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Auf Probe

Sondereinheit Themis

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
263 Seiten
Reihe: Sondereinheit Themis, Band 1

Zusammenfassung

Sie sind Spezialisten und kämpfen gegen das Verbrechen in Deutschland und International. Themis eine Sondereinheit aus Polizisten und Soldaten. Die ehrgeizige Natasha wird zum Einstellungstest der Sondereinheit Themis eingeladen. Zum ersten Mal im Leben scheitert sie an einem Sporttest. Zu ihrer größten Überraschung wird sie dennoch auf Probe eingestellt. Der Mann, der dafür sorgen soll, dass sie beim nächsten Anlauf den Test schafft, ist ausgerechnet der Trainer, der ihr die Vorbereitungswochen zur Hölle machte. Aber Natasha wäre nicht Natasha, wenn sie sich von einem Mann in die Knie zwingen ließe. Das bekommt auch ihr unfreiwilliger Trainer und Partner Peter zu spüren. Doch der hat nicht umsonst von seinen Kameraden den Spitznamen Pit - als Kurzform für Pitbull – erhalten. Das Themis Team schließt Wetten ab. Wer von den Beiden wird am Ende sein Ziel erreichen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für meine Freundin Tina, die es nie müde wird, mit mir über die Psychologie von Hunden zu diskutieren. In ihrer Hundepension mit familiärem Anschluss fühlt sich jeder Vierbeiner pudelwohl.

Das Team und Familie Abel

Generalmajor Karl Hartmann

Ist der Gründer und Chef der Einheit. Er war lange Zeit Polizist und ist dann zum Militär gewechselt.


Oberst Ben Wahlstrom

Ist der Personalverantwortliche der Einheit. Er war schon immer Soldat und ist mit der Fotografin Johanna Rosenbaum, die immer nur Hanna genannt wird, liiert. Er leitet die Einsätze.


Major Tobias Wagner (TJ)

Ist der Länder Analyst der Einheit. Er ist auch Springer, wenn mal einer ausfällt. Auch er leitet Einsätze. Er ist mit Tamara, kurz Tami verheiratet. Sie ist ein IT-Security Consultant und arbeitet ab und an für die Einheit. Aus erster Ehe bringt TJ drei Kinder mit in die Ehe und mit Tami hat er eine Tochter.


Kriminalkommissar Paul Gerlach

Ist der IT Wizard in der Einheit. Eigentlich gehört er zum BKA, doch oft arbeite er exklusiv für Hartmann.


Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann

Ist die Verhörspezialistin und Hauptfigur in der Reihe. Früher Wettkampfschwimmerin und Polizistin aus Leidenschaft.


Kriminalhauptkommissar Peter Abel (Pit)

Ist der Leiter des Teams. Er erstellt die Trainingspläne für alle und kennt keine Gnade, wenn es um die Leistungsfähigkeit aller geht. Sein Spitzname kommt von Pitbullterrier, weil er sich gerne in etwas festbeißt.


Odin von Lichtenfels (Smart)

Ist der Diensthund in der Einheit und wird von Pit geführt. Er ist unglaublich klug, weshalb er auch seinen Spitznamen hat. Zusammen mit Pit und Natasha bildet er ein Dreierteam.


Kriminalhauptkommissar Kevin Steuber

Ist der Fahrer des Teams. Er kann alles fahren, egal ob auf Vierrädern, Zweiräder, dem Wasser oder in der Luft. Außerdem kann er auch alles kurzschließen.


Stabsfeldwebel Chris Neumann

Ist der Kommunikationstechniker der Einheit. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt zu halten und den Input bei einem Einsatz zu liefern. Er bildet mit Kevin ein Zweierteam.


Kriminalhauptkommissar Mark Becker

Ist der Entschärfer und Spotter (Beobachter für einen Scharfschützen) im Team. Egal um was für Sprengsätze es geht, er weiß, wie er sie deaktiviert. Nur nicht, wenn es um seine Partnerin geht.


Oberleutnant Carolina Herrmann (Caro)

Ist die Scharfschützin im Team. In den ersten drei Monaten bei der Einheit war sie die Partnerin von Pit, dann hat sie zu Mark gewechselt.


Kriminalhauptkommissar Römer

Ist der Forensiker im Team. Er kennt sich mit allen Themen der Forensik aus, ist aber kein Spezialist für ein Teilgebiet. Er beurteilt einen Tatort und zieht daraus Schlüsse oder weiß, was untersucht werden muss.


Kriminalhauptkommissarin Gabriella Santinos

Ist die Fassadenkletterin im Team. Einem Affen gleich, kommt sie überall hoