr identifizieren kann? Es gibt zwei Möglichkeiten. Man kann weitermachen oder flüchten. Ich habe mich für die Flucht entschieden und dafür, ein neues Leben zu beginnen. Endlich war ich frei und erkannte schnell, dass wahrer Reichtum nichts mit Geld zu tun hatte!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


~ Zimmer mit Ausblick ~

Es hätte mich wahrlich schlechter treffen können.

Während ich auf meiner schmalen Fensterbank saß, konnte ich meinen Blick auf das Meer richten. Genauer gesagt, auf die Nordsee, die heute sehr aufgewühlt war. Ich dachte dabei an einen Werbespot. An die Frage, wie du das Meer gemacht hättest? Und ich musste zugeben, dass meine Antwort auf die Frage, ob ich das Meer rau gemacht hätte, ein fettes Ja sein musste.

Dann stellte ich mir eine weitere Frage.

Wenn die ruhige Wattseite heute schon so rau ist, wie muss es dann an der Westküste sein? Ich war gespannt und freute mich darauf, sie mir ganz bald anzusehen.

Sämtliche Variationen von Blautönen präsentierten sich mir, und es war nicht ganz so einfach, die Horizontlinie zu erkennen. Nein, nicht wegen der stürmischen See, sondern weil das Meer in einem fast identischen Blau schimmerte, wie es auch der prachtvolle Himmel tat, und diese Farbenpracht daher nahezu ineinander überging.

Schaumkronen tanzten auf kleinen Wellen vor der wundervoll anmutigen Wattseite, während ich die warme Sonne in meinem Gesicht spürte. Okay, die Wärme war dem geschlossenen Fenster geschuldet, da wir uns im Monat Februar befanden und es hier auf der Insel trotz Sonnenscheins klirrend kalt war.

Dann stand ich auf. Allerdings lediglich, um das Fenster zu öffnen. Ich konnte nicht anders, ein innerer Drang forderte mich dazu auf, die kalte Luft zu spüren. Ich wollte das nordische Klima einatmen und mich innerlich säubern. Als ich das Fenster komplett geöffnet hatte, setzte ich mich erneut auf die Fensterbank, und ich wusste bereits jetzt, dass dieser Platz mein absoluter Lieblingsplatz werden würde. Na ja, vielleicht nicht auf der kompletten Insel, aber zumindest hier in meinen neuen vier Wänden. Von der Insel selbst hatte ich noch nicht viel gesehen. Wie auch? Immerhin war ich erst seit drei Tagen hier, und es war nicht ganz einfach für mich, sofort ein Heimatgefühl aufzubauen.

Wie sollte das auch funktionieren? Noch vor einer Woche wusste ich lediglich, dass es Sylt gab. Vielleicht auch etwas mehr. Aber den Drang, hier Urlaub zu machen oder auch nur einen Tagesausflug, hatte ich niemals verspürt. Sylt war in meinen Augen die Insel der Schickimicki-Fraktion, und genau diese Menschen waren noch nie in meinem Leben vertreten. Also, sie waren es schon, aber ich ließ keinen von ihnen in meinen kleinen Tanzkreis hinein.

Ich liebte die Einsamkeit und genoss es daher sehr, ein Schattendasein zu führen. Ruhm und Rummel lagen mir nicht, und genau deshalb war es auch dazu gekommen, dass ich die Flucht angetreten hatte. Weg von den Schulterklopfern, fort von kreischenden Mädchen, die viel zu häufig irgendwelche Selfies mit mir machen wollten. Ich ertrug es nicht mehr, Autogramme zu geben, und noch weniger, irgendwelchen Smalltalk mit ach so wichtigen Menschen zu führen.

Als eine kreischende Möwe an mir vorbeiflog, hielt ich kurz inne.

„Und dann bin ich ausgerechnet hier gelandet!“, sagte ich zu mir selbst und lachte höhnisch auf. Es war tatsächlich lustig, dass ich mich ausgerechnet auf der Insel befand, die für ihren elitären Kram bekannt war.

Lustig? Nein, es war obskur! Ich, der den Trubel und die Oberflächlichkeit hasste, war auf diesem geltungssüchtigen Eiland gestrandet.

Allerdings nicht wirklich freiwillig.

Falsch! Freiwillig schon, aber der Grund meiner Entscheidung war eine reine Notmaßnahme. Ich musste weg aus Hamburg, raus aus der Weltstadt und fort aus dem Scheinwerferlicht. Zeit für längere Suchaktionen hatte ich situationsgeschuldet nicht, und so gab ich einige kurze Suchbegriffe im Internet ein. Mir ging es darum, sofort eine Bleibe zu finden. Es sollte eine WG sein, und kennen durfte mich in meiner neuen Heimat ebenfalls niemand. Dann gab es noch ein wichtiges Kriterium. Ich konnte meine Bleibe nur in bar bezahlen.

Ach ja, und ich wollte im Norden leben, bestenfalls an einer Küste, und das Zimmer sollte möbliert sein.

Heraus kamen bei meiner Suche fünf Objekte. Zwei konnte ich direkt streichen, da ich sie mir mit anderen Künstlern hätte teilen müssen - die Gefahr, erkannt zu werden, war einfach zu groß.

Da genau drei WGs übrigblieben, nahm ich einen Würfel. Die Zahlen eins und sechs standen für Sylt und …

Na ja, ich verrate wohl nicht zu viel, dass eine dieser Zahlen, genauer gesagt, die höchste Zahl des Würfels, vor mir lag und mich frech angrinste.

Jetzt war ich hier, saß auf meiner Fensterbank und hatte zwei der drei WG-Mitbewohner noch gar nicht gesehen. Aber genau das war es ja auch, was ich wollte. Ruhe, Einsamkeit und einen Weg, wie ich zu mir selbst zurückfinden konnte. Viel zu lange war ich nicht der Mensch gewesen, nach dem ich mich sehnte. Es ging um Erfolg, um Tourneen und vor allem darum, den Wünschen unseres Managements nachzukommen.

Auch jetzt fragte ich mich wieder, wie unser Bandleader und Sänger Mitch Bentley, der eigentlich Michael Sauertafel hieß, mit dem Hype um seine Person so fantastisch leben konnte. Ich hingegen war in der Band lediglich der Keyboarder und fand das Leben bereits so anstrengend genug. Aber gut, Menschen sind halt unterschiedlich, und ich wettete darauf, dass sich Michael, besser gesagt, Mitch, niemals Gedanken um die anderen Bandmitglieder machte.

Es wäre ihm schnurzegal, was mit uns anderen geschah. Wenn er sich aus dem Staub gemacht hätte, wären seine Gedanken lediglich bei sich selbst und seinem neuen Lebensabschnitt gewesen. Allerdings bestand die Möglichkeit des Abhauens bei ihm auch nicht, da er viel zu geil auf den Medientrubel und die One-Night-Stands mit irgendwelchen Groupies war. Niemals hätte er auf dieses Leben freiwillig verzichtet.

Ja, Mitch und ich hätten unterschiedlicher nicht sein können!

Zwanzig Jahre gab es uns inzwischen. Unsere Band, die wir damals als sechzehnjährige Halbstarke im Keller von Michaels Eltern gegründet hatten. Wir waren gut und hatten zugegebenermaßen eine große Portion Glück. Bereits nach fünf Jahren spielten wir in kleineren Hamburger Clubs und durften schnell auch über die Stadtgrenze hinaus einige Gigs bestreiten.

Passend zu unserem zehnjährigen Jubiläum enterten wir die größeren Hallen. Bis zu fünftausend Zuschauer waren dabei und trugen uns mit ihrem Applaus auf Händen. Aus dem Radio waren wir schon damals nicht mehr wegzudenken, und es begann die Zeit, in der wir unsere Termine in die Hand eines Managers legen mussten, da wir nicht in der Lage waren, alles selbst zu koordinieren. Es wuchs uns über den Kopf, und ich war schon damals dafür, nach dem alten Lieblingssatz meines Opas zu leben. Schuster bleib bei deinen Leisten, lautete er, und meiner Meinung nach wäre dieser Weg der Beste gewesen.

Während meine Bandmitglieder, die früher einmal meine Freunde waren, nach immer Größerem strebten, wurde mir der Trubel schnell zu viel. Doch ich konnte die Jungs nicht einfach im Stich lassen. Immerhin hatten wir uns im Keller von Mitchs Eltern das Indianerversprechen gegeben, den größtmöglichen Erfolg erreichen zu wollen. Und zwar zusammen!

Abzuspringen war demnach nicht erlaubt und Freunde im Stich zu lassen sowieso nicht.

Letztes Jahr startete unsere Tournee zum zwanzigsten Jubiläum. Ich war dagegen, da mir die Hallen zu groß, der Stress zu stark und die Zeiten zu lang waren. Außerdem gab es noch einen Grund. Das Jubiläum war erst in diesem Jahr. Leider waren die Hallen jedoch schon besetzt. Zudem waren andere Bands auf Tour, und sich gegenseitig die Fans zu klauen, war kein guter Plan. So empfand es zumindest unser Management, und da Geld die Welt regierte, mussten wir uns fügen.

Okay, zumindest die letzten unserer Jubiläumskonzerte fanden im richtigen Jahr statt, der krönende Abschluss sogar vor fast 13.000 Zuschauern in unserer Heimatstadt Hamburg.

In meiner ehemaligen Heimatstadt, dachte ich, stand auf und schloss das Fenster. Mir war kalt, und ich hatte Kaffeedurst.

Schnell machte ich mich auf den Weg in die Gemeinschaftsküche und durchsuchte die Schränke. Zum Glück wurde ich fündig und konnte damit beginnen, mir ein Heißgetränk zuzubereiten. Mit einem dampfenden Becher in der Hand ging ich zurück und setzte mich einen kurzen Augenblick später in den großen alten Ohrensessel, der sich in meinem Zimmer befand.

Von hier aus konnte ich aus dem Fenster sehen und kleine Schäfchenwolken bei ihrem Flug über die Insel Sylt beobachten.

Dann schloss ich meine Augen, und meine Gedanken landeten in der Vergangenheit. Woran ich dachte, war gar nicht so lange her, und doch schien dieser Moment bereits Lichtjahre von mir entfernt zu sein.

~ Mein letzter Gig ~

Der Ausdruck Lichtjahre passte perfekt zu meinem Gefühl.

Zu diesem Gemütszustand von mir, der mich schon einige Jahre begleitete, und keinen Grund sah, wieder von mir abzulassen. Zunächst sehnte ich mich einfach zurück zu unseren Anfangszeiten. Ich wollte wieder in kleinen Clubs spielen und am liebsten unter unserem alten Bandnamen. Damals, als wir noch die Strandpiraten waren, fühlte sich die Welt vollkommener und positiver an.

Leider war inzwischen nicht nur das positive Gefühl verschwunden. Nein, unsere Band wurde umbenannt, und wir hatten uns nicht dagegen gewehrt. Dass Mitch geil auf die Namensänderung war, konnte ich sogar verstehen. Welcher Sänger hätte schon was dagegen gehabt, wenn sein Name zum Programm wurde. Von heute auf morgen hießen wir Mitch and the Pirates, was leider auch dafür gesorgt hatte, dass unser ehemaliger Freund Michael den Boden unter den Füssen verloren hatte. Er war ab diesem Moment komplett abgehoben und fühlte sich wie eine Mischung aus Robbie Williams und Michael Jackson. Zumindest bei einer der beiden Popgrößen war ja zumindest der Vorname identisch...

Da es keine Möglichkeit gab, „back to the roots“ zu gehen, reifte mein Entschluss, die Band zu verlassen, immer weiter.

Doch was sollte ich sagen? Mir fehlte einfach der Mut dazu. Leider nicht nur der. Zudem hinderten mich auch fiese Knebelverträge daran, auszusteigen. Ich war gefangen im Ruhm. In einer Welt, die mir fremd war, und auch in einem Musikzirkus, der längst nicht das hielt, was er nach außen versprach.

Als ich eine Auszeit forderte, wurde ich ausgelacht.

Ja, einfach nur ausgelacht. Man zeigte mir einen Passus im Vertrag. Mir wurde darin nicht nur meine Klamottenwahl vorgeschrieben, sondern ebenfalls auch die Tage, die ich für mich verplanen durfte. Warum ich den Scheiß damals unterschrieben hatte?

Weil ich zu blöd für die Welt war!

Aber auch, weil ich meine Freunde nicht im Stich lassen wollte. Ich konnte ihnen doch nicht die Chance auf Erfolg und Reichtum nehmen. Sie waren mir wichtig.

Leider wichtiger, als ich mir damals selbst war!

Am ersten Tag unserer Jubiläumstournee war ich kurz vor dem Konzert in Bremen zusammengebrochen.

Einfach umgekippt!

Doch anstatt der dringend notwendigen Erholungspause bekam ich irgendwelche Präparate gespritzt. Was es für welche waren? Woher soll ich das wissen? Unser Tourarzt zog mehrere Spritzen auf, drückte mir das Zeug in die Venen und verabreichte mir zusätzlich einige Pillen. Tatsächlich half es, und ich konnte das Konzert spielen.

Nicht nur die Tournee ging weiter, auch meine Spritzen- und Pillenkur stand vor jedem Konzert auf dem Programm.

Dann kam Hamburg …

Okay, auf dieses Konzert wollte ich nicht verzichten. In meiner Heimatstadt vor so vielen Menschen zu spielen, war natürlich geil, und ich freute mich darauf, nach dem Gig mit vielen Freunden eine nette Aftershowparty zu erleben. Sie sollte der krönende Abschluss werden.

Doch dazu kam es nicht …!

Auch vor dem letzten Gig unserer Tour hatte ich wieder Aufbauspritzen bekommen.

Dann ging es los, und die Menge tobte vom ersten Ton an. Wir wurden gefeiert und unsere Lieder lauthals mitgesungen. Mitch war in seinem Element und versetzte die Konzertbesucher in eine Art Ekstase.

Fast zwei Stunden hatten wir unser Bestes gegeben, als wir von der Bühne gingen, um uns einen Sonderapplaus und die Rufe nach Zugaben zu ergaunern.

Wir standen still, nein, fast andächtig, in unserem kleinen Pausenraum und erfrischten uns mit Getränken. Während die Menge immer lauter tobte, stieg unser Adrenalinspiegel stetig an. Dann bekamen wir ein Zeichen, und es ging weiter.

Doch nicht wie immer!

Hier in Hamburg sollte etwas Besonderes geschehen. Mitch lief, zusammen mit unserem Gitarristen Claas, auf die andere Seite der Arena und ging durch einen Notausgang in die Halle hinein.

Erst als sie sich bereits im Innenraum befanden, wurde ein Lichtkegel auf sie gerichtet. Vier Bodyguards, die eigentlich lediglich zum Security-Team gehörten, begleiteten meine Bandmitglieder. Sie hatten ein Seil gespannt, damit niemand zu nah an die Stars des Abends herankam. Während Claas an seiner Gitarre zupfte, öffnete Mitch seine Lippen.

Gemeinsam mit den restlichen Bandmitgliedern stand ich auf der abgedunkelten Bühne. Wir hatten uns heimlich zu unseren Instrumenten geschlichen und warteten darauf, dass wir in wenigen Minuten wieder alle zusammen auf der Bühne standen.

Erst wenn Mitch und Claas wieder auf den Brettern, die die Welt bedeuteten, standen, sollten die Scheinwerfer auch wieder auf uns leuchten. Eine grandiose Pyrotechnik würde das Ganze begleiten. Oder nannte man es vielleicht abrunden?

Alles war perfekt geplant, und ich sollte es sein, der mit einem coolen Solo am Klavier unseren neuesten Hit erklingen ließ. Wir hatten ihn extra als Zugabe aufbewahrt, da unsere Tournee einen unvergesslichen Abschluss bekommen sollte. Die Fans ahnten natürlich, welches Lied als letztes kam. Immerhin fehlte der Song, der es in die deutschen Charts bis auf den ersten Platz geschafft hatte.

Von meiner dunklen Ecke aus konnte ich alles gut beobachten. King Mitch war in seinem Element, und ich fragte mich, ob außer mir tatsächlich niemand mitbekam, dass er lediglich vom Band zu hören war. Sein Bad in der Menge zu genießen und live zu singen, konnte er nicht. Playback war in diesem Moment angesagt, und ich grinste in dem Moment, als ich mir wünschte, dass es einen kurzen Stromausfall geben sollte.

Es wäre ein Einfaches für mich gewesen, einige Schritte nach hinten zu machen, und den entscheidenden Hebel umzulegen. Doch ich war noch nie ein Arschloch gewesen und wollte auch jetzt nicht damit beginnen. Oder doch? Immerhin juckte es mich ordentlich in den Fingern.

Doch jetzt war es zu spät. Unsere Bandmitglieder hatten gleich die wenigen Stufen erreicht, die hinauf zur Bühne führten. Alles war angerichtet, und genau aus diesem Grund hing mein Blick an Klaus, der für das Feuerwerk verantwortlich war. Er war es, der diesen einen Schalter umlegen durfte. In wenigen Minuten würde es soweit sein.

~ Jetzt oder nie! ~

In meinem Kopf rotierte es.

Tausende Male hatte ich schon davon geträumt, einen Abgang zu machen. Mit meinem Opa hatte ich bereits vor einigen Jahren darüber gesprochen, und seitdem hatte mich dieses Vorhaben nie wieder so ganz losgelassen.

