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Bardenlieder von Silbersee - Die Drachenreiter 1

Schicksalsschläge

von Manuela P. Forst (Autor:in)
238 Seiten

Zusammenfassung

Sie ist die einzige Überlebende eines blutigen Überfalls. Ihre Familie wurde ermordet. Ihr Dorf wurde zerstört. Sie hat alles verloren. Selbst die Erinnerung wurde ihr genommen. Geblieben ist nur Ungewissheit. Wenn Linara in den Spiegel blickt, sieht sie eine leidenschaftliche Kämpferin, eine Drachenreiterin. Doch sie sieht auch eine junge Waldelfe ohne Wurzeln. Es muss etwas geben hinter der schwarzen Wand des Vergessens, eine Vergangenheit, die ihr sagt, wer sie wirklich ist. Ihr Vater, ihre Mutter … Sind tatsächlich alle gestorben? Mit Die Drachenreiter 1 - Schicksalsschläge beginnt ein episches Abenteuer aus der Reihe der Bardenlieder von Silbersee. Eine Söldnertruppe sattelt ihre Drachen und stürzt sich in einen aussichtslos scheinenden Kampf gegen Goblins, Orks und nicht zuletzt gegen ein korruptes Regime. Doch in den Schatten lauert noch eine wesentlich tödlichere Bedrohung. Illustrierte Ausgabe!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort – Über Silbersee

 

 

Seinen Namen erhielt die Stadt einer Legende nach aufgrund des silbernen Glanzes, der in besonderen Vollmondnächten von der Burg aus auf hoher See zu beobachten ist. An der Südküste des Binnenmeeres Akarta gelegen, ist Silbersee seit Jahrhunderten eine Anlaufstelle für Schiffe und Handelskarawanen. Mit ihnen kommen seit jeher Angehörige der verschiedensten Völker und manche lassen sich in der florierenden Stadt auf dem schmalen fruchtbaren Landstrich zwischen dem Meer und dem Kalkspitzengebirge nieder. Obgleich die Führung seit Generationen fast ausschließlich in Menschenhand liegt, wurde Silbersee zu einem Schmelztiegel der Kulturen. In kaum einer anderen Stadt trifft man derart viele Rassen und in weiterer Folge auch Religionen an. Ein Theologe aus dem Elfenfürstentum Intirana behauptete einmal, Silbersee habe mehr Götter als Einwohner, und vermutlich stimmt das sogar. Eine genaue Zahl ließe sich kaum feststellen, da täglich hunderte Leute durch die großen Tore der Befestigungsmauer strömen. Neben Händlern, Seeleuten und Abenteurern finden so auch zahlreiche Gaukler und Barden ihren Weg nach Silbersee, wo sie auf Plätzen und in Tavernen mit Liedern und Erzählungen unterhalten. Der Volksmund sagt, nach einer Zechtour durch das Hafenviertel habe man die Welt bereist und einen Blick in die Höllendimensionen riskiert. Erstes ist gewiss eine Übertreibung, selbst wenn man den Geschichten der Reisenden einen höheren Wahrheitsgehalt zusprechen würde, als sie in der Regel aufweisen. Zweites kann zumindest metaphorisch betrachtet zutreffen, berücksichtigt man die Inhaltsstoffe der zuweilen angebotenen Getränke.

Trotzdem man mitunter gar exotische Geschöpfe durch die Straßen spazieren sieht, wird die Bevölkerung von Silbersee von vier Rassen geprägt. Den Hauptanteil machen immer noch die Menschen aus, gefolgt von den Elfen. Zwerge trifft man vornehmlich im Handwerkerviertel. Eine recht kleine Bevölkerungsgruppe bilden die Halblinge. Diese vier Rassen stellen die Eckpfeiler der Gesellschaft dar, was unter anderem auch durch die vier Sterne auf dem Wappen der Stadt symbolisiert wird. Minderheiten wie die Gnome kämpfen seit Jahren vergeblich darum, von der Obrigkeit anerkannt zu werden.

In den vergangenen Jahrhunderten hat Silbersee zahlreiche Regenten gesehen – Männer, die sich Herzog, Fürst und gar König nannten. In diesen Tagen gebietet Herzog Karatek von Hufwald mit Unterstützung seines Beraterstabs über die Stadt und das Umland.

Natürlich haben all diese Völker nicht nur ihre Kultur und Religion, sondern auch ihre eigene Sprache. Da jedoch selbst Zwergenstämme untereinander gelegentlich Verständigungsprobleme haben und die alte Sprache der Elfen nur noch bei Gelehrten, Adligen und manchen isoliert lebenden Sippen gebräuchlich ist, dient die Sprache der Menschen als allgemein anerkannte Handelssprache am gesamten Binnenmeer und darüber hinaus.

Als eine der ältesten Sprachen hat Alt-Elfisch auch im täglichen Gebrauch deutliche Spuren hinterlassen, weshalb hier eine kleine Erklärung folgen soll, die vor allem als Hilfestellung bei der Aussprache von Eigennamen dient:

Eine Grundregel im Alt-Elfischen besagt, dass bei männlichen Eigennamen einem T stets ein H folgen muss. Dieses ist jedoch als stumm zu betrachten oder wird (in der gehobenen Sprache) schwach gehaucht (Beispiel: Atharis).

Steht C am Wortanfang, wird es wie K gesprochen (Beispiel: Cirano). Im Alt-Elfischen steht C in der Wortmitte für ein schärfer gezischtes S (Beispiel: Jacilia) – anders, als in der Sprache der Schattenelfen, wo C immer für K steht (Beispiel: Pencury).

Y stellt eine Art Mischlaut zwischen I und Ü dar (Beispiel: Selyra). Steht es im Anschluss an ein I, wird es jedoch immer als J gesprochen (Beispiel: Ribeiyon).

Abschließend sei noch Z erwähnt, das in der Wortmitte für ein klangvolles S stehen kann (Beispiel: Squizi).

 

Prolog

 

 

... Licht und Schatten ...

... Tag und Nacht ...

 

Seit Zeitaltern beherrscht die Ausgewogenheit der Gegensätze die Welten. Und gleichsam, wie diese Kräfte des Universums miteinander ringen, scheinen die Völker seit ihrer Geburt dazu verdammt, den ewigen Krieg zwischen Gut und Böse auszufechten.

Wie sehr das aufrichtige Herz eines tapferen Kriegers auch für die uneingeschränkte Herrschaft des Guten und den ewigen Frieden schlagen mag, so ist es doch ein unumstößliches Gesetz der Natur, dass Licht Schatten hervorbringt. Und in der absoluten Dunkelheit der Erde mag ein Keim gedeihen zu einer prächtigen Rose, deren zarte Knospen der Sonne entgegenstreben.

Solange es Leben in den Welten gibt, wird dieser Konflikt niemals ruhen, denn wo der absolute Friede beginnt, hört jegliches Leben zu existieren auf.

 

So schrieb der Magiergelehrte Enowig einst in seiner Chronik über den Krieg der Elfen, den größten aller Kriege, der je diese Welt erschüttert hat.

Kein Mensch kann heute noch die Jahrhunderte ermessen, bis zurück zu jenem Tag, an dem die Bündnisse der Elfen zerfielen. Damals herrschten die Illas ar’Fee, die Könige der Elfen und reinblütigen Nachfahren jener Feenwesen, an deren Scheiden von der Welt sich heute selbst die Ältesten nicht mehr zu erinnern vermögen, uneingeschränkt über die Elfenvölker. Doch während die Waldelfen und die Fürsten an den Küsten des Meeres ihren Bund mit ihren Vorvätern über den Tod hinaus bekräftigten, wurden in der Ebene jenseits des Eissteingebirges Stimmen vernehmbar, die lautstark ihren Unmut kundtaten.

Ein Krieg brach aus, der die Macht der Elfen in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Riss zog sich durch Land und Volk und bald schien die Kluft zwischen den Elfenstämmen unüberwindbar.

In den unzähligen Jahrhunderten, in denen die Schlachten tobten, wurden Kraft und Einfluss der Illas ar’Fee empfindlich geschwächt. Unter hohen Verlusten gelang es ihnen letztendlich, den Sieg davonzutragen. Ihre Widersacher, durch viele Generationen ihrer Vorväter ihre Blutsverwandten, wurden niedergerungen und flohen. Ängstlich verkrochen sie sich in den Höhlen der Gebirge und zogen sich in den Schatten der Welt zurück.

Sie wurden die Schattenelfen – einst ein Begriff für scheue, von der Niederlage gezeichnete Elfenstämme, sollte er über die Zeitalter hinweg zu einem Sinnbild für dunkle Mächte, Zerstörung und Leid werden.

In den Überlieferungen der Schattenelfen heißt es, dass Kylra, die Schlangengöttin und Hüterin der Erde, die Elfen in ihr Reich geführt hat. Mit ihrem überirdischen Körper soll die Weltenschlange selbst die Tunnel in das Innere der Gebirge geformt haben, wohin ihr die Schattenelfen folgten.

Durch den Glauben an ihre Beschützerin bestärkt, sammelten sich die Vertriebenen im Schoß der Welt und entsagten dem Licht, der Sonne und den Sternen. Sie nannten sich selbst die Herren der Schatten, die Siath. Doch ihre Niederlage sollten sie nie vergessen. Und tief in den Falten der Gebirge schürten sie ihren Hass auf die Lichtelfen, ihre Vettern, die frei unter dem Sternendach der Welt wanderten.

Zu Anfang hilflos in der kahlen Einöde des Gesteins, perfektionierten sie nach und nach ihre magischen Fähigkeiten und machten sich die Dunkelheit untertan. Sie eigneten sich die Fertigkeit an, mit den Schatten zu verschmelzen. Manche behaupten gar, die Siath selbst seien die Personifizierung der Schatten.

Dieser Tage haben die Schattenelfen wenig mit ihren Verwandten an der Oberfläche gemein. Ihre Haut hat ihren goldenen Schimmer verloren, sie ist fahl, stählern blau bis grau. Und auch die Farbe ihres Haares ist verblichen.

Mit ihrer Magie, der Perfektion in der Kunst des Kampfes und ihrem heiß brennenden Hass auf die Bewohner der lichtgetränkten Oberfläche, sagten sie ihren Vettern erneut den Kampf an. Aus den Gejagten wurden Jäger. Und während die Macht der Illas ar’Fee weiter schwand, waren die Siath in der Dunkelheit von Neuem erstarkt.

So manches Elfenkind in den Wäldern seiner Heimat späht heute beunruhigt in die Nacht, da es fürchtet, den todbringenden Schatten seiner dunklen Verwandten dort lauern zu sehen.

So nimmt der Krieg der Elfen seinen endlosen Lauf ...

 

1 – Das Ende

 

 

»So, das muss reichen!«

Linothos verknotete das Seil, mit welchem er die Hufe des Rehbocks zusammengeschnürt hatte, und warf sich das erlegte Wild über die Schulter. Sein Blick wanderte zu dem kleinen Mädchen hinüber, das abseits auf der Wiese stand und ihn aus großen, runden Augen interessiert beobachtete. Einen Moment verharrte er reglos und betrachtete das Kind mit dem glänzend schwarzen Haar, das es im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten trug. Gekleidet war es in Hemd und Hose aus Leinen in erdigen Grün- und Brauntönen. Über die Schulter hing eine Tasche, die ihm bis zu den Knien hinab baumelte und mit Pilzen prall gefüllt war. Ein Gefühl des Stolzes durchflutete Linothos und ließ es ihm warm ums Herz werden, wie jedes Mal, wenn er Linara, seine Tochter, betrachtete.

Das Mädchen taxierte ihn indes weiterhin neugierig.

›Sie hat die gleichen saphirblauen Augen wie ihre Mutter, tief wie die Seen des Eissteingebirges in meiner Heimat ...‹

Das Flattern eines aufgeschreckten Vogels riss Linothos aus seinen Gedanken. Er lächelte verlegen, als ihm bewusst wurde, wie sehr er seine Tochter anstarrte.

»Komm, Lina, meine kleine Prinzessin, wir gehen nach Hause! Du hast heute viel gelernt. Und es wird spät werden, bis wir ins Dorf zurückkehren.«

Die Sonne neigte sich bereits zu den Baumwipfeln hinab. Linothos schätzte, dass sie etwa drei Stunden ihrem Lauf folgen mussten, bis sie ihr Dorf erreichten. Der heutige Jagdausflug hatte sie weiter als gewöhnlich von zuhause fortgeführt.

Entschlossen umfasste er die Beine des Wildes auf seiner Schulter und ging voran. Er war groß und kräftig gebaut für einen Mann seiner Abstammung – er war ein Waldelf. Wie seine Tochter war er in Grün und Braun gekleidet, hatte helle Haut und schwarze, lange Haare. Seine Augen waren im Gegensatz zu denen seiner Tochter grün, eine Farbe, die bei Elfen weit verbreitet war.

Linothos und Linara liefen durch das hohe Gras der Lichtung und in den Wald. Zu ihrer Linken ragte das Kalkspitzengebirge steil auf. So weit das Auge eines Falken zu blicken vermochte, zog es sich gleich einem steinernen Wall nach Osten und Westen. Für die meisten Bewohner der diesseitigen Ebene stellte es mit seinen schroff abfallenden Felswänden und zerklüfteten Schluchten ein unüberwindbares Hindernis dar. Nur wenige wussten zu berichten, was auf der anderen Seite lag. Die Erzählungen derer, die vorgaben, es zu wissen, reichten von Wüsten mit nichts als Sand und Tod über Sümpfe voller schlüpfriger Wesen bis hin zu blühenden Hainen mit Quellen der ewigen Jugend, um die leicht bekleidete Nymphen tanzten. Hierzu sei anzumerken, dass jene, die Letzteres behaupteten, in der Regel noch nie eine Nymphe zu Gesicht bekommen hatten.

Die Nacht hatte Wald und Berge bereits in tiefe Dunkelheit gehüllt und nur gelegentlich blinzelte ein Stern durch eine Lücke in der Wolkendecke, als Linothos und seine Tochter ein schmales, bewaldetes Tal erreichten, das sich tief in das Gebirge schnitt. Hier hatte sich ihre Sippe vor vielen Jahren niedergelassen.

Die Schwärze der mondlosen Nacht stellte für die beiden kein Problem dar. Wie alle Elfen besaßen auch sie die Fähigkeit, selbst bei absoluter Dunkelheit Formen und Strukturen zu erkennen, da dann ihr Sehvermögen vom normalen Lichtspektrum in einen Wahrnehmungsbereich wechselte, der ihnen erlaubte, die Energiemuster von Gegenständen und Lebewesen zu visualisieren. Die unterschiedliche Beschaffenheit der Pflanzen, der Tiere und selbst des Gesteins wurde in den Augen der Elfen zu klaren Farben und ließ sie ihre Umgebung so deutlich erkennen, als wäre es helllichter Tag.

Sie hatten soeben den Gebirgsbach überquert, der sprudelnd und gurgelnd über die Steine hinunter in die Ebene sprang, als Linothos so abrupt stehenblieb, dass seine Tochter, die direkt hinter ihm lief, gegen seinen Rücken prallte.

Verwirrt sah Linara ihren Vater an. Die Frage, was denn los sei, drängte auf ihre Lippen, doch sie schluckte sie schnell hinunter. Linothos hatte ihr verboten, unaufgefordert zu sprechen, wenn sie ihn auf der Jagd begleitete. Es gab zahlreiche Wesen in diesen Wäldern, deren Aufmerksamkeit man besser nicht durch unnötige Geräusche weckte. Deshalb blieb sie stumm stehen, während ihr Blick dem ihres Vaters über die Baumwipfel das Tal entlang folgte.

Die Wolken am Himmel zeigten eine unnatürlich dunkelrote Färbung. Es war der schwache Widerschein von einem hellen Glühen, das seinen Ursprung irgendwo tief in der Gebirgsfalte hatte. Schwaden von Dunst oder Rauch zeichneten geisterhaft leuchtende Formen vor die schwarze Silhouette des Gebirges.

Linara stand still und wagte kaum zu atmen. Sie wusste, dass ihr Vater den Geräuschen des Waldes lauschte. Jedes Knacken eines Astes und jeder Ruf eines Tieres konnte ihm Aufschluss über die Vorfälle im und um den Wald geben. Linara war diese Fähigkeit nicht fremd. Auch sie vermochte das angeborene gute Gehör eines Elfen mit dem Verständnis für die Sprache der Wildnis zu verbinden. Doch fehlte ihr die Erfahrung, das Wahrgenommene richtig zu interpretieren. Im Moment verspürte sie nur eine abwartende Furcht. Doch ihr war nicht klar, ob dieses Gefühl aus ihr selbst entsprang oder ob der Wald es ihr mitteilte. Das rote Licht war ihr unheimlich. Aber sie hörte auch Schreie von Tieren und andere fremde Geräusche, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten.

Gerade, als sie glaubte, diese steigende Angst nicht mehr ertragen zu können, packte Linothos sie am Arm und zog sie weiter. Sie stolperte hinterher, als er hastig einen leicht ansteigenden Hang hinaufeilte. Erst als das Gelände wieder flacher wurde und sie einem Pfad neben dem Bach entlang der Talsohle folgten, hatte Linara sich wieder so weit gefangen, dass sie mit ihrem Vater schritthalten konnte.

Ein ahnungsloser Beobachter hätte lediglich blasse Schatten erkannt, die durch den Wald huschten. Flink wie Rehe eilten die Elfen voran, ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Nur selten war das leise Rascheln von trockenem Laub zu vernehmen.

Als sie sich der Elfensiedlung näherten, verließ Linothos den zunehmend ausgetretenen Pfad und mäßigte das Tempo, bis er schließlich stehenblieb. Mit knappen Handbewegungen bedeutete er seiner Tochter, sich im Schutz einer der großen Eichen zu verbergen und abzuwarten.

Linara tat, wie ihr geheißen wurde. Aus dem Augenwinkel sah sie noch das kalte Blitzen von Stahl, als ihr Vater ein langes Messer aus seinem Gürtel zog. Im nächsten Moment war er zwischen den Bäumen verschwunden.

Linara kauerte sich zwischen die Wurzeln einer alten Eiche. Unweit neben ihr lag der Rehbock achtlos hingeworfen im Moos.

Endlose Minuten verstrichen.

Die kleine Elfe reckte ihren Hals und spähte in die Richtung, in welcher sie das Dorf vermutete.

 

 

Das rote Glühen, das zuvor nur als schwacher Schein über dem Tal erkennbar gewesen war, füllte jetzt den Raum zwischen den Bäumen vor ihr völlig aus. Ihr war, als würde die gesamte Luft schreien von der panischen Angst fliehender Tiere. Unangenehm beißender Geruch brannte ihr in der Nase.

Eine, wie es ihr schien, Ewigkeit verharrte sie in ihrem Versteck und wartete ab. Doch niemand kam oder rief nach ihr.

Einsam und winzig klein fühlte sie sich unter dem gewaltigen Blätterdach der Bäume. Ihre Gedanken wanderten ihres Vaters Fußspuren entlang zu der Lichtung, auf der die Hütten ihrer Familie und ihrer Freunde standen. Angst gab ihrer Fantasie freien Lauf. Sie malte sich die wildesten Geschehnisse aus, die ihre Furcht nur noch verstärkten und sie immer weiter in einen wirren Gedankenstrudel trieben, in dem sich alle Geschichten von blutrünstigen Bestien und dunkler Magie, die sie je gehört hatte, die Hand gaben.

Ein lautstarkes Schnattern ließ sie zusammenschrecken. Doch es war nur ein Vogel, der geräuschvoll durch das Geäst flog, hektisch das Weite suchend.

Getrieben von Neugierde und noch mehr von Furcht, erhob sich Linara schließlich und ging langsam aber stetig auf das Dickicht zu – den Weg, den zuvor Linothos genommen hatte. Kaum war sie sich bewusst, dass sich ihre Füße bewegten, so sehr war ihr Geist von den Eindrücken eingenommen, die sie umgaben. Sie hörte, wie die Tiere Alarm schrien und zur Flucht aufriefen, und doch ging sie weiter.

Sie war noch ein gutes Stück vom Rand der Böschung entfernt, welche die Lichtung begrenzte, als ein gellender Schrei des Entsetzens an ihr Ohr drang, der erstickt abbrach. Wie ein Speer stach es in ihr Herz. Das war die Stimme ihres Vaters!

Einen langen Augenblick stand Linara reglos da, bleich wie eine Statue weißen Marmors, und vermochte sich nicht zu bewegen. Als würden starke Hände sich um ihren Hals legen, schien sie kaum in der Lage zu atmen.

Dem Schrei folgte kurzes Gelächter.

Dann rief eine Männerstimme, die hell und klar aber auch kalt wie blanker Stahl war, knappe Befehle in einer dem Mädchen fremden Sprache.

Die kleine Elfe drängte ihre Beine verzweifelt, sie doch vorwärts zu tragen. Sie musste erfahren, was da vor sich ging! Ihr Vater brauchte sie! Sie musste ihm beistehen!

Endlich gelang es ihr, die Befehlsgewalt über ihre Gliedmaßen zurückzuerlangen. Hastig sprang sie vorwärts, lief und stolperte ohne Rücksicht auf ihre Deckung in die Richtung, aus welcher der Lärm gekommen war. Und dann brach sie durch das Geäst am Rande der Böschung.

Grelles Licht und große Hitze schlugen ihr entgegen und zwangen sie auf die Knie. Ihr war, als würde sie plötzlich inmitten des Ursprungs des Leuchtens stehen.

Ihre Augen brannten und tränten selbst noch, nachdem sich ihr Sehvermögen auf Tageslicht eingestellt hatte. Allmählich vermochte sie Formen auszumachen – zuerst nur schwache Schatten, die quälend langsam deutlicher wurden.

Linara befand sich am Rand einer annähernd kreisrunden Lichtung am nördlichen Ende der Elfensiedlung. Doch was Linara sah, hatte kaum noch etwas mit der Heimat gemein, die sie kannte.

Vor ihr breitete sich ein Schauplatz schier grenzenloser Zerstörung aus. Einfache Blockhütten, die zwischen Gemüsegärtchen und Kräuterbeeten gestanden hatten, waren in sich zusammengestürzt. Feuerzungen leckten an zerborstenen Balken. Rauch stieg von verkohltem Stroh auf, mit dem die Dächer gedeckt gewesen waren. Scherben großer tönerner Vorratsgefäße waren verstreut auf versengtem Gras. Die gesamte Siedlung lag in Trümmern.

In diesem Bild verheerender Verwüstung, das sich vor Linara auftat und immer klarere Konturen annahm, wurde sie einer Gestalt gewahr, die zwischen den niedergebrannten Gebäuden umherstreifte. Die gebückte Haltung erweckte den Anschein, als würde sie nach etwas suchen. Schon wollte Linara rufen. Sie wollte losstürmen und sich diesem Erwachsenen an den Hals werfen. Doch etwas hielt sie zurück, eine innere Stimme, die ihr sagte, dass dies kein Elf ihrer Sippe war. Etwas Bedrohliches ging von der Person aus, ohne dass sie erklären konnte, was genau es war.

Geduckt wagte sich Linara näher heran.

Hinter einer Holzwand, deren verkohlte Latten wie die schwarzen Zähne einer gewaltigen Bestie aufragten, verharrte sie. Der Rauch brannte in ihren Lungen. Sie konnte sich nur mit Mühe zwingen, nicht zu husten. Ein Stoßgebet zu ihren Göttern sendend, hoffte sie, dass ihr Keuchen sie nicht verriet.

Nur noch wenige Meter trennten sie nun von dem Wesen, das da mit dem Rücken zu ihr stand und sich über etwas beugte. Groß und schlank war es, von der Statur eines Elfen oder eines schmächtigen Menschen. Ein schwarzer Mantel, der am weit ausschwingenden Saum mit einer Borte flammend roter Symbole verziert war, verhüllte den Körper und verwehrte Linara die Sicht auf Details.

Da erklang er erneut, der Ruf dieser kalten Stimme. Linara vernahm ihn ebenso deutlich, wenn auch entfernt aus dem Wald oberhalb der Lichtung. Auf dieses Kommando hin erhob sich die Gestalt und wandte sich um. Der Schein des Feuers fiel auf die feinen Gesichtszüge eines Elfen, der von einer Art war, wie ihr Linara noch nie zuvor begegnet war. Wie der düstere Schatten eines Waldelfen erschien er ihr. Der Körper des Mannes war wie aus Zinn gegossen, wodurch sich seine Augen scharf und leuchtend von dem dunklen Gesicht abhoben. So hart und kalt war ihr Blick, dass Linara zurückschrak und einen Moment wie gebannt war.

Die Haare des Elfen wurden von einem Stirnreif gehalten – eine silbrig blaue Mähne, die ihm wallend über die Schultern fiel. Unter dem Mantel blitzte ein Kettenhemd. Doch noch erschreckender, als der Ausdruck in seinen Augen, waren für Linara zwei schmale Schwerter, die in seinen Händen lagen. Von den Klingen tropfte frisches Blut zu seinen Füßen.

Linara war überzeugt, einen Dämon vor sich zu haben – ein Dämon, der aus den Höllendimensionen selbst entstiegen war, um ihre geliebte Welt in eine ebensolche zu verwandeln.

Nun wandte sich der Elf ab und suchte sich mit raubkatzenhaft anmutenden Bewegungen einen Weg durch die Trümmer. Und schon im nächsten Augenblick war er verschwunden, wie das Monster aus einem Albtraum, aus dem man aufwacht.

Doch aus Linaras Albtraum gab es kein Erwachen. Denn nun hatte sie freie Sicht auf das, was den Elfen beschäftigt hatte.

Da lagen sie alle – Freunde, Verwandte, Alte und Junge – liegengelassen, wie sie gefallen waren. Ihre Gesichter waren bleich. Das Leben war unwiderruflich aus ihren einst strahlenden Augen gewichen. Rote Linien zierten Kehlen und Brust der Elfen, von denen sich ihr Blut in Rinnsalen seinen Weg zur Erde bahnte, um dort letztendlich im sandigen Boden zu versickern.

Der Feind war von allen Seiten gekommen, hatte sie zusammengetrieben wie eine Herde Vieh – eine Herde für den Schlachthof. Dies war kein Werk, wie es Orks bei Überfällen in ihrem Blutrausch täten, die ihre Opfer verstümmelten und oft halb lebendig zurückließen. Vielmehr glich es einer Hinrichtung. Die Täter hatten gründlich dafür gesorgt, dass keine Zeugen am Leben blieben. Es gab kaum Anzeichen von Widerstand seitens der Waldelfen. Die Mitglieder von Linaras Sippe hatten mehrere gute Kämpfer in ihren Reihen gehabt, auch wenn ihre Ausrüstung mehr für die Jagd als für den Zweikampf geeignet war. Doch im Truge einer friedlich scheinenden Nacht überrascht, hatten sie keine Chance.

Nun stand ein kleines Elfenmädchen von knapp acht Jahren am Rande des Schauplatzes eines kaltblütigen Gemetzels. Vertraute Gesichter starrten Linara mit leeren Blicken an. Glasige Augen flehten vergebens um Gnade.