Ich hätte es längst getan, wenn ich nur den richtigen Augenblick dafür gefunden hätte. Es gab immer etwas, warum ich mein Vorhaben nicht durchziehen konnte.

Irgendwas ist immer!

Es gab diese drei Worte inzwischen sogar als Song von uns. Ich hatte ihn geschrieben, und alle fanden den Text geil. Dass ich die Zeilen über mich selbst geschrieben hatte, war niemandem aufgefallen. Also niemandem außer meinem Opa, der mich besser kannte als alle anderen Menschen zusammen.

Stopp! Hatte es nicht mal ein Schild im Zuschauerraum gegeben? Vorne in der ersten Reihe wurde es hochgehalten. Eine Frau mit dunklen Locken hielt das Pappschild in ihren Händen, und ich hatte es deutlich lesen können.

Irgendwas ist immer!

Aber DU musst für DICH entscheiden!

So hatte es in schwarzer Schrift, die perfekt zu den Haaren der Frau passte, auf der Pappe gestanden. Natürlich konnte es sich nur um einen Zufall gehandelt haben. Immerhin kannte ich die Frau nicht und sie mich dementsprechend natürlich ebenfalls nicht.

Warum mir diese Szene in diesem Augenblick durch den Kopf ging? Keine Ahnung! Wahrscheinlich war es ein Zeichen. Meine wirren Gedanken hatten nach etwas gesucht, was mein Vorhaben unterstützte. Da es nicht viele Dinge davon gab, war halt dieses Schild präsent und deutete mir den Weg.

Die Halle tobte vor Begeisterung, und mein Kopf stieg mit ein. Der einzige Unterschied war, dass sich die Zuschauer und meine grauen Zellen für unterschiedliche Dinge begeisterten.

Während sich die notgeilen Weiber auf Mitch stürzten und die Sicherheitskräfte große Mühe hatten, ihn zu beschützen, stürzten immer mehr verrückte Gedanken auf mich ein.

Immer mehr? Nein, es war lediglich einer, der immer wieder neu und jedes Mal intensiver durch meinen Kopf schoss. Doch er schoss nicht nur hindurch, sondern ließ gleichzeitig immer mehr Wunschstückchen in mir zurück. Der Wunsch, den ich schon lange in mir trug, wurde größer und ich im gleichen Maße mutiger.

„Es muss nicht immer was sein. Ich kann es auch einfach so machen!“, sagte ich zu mir selbst und ließ meinen Blick zur großen, schweren Tür wandern.

Durch diese Tür sind wir vorhin auf die Bühne gekommen, und durch diese Tür werden wir die Bühne auch wieder verlassen, dachte ich und musste grinsen.

„Ich könnte auch allein gehen. Einfach abhauen und verschwinden!“ Erneut sprach ich leise zu mir selbst, und mir gefielen meine Worte außerordentlich gut.

Abhauen, einfach weglaufen … und mit einer neuen Identität einen Neubeginn starten. Nicht mehr nach der Nase von Mitch tanzen. Keine Vorgaben von irgendeinem Manager bekommen und machen, wonach mir ist. Wie geil wär das denn, dachte ich und spürte ein starkes Kribbeln im Bauch.

Ich fühlte mich wie vor unseren ersten Gigs. Eine innere Unruhe stieg in mir auf, und ich träumte davon, scheinbar Unmögliches zu erreichen.

Auch heute wünschte ich mir, dass ich es schaffte, meine Träume umzusetzen. Dieser Moment erinnerte mich an meine Anfangszeit als Musiker, an meine Kindheit, als alles begann. Mein Berufswunsch war es schon immer gewesen, Musiker zu werden. Ich hatte es mir so fest gewünscht und außerdem voller Leidenschaft darum gekämpft, dass es mir gelungen war.

Warum um alles in der Welt sollte es mir also nicht auch heute gelingen?, dachte ich.

Meinen Kindheitstraum hatte ich erreicht. Es sprach doch eigentlich nichts dagegen, auch meinen Erwachsenentraum umzusetzen. Ich musste auch jetzt nur meinem Herzen folgen und mutig sein. Okay, das mit dem Herzen bekam ich hin. Leider war aber die Angst stärker als mein Mut.

Ich stand noch immer auf der dunklen Bühne und sah zu unserem Sänger hinab. Der Lichtkegel war so auf Mitch gerichtet, dass tatsächlich lediglich er getroffen wurde. Obwohl Mitch von Claas begleitet wurde, durfte nur einer im Rampenlicht stehen. Schließlich waren wir nicht mehr die Strandpiraten, sondern nannten uns Mitch and the Pirates!

„Who the fuck is Mitch?“, rief ich in die Dunkelheit, und ich sprach es allem Anschein nach so laut aus, dass es bis in die erste Reihe des Innenraumes zu verstehen war. Zumindest wurde ich jetzt von einer hübschen Frau angelächelt. Sie trug ein Cap auf dem Kopf und nickte so, als würde sie meinen Satz bestätigen wollen.

Da es nur ein Zufall sein konnte und ich außerdem etwas Wichtigeres vor der Brust hatte, ging mein Blick schnell wieder in die andere Richtung. Meine Augen suchten nach Mitch. Besser gesagt, ich sah nach, wo er sich inzwischen befand.

Nur noch drei kleine Schritte, dann war Mitch an seinem Ziel. Der Scheinwerfer würde erlöschen und die komplette Arena in Dunkelheit eintauchen. Allerdings nur für wenige Sekundenbruchteile, da ab diesem Moment Klaus am Zuge war.

Eine Minute lang sollte ein Feuerwerk in der großen Hamburger Halle für Gänsehautstimmung sorgen.

Nach einem letzten lauten Urknall kam ich an die Reihe. Mein Klaviersolo sollte beginnen, und Mitch würde, dann auch wieder live, unseren Megahit als Tourneeabschiedssong erklingen lassen.