Linara öffnete den Mund, doch kein Schrei wollte sich aus ihrer Kehle lösen. Am ganzen Körper zitternd, war sie unfähig, ihre Augen abzuwenden. Das Schreckensbild nahm sie vollständig ein, brannte sich in ihren Geist. Sie waren alle tot. Die Sippe der Waldelfen war ausgelöscht. Doch was das bedeutete, begriff Linara nicht. Ihr Verstand war so leer wie die Augen derer, die sie geliebt hatte. So stand sie da, Minuten oder Stunden – Zeit hatte jegliche Bedeutung verloren.

Schließlich formierte sich ein Gedanke im Kopf der kleinen Elfe. Er wurde zu einem Befehl, der ihre Beine zwang, zu gehorchen. Sie musste laufen! Weg! Weit weg! Bis diese Augen sie nicht mehr sehen konnten! Bis sie dieser Realität entkommen war! Bis ihre Mutter sie an einem sonnigen Morgen wecken würde!

Über die Wiese, den Hang hinab, dem Lauf des Baches folgend und immer weiter rannte Linara durch den Wald. Äste und Dornenranken peitschten ihr Gesicht und hinterließen blutige Striemen auf ihrer blassen Haut. Doch sie nahm es nicht wahr. Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Die Landschaft verschwamm hinter einem Schleier. Unaufhörlich flammten Bilder des Grauens vor ihrem inneren Auge auf – Feuer, Klingen, Blut ... und immer wieder die Blicke der Toten.

Irgendwann wich die letzte Kraft der Verzweiflung aus der Elfe. Die Gurte ihrer Tasche schlangen sich um ihre Beine. Sie stürzte zwischen Gestrüpp auf den Waldboden und blieb regungslos liegen.

Vollkommene Schwärze umfing sie.

Die Bilder verschwanden.

2 – Vater und Sohn

 

 

»Sei gegrüßt, Meister Makantheo!«

Atharis schloss leise die Tür hinter sich und ging zu dem Schreibtisch aus massivem Eichenholz, hinter dem Makantheo, der Leiter der Kampfschule, über einige Schriftstücke gebeugt saß. Sein Blick huschte unstet umher, von dem Regal mit den ledergebundenen Büchern zur Kommode, über der eine kleine Sammlung exotischer Waffen hing, bis hin zu dem Doppelflügelfenster. Dieser Raum war voller Erinnerungen an seine Kindheit, an eine Zeit, da er selbst als Schüler hier ein und aus zu gehen gepflegt hatte. All das schien so lange her zu sein. Vieles hatte sich verändert. Er selbst hatte sich verändert. Nun fühlte er sich fremd innerhalb dieser Gemäuer, so gar nicht wie jemand, der nach Hause kam.

Steif blieb er vor dem Schreibtisch stehen. Der alte Schulmeister blätterte scheinbar desinteressiert in den Schriftstücken, ohne Atharis auch nur eines flüchtigen Blickes zu würdigen.

»Erfreut ist das Herz eines alten Mannes über so unerwarteten Besuch der Jugend.« Ein Hauch von Zynismus schwang in Makantheos Stimme mit.

»Spare deinen versteckten Tadel, denn es ist mir wohl bewusst, dass es lange her ist, da ich das letzte Mal hiergewesen bin. Doch schnell ist der Wandel der Welt in diesen Tagen und die Müßigen werden das Nachsehen haben. Ich erbitte daher Vergebung für diese Vernachlässigung!«

»Gewährt! Doch nun genug der Höflichkeiten! Es ist wahrhaft schön dich zu sehen, Atharis, mein Junge!« Makantheo blickte auf.

Vor ihm stand ein junger Mann von schlanker, jedoch muskulöser Statur. Er trug ein ärmelloses Kettenhemd über dunkelgrünem Leinen. Seine Unterarme wurden von Lederschonern umschlossen, auf denen mit Silber ein fliegender Schwan gearbeitet war. Die Hose war aus festem Leder, an den Seiten gepanzert. Einen nachtblauen Umhang hatte er schlampig über die Schultern geworfen. An einem breiten Gürtel hing ein Bastardschwert in einer mit Silberbeschlägen verzierten Scheide. Es war die etwas bessere Ausführung der Soldatenuniform von Silbersee.

Der Schulmeister runzelte die Stirn. Wie leicht könnten die Leute angesichts des Äußeren seines Sohnes zu dem Schluss kommen, einen ergebenen, stets auf Ordnung achtenden Staatsdiener vor sich zu haben! Er musterte Atharis weiter, bis sein Blick an den widerspenstigen Strähnen des dichten, braunen Haares hängenblieb, die dem Soldaten tief ins Gesicht hingen. Ein Lächeln huschte über das vom rauen Wetter der Berge geprägte Antlitz des alten Meisters. In Gedanken sah er einen unbändigen Jungen über den Schulhof tollen, das Hemd wie stets verkehrt zugeknöpft und die Hose voller Grasflecken. Seine Miene verfinsterte sich sogleich, als er sich des Tages erinnerte, an dem dieser Wildfang ihm erklärt hatte, das Angebot der Führung einer eigenen Schar in der Armee von Silbersee erhalten zu haben, das er anzunehmen gedachte. Erinnerungen an Berichte drängten in seinen Kopf, von einem Hauptmann, der durch seine eigenwilligen und tollkühnen Handlungen stets für Unmut bei den Generälen gesorgt hatte.

Nein, Makantheo brauchte sich wirklich keine Hoffnungen zu machen! Ein sauberes Hemd und eine polierte Rüstung bedeuteten noch lange nicht, dass sein Sohn vernünftiger geworden war.

Atharis beobachte skeptisch das Mienenspiel seines Vaters und Mentors. Ihm war wohl bewusst, dass dieser ihn lieber in der bescheidenen Kleidung eines Lehrmeisters sehen würde, wie Makantheo selbst sie trug. Daher beschloss er, den Grübeleien ein schnelles Ende zu bereiten, bevor er sich eine Predigt über familiäre Pflichten anhören musste.

»Auch ich freue mich, wieder hier zu sein, Vater. Doch was ist das für ein Gerede von alten Männern? Du siehst fantastisch aus – fast noch in der Blüte deines Lebens!«, intonierte er fröhlich.

»Ach, Junge, dieses fast ist längst überschritten! Alt und müde sind die Knochen mittlerweile. Dem jugendlichen Übermut meiner Schüler bin ich schon lange nicht mehr gewachsen.« Makantheo stand auf und ging zum Fenster, das den Blick auf den Innenhof der Kampfschule freigab. Auf dem niedergetrampelten Rasen eines quadratischen Platzes, der vom Haupthaus und mehreren Nebengebäuden umschlossen lag, absolvierten einige Dutzend Knaben und junge Männer ihr tägliches Aufwärmtraining. Einige Augenblicke schwieg Makantheo in Gedanken versunken und beobachtete seine Schützlinge, dann wandte er sich von dem Treiben ab und wieder seinem Sohn zu. »Nein, es wird Zeit, dass ich mir ein ruhigeres Plätzchen suche, um meinen Lebensabend zu verbringen.«

Atharis senkte den Blick zu Boden. Er hatte geahnt, dass sein Vater dieses Thema eines Tages ansprechen würde, und hatte diesen Moment gefürchtet.

»Wer wird die Schule leiten, wenn du gehst?« Er hoffte, mit dieser sachlichen Frage jegliche Gefühle, die in ihm aufzusteigen drohten, zu unterdrücken. Makantheo war mittlerweile weit über siebzig Jahre alt, doch Atharis konnte sich nicht damit abfinden, dass selbst den größten Kämpfer einmal die Zeit einholt.

»Keine Sorge, darüber habe ich bereits nachgedacht. Unter meinen Abschlussschülern ist ein sehr gewissenhafter, junger Mann namens Rikaro. Ich denke, du kennst ihn.«

Atharis nickte bestätigend. Er hatte in den letzten Jahren seiner Ausbildung viel Zeit mit Rikaro verbracht. Man konnte behaupten, sie waren so etwas wie Freunde gewesen. Dann war er zum Militär gegangen und ihre Wege hatten sich getrennt.

»Er vertritt mich bereits jetzt das eine oder andere Mal. Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen, doch halte ich ihn für einen würdigen Nachfolger.« Makantheo bedachte seinen Sohn mit einem vielsagenden Blick. »Natürlich würde ich es begrüßen, wenn die Schule im Familienbesitz bliebe. Doch ich fürchte, ich vergeude meine Kräfte bei dem Versuch, dies zu realisieren.«

Unfähig, den grauen Augen standzuhalten, wandte Atharis den Kopf zur Seite. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft sein Vater mit Anspielungen dieser Art seinen Unmut darüber kundgetan hatte, dass sein Erbe sich nicht für die Lehre der Kampfkünste interessierte und die Schule übernehmen wollte, sondern stattdessen in den Dienst des Militärs getreten war.

»Du kennst mich nur zu gut und weißt, dass ich meine Aufgabe bereits gefunden habe.« Er schwieg einen Moment und überdachte diese neuen Entwicklungen. »Doch, was wird aus deiner Lieblingsschülerin, wenn du dich völlig in die Einsamkeit der Berge zurückziehst?«

Ein Schatten der Besorgnis legte sich auf das Gesicht des alten Schulmeisters. Er sprach leise und seine Stimme klang verunsichert. »Ich weiß, sie wird mich begleiten wollen ...« Dann fügte er hastig hinzu: »Doch sie versteht sich mit fast allen hier sehr gut und so wird ihr die Trennung nicht so schwerfallen. Außerdem gehe ich ja nicht gleich und nicht ans Ende der Welt! Noch nicht.«

»Sie kann doch nicht ewig hierbleiben, Vater! Diese Schule ist seit ihrer Gründung ausschließlich männlichen Kämpfern vorbehalten gewesen und ich glaube, Rikaro gut genug zu kennen, um zu behaupten, dass er diese Tradition fortführen wird!« Atharis’ Stimme klang etwas vorwurfsvoller, als er beabsichtigt hatte. Noch während er sprach, fürchtete er, die Erwiderung bereits zu kennen.

»Fast anderthalb Dekaden lebt sie nun schon hier! Ich habe sie aufgezogen wie eine eigene Tochter. Und ich habe sie in der Kunst des Kampfes unterwiesen, bis sie so gut war wie meine besten Schüler. Sie sollte es sein, die die Schule leitet – wenn ihr beide nur nicht vom selben starrsinnigen Schlag wäret! Jedenfalls wird niemand Linara von der Schule weisen, nur weil sie eine Frau ist. Dafür werde ich sorgen! Rikaro wird sich mir nicht widersetzen und das solltest du auch nicht tun!«

»Bei den Göttern, ich will sie gewiss nicht fortjagen!«, verteidigte sich Atharis. »Und du brauchst mich nicht an deine Fürsorge für sie zu erinnern, denn wie eine Schwester ist sie mir geworden. Doch ist sie alt genug für die Welt, von der du sie mit allen Mitteln fernzuhalten versuchst, aus Angst, sie könnte ihrer Vergangenheit begegnen.« Er biss sich auf die Unterlippe. Zweifelnd, ob er dieses heikle Thema etwas zu forsch anging, beobachtete er Makantheos Mienenspiel und fürchtete einen Wutausbruch, der ihm nur allzu gerechtfertigt schien.

Doch der alte Meister war besorgt und tief in Gedanken versunken.

»Schwach ist der Zauber, den ich wirkte, um diese Seele ihre Qualen vergessen zu lassen. Nur ein Funke würde ausreichen, um die Erinnerung an alten Schmerz wiederzuerwecken.«

Auch wenn sie nun schon seit Jahren getrennt lebten, kannte Atharis seinen Vater gut. Und jetzt, da dieser in Erinnerungen zu wandern schien, sah er eine Gelegenheit, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Wissend, dass er genau das ansprach, wovon Makantheo überzeugt war und es dennoch fürchtete, erwiderte er: »Und doch kannst du es nicht verhindern, wenn es ihr Schicksal sein soll! Stark ist ihre Seele inzwischen geworden ...«

»Stark ja! Und im gleichen Maße starrsinnig! Meine Lehren der Kunst des Kämpfens hat sie dankbar angenommen, doch Worte über die Weisheit der Selbstbeherrschung treffen bei ihr auf kein offenes Ohr. Ich konnte das Feuer jugendlichen Übermutes nicht bändigen, das in ihr brennt.« Makantheo seufzte. ›Ebenso wenig, wie ich es bei meinem eigenen Fleisch und Blut konnte‹, fügte er in Gedanken hinzu.

»Du hast zweifellos dein Bestes getan! Doch du kannst nicht ewig die Welt vor ihr verstecken! Langsam wird es Zeit für sie, ihr eigenes Leben zu finden. Dies hier ist kein Platz für eine Elfe mit ihren Talenten.«

Nun hatte Atharis das Fass doch noch zum Überlaufen gebracht. Makantheo fühlte sich in seinem väterlichen Stolz gekränkt. Er baute sich zu seiner ganzen Größe vor seinem Sohn auf. Seine Augen funkelten, als er, ohne den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken, entgegnete: »Sie hat nie darum gebeten, gehen zu dürfen! Denn wenn es ihr Wunsch wäre, wie könnte ich es ihr verwehren? Ich will nur das Beste für Linara! Unterstehe dich, dies jemals wieder infrage zu stellen!«

Atharis bemühte sich, obwohl er aufgebracht war, mit ruhiger Stimme zu sprechen – es gelang ihm kaum für die Länge der ersten drei Silben. »Sie wird bis zum Ende deines Lebens nicht darum bitten, denn die Kampfschule ist alles, was sie kennt. Doch aufgrund ihrer Langlebigkeit als Elfe wird sie nicht nur dich, sondern auch mich und alle anderen Menschen hier um viele Jahre überleben. Und was wird sie dann tun? Soll sie all die Jahrhunderte, die ihr gegeben sind, aus Liebe zu ihrem Ziehvater hier ausharren?«

Makantheo senkte den Blick. Kraftlos ließ er sich in den gepolsterten Ledersessel hinter seinem Schreibtisch fallen.

Atharis konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor Mitleid mit seinem Vater und Meister gehabt zu haben. Doch nun, da dieser da vor ihm saß, sah er nicht den weisen Kämpfer, den niemand in die Knie zwingen konnte, der er all die Jahre immer für ihn gewesen war. Vielmehr blickte er auf einen gebrechlichen Greis, in dessen Gesicht die Schicksalsschläge eines harten Lebens ihre Spuren deutlich hinterlassen hatten. Unbehagen erfasste Atharis. Er wusste nicht, was er sagen sollte, um die Situation zu bessern. Gewissensbisse begannen an ihm zu nagen.

Nach einem, wie es Atharis schien, endlosen Moment des Schweigens sah Makantheo wieder auf. Farbe und Leben kehrten in sein Gesicht zurück, als er sprach: »Meine eigenen Lehren höre ich in deinen Worten. Nun, was ist der Lehrmeister wert, der seine eigenen Weisheiten nicht befolgt und vom Schüler ermahnt werden muss? Doch was erwartest du? Soll ich sie vor die Tür stoßen? Wie du selbst sagst, ist dies hier alles, was sie kennt. Sie wird nicht wissen, wohin sie gehen soll!«

Atharis bemühte sich, die beklemmenden Gefühle abzuschütteln, und antwortete so fröhlich und unbekümmert, wie es ihm möglich war: »Ich würde sie gerne mit in die Stadt nehmen. Linara kommt mit dem Leben hier in den Bergen bestens zurecht. In Silbersee hat sie die Möglichkeit, Erfahrungen mit der Zivilisation zu machen. Sie kann bei mir wohnen. Das Dachgeschoss steht leer. Außerdem ...«, er zögerte, »... könnte ich ihr Arbeit geben. Ich könnte jemanden wie sie in meiner neuen Einheit gut ...«

»Ausgeschlossen!« Makantheo sprang von seinem Stuhl hoch. Feuer schien in seinen Augen aufzuflammen. Sämtliche Energie war in ihn zurückgekehrt. »Ich habe Linara nicht das Kämpfen gelehrt, damit sie eine Schachfigur in euren Kriegen wird!«, donnerte er seinem Sohn entgegen.

In einer abwehrenden Bewegung riss Atharis die Arme hoch, um seinem Vater Einhalt zu gebieten. »Nun höre mich erst an, denn ich versichere dir, dein Zorn ist unbegründet! Ich habe keineswegs vor, sie an die Front in der Ewigen Steppe zu schicken. Vielmehr habe ich von der Herrin von Silbersee persönlich den Auftrag und die Erlaubnis erhalten, eine neue Einheit aufzubauen. Auf den Rücken von Zuchtdrachen reitend, werden wir als Spähflieger hauptsächlich innerhalb der Grenzen eingesetzt werden, um versteckte Lager von Plünderern und ähnlichen Unruhestiftern ausfindig zu machen. Linara würde daher in keine Schlacht verwickelt werden, von denen es ohnehin seit drei Jahren keine mehr gegeben hat.«

Makantheo runzelte die Stirn. »Wie kommst du auf die Idee, deine Schwester für diese Aufgabe auszuwählen?«

»Du hast sie ausgebildet. Diese Referenz hebt sie bereits gegenüber zahlreichen infrage kommenden Rekruten ab. Ich vertraue ihr blind. Und sie ist ein Elf. Ich bin überzeugt, dass Elfen ein natürliches Talent für eine derartige Aufgabe haben, da sie eine Harmonie mit jedem Reittier bilden können. Überdies kann ihr gutes Sehvermögen in einem Spähtrupp von großem Vorteil sein. Leider gibt es kaum Elfen, die bereit wären, in den Dienst von Silbersee zu treten, obendrein noch für das Militär. Elfen sondern sich immer noch von der übrigen Bevölkerung ab. Sie schmieden wohl ihre eigenen Ränke und halten nichts auf die Politik der Menschen. Vermutlich glauben sie, da ihnen ein viel längeres Leben gewährt ist, geht sie das kurzsichtige Denken der Menschen nichts an.«

»Trotzdem ist ihr Schicksal eng an das unsere geknüpft«, fügte Makantheo nachdenklich hinzu. »Die wahren Absichten der Elfen entziehen sich meiner Kenntnis. Doch glaube ich nicht, dass dieses Volk, dessen Älteste den Aufstieg und Fall ganzer Menschenkönigreiche gesehen haben, den Fehler begeht und die Auswirkungen unseres Handelns unterschätzt. Zweifellos schmieden sie ihre eigenen Ränke und aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer abgeschiedenen Lebensweise werden wenige in ihre Gedanken eingeweiht. Doch wäre es kurzsichtig von ihnen, würden sie die Taten der Menschen nicht berücksichtigen.« Er lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen. Als er wieder aufblickte, verkündete er mit fester Stimme: »Ich müsste lügen, würde ich behaupten, zu glauben, dass diese Aufgabe nichts wäre, was Linara interessieren könnte. Doch hat sie noch nie etwas Ernsteres als einen Übungskampf ausgefochten. Ich kann nur erraten, was du in ihrer Seele zerstörst, wenn du sie zwingst, ihr Schwert in das Herz eines Menschen zu treiben. Nein, das kann ich nicht verantworten!«

Atharis machte eine abfällige Handbewegung. »Für die Hinrichtung gesetzloser Bürger ist und bleibt der Henker zuständig. Erfahrungsgemäß verlangen unsere Aufträge selten, Jagd auf Angehörige der zivilisierten Völker zu machen. Die meisten Überfälle auf abgeschiedene Höfe oder Dörfer werden von Orks und verwandten Rassen verübt.«

»Oder von Schattenelfen«, ergänzte Makantheo und sah seinen Sohn scharf an.

Die zivilisierten Völker war ein Begriff, der in erster Linie auf dem Papier des Gesetzblattes von Silbersee bestand. Er umfasste eine Reihe Völker und Rassen, von denen sich eine Handvoll hoher Häupter aus vergangenen Tagen gedacht hatte, dass sie es verdienten, dazugezählt zu werden. Dies waren in erster Linie alle Menschen, jene Elfenvölker, die unter der Sonne des Reiches wanderten, Zwerge und Halblinge. Doch die erhofften Auswirkungen, welche diese Kategorisierung auf das Volk hätte haben sollen, blieben aus. Bestehende Vorurteile waren zu tief im Geist der Leute verankert, während Misstrauen und Hass gegenüber den Rassen stiegen, welche nicht auf der Liste standen.

»Abgesehen davon«, fuhr Atharis fort, womit er die letzte Bemerkung seines Vaters absichtlich ignorierte, »sollte eine Elfe, die in der Lage ist, ein lebendes Kaninchen ohne zu zögern in einen Braten über dem Feuer zu verwandeln, keine Probleme damit haben, einem Ork oder Goblin die Kehle durchzuschneiden.«

»Na schön«, lenkte Makantheo ein. »Am besten, du sprichst selbst mit ihr darüber. Sie wird sich freuen, dich wiederzusehen. Ich wage jedoch zu bezweifeln, ob sie bereit sein wird, die Berge zu verlassen und in die Stadt zu gehen.«

Er stand auf, schlichtete die Papiere auf seinem Schreibtisch sorgfältig zu einem Stapel, strich die Falten seines Gewandes glatt und wandte sich der Türe zu. »Komm! Lass uns nach draußen gehen! Und du wirst mir alle Neuigkeiten erzählen, die sich im Reich zugetragen haben.«

Atharis nickte und folgte seinem Vater. Ein siegessicheres Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste, wie sehr Linara die Berge liebte. Doch er hatte einen Plan.

 

 

Sie verließen den Hof über einen Kiesweg durch einen großen Torbogen. Zu ihrer Linken lag das steinerne Hauptgebäude der Kampfschule. Alle anderen Bauwerke, welche den quadratischen Platz umschlossen, waren aus massiven Holzbalken errichtet und enthielten neben den Schlafräumen der Schüler eine Reihe von Trainingshallen sowie eine gut bestückte Waffenkammer.

Vor Atharis und Makantheo öffnete sich eine weite Gartenanlage, die sich den Hang hinab zog.

Die Schule war an der Flanke eines Berges errichtet worden, im Schatten der felsigen Steilwände des Kalkspitzengebirges, das sich majestätisch im Hintergrund erhob. Kühler Wind blies von den schneebedeckten Gipfeln herab. Doch die warmen Strahlen der Sonne erinnerten unmissverständlich daran, dass der Frühling ins Land zog. Jenseits der letzten Ausläufer des Gebirges schimmerten die Dächer und hohen Zinnen von Silbersee im Dunst, der über der Ebene lag. Zu beiden Seiten der Stadt erstreckten sich Felder und Weiden. In der Ferne dahinter war schwach die helle Küstenlinie erkennbar, die das Binnenmeer Akarta begrenzte, das sich in blassem Blau und Grün am Horizont verlor.

Der Garten der Kampfschule stellte ein Sammelsurium der heimischen Flora dar. Schmale Pfade schlängelten sich zwischen kleinen Teichen, die von Schatten spendenden Weiden umstellt waren, und an Beeten farbenfroher Blumen vorbei. Hier wuchsen Schwertlilien und Rosensträucher zwischen Vergissmeinnicht und Brombeeren. Alles in allem ein Bild wilder Schönheit und Artenvielfalt. Man hatte nie Wert auf einen Gärtner gelegt, und so tat jeder, wie es ihm beliebte, seinen Beitrag zu dem bunten Allerlei.

Nachdem sie eine Weile schweigend gegangen waren, fragte Makantheo: »Nun sprich! Wie geht es dir mit deinen Drachen?«

Atharis lachte ob der Wortwahl auf. »Nun, man gewöhnt sich daran, zwischen brennendem und gefrierendem Atem zu leben und alle paar Wochen die Stallungen neu aufbauen zu müssen. Nein, ehrlich!« Seine Miene wurde ernst. »Der junge Neuzugang, den du uns verschafft hast, bereitet mir tagtäglich Kopfschmerzen. Er beweist mir immer wieder aufs Neue, dass er kein Zuchtdrache ist und die Freiheit im Blut hat. Vielleicht wäre es besser, ihn in die Berge zurückzubringen, wo du ihn gefunden hast, sobald seine Wunden verheilt sind. Wenn er erst ausgewachsen ist, können wir ihn vermutlich nicht mehr bändigen, und dann könnte er eine ernsthafte Gefahr für meine Leute werden. Er hat bereits einmal einen Kameraden verletzt.«

»Das tut mir leid zu hören, wenn es mich auch nicht sonderlich überrascht. Drachen sind intelligente und würdevolle Geschöpfe. Der Mensch hätte sie als eben diese erkennen müssen, da es ihm nicht gelang, sie abzurichten.« Makantheo schüttelte sich angewidert. »Stattdessen hat er sich erdreistet, eine niedere Form dieser mächtigen Wesen zu züchten, die ihm nun gefügiger ist. Das Eisdrachenjunge, das ich gefunden habe, ist unberührt von dieser Freveltat der menschlichen Rasse.«

»Eben deshalb ist sein Platz unter dem freien Himmel der Berge, wohin ich es wieder zu entlassen gedenke«, pflichtete Atharis bei. Obgleich er selbst Zuchtdrachen abzurichten pflegte, sah er in den Worten seines Vaters keine persönliche Anklage. Letztendlich, so fand er, verhielt es sich mit Drachen und Zuchtdrachen, wie mit Wölfen und Hunden.

Makantheo ließ sich etwas schwerfällig auf einem Baumstumpf nieder, dessen Wurzeln weit in den angrenzenden Teich ragten. Sein Sohn nahm neben ihm im Gras Platz, schlang die Arme um die angezogenen Beine und starrte nachdenklich auf die vom Wind leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Hier hatten sie oft gesessen, als Atharis noch ein kleiner Junge gewesen war, und sein Vater hatte ihm Geschichten über tapfere Krieger und vergangene Königreiche erzählt ... und über Drachen.

Eine ganze Weile saßen sie in Gedanken versunken nebeneinander, bis Makantheo die Stille brach. »Arbeitet eigentlich dieses kleine Luder immer noch für dich?«

Atharis hatte keine Lust, diese alte Streitfrage von Neuem aufzurollen, und nickte nur stumm, ohne den Blick zu heben.

»Ich werde nie verstehen, wie du eine Diebin bei dir aufnehmen konntest, in dein eigenes Haus!« Makantheo bemühte sich, empört zu klingen.

»Sie ist eine engagierte Arbeitskraft«, erwiderte Atharis geistesabwesend und beobachtete einen kleinen Buntbarsch, der in dem seichten Gewässer seine Runden zog.

»Sie wird dir Stück für Stück das Haus forttragen«, kam forsch die Antwort.

Der Buntbarsch hatte Gefallen an einem Büschel Algen gefunden und zog heftig daran, wobei sein Schwanz energisch von einer Seite zur anderen schlug.

»Sie ist ein Kind der Straße, das gelernt hat, zu stehlen, um zu überleben. Ich habe ihr gezeigt, dass es auch andere Dinge gibt, die sie gut kann. Abgesehen davon – solange sie bei mir wohnt, gehört alles auf der Farm auch ihr, was das Stehlen ziemlich überflüssig macht. In diesen alten Baracken gibt es nichts, was auf dem Schwarzmarkt von Wert wäre.«

Das Fischlein schnappte gierig nach dem fedrigen, grünen Etwas, das sich gelöst hatte und träge vor ihm durchs Wasser trieb.