Ja, alles war geplant. Alles war angerichtet. Alles schien perfekt …

Der Scheinwerfer erlosch, Mitch und Claas betraten die dunkle Bühne, Klaus streckte seinen Arm aus - und das Feuerwerk begann.

~ Flucht in die Freiheit ~

„Josh, du bist gleich dran. Du kannst jetzt nicht …“

Dies waren die letzten Worte, die ich auf der Bühne vernahm. Anschließend hörte ich hinter mir die schwere Eisentür zuknallen, und ich lief durch die Gänge der Arena. Mein Ziel war keineswegs die fantastisch ausgestattete Umkleidekabine, die bereits vor dem Konzert unser Rückzugsort war. Ich wollte auch nicht zu den Fans, um mir meine persönliche Belohnung abzuholen.

Nein, mein Ziel war die Freiheit!

Genauer gesagt, der Ausgang der Halle, den ich am schnellsten erreichen konnte. Ich stürmte durch die offenstehende Glastür und blieb erst unten am Rondell stehen, in dessen Nähe sich bereits viele Taxen und Shuttlebusse versammelt hatten.

Erst hier blieb ich stehen!

Vor mir erkannte ich das Volksparkstadion, an dem groß und überdeutlich die Raute des Hamburger Traditionsvereins thronte.

Dann drehte ich mich ein letztes Mal um!

Mein Blick war auf die Arena gerichtet, in der ich eben noch auf der Bühne gestanden hatte. Eigentlich sollte ich jetzt noch immer dort stehen und den letzten Paukenschlag unserer Jubiläumstournee mit einem Klaviersolo eröffnen.

„Na ja, für einen Paukenschlag habe ich wohl gesorgt“, sagte ich zu mir selbst. Dann fuhr ich mir durch die lockigen Haare, machte mir einen kleinen Zopf und grinste.

Anschließend schnappte ich mir ein Taxi und fuhr davon.

Der Wagen fuhr mich durch die Dämmerung Hamburgs, und ich sah dabei zu, wie in der Dunkelheit die Leuchtschrift am Himmel immer deutlicher wurde. Sterne funkelten über mir.

Ich richtete meinen Blick durch das Seitenfenster hindurch und suchte nach dem einen besonderen Stern. Dort oben befand sich mein Opa, der leider im letzten Jahr von mir gegangen war. Ich war bei ihm aufgewachsen, da meine Eltern es damals nicht für nötig gehalten hatten, ein Kind aufzuziehen. Drei Jahre war ich alt, als sie sich nach Argentinien abgesetzt und gleichzeitig jeglichen Kontakt zu mir und meinem Opa abgebrochen hatten. Mit acht Jahren verließ mich auch meine Oma. Nach einer Reha war sie auf die Idee gekommen, mit irgendeinem Ernst-Dieter ihren Lebensabend zu verbringen. Ja, sie sagte tatsächlich Lebensabend, obwohl sie damals gerade erst ihren dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte.

Mein Opa und ich waren allein, allerdings ließen wir uns nicht unterbuttern. Im Gegenteil, wir wuchsen noch enger zusammen, und er war es auch, der mir in den letzten Jahren immer wieder dazu geraten hatte, mit der Musik aufzuhören. Also natürlich nicht ganz, aber zumindest bei den Strandpiraten, wie er unsere Band noch immer nannte, obwohl sie längst anders hieß. Klar freute er sich über unseren Erfolg. Doch meine Gesundheit und mein Glück waren ihm wichtiger.

Wir lebten in einem coolen Oldschool-Haus in Alsterdorf. In der sogenannten Gartenstadt, wo auch heute noch viele andere Backsteinhäuser aus den zwanziger und dreißiger Jahren nahezu perfekt erhalten waren. Hier war meine Heimat. Mein Ankerplatz, der mir Kraft zum Atmen ließ, und wo ich noch immer der Josh von früher sein konnte. Niemand verlangte an diesem Ort Dinge, die ich nicht machen wollte. Erst nachdem mein geliebter Opa von mir gegangen war, entfernte sich auch die Liebe zu dieser Wohlfühloase von mir.

„Ich habe auf dich gehört“, sprach ich leise in den Himmel hinauf, nachdem ich Opas Stern entdeckt hatte.

„Was haben Sie gesagt?“ Der Taxifahrer sah mich über den Rückspiegel an.

„Äh … Nichts. Das war nur … also, es war nur für mich“, antwortete ich und hoffte darauf, mit meinen Worten das Gespräch beendet zu haben.

„Okay. War das Konzert nicht so toll? Sie waren ja so ziemlich der Erste, der die Halle verlassen hat?“ Er gab nicht auf, lästigen Smalltalk mit mir zu führen. Leider hatte der Driver meine Worte nicht richtig interpretiert, hatte nicht geschnallt, dass ich nicht reden wollte. Zumindest nicht mit ihm.

„Doch, war es“, antwortete ich erneut knapp.

„Das glaube ich gerne. Dieser Mitch ist ja auch echt ein Knaller. Meine Tochter findet ihn auch megastark. Ihr ganzes Zimmer ist mit seinen Postern vollgespickt.“

„Ist es das?“

„Ja. Der Typ wäre ohne seine komische Band bestimmt noch erfolgreicher. Er hat echt das Zeug zum Superstar.“ Tatsächlich fand mein Fahrer Worte, die ich ganz bestimmt nicht hören wollte. Oder wollte ich doch gerade diese Sätze hören? Bestärkten sie nicht mein Tun und zeigten mir deutlich, dass ich eben für genau den richtigen Paukenschlag gesorgt hatte?

„Das ist wohl so.“ Meine Antwort war kurz. Dann klingelte mein Handy.

Auch ohne auf das Display zu sehen, wusste ich genau, dass es unser Manager war. Schnell drückte ich den Anrufer weg und sah wieder zu meinem Opa hinauf.

Nachdem sich das Spiel einige Male wiederholt und ich zusätzlich noch Unmengen von WhatsApp-Nachrichten bekommen hatte, stellte ich das Handy auf lautlos.