Makantheo schwieg. Ihm waren die Wenn und Aber ausgegangen.

Der Buntbarsch spuckte die Alge wieder aus und schwamm fort.

 

3 – Elfenschwester

 

 

Makantheo saß in seinem Arbeitszimmer in dem Turm, der auf der nordöstlichen Seite des Hauptgebäudes der Kampfschule bescheiden emporragte. Misstrauisch starrte er auf den Brief in seinen Händen, den das Siegel des Herzogs Karatek von Hufwald zierte, dem Mann, der dieser Tage über die Stadt Silbersee und das Umland herrschte. Das Schreiben enthielt die Bitte – nein, eigentlich enthielt es die Anweisung – den jüngsten Sohn eines Kaufmannes in die Kampfschule aufzunehmen.

›Wieder so ein Nichtsnutz, den sein einflussreicher Vater mit Geld durch all die Schuljahre getragen hat‹, dachte Makantheo säuerlich.

Eltern, die sich etwas auf die Bildung ihrer Sprösslinge einbilden wollten und es sich leisten konnten, übergaben ihre Jüngsten meist schon im zarten Alter von fünf Jahren einer der Klosterschulen von Silbersee. Dort genossen die Kinder die landesübliche Grundausbildung mit einem zusätzlichen Schwerpunkt auf die Religion, die sich von Kloster zu Kloster unterschied. Da sich die wenigsten Kinder in diesem Alter für solche Dinge interessierten, waren sie selten an der Wahl der Schule beteiligt. Nach der Zeit der Grundausbildung verließen daher die meisten Schüler die Klöster, um ein Handwerk zu erlernen. Manche jedoch sahen ihre Bestimmung tatsächlich in dem ständigen Dienst zu ihrem Gott und blieben weitere acht Jahre. Den meisten von ihnen winkte eine Zukunft als Lehrer. Einige besondere Talente wurden angesehene Priester oder sogar Magier. Nur wenige, die nach der Harmonie von Geist und Körper strebten, kamen nach der Hälfte ihrer Ausbildungszeit in die Kampfschule. Hier lernten sie, ihren Geist zu kontrollieren, ihren Körper zu verstehen und zu beherrschen, und wurden in vielen unterschiedlichen Kampftechniken unterwiesen.

Nicht selten hatten jedoch die Eltern ehrgeizigere Ziele für ihre Kinder, als diese selbst. Die Einflussreichsten unter ihnen konnten es sich leisten, ein mit Goldmünzen unterlegtes Bittgesuch an den Herzog zu stellen, der wiederum die nötigen Instanzen in den Klöstern unter Druck setzte. So kam es immer wieder vor, dass untalentierte und auch uninteressierte Knaben die Berechtigung zur Aufnahme in die Kämpferschule erhielten. Makantheo hatte früher des Öfteren gegen derartige Beschlüsse protestiert, was ihm, abgesehen von einem schlechten Ruf beim Herzog, manchen Priestern und etlichen Eltern, jedoch wenig gebracht hatte. Heutzutage bemühte er sich nur noch darum, dass solche Protektionskinder die ernstzunehmenden Schüler nicht in ihrer Lehre behinderten, und dass sie ihren Abschluss möglichst schnell machten, damit er sie wieder los war. Sie hatten ohnehin keine Aussicht darauf, mit ihren mangelhaften Kampffähigkeiten etwas anderes, als prahlen zu können. Makantheo wusste nicht, dass fast der gesamte Generalstab des Militärs aus eben solchen Schülern bestand.

 

 

Der Lehrmeister schob seinen Stuhl zurück, strich sich das dichte, grau melierte Haar aus der Stirn und ließ seinen Blick aus dem Fenster gleiten. Über das Dach eines niederen Schuppens und die Wipfel der Fichten hinweg reisten seine Gedanken hin zu den weißen Türmen der Burg von Silbersee, die aus einem Meer von Schindel- und Strohdächern emporragten. Dort lag sie, die Stadt Silbersee, mit ihrem Adel, ihren Kaufleuten und Handwerkern, ihren Villen, Bruchbuden und mit ihren Klöstern und Tempeln. Dorthin würde seine geliebte Linara bald ziehen, womöglich schon heute. Makantheo zweifelte nicht daran, dass es Atharis gelingen würde, die Elfe zu überzeugen, mit ihm zu gehen. Linara liebte die wilde Schönheit des Gebirges, doch sie hatte noch nie gezögert, sich an der Seite ihres Bruders in ein neues Abenteuer zu stürzen. Sie würde mit ihm gehen, dessen war sich Makantheo sicher. Aber wie würde sie mit den vielen Leuten, den Geschäftigkeiten und vor allem den Intrigen zurechtkommen, die eine einflussreiche Stadt wie Silbersee unweigerlich in sich barg?

Makantheo hatte sich schon immer eine Tochter gewünscht. Nachdem jedoch seine Frau, die er erst sehr spät in seinem Leben kennengelernt hatte, bei der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes, seines einzigen Kindes, gestorben war, hatte er nie wieder eine Frau getroffen, der er gewillt gewesen war, nur annähernd genügend Zuneigung entgegenzubringen. Er hatte seine Frau sehr geliebt und ihr Lächeln war noch heute bei ihm, wenn er die Augen schloss. Nein, es wäre ihm unmöglich gewesen, eine andere zum Weib zu nehmen!

Ein seltsamer Vorfall hatte ihm vor vierzehn Jahren schließlich seinen Herzenswunsch erfüllt. Atharis und Rikaro hatten bei einem Streifzug durch die Wälder ein verstörtes Elfenmädchen gefunden und in die Kampfschule gebracht. Das Kind war schmutzig gewesen, seine Haut zerschunden, seine Kleidung zerrissen. Es hatte den alten Lehrmeister viel Mühe gekostet, das Vertrauen der kleinen Elfe zu gewinnen und eine halbwegs zusammenhängende Geschichte zwischen herzerweichendem Schluchzen zu erhalten. Das Dorf des Kindes war ausgelöscht worden. Seine Familie und Freunde waren ermordet worden. Die Schilderung der kleinen Elfe hatte Makantheo letztendlich zu dem Schluss gebracht, dass der Überfall mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Gruppe der gefürchteten Schattenelfen, der Siath, durchgeführt worden war. Da das Kind keine lebenden Verwandten mehr zu haben schien, hatte Makantheo es aufgenommen. Ein Bannzauber, den er in einem der alten Bücher der Schulbibliothek gefunden hatte, sollte die Kleine ihr Unglück vergessen lassen. Doch er war selbst kein Magier und nicht sicher, wie lange der Zauber halten würde.

Die Jahre waren wie im Flug verstrichen und aus Linara war eine beherzte, junge Elfenfrau geworden – eine ausgezeichnete Schwertkämpferin und Bogenschützin. Makantheo zweifelte nicht daran, dass sie zu den besten Kämpfern unter der Sonne zählte.

Seine einzige Sorge galt dem Tag, an dem sich die Elfe daran erinnern würde, was sich damals auf der Lichtung zugetragen hatte, die kaum weiter als einen Tagesmarsch von der Kampfschule entfernt lag. Was würde passieren, wenn sie ihre Herkunft zu hinterfragen begann? Was, wenn sie diese Fragen in das Reich der Schattenelfen führen würden? Selbst ein Meisterkämpfer könnte nicht hoffen, von solch einer Reise zurückzukehren. Selbst eine Armee wäre zum Scheitern verurteilt!

 

 

Der Pfeil flog zu schnell, als dass ihn ein menschliches Auge hätte erfassen können. Er versenkte sich präzise in seinem Ziel, dem Zentrum mehrerer konzentrischer Kreise, welche in den Stamm eines Nussbaumes geschnitzt waren. Linara nickte selbstzufrieden und legte einen weiteren Pfeil an ihren Bogen. Die Luft sang, noch bevor sie die Sehne spannen konnte. Ein Geschoss schlug in den Nussbaum ein und zersprengte den Pfeil. Erstaunt blickte Linara auf den Armbrustbolzen, der nun leicht zitternd im Zentrum der Zielscheibe steckte. Von ihrem Pfeil waren lediglich Holzsplitter und die eiserne Spitze geblieben. Ein Lächeln machte sich auf den Lippen der Elfe breit. Sie war sich sicher, den Schützen zu kennen, noch bevor sie sich umdrehte und Atharis unweit stehen sah, eine große Armbrust lässig auf seiner Schulter ruhend. Pfeil und Bogen fielen ins Gras. Linara sprang auf den Soldaten zu und warf sich ihm an den Hals.

»Meister Makantheo sagte mir, dass du uns besuchen wolltest.«

»Doch du hast es nicht geglaubt, sonst hättest du mich bei meiner Ankunft erwartet.«

Linara grinste verlegen. In Wahrheit hatte sie seit drei Tagen Ausschau nach ihm gehalten und von seiner Ankunft gewusst, noch bevor er die Kampfschule betreten hatte. Dennoch hatte sie ihn nicht begrüßt. Für ihren Geschmack hatte er sie viel zu lange nicht besucht und zur Strafe hatte sie ihn schmoren lassen wollen.

»Du kommst selten und dann gehst du viel zu schnell wieder«, maulte sie, wandte sich beleidigt ab und las ihre Waffe vom Boden auf. »Bleibst du heute bis zum Tee oder wolltest du dich nur schnell von mir verabschieden, bevor du wieder für Monde verschwindest?« Sie verstaute den Pfeil in ihrem Köcher und hängte sich den Bogen über die Schulter.

 

 

Atharis betrachtete sie lächelnd. Er wusste, dass sie mit ihm spielte, und er liebte sie dafür.

»Diesmal bleibe ich so lange, wie du es möchtest«, behauptete er, da er annahm, dass dies nicht allzu lange sein würde. Schon bald würden sie gemeinsam nach Silbersee aufbrechen.

»Wirklich?« Falten des Misstrauens bildeten sich auf der Stirn der Elfe. »Du führst etwas im Schilde.« Sie musterte ihn abschätzend.

Solange sie zurückdenken konnte, war Atharis für sie der ältere Bruder gewesen. Sie waren als Kinder Seite an Seite durch den Wald getollt, hatten waghalsige Kletterausflüge im Gebirge unternommen und gemeinsam ihr Kampftraining absolviert. Doch Linara war klar, dass es nicht immer so gewesen war. Der junge Menschenmann war von Blutes her nicht mit ihr verwandt, ebenso wenig, wie Meister Makantheo ihr leiblicher Vater war. Linara kannte die Geschichte, wie Atharis sie im Wald gefunden hatte. Er hatte sie ihr oft erzählt. Doch wann immer sie versuchte, sich an eine Zeit vor jenem schicksalhaften Tag zu erinnern, stieß sie gegen eine schwarze Mauer des Vergessens.

»Du hast mich ertappt«, gestand Atharis. »Ich habe eine Überraschung für dich. Komm mit!« Er steckte ihr auffordernd die Hand entgegen.

Linara warf den Kopf in den Nacken, blickte hinauf in die Krone des Nussbaumes und rief: »Squizi! Wir gehen!«

Zweige zitterten. Ein rotbrauner Fellball plumpste auf die Schulter der Elfe und kollerte über ihre Brust, bis kleine Pfoten auf dem weichen Leder des Hemdes Halt fanden. Linara pflückte Squizi von ihrer Kleidung, das kleine Eichhörnchen, das ihr überall hin zu folgen pflegte, und verstaute ihn in ihrer Brusttasche. Dann nahm sie Atharis’ Hand und gemeinsam rannten sie los.

Am Haupttor der Kampfschule blieb die Elfe abrupt stehen. Ein gewaltiger, schuppiger Kopf reckte sich ihr durch den Steinbogen entgegen. Gelbe Reptilienaugen taxierten sie neugierig.

»Wie wundervoll, dass du sie mitgebracht hast!«, rief Linara freudig und tätschelte zur Begrüßung die breite Nase des Drachen. »Ich grüße dich, Moorfee!«

»Genau genommen hat sie mich hergebracht«, korrigierte Atharis und spielte damit bewusst darauf an, dass Moorfee sein Reittier war.

»Du bist dicker geworden.« Die Elfe musterte den mit grün schimmernden Schuppen gepanzerten Leib des Drachenweibchens.

»Wir hatten unterwegs ein paar Bergziegen«, bemerkte ihr Bruder zerknirscht, da er dem Mahl unfreiwillig beigewohnt hatte. Es war kein Vergnügen, auf dem Rücken eines jagenden Drachen zu sitzen, schon gar nicht, wenn dessen auserkorene Beute in tiefen Schluchten und über steile Felswände zu springen pflegte. Und wenn Moorfee hungrig war, dann wurde sie so unlenkbar wie ein Rodeostier. Nun war sie satt, rund, zufrieden und ein wenig träge, weshalb Atharis guten Gewissens sein Angebot machen konnte. »Willst du auf ihr reiten?«

Natürlich wollte Linara! Und sie musste zugeben, dass es wirklich eine gelungene Überraschung war. Es geschah nicht oft, dass ihr Bruder sie besuchte, und noch seltener brachte er Moorfee zur Kampfschule mit. Wenn er dies tat, war es meist ein Zeichen, dass er in Eile war und nur zu bald wieder abreiste. So waren Jahre vergangen, in denen Linara kein einziges Mal Gelegenheit gehabt hatte, auf den Rücken dieses wunderbaren Reptils zu steigen.

Moorfee war kein großer Drache. Sie maß vom Kopf bis zur Schwanzspitze kaum sechs Meter und hatte eine Schulterhöhe von knapp zwei Metern. Auf ein Kommando knickte sie mit den kräftigen Vorderbeinen ein und Atharis konnte leicht auf ihren Hals klettern und in den Sattel steigen, der vor den gewaltigen Schwingen um die Brust geschnallt war. Er half seiner Schwester aufzusteigen und vor ihm Platz zu nehmen, was eigentlich nicht notwendig war, da die Elfe keine Schwierigkeiten hatte, den Rücken des Drachen zu erklimmen. Schließlich vergewisserte er sich, dass sie gut und sicher saß, legte einen Arm um ihre Taille und nahm mit der freien Hand die Zügel auf.