Geräusche belästigten mich nicht mehr. Anrufe und Nachrichten gingen trotzdem weiterhin ein. Als wir uns auf der Kennedybrücke befanden, kam mir eine Idee.

„Anhalten!“, rief ich laut und so energisch, dass der Driver meinem Wunsch nachkam. Selbstverständlich war es verboten, hier einen Stopp einzulegen. „Warte kurz“, sagte ich und verließ den Wagen.

Genau in dem Moment, als auch der Superstar Mitch Sauertafel anrief, holte ich aus und warf mein Telefon mit voller Wucht in die Alster. Während ich dem Ding hinterher sah, stieg ein Gefühl von Erleichterung in mir auf.

Jetzt war ich frei. Niemand sollte mich erreichen. Mein neuer Lebensabschnitt konnte beginnen.

Falsch! Er hatte in diesem Augenblick begonnen, und es fühlte sich grandios an.

Mein Blick war noch immer auf die Alster gerichtet.

Als ich etwas später aufsah, erkannte ich die Lichter der Stadt. Sie schienen mir etwas sagen zu wollen, und ich erfasste auch schnell, was es war.

Die Lichter und ich, wir passten nicht mehr zusammen. Nein, ich musste hier weg. Ich brauchte einen kompletten Neuanfang und wusste, dass dieser nicht in meiner Heimatstadt beginnen konnte.

Doch ich wusste noch etwas. Heute konnte ich mich nicht in die Gartenstadt bringen lassen. Garantiert würden dort irgendwelche vermeintlichen Freunde auftauchen.

Vielleicht aus Sorge, ganz bestimmt aber aus Neugier!

Ein lautes Hupen riss mich aus meiner Gedankenwelt. Als ich mich umdrehte, erkannte ich den Taxifahrer wild in meine Richtung winken. Klar, wir durften hier nicht stehen, und Bock auf einen Strafzettel hatte er garantiert nicht.

Ich ging zurück, nahm erneut auf der Rückbank Platz und nannte ihm eine neue Adresse. Die von meinem Haus, das ab diesem Augenblick nicht mehr mein Zuhause war, hatte sich erledigt.

Da ich ein kleines Hotel in Poppenbüttel kannte, ließ ich mich dorthin chauffieren.

Keine Stunde später hatte ich unter einem falschen Namen eingecheckt und saß bereits im Foyer an einem PC, um das Internet nach WGs zu durchforsten. Nachdem ich um diese ungewöhnliche Uhrzeit direkt eine Zusage bekommen hatte, ging ich hinunter an den Alsterlauf. Ich setzte mich auf einen großen Stein und genoss es, von der Dunkelheit umhüllt zu werden.

Ich war allein, fühlte mich aber nicht einsam. Mein Opa war bei mir, und gemeinsam planten wir den nächsten Tag.

Mein erstes Ziel war die Bank, da ich mich mit einer Menge Bargeld eindecken musste. Dann wollte ich mir ein Prepaidhandy besorgen. Tja, und ich musste mich außerdem irgendwie in mein Haus schleichen, um eine große Reisetasche zu packen.

Erst nachdem ich das am morgigen Tag alles erledigt hatte, konnte meine Flucht weitergehen. Sylt wartete bereits auf mich, auch wenn die Insel selbst noch nichts davon ahnte, dass sie von Jannik Besuch bekam.

Ja, von Jannik, da Joshua Richter in Hamburg blieb!

Da ich hier im Hotel unter Jannik Werner eingecheckt war, hatte ich diesen Namen auch angegeben, als es um mein WG-Zimmer ging.

Aufgewühlt, voller Vorfreude und doch auch kaputt und müde warf ich mich einige Minuten später auf mein Hotelbett. Meine Augen waren bereits geschlossen, als sich ein Lächeln auf meine Lippen legte.

Jannik bedeutet doch so viel wie „Gott ist gnädig“, dachte ich und hoffte, dass es auch für mich galt.

~ Der Tag beginnt ~

Wann ich zuletzt so gut geschlafen hatte?

Es war auf jeden Fall lange her, und ich war heute Morgen auch einigermaßen erstaunt darüber, dass die letzte Nacht eine gute und ruhige gewesen war. Immerhin war gestern richtig was in meinem Leben passiert. Zugegeben, bedingt durch meine Zeit als sogenannter Rockstar war mein Leben auch sonst nicht langweilig. Doch gestern ging es nicht um mein Zweitleben, sondern ausschließlich um mich!

Ich war gestartet, man könnte sogar sagen gesprungen und zwar nicht nur über meinen Schatten, sondern in eine neue Welt. In meine neue Welt, die sich bereits jetzt gut anfühlte, obwohl ich mich noch gar nicht in ihr auskannte. Meine neue Welt und ich hatten sich einander noch nicht vorgestellt, und ich wusste, dass diese Vorstellung einfach auch nicht so holterdiepolter möglich war. Wir mussten uns kennenlernen, beschnuppern, und vor allem mussten wir Vertrauen für den anderen aufbauen. Ohne Vertrauen würden wir es nicht schaffen, zueinander zu finden. Auch wenn wir das Zueinanderfinden ja eigentlich schon geschafft hatten, würden wir uns wieder verlieren, wenn wir unser Band des Vertrauens nicht täglich verstärkten.

Ich war bereit, und ich wusste, dass auch die neue Welt, die ja eigentlich nur ein neuer Lebensabschnitt war, es ebenfalls war.

Gestern wurde ich von meiner neuen Welt mit offenen Armen empfangen, nachdem ich der mutigste Mensch der Welt gewesen war. Okay, der Welt vielleicht nicht. Aber ich hatte schon einige Dinge getan, von denen ich bisher dachte, dass ich sie niemals schaffen würde.

Mitch and the Pirates mussten von jetzt an ohne mich auskommen. Mein Handy lag auf dem Grund der Alster, und aus Joshua Richter war Jannik Werner geworden.

Doch nicht nur das!

Das Haus meines Opas würde ab nachher verwaist sein, und ich selbst befand mich in einigen Stunden auf einer Insel. Sylt rief nach mir, und eine WG auf der Insel wartete darauf, dass ich in das freie, möblierte Zimmer einzog.

„Echt krass!“, sagte ich leise zu mir. Dann betrat ich den Frühstücksraum und sah mich um. Niemand war da, und so konnte ich mir einen schönen Fensterplatz aussuchen. Ich goss mir Kaffee ein, gab etwas Milch dazu und sah aus dem Fenster. Mein Blick fiel auf den Stein am Alsterlauf, auf dem ich gestern Abend noch gesessen hatte.

Dann musste ich lächeln. Ja, ich lächelte, und es tat gut, in diesem Augenblick mit mir und der Welt im reinen zu sein. Aber ich lächelte noch aus noch einem weiteren Grund. Meine Gedanken waren im Jetzt, und wenn sie es kurz verließen, landete ich nicht in der Vergangenheit. Nein, dann flogen sie in die kommende Zeit und arbeiteten an meinem Vorhaben. An meinen Plänen, meiner Zukunft und daran, dass alles gut werden würde. Ich war ausschließlich mit dem, was kommen würde, beschäftigt und freute mich darüber, dass mich meine Gedanken nicht in der Vergangenheit festhielten. Sie unterstützen mich auf meiner Reise und hatten genau aus diesem Grund ein Lächeln voller Vorfreude von mir verdient.

Auch zwei Stunden später lächelte ich, und ich hatte allen Grund dazu.

In meiner Hand befand sich mein neues Handy und in der Innentasche meiner Jacke ein ordentlicher Batzen Bargeld.

Manchmal ist die Vergangenheit doch zu etwas gut. Auch dann, wenn man sie eigentlich verflucht und keinen Bock mehr auf sie hat, dachte ich und sah mein Spiegelbild in der großen Fensterfront der Bank an. Ich war zwar als Jannik in die Bank gegangen und jetzt auch als derselbige wieder herausgekommen. Doch in der Bank, genauer gesagt, am Schalter, war ich zu Joshua Richter geworden. Zu dem Menschen, der ich gestern noch war, und der ich heute nicht mehr sein wollte. Ich musste für einen kurzen Moment in die Vergangenheit eintauchen und wieder zum Keyboarder der Band Mitch and the Pirates werden.

Falsch! Zum Keyboarder der Strandpiraten, wie ich uns auch nach der dämlichen Namensänderung noch immer nannte.

Leider ging es nicht anders. Der Bankangestellte hätte mir sicher kein Geld gegeben, wenn ich als Jannik Werner vorstellig geworden wäre. Auch so gab es schon einige kleine Hürden zu überwinden, da ich die große Summe eigentlich hätte anmelden müssen. Doch manchmal war es ganz praktisch, bekannt zu sein und in einer angesagten Band zu spielen. Tatsächlich war ich mir sicher, nur aus diesem einen Grund jetzt diese große Menge an Scheinen mit mir rumtragen zu können.

Mein Spiegelbild lächelte mich nochmals kurz an, dann wurde es ernst. Leider hatte ich noch etwas vor der Brust. Es war weder der Kauf des Handys noch das Geldabheben in der Bank. Nein, das, was vor mir lag, war um einiges schwerer für mich. Mein Ziel war der Stadtteil Alsterdorf, genauer gesagt, die Gartenstadt, in der sich das Haus meines Opas befand. Ich musste dorthin. Hinein in die vier Wände, die fast mein gesamtes Leben lang auch mein Zuhause waren.

„Dann los. Es geht ja nicht anders“, sagte ich zu mir selbst und stieg in den Bus.

Schnell hatte ich mein Ziel erreicht. Zumindest die Bushaltestelle, die sich am dichtesten an meinem Zuhause befand. Der Weg von dort dauerte normalerweise höchstens drei Minuten, doch ich erkannte, als ich auf die Uhr sah, dass ich heute bereits fast zehn Minuten unterwegs war. Ob dieser Umstand meinem immer wieder Umdrehen und Nachsehen, ob mich jemand beobachtete, geschuldet war? Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Es war vielmehr die Unbehaglichkeit, die mit jedem Schritt größer wurde.

Was mich wunderte, war, dass ich nicht wirklich greifen konnte, woran es lag. Hatte ich Schiss davor, das Haus zu betreten? Oder vielleicht doch Angst, es für immer zu verlassen?

Auch als ich mich bereits an der Haustür befand, hatte ich keine Antwort auf diese Frage. Da sich mein Schlüssel noch immer in meiner Jackentasche befand und ich diese gestern in der Garderobe zurückgelassen hatte, musste das Notersatzschlüsselgeheimversteck herhalten. Mein Opa hatte diesen Ort immer so genannt, und um ehrlich zu sein, war es eine ziemlich geniale Idee von ihm gewesen, dieses Versteck einzurichten. Es hatte mir schon einige Male gute Dienste erwiesen.

Ich zog einen der Mauersteine aus seiner Lücke und holte den Schlüssel aus dem Mauerloch heraus. Anschließend steckte ich ihn ins Schloss, atmete tief durch und öffnete die Tür zu dem Haus, das ich nur noch für einen kurzen Moment als mein Zuhause bezeichnen konnte.

Meine Schritte waren langsam und vorsichtig.

Obwohl ich gestern Morgen noch in diesem Haus erwacht war, fühlte ich mich in diesem Augenblick wie ein Fremder.

Nein, fast wie ein Einbrecher!

Ein kalter Schauer ergriff mich, und ich wusste, dass er das Zeichen dafür war, mich zu beeilen. In meinem Zimmer angekommen, kniete ich mich auf den Boden, zog die große Reisetasche unter dem Bett hervor und begann sofort damit, sie zu füllen. Mit jeder Handbewegung wurde ich schneller, und so stand ich wenige Minuten später bereits wieder im Flur. Mein nächster Weg führte mich ins Bad, wo ich meine Kulturtasche füllte und sie anschließend ebenfalls in der Reisetasche versenkte.