»Bist du bereit?«

Linara nickte – etwas zu schnell, fand Atharis. Er glaubte nicht, dass sie auch nur einen Gedanken an seine Frage verschwendet hatte. Vermutlich war er selbst nervöser vor ihrem ersten Flug als sie. Instinktiv legte er den Arm fester um die Elfe und dann grub er seine Füße unter die Schuppenplatten des Drachen, um das Tier anzutreiben. Moorfee lüftete widerwillig die Schwingen. Ihr stand der Sinn mehr nach einem ausgiebigen Mittagsschläfchen. Atharis musste sie mehrmals in die Seiten treten, bevor sie sich aufbäumte und mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft sprang.

Linara hatte das Gefühl, als würde jemand den Boden unter ihnen fortreißen. Ihr Magen schien sich mit einem Male nicht mehr an dem von der Natur vorgesehenen Fleck zu befinden. Unwillkürlich spannte sie die Muskeln, als könne sie so ihre Eingeweide auf deren Platz halten.

Erst als Moorfee mit ausgebreiteten Schwingen auf den Winden über den Berg hinweg segelte, entspannte sich Linara wieder und spähte neugierig am Hals des Drachen vorbei in die Tiefe. Sie konnte die Schule sehen, wie kleine Holzkistchen im Rechteck angeordnet. Menschen waren auf die Größe von Ameisen geschrumpft. Es war kein Anblick, der Linara fremd war. Wäre sie auf die Felswände des Kalkspitzengebirges geklettert, hätte sich ihr ein ähnliches Bild geboten. Doch die Geschwindigkeit, mit der sie den Boden tief unter sich gelassen hatten, und die scheinbare Schwerelosigkeit, mit welcher der massige Drache durch die Luft glitt, erfüllten sie mit einer Begeisterung, von der sie glaubte, sie könne ihr Herz zum Platzen bringen. Dies war der Inbegriff der Freiheit!

»Schau! Ist das Meister Makantheo, der uns winkt?« Linara lehnte sich weit zur Seite, als die Kampfschule hinter dem Schwanz des Drachen ihrer Sicht zu entgleiten drohte. Atharis erbleichte und riss sie grob zurück in den Sattel, was Linaras Übermut jedoch kaum einen Dämpfer verpasste.

»Er ist es bestimmt!« Sie winkte überschwänglich mit beiden Armen.

»Mag sein«, brummte ihr Bruder, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ihm war klar, dass er die Gestalt, von der sie sprach, bestenfalls als dunklen Punkt auf dem Schulhof erkennen würde. Seine Sehkraft konnte sich nicht im Mindesten mit jener der Elfe messen.

Unter ihnen wich der Berg bewaldeten Hügeln, durchzogen von den silbernen Bändern glitzernder Bäche. In einem weiten Tal schimmerte ein kleiner See wie ein Spiegel in der Sonne.

»Halt dich fest!«, rief Atharis warnend. Dann lenkte er Moorfee in einen Sinkflug auf den See zu. Die Wasseroberfläche kam rasend schnell näher. Linara hielt instinktiv die Luft an, da sie glaubte, der Drache müsse sogleich eintauchen. Im letzten Moment breitete Moorfee die Flügel aus und nur ihre Schwanzspitze zog rauschend eine Spur durch das glatte Wasser, bevor sie wieder höher stieg, über die Wipfel der Bäume. Bereits wenige Augenblicke später hatten sie den See und das Tal weit hinter sich gelassen.

Linara jauchzte vor Begeisterung.

Als der Berg und die Schule erneut unter ihnen lagen, neigte sich Moorfee bedenklich zur Seite und stieß in einer engen Spirale hinab, bevor sie bedachtsam vor dem Haupttor aufsetzte.

»Hat es dir gefallen?«, fragte Atharis überflüssigerweise und sprang behände vom Rücken des Drachen. Er breitete die Arme aus, um seine Schwester aufzufangen.

»Es war fantastisch! Danke, Moorfee!« Linara klopfte den Hals des Drachen, nicht nur, weil sie Moorfee belohnen wollte, sondern um einen Grund vorzutäuschen, nicht sofort absteigen zu müssen. Ihr war schwindlig und sie wollte nicht, dass ihr Bruder merkte, wie weich ihre Knie waren.

Atharis ließ die Arme sinken und lehnte sich gegen Moorfees Seite. »Möchtest du öfter mal fliegen?«

»Natürlich!«, rief Linara aus und fügte nur in Gedanken hinzu: ›Aber nicht jetzt gleich.‹

»Jeden Tag?«, fragte Atharis lauernd.

Die Verwirrung auf Linaras Gesicht war echt, als sie ihn mit großen Augen ansah. »Wie?« Ihr Herz begann schneller zu schlagen. »Willst du sagen, du bleibst bei uns? Du kommst zurück und wohnst wieder in der Schule?«

Atharis schüttelte schnell den Kopf, bevor das Strahlen Gelegenheit fand, sich vollends auf ihren Zügen auszubreiten. »Nein, ich kann nicht bleiben.« Das Strahlen wich tiefer Enttäuschung und er beeilte sich weiterzusprechen. »Aber ich könnte dich mitnehmen.«

»In die Stadt?« Linara war nicht begeistert.

»Zur Drachenfarm«, korrigierte Atharis.

Linara wusste, dass die Drachenfarm unweit der Mauern von Silbersee lag, und runzelte skeptisch die Stirn.

Atharis erkannte, dass er sein Angebot mit den Dingen ausschmücken musste, von denen er wusste, dass sie das Herz der Elfe höher schlagen ließen, um ihre Gedanken von engen Gassen und Menschenmengen abzulenken. »Wir beide wären jeden Tag zusammen, so wie früher. Wir würden weite Flüge über die Berge unternehmen oder hinaus aufs Meer. Du würdest deinen eigenen Drachen bekommen und Erkundungsreisen in die entlegensten Gebiete von Silbersee machen. Jeden Tag ein Abenteuer! Und wenn du die Schule besuchen willst, bist du auf dem Luftweg auch schnell wieder hier.«

Die Falten auf Linaras Stirn glätteten sich. Ihr Lächeln wurde breiter.

 

 

Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte Linara ihre Habe gepackt und zu einem Bündel geschnürt. Bis sie letztendlich aufbrachen, vergingen jedoch zwei geschlagene Stunden. Atharis gewann den Eindruck, als ob seine Schwester von jeder Hausmaus Abschied nehmen wollte. Er erinnerte sie mehrmals, dass sie nicht im Begriff waren, eine Weltreise anzutreten.

So war es bereits später Nachmittag, die Bäume schlugen lange Schatten und die Luft wurde kühl und ein wenig feucht, als sie die letzten Ausläufer des Waldes hinter sich zurückließen. Moorfee flog nur wenige Meter über den Baumwipfeln. Die weite Ebene zwischen dem Gebirge und dem Binnenmeer Akarta breitete sich zu beiden Seiten aus. Unmittelbar vor ihnen erhoben sich die weißen Türme von Silbersee. Eine Pflasterstraße zog sich den Waldrand entlang und bog in einer scharfen Kehre den Hang hinab, um direkt auf die Stadt zuzulaufen. Im Scheitelpunkt der Wegbiegung zweigte ein Pfad ab, der lediglich aus zwei ausgewaschenen Spuren bestand, welche die wenigen Karren, die hier entlang rollten, hinterlassen hatten. Das Ende des Weges verlor sich vor einigen großen Gebäuden, die wie willkürlich zusammengewürfelt auf der Kuppe eines flachen Hügels standen. Dies war die Drachenfarm – Zucht und Abrichtplatz. Sie lag ein gutes Stück außerhalb der Stadt. Atharis fragte sich manchmal, ob dies mehr dem Schutz der Stadtbewohner oder dem der Drachen diente.

Vor etwa drei Jahren hatte er die Leitung der Farm übertragen bekommen. Zuvor war er Hauptmann einer Kompanie an der Front in der Ewigen Steppe gewesen, wo anfangs alles gut für ihn gelaufen war. Die ihm unterstellten Soldaten hatten ihn geachtet und auch militärisch hatte er Erfolge verbuchen können. Der Umstand, dass es ihm gelungen war, ein junges Walddrachenweibchen zu bändigen, um es fortan in den Schlachten zu reiten, hatte für großes Aufsehen gesorgt. Allerdings hatten sich Atharis’ Vorstellungen von Strategie und Moral häufig von denen seiner Vorgesetzten unterschieden, wodurch er in ihren Augen keinen guten Soldaten abgegeben hatte. Infolge wiederholter Befehlsmissachtung war ihm letztendlich der Rang des Hauptmannes und alle damit verbundenen Rechte entzogen und seine Einheit einer anderen Führungsperson unterstellt worden.

Herzog Karatek von Hufwald hatte diese Entwicklung durchaus gebilligt, zumal er noch nie ein großer Sympathisant von Meister Makantheo und infolge auch von dessen Sohn gewesen war. Doch seine Nichte, die schöne Kartiana, hatte ihn davon überzeugen können, dass Zuchtdrachen, die zu dieser Zeit ausschließlich zur Bewachung der Anwesen reicher Leute oder für den Zirkus gehalten worden waren, für militärische Zwecke abgerichtet werden könnten. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Moorfee schien ihr Atharis für die Leitung dieses Projektes der richtige Mann.

Atharis war daraufhin damit beschäftigt gewesen, junge Drachen aus der Zucht auszuwählen, abzurichten und zuzureiten. Die ausgebildeten Reittiere wurden zu den Landesgrenzen gesandt. Dort erwiesen sie sich unbestritten als strategischer Vorteil. Atharis konnte die Drachenfarm weiter ausbauen, sodass er schließlich mehrere Männer und Frauen für die Betreuung und das Abrichten der Jungtiere beschäftigte.

Vor einem knappen halben Jahr hatte die Herrin Kartiana, die einen Großteil der Befehlsgewalt über die militärischen Einrichtungen an sich gerissen hatte, Atharis angewiesen, eine eigene Truppe aufzubauen, die aus fähigen Reitern und ausgewählten Drachen bestehen sollte. Diese Spezialeinheit sollte für Spähflüge und Aufträge eingesetzt werden, welche für die Stadtwache, die einzigen Ordnungshüter innerhalb der Landesgrenzen, nicht ausführbar waren. Von Beginn an war es Atharis’ Wunsch gewesen, seine Schwester in diese Einheit aufzunehmen, doch er hatte sich lange gescheut, seinen Vater um Erlaubnis zu bitten.

Nun lenkte Atharis seinen Drachen über die Dächer der Stallungen hinweg auf eines der kleineren Gebäude zu. Es war aus Ziegeln gebaut, mit weiß getünchter Fassade und hölzernen Fensterläden. Oberhalb der Eingangstür verriet eine Sonnenuhr, dass es fast fünf Uhr abends war. Sie musste einst kunstvoll gemalt gewesen sein, doch die verschnörkelten Zahlen und Ornamente waren verblasst und an mancher Stelle kaum noch zu erkennen.

Moorfee landete unmittelbar vor den wenigen Stufen, die zum Eingang empor führten. Diesmal sprang Linara sofort aus dem Sattel, noch ehe Atharis selbst absteigen konnte. Sie brannte darauf, alles zu sehen, allen voran die Drachen.

Atharis führte sie in das Haus und die Treppe hoch ins Dachgeschoss. Hier hatte er einen Raum eingerichtet, der Linara als Unterkunft dienen sollte.

»Willkommen in deinem neuen Zuhause«, intonierte er fröhlich, als er die Tür zu dem Gemach öffnete. »Ich muss Moorfee versorgen und ein paar andere Dinge erledigen. Danach führe ich dich herum.« Noch ehe Linara einwenden konnte, dass sie ihn lieber sofort begleiten wollte, hatte er schon die Tür hinter sich geschlossen und sie hörte, wie die Treppe unter seinem Gewicht knarrte.

Dies also war ihr neues Zuhause. Zu Hause ...

Linara konnte nicht abstreiten, dass ihr gefiel, was sie sah. Das Zimmer war hell und freundlich. Licht flutete durch ein von Vorhängen umrahmtes Fenster. Davor stand eine Terrakottavase mit Frühlingsblumen auf einem runden Tischchen. Als die Elfe an der Waschstelle vorbeiging, mit den Fingern über den Rand der Wasserschale aus glasierter Keramik strich und sich auf dem weißen Leinen niederließ, welches das Bett bedeckte, zweifelte sie nicht daran, dass ihr Bruder eine hohe Stellung in den Augen der Herrin von Silbersee haben musste, um ausreichend Geld zur Verfügung zu haben. Denn, soviel wusste sie über die Politik des Landes, wenn es nach dem Herzog ginge, müssten sie alle auf dem Boden schlafen.