„Ich habe es geschafft“, flüsterte ich erleichtert, als ich die Haustür erreicht hatte. Dann öffnete ich diese, ging aber nicht hindurch.

„Ich Depp!“, sprach ich zu mir selbst, klatschte mir gegen die Stirn und lief zurück in mein Zimmer. Als ich an meinem Bett ankam, blieb ich einen Moment andächtig stehen. Dann griff ich zum Nachtschrank und nahm das Foto im silbernen Rahmen in die Hand. Ich sah es an und spürte die Tränen, die meine Augen mit Flüssigkeit füllten. Als sie begannen, über meine Wangen zu fließen, drehte ich mich um und lief zurück zur Haustür.

„Ohne dich fahre ich nicht!“, sprach ich, sah zum Foto und strich mit einem Finger vorsichtig über das Glas, unter dem sich ein Bild von meinem Opa und mir befand. Nachdem ich es sicher in der Reisetasche verstaut hatte, machte ich mich auf den Weg.

Auf den Weg in mein neues Ich.

~ Neue Heimat ~

Klar befand ich mich erst eine Nacht und die heutigen Stunden des Tages auf der Insel, die mein neues Zuhause war.

Trotzdem fühlte sich alles easy an. Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen und landete mit meinen Gedanken erneut bei dem Wort Lichtjahre.

Es fühlte sich an, als hätte ich meine Vergangenheit schon sehr lange hinter mir gelassen. Als ich über den Grund dafür nachdachte, hatte ich die Lösung sehr schnell parat. Ich hatte schon länger mit allem abgeschlossen, lediglich nicht den Mut dazu gehabt, die notwendigen Schritte einzuleiten. sie so zu gehen, wie ich es vorgestern endlich getan hatte.

Schon häufig hatte ich im Garten meines Hauses gesessen und mich dorthin geträumt, wo ich eigentlich sein sollte. Bilder von Küsten, Stränden und Einsamkeit hatte ich in diesen Momenten vor Augen. Nein, ich dachte nicht an Sylt, aber vom Prinzip her hätte es auch dieses wunderschöne Eiland sein können.

Als ich mich langsam von meinem Sessel erhob, führten mich meine ersten Schritte zum Fenster. Ich sah die Fensterbank, die bereits nach wenigen Stunden zu meinem Lieblingsplatz geworden war.

Dann blickte ich mich um, und da ich meine Reisetasche noch nicht komplett ausgepackt hatte, hob ich sie auf das Bett und begann damit, mein Hab und Gut zu befreien.

Nach dem fünften Teil hielt ich den Bilderrahmen in meinen Händen. Stumm sah ich ihn an und freute mich darüber, noch an ihn gedacht zu haben. Ohne meinen Opa hätte ich nicht hier sein wollen. Natürlich war er immer bei mir. In meinem Kopf und natürlich auch tief in meinem Herzen war er Dauergast, und abends leuchtete er mir vom Himmel aus zu. Doch ein Bild in meinen vier Wänden stehen zu haben, gehörte trotzdem einfach dazu.

Doch ein Bild kann nicht lachen, so wie du, dachte ich, während sich ein mildes Lächeln auf meine Mundwinkel legte. Ein Lied war mir in den Sinn gekommen. Ein Songtext, der eigentlich für eine verflossene Liebe gedacht war. Aber auch eine Strophe, die perfekt zu diesem Moment passte. Schon von Kinderzeiten an hatte ich zusammen mit meinem Opa die Lieder von Peter Maffay gehört. Sie waren unser Begleiter und halfen uns, wenn wir schlechte Tage hatten. Aber auch in guten Zeiten führten sie uns durch den Tag und sorgten dafür, dass aus einem guten Tag ein sehr guter wurde.

Ein Bild kann nicht lachen, so wie du. Ja, so hieß das Lied, das Peter Maffay 1976 aufgenommen hatte, und ich sang mit leiser Stimme den Textteil, der wie gemacht dafür war, das Foto von meinem Opa und mir direkt neben der Fensterbank aufzustellen.

„Deine Bilder in meinem Zimmer

sind wie Träume einer schönen Zeit.

Doch ein Bild kann nicht lachen so wie du.

Ja

und ein Bild kann nicht weinen so wie du.

Oh nein

ein Bild kann nicht zärtlich sein

es kann mich nicht verstehn –

und ich muss meinen Weg alleine gehn.

Tausend Straßen tausendmal.“

Als ich fertig gesungen hatte, nickte ich zufrieden. Hier gehörte es hin. So konnte ich es von meinem Lieblingsplatz aus perfekt sehen.

Ich strahlte - und mein Herz strahlte mit.

„Dann mal los, Jannik.“ Meine Worte galten mir, und ich amüsierte mich darüber, dass ich mich bereits selbst Jannik nannte.

Josh war in Hamburg geblieben, was auch der Grund dafür war, dass ich mich gestern Morgen am Hamburger Bahnhof Altona an keinem Schleswig-Holstein-Ticket beteiligt hatte. Dort hätte ich meinen richtigen Namen angeben müssen und dazu meinen Personalausweis präsent halten. Ich hatte nicht mal kurz darüber nachgedacht, da ich als Jannik Werner und nicht als Joshua Richter auf Sylt ankommen wollte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752130188
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Meer Nordsee Star Suche Poesie Sylt Syltliebe Liebe Leben Musik Roman Abenteuer Humor

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram lebt in Schleswig-Holstein, und Sylt ist längst zu seiner zweiten Heimat geworden. Genau deshalb spielen die meisten seiner Romane auf dieser Insel. Das Schreiben ist längst nicht "nur" sein Hobby und so erfüllt er sich einen Lebenstraum als Autor.
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Titel: Gestrandet auf Sylt