Linara ließ ihre Habseligkeiten neben sich auf das Bett fallen – einige wenige Kleidungsstücke, ein Kamm und eine Haarschleife und ihr Bogen mit dem Köcher samt Pfeilen. Linara nahm die Waffe auf und strich nachdenklich über die feinen Schnitzereien, welche das geschwungene Holz überzogen. Meister Makantheo hatte ihr den Bogen vor Jahren geschenkt, zu einem Tag, den er ihren Geburtstag nannte, obwohl sich Linara nicht sicher war, ob es überhaupt jemanden gab, der sagen konnte, wann oder gar, von wem sie geboren worden war. Der Bogen war von Elfen des Fürstentums Intirana gefertigt worden, das jenseits der nordöstlichen Landesgrenze Silbersees am Meer lag. Linara konnte sich nicht erinnern, jemals einen Angehörigen ihres eigenen Volkes zu Gesicht bekommen zu haben. Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie die meiste Zeit ihres jungen Lebens in der Kampfschule und in den Wäldern ringsum verbracht. Das war es, wo sie zuhause war, der Wald, die Berge – und ihre Familie, ihr Vater und ihr Bruder. Und doch musste es einmal anders gewesen sein. Es musste eine Zeit gegeben haben vor dem Tag, da Atharis sie gefunden hatte, eine Zeit, die hinter der schwarzen Wand lag, welche ihre Erinnerungen zu blockieren schien. Wenn Linara in den Spiegel blickte, sah sie nicht Makantheos Tochter, sie sah eine Waldelfe. Doch was bedeutete das?

Linara stand auf und trat ans Fenster. Von hier konnte sie den Wald und das Gebirge sehen. Und sie sah den Berg, an dessen Hang die Kampfschule lag. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob ihre wahre Familie noch irgendwo dort draußen war. Gab es vielleicht den einen Ort, an dem sie wirklich zuhause war? Ein Ort, der ihr verriet, wer sie selbst war?

 

 

Linara spazierte unschlüssig zwischen den Gebäuden der Farm umher. Nachdem ihr Bruder sie nach über einer Stunde noch nicht abgeholt hatte, hatte sie ihr Zimmer verlassen, um sich selbst ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Sie war in das Erdgeschoß des Hauses gegangen, doch Atharis’ Arbeitszimmer und Schlafraum waren leer gewesen.

Nun näherte sie sich einer rußgeschwärzten Holztür an der Stirnseite eines langen Gebäudes und streckte zögernd die Hand nach dem Knauf aus. Noch bevor sie öffnen konnte, schwang ihr die Tür mit voller Wucht entgegen und beförderte sie rittlings auf den staubigen Boden. Aus dem Gebäude kam fröhlich hüpfend eine Gestalt, die von so geringem Wuchs war, dass sie der Elfe gerade bis über die Taille reichte, wäre diese aufrecht gestanden. Das Geschöpf war zweifellos weiblich und konnte, ohne zu übertreiben, als ziemlich mollig beschrieben werden. Rote Haare standen wirr von einem runden Kopf ab. Graugrüne Augen schauten vergnügt über dicke Backen hinweg. Linara starrte verdutzt zu der Halbling-Frau auf, die kaum älter war als sie selbst. Diese kam mit einem Aufschrei der überraschten Entzückung stolpernd zum Stehen.

»Ah! Du bist Atharis’ Schwester, stimmt’s! Er hat so viel von dir erzählt! Du bist eine Waldelfe und hast mit ihm in dieser Schule für Krieger gelebt, und du bist eine verdammt gute Kämpferin und erstklassige Schützin und kannst mit Tieren sprechen – ich meine natürlich nur im übertragenen Sinne ...«

Linara hatte sich inzwischen aufgerappelt und wedelte mit der Hand, um den Redefluss zu unterbrechen. »Danke, ich kenne mich gut genug! Doch wer seid Ihr?«

»Ach so, natürlich!« Linaras Gegenüber schien verwirrt und suchte hastig nach einem neuen Konzept. »Mein Name ist Sindra«, verkündete die Halbling-Frau schließlich auf eine Art, die bei ihr wohl als ruhig bezeichnet werden konnte. »Ich bin hier das Mädchen für alles. Aber bitte sag doch du zu mir! Ich bin diese Höflichkeitsfloskeln nicht gewohnt.«

›Das kann ich mir gut vorstellen‹, überlegte Linara, die sich erinnerte, dass Makantheo sich des Öfteren über eine Gelegenheitsdiebin ereifert hatte, welche für Atharis arbeitete und, wie sie sich zu entsinnen glaubte, ein Halbling war.

Indes richtete sich Sindras Aufmerksamkeit auf zwei winzige Ohren, die aus der Brusttasche der Elfe ragten. An der Spitze waren sie mit je einem rostroten Haarbüschel besetzt. Sindra reckte sich auf die Zehenspitzen und stieß ihren Zeigefinger prüfend gegen die verdächtige Ausbeulung des Hemdes. Ein erschrockenes Quieken kam aus der Tasche. Squizi flitzte hervor und auf Linaras Kopf, von wo aus er aufgeregt auf den Halbling hinab schimpfte.

Sindra klatschte verzückt in die Hände. »Was sagt es?«

Linara verschränkte die Arme. »Ist eine Übersetzung wirklich notwendig?«

Sindra verstand nicht, weshalb die Elfe dermaßen reserviert reagierte. Der Anblick des tobenden Eichhörnchens auf Linaras Haupt war für sie zu komisch, als dass sie sich dessen Empörung zu Herzen genommen hätte, ebenso wenig wie Linaras offenes Missfallen tiefere Bedeutung für sie erlangte.

Die angespannte Situation ignorierend, nahm sie die Elfe bei der Hand und zog sie in das Gebäude, aus dem sie soeben gekommen war.

Fast ein Dutzend schuppiger Hälse wandte sich um, als die beiden den Stall betraten. Große Reptilienaugen blickten ihnen mit wachem Interesse entgegen. Squizi suchte erneut Schutz in der Hemdtasche.

»Das sind die Jungtiere!«, erklärte das Halbling-Mädchen eifrig und machte eine ausladende Handbewegung.

Sie standen in einem ehemaligen Pferdestall. Zwecks des größeren Platzbedarfes eines Drachen hatte man mehrere Boxen zusammengelegt und die Absperrungen mit massiven Eisenstangen verstärkt. Von den ursprünglichen Holzplanken zwischen diesen Verstrebungen waren zum Teil nur noch verkohlte Überreste geblieben.

»Sei vorsichtig! Einige unserer Schützlinge hier haben sich noch nicht ganz damit abgefunden, wer das Sagen hat«, warnte Sindra und tätschelte vorsichtig einen grünen Drachenkopf, der sich ihr neugierig entgegen reckte. Sie blickte über die Schulter zu der Elfe, doch Linara war nicht mehr hinter ihr.

Nervös fuhr sie herum. Wo war die Elfe hin? Sie konnte sich nicht in Luft auflösen! Nein, das konnten Elfen nicht! Doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Verschluckt! Sindra blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Was, wenn die Jungdrachen Linara für eine kleine Vorspeise des Abendmahls gehalten hatten?! Sindra war überzeugt, dass Atharis ihr den Kopf abreißen würde, wenn er davon erfuhr. Sie hatte seine Schwester hierher geführt. Sie trug die Verantwortung!

Da sah sie die Elfe am anderen Ende des Stalles vor einer Box stehen. Sindra fiel ein Stein vom Herzen, von dem sie überzeugt war, dass er die Ausmaße eines halben Gebirgsmassivs besessen haben musste – mindestens.

Linara beobachtete fasziniert den Drachen in dem Verschlag. Er war etwas größer als die anderen, obgleich er noch sehr jung war. Sein Schuppenkleid war weiß. Je nach Betrachtungswinkel schillerte es in kalten Blau- und Grüntönen, was den Eindruck vermittelte, als wäre es von einer dünnen Eisschicht überzogen. Einer der kräftigen Flügel, durch deren Haut das Licht des dahinterliegenden Fensters zu schimmern schien wie durch milchiges Glas, war mit einer behelfsmäßigen Bandage aus einem Bettlaken und einigen Lederriemen versehen.

»Er ist verletzt«, bemerkte Linara, ohne den Blick von dem eindrucksvollen Tier zu wenden, das sie seinerseits aus großen, dunklen Augen aufmerksam ansah.

»Ja, das ist Mondkristall«, erklärte Sindra, die zu ihr gelaufen war. »Doch wenn du mich fragst, passt dieser romantische Name überhaupt nicht zu dem Biest. Er ist ein Eisdrache. Meister Makantheo hat ihn in den Bergen gefunden und ...«, sie unterbrach sich, als Linara näher an die Box herantrat und einen Fuß auf die Gitterstreben setze. »Nein! Warte! Das kannst du nicht tun! Er ... er w ... er wird dich ...!« Ihre Stimme begann sich zu überschlagen, und dann – Linara setzte soeben mit einem spielerisch leichten Satz über die Absperrung – kreischte sie, so laut sie konnte auf.

»A T H A R I S!!!«

»Was ist geschehen«, keuchte Atharis, als er wenige Augenblicke später in den Stall hechtete. Ein Schauer lief ihm das Rückgrat hinab, als er das Halbling-Mädchen vor der Box jenes Drachen stehen sah, welcher ohnehin für Katastrophen berüchtigt war.

Schweißperlen hatten sich auf Sindras Stirn gebildet. Ihr Mund stand offen, doch abgesehen von einem tonlosen Quieken brachte sie nichts hervor, während sie mit zitternden Fingern in den Verschlag zeigte.

Dort kniete Linara vor einem Drachen, der ein Pferd an Körpergröße um mehr als das Dreifache übertraf. Der gewaltige Kopf des Reptils lag auf den Knien der zierlichen Waldelfe. Die Augen hatte der Drache genussvoll halb geschossen, während sie mit ihren schlanken Händen über seine Nase, seine Stirn entlang und über die langen, gewundenen Hörner strich. Zärtlich tätschelte sie den muskulösen Hals des Ungetüms.

»Das glaube ich einfach nicht«, flüsterte Atharis.

 

 

Sindra, die seine Worte falsch verstand, krallte ihre Finger ängstlich in den Ärmel seines Hemdes und begann zu wimmern. »Verzeih mir! Ich wollte sie zurückhalten, aber ... aber ...«

Energisch schüttelte er ihre Hand ab. Seine Abweisung als Bestätigung verstehend, dass er ihr die Schuld gab, begann Sindra hemmungslos zu schluchzen.

Als Atharis die Verzweiflung in ihren graugrünen Augen sah, lächelte er. »Mach dir keine Sorgen.« Er wandte sich seiner Schwester zu. »Denn jetzt habe ich endlich jemanden gefunden, der aus diesem Mistvieh tatsächlich noch ein Reittier machen könnte.«

Linara schob den Drachenkopf behutsam vom Schoß, sprang auf die Füße und drehte sich zu den beiden um. Sie verschränkte die Arme auf der Boxentüre, legte das Kinn darauf und blinzelte ihren Bruder mit einem neckischen Augenaufschlag an.

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest!«

Atharis seufzte. Für diesen kurzen Moment zweifelte er, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, sie herzubringen.

 

 

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, Sindra den Tisch abgeräumt und Linara und den Hausherren alleine gelassen hatte, fragte Atharis: »Was hältst du von ihr?«

»Sie ist ein kleines, hysterisches Luder, das den ganzen Tag reden kann, ohne wirklich etwas zu sagen. Aber abgesehen davon ist sie gewiss liebenswert!« Die Elfe hielt inne, um das Grinsen zu beobachten, das sich auf dem Gesicht ihres Ziehbruders breitmachte.

»Du hast ihre Nervenstärke auch ganz schön auf die Probe gestellt!«

Nun musste auch Linara lachen. Doch dann wurde sie wieder ernst. »Sie ist dir wirklich sehr ergeben.«

»Das muss sie wohl sein! Nachdem ich damals mit ihr regelrecht zusammengestoßen bin, als sie gerade im Begriff war, mit einem vollen Beutel dieses Haus zu verlassen, dessen Inhalt nicht ihr gehörte, hätte ich ohne Weiteres von meinem Recht als Soldat Gebrauch machen können, das es mir erlaubt, Gesetzesbrecher, die ich auf frischer Tat ertappe, angemessen zu bestrafen. Oder ich hätte sie zumindest der Justiz übergeben können.«

Linara nickte. Ihr war wohl bewusst, dass das gemäß dem Gesetz des Landes bedeute, dass Sindra jetzt ohne Hände herumlaufen müsste.

»Komm, lass uns zu Bett gehen!« Atharis stand auf und streckte seiner Schwester die Hand entgegen. »Morgen werden wir uns zuallererst um deine Ausrüstung kümmern.«

4 – Söldner des Landes

 

 

Der Nebel des frühen Morgens lag noch über dem Land, als Atharis seine Schwester zu einer der Scheunen geleitete.

»Schauen wir mal, was wir für dich finden«, sprach er mehr zu sich selbst, denn zu der Elfe, als er die Tür aufschob. Sie betraten einen Raum, in dem Holzkisten und Truhen scheinbar wahllos übereinander und nebeneinander standen. Das fahle Licht, das durch die schmalen Fenster fiel, zeichnete bläuliche Linien in die staubige Luft.

»Ich habe dir bereits einige Kleidungsstücke auf dein Zimmer bringen lassen, die mir für deine neue Aufgabe geeigneter scheinen. Bequeme, weite Hosen sind beim Kampftraining von Vorteil, doch beim Ritt auf einem Drachen eher hinderlich. Und auch dein dünnes Hemd wird den kalten Wind in luftigen Höhen nicht abhalten können.«

Linara warf ihm einen Blick zu. »Bekomme ich eine Uniform, wie du sie trägst?« Der Gedanke gefiel ihr nicht besonders. Sie mochte ihr weiches Wildlederhemd.

»Das wäre überhaupt nicht zulässig, da du offiziell nicht als Soldat Silbersees rekrutiert wirst.«

»Offiziell?« Linara neigte skeptisch den Kopf zur Seite. Eigentlich wollte sie überhaupt kein Soldat sein – offiziell oder inoffiziell. Sie war in der Erwartung hierher gekommen, gemeinsam mit ihrem Bruder Abenteuer zu bestreiten. In ihrer Vorstellung erlebten Soldaten keine Abenteuer. Sie führten nur Befehle aus – am besten, ohne nachzufragen. Ihr Bruder hatte ziemlich oft nachgefragt und das hatte einigen hochrangigen Personen missfallen, zu denen auch der Herzog von Silbersee zu zählen war.

»Ja. Ähm. Das hat etwas mit Politik zu tun, ändert für dich jedoch nicht viel. Kartiana ... ich meine, die Herrin von Silbersee hat mir die Erlaubnis erteilt, einen Trupp von Drachenreitern auf die Beine zu stellen. Die Stadtwache reicht kaum aus, in der Stadt selbst für Ordnung zu sorgen. Im Umland herrscht wie stets das Faustrecht. Gesetzlose verschiedener Rassen planen ungestört ihre Raubzüge von ihren Verstecken in den Wäldern und Bergen aus. Unsere Einheit soll diese Unterschlupfe aufspüren und gegebenenfalls die Ratten in ihren Löchern ausräuchern. Der Herzog, welcher der eigentliche Oberbefehlshaber des Militärs und dadurch mein oberster Vorgesetzter ist, billigt diesen Plan nicht. Er hält die Drachenreiter für Geldverschwendung.« Er machte eine abwertende Handbewegung, die der Herzog besser niemals zu Gesicht bekommen sollte.

»Du wirst ebenso wenig angelobt wie deine Kameraden. Ihr untersteht nur mir. Und im Gegensatz zu mir kann euch kein General oder Feldherr einen Befehl erteilen. Die Bezahlung ist zugegeben nicht besonders gut. Doch da es keine Zuchtbücher gibt, kann ich Drachenjunge, die nicht für das Militär geeignet sind, an Privatpersonen verkaufen. Die Erlöse müssen ausreichen, die Drachenreiter über Wasser zu halten. Das waren die positiven Seiten.«

Er hielt kurz inne, da er aus Linaras ungläubigen Blick schloss, dass sie Zeit brauchte, das Gesagte zu verarbeiten. Schließlich konnte er nicht wissen, dass seine Schwester sich lediglich an dem Wort positiv stieß.

»Die nicht so guten sind, dass es diese Einheit nur so lange gibt, solange ich genügend Goldmünzen zur Verfügung habe oder bis wir dem Herzog unangenehm auffallen. Ich erhalte meine Befehle in erster Linie von der Herrin selbst. Sie wird sich Mühe geben, ihre eigene Idee finanziell zu unterstützen. In wieweit sie sich gegenüber dem Herzog durchsetzen kann, wird sich weisen. Letztendlich kann sie mich nicht ohne die Genehmigung des Herzogs in den Rang des Hauptmannes zurückerheben. Und als einfacher Soldat ist mir das Befehligen einer eigenen Truppe untersagt. Ich kann natürlich Arbeiter für die Farm anstellen und das ist es, was ihr nach außen hin sein werdet. Denn indem ich Söldner um mich schare, um das Gesetz zu vollstrecken, sei es im Interesse von Silbersee oder nicht, mache ich mich vor dem Militär strafbar. Letztendlich wird uns aber kaum jemand dafür belangen, wenn wir Ausbildungsflüge mit Drachen unternehmen und unterwegs zufällig ein paar Goblins und Orks dezimieren. Wir werden uns bewehren müssen. Wenn wir Glück haben, merkt der Herzog nicht, dass uns Kartiana zusätzliche Goldmünzen zuschiebt. Irgendwann wird er hoffentlich die Notwendigkeit dieser Einheit erkennen und mir meinen Rang zurückgeben, wodurch eure Existenz gesichert wäre.«

Linara blickte forschend zu ihm auf. »Ich glaube, Meister Makantheo hat nie ganz verstanden, warum du dich so sehr für ein Land einsetzt, von dem man nicht erwarten kann, dass es honoriert, wenn jemand sein Leben dafür gibt.«

Atharis schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Ruhm und Reichtum kann man wirklich nicht erwarten zu erlangen, nicht, wenn man keiner einflussreichen Familie entstammt.« Er legte der Elfe die Hände auf die Schultern und beugte sich zu ihr hinab, bis seine Nase beinahe die ihre berührte. »Trotzdem ist es das Land, in dem ich lebe, und in dem mein Vater und meine Schwester leben. Ich will, dass wir des Nachts weiterhin ruhig schlafen können, ohne bangen zu müssen, dass ein Dolch im Herzen uns am nächsten Morgen am Erwachen hindert. Ich möchte über die Wiesen wandern, ohne mich nach verdächtigen Schatten umdrehen zu müssen. Doch genau davor müssen wir uns fürchten, wenn niemand bereit ist, etwas gegen die steigende Zahl an Überfällen zu tun, weil jeder nur auf sich selbst bedacht ist und keinen Finger krumm macht für eine Sache, aus der kein Kapital zu schlagen ist. Halblinge als Taschendiebe und menschliche Räuberbanden sind noch das geringste Problem. Die Anhöhen stehen sozusagen bereits unter der Herrschaft von Orks und Ogern. Der Herzog ist derart fasziniert, wie gut wir die westlichen Grenzen an der Ewigen Steppe gegen die Truppen des Hexenlords halten, dass ihm gar nicht auffällt, dass das Land von innen her zu zerfallen beginnt.« Er ließ sie los und zuckte gleichmütig die Achseln. »Abgesehen davon mache ich im Grunde das Gleiche wie unser Vater, bevor er die Schule gegründet hat, nur dass ich es unter einer Flagge tue. Der anonyme Rächer der Schwachen ist heutzutage ziemlich aus der Mode gekommen. Wer heute auf eigene Faust einen Mörder tötet, findet sich bereits morgen auf der Verbrecherliste unter der Rubrik Lieber tot als lebend wieder. Was ich tue, ist zwar auch strafbar, doch habe ich die Unterstützung der zweiteinflussreichsten Person des Landes.«

Linara starrte ihn ungläubig an. »Wieso hat Meister Makantheo nie erzählt, dass ...«

»Dass er ein Vagabundenleben als unterbezahlter Söldner geführt hat?«, unterbrach ihr Bruder sie. »Vielleicht hat er gefürchtet, dass du Gefallen am Abenteurerleben finden könntest. Der Apfel fällt trotz aller Rassenunterschiede zwischen uns doch nicht weit vom Stamm.«

Linara nickte lachend. Doch Atharis ließ sich von ihrer Heiterkeit nicht mitreißen. »Er wollte dir wohl die schmerzhafte Erkenntnis ersparen, dass solch ein Leben wenig von der Romantik birgt, welche die Bardenlieder vermitteln.«

»Trotzdem hat das Abenteuer einen gewissen Reiz auf uns beide. Dennoch glaube ich nicht, dass ich glaubhaft den Rächer der Schwachen spielen könnte. Wen sollte ich schon rächen wollen?« Sie hatte es leichthin gesprochen, ohne den Worten tiefere Bedeutung zuzumessen. Umso sonderbarer erschien ihr nun der Blick, mit dem Atharis sie bedachte. Sie wand sich voll Unbehagen.

Atharis bemerkte ihre Verwirrung und erklärte ebenso leichtfertig: »Keine Sorge! An Arbeit hat es uns bislang nicht gemangelt.«

Er nahm sie bei den Schultern und blickte ihr tief in die Augen. »Unser Vater hat die Kampfschule gegründet, weil er den Menschen eine Chance geben wollte, zu lernen, sich zu verteidigen. Dass dieser Zweck vom Militär völlig untergraben wurde, ist nicht seine Schuld. Doch ich will nicht darauf warten, bis Landwirte lernen, neben der Mistgabel auch ein Schwert zu führen, während sie darauf hoffen können, dass Goblins nur ihre Schafe rauben und nicht auch das eine oder andere Kind. Ich handle im Auftrag der Herrin Kartiana und habe ihre Rückendeckung. Doch alleine bin ich nicht mehr als ein degradierter Hauptmann, der Drachenjungen ihre Faxen austreibt. Wirst du mir helfen?«

Linara schwieg einen Augenblick. Im Schutz der Kampfschule in der Abgeschiedenheit des Waldes bekam man wenig von den Sorgen und Missständen mit, die ringsum die Menschen beschäftigten. Aufgewachsen in den Bergen, fand sich die junge Elfe in der Wildnis bestens zurecht und wusste sich im Notfall zu verteidigen. Sie hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, ob die Kinder des nächsten Bauernhofes, der zwei Wegstunden entfernt von ihrem Zuhause gelegen hatte, sorglos auf der Weide spielen konnten, so wie sie sich nie viele Gedanken über irgendeinen Menschen gemacht hatte, den sie nicht kannte. Nun wurde ihr schlagartig klar, dass sie nicht die Einzige war, die es nicht gekümmert hatte. Doch so gedankenlos die Leute oft waren, sie würden es nicht länger sein können, wenn sich niemand mehr fand, der sie im Hinterland beschützte.

Langsam nickte Linara.

»Du hast nie erzählt, warum man dich degradiert hat.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich über dieses Thema sprechen wollte.

Atharis nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich barsch abwandte und in einer Truhe zu kramen begann.

Er förderte ein fein gearbeitetes Kettenhemd zutage und hielt es seiner Schwester hin. »Ich hoffe, dass dir Nahkämpfe vorerst erspart bleiben. Dennoch will ich, dass du für den Ernstfall gerüstet bist. Trage dies hier. Ich habe es von einem Händler aus Intirana im Tausch gegen ein Drachenbaby erhalten. Er beteuerte, dass es feinste zwergische Qualitätsarbeit sei und selbst magisch gehärteten Klingen standhalten würde.« Seine Hand glitt zu dem Heft des Schwertes an seiner Hüfte. »Vielleicht hätte ich ihn um eine Demonstration bitten sollen.«

Während Linara die glänzende Rüstung noch in den Händen abwog, öffnete er einen Schrank und griff sich eine der dort hängenden großen Armbrüste. Er reichte sie der Elfe.

»Was ist das?« Linara sah zweifelnd auf die schwere Waffe.

»Eine Armbrust«, erwiderte Atharis leicht irritiert. Er wusste, dass seine Schwester im Zuge ihrer Ausbildung bei ihrem Ziehvater den Umgang mit sämtlichen im Land gebräuchlichen Waffen geübt hatte, und verstand daher die Frage nicht.

»Das sehe ich! Jedoch, was soll ich damit?« Linara griff nach dem Jagdbogen, der über ihrer Schulter hing, und ließ ihn vor Atharis’ Augen hin und her schwingen. »Eine Eidechse von einem Baum aus einhundert Metern Entfernung! Du erinnerst dich? Und damals war ich erst zwölf Jahre alt.« Nach einer kurzen Atempause fügte sie hinzu: »Heute würde ich das jedoch nicht mehr fertigbringen.«

Ihr Bruder brauchte die Frage nicht auszusprechen. Das ›Warum?‹ stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Linara lachte. »Weil mir die Eidechse heute viel zu leidtäte!«

»Ach wieso?« Atharis gab vor, enttäuscht zu sein. »Sie hat doch eine vorzügliche Suppeneinlage abgegeben!«

Die Elfe runzelte skeptisch die Stirn. »Nun, wenn du magst, kann ich uns eine schöne Waldechse schießen und Sindra soll sie uns zum Abendmahl zubereiten.«

Atharis schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ihr Götter, bewahrt mich!«, stöhnte er. Es war mittlerweile ein Jahrzehnt verstrichen, doch er erinnerte sich immer noch mit Schaudern an den Geschmack dieses kulinarischen Ausflugs in die Welt der Reptilien. An gegrillte Schlangen hatte er sich in seiner Zeit in der Ewigen Steppe gewöhnt. Waldeidechsen jedoch konnten seiner Meinung nach nur noch durch Salamander an Scheußlichkeit übertroffen werden. Atharis schüttelte sich. Dann sah er auf die Armbrust in seinen Händen herab. Linara hatte ihn erfolgreich abgelenkt, doch er wollte sich in der Streitfrage der Waffenwahl noch nicht geschlagen geben.

»Du wirst vom Rücken eines Drachen auf entfernte Ziele am Boden schießen müssen. Armbrüste haben sich als treffsicherer bewährt. Das Nachladen während des Ritts bedarf zugegeben einiger Übung.«

»Diese Waffe ist viel zu schwer und unhandlich. Du wolltest eine Elfe haben, also vertraue mir! Oder finde dich zumindest damit ab, dass ich nicht bin wie die menschlichen Muskelprotze, die normalerweise Soldaten werden.«

Atharis sah an sich selbst hinunter. Er konnte nicht leugnen, dass sein Körper gut durchtrainiert war. Sehnen und Muskeln traten deutlich hervor. Dennoch hatte er sich immer als schlank und wendig gesehen. In seiner Vorstellung verglich er sich mit dem klassischen Bild eines der Kerle, deren Schultern so breit waren, dass sie die Sonne verdunkelten, wenn sie sich vor einem aufbauten. Üblicherweise traf man solche Männer in ungemütlichen Kneipen an, wo sie ein Garant für zerschlagene Stühle waren. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf.

Linara beobachtete ihn amüsiert. Sie konnte sich vorstellen, was er dachte, und hatte Mühe, nicht laut aufzulachen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739365275
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Drachen Abenteuerepos Schattenelfen Dunkelelfen Drachenreiter Highfantasy Fantasy

Autor

  • Manuela P. Forst (Autor:in)

Manuela P. Forst lebt in Wien und hat sich mit Schreibfeder und Zeichenstift der Fantasy verschworen. Seit 2004 veröffentlichte sie zahlreiche Texte in Anthologien und Magazinen. Ihr Debütroman "Donoghs Rache" erschien 2006 in dem Buch "Basodunum - Von Kriegern und Druiden". "Bardenlieder von Silbersee" ist ihre bislang erfolgreiste High Fantasy-Serie.
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Titel: Bardenlieder von Silbersee - Die Drachenreiter 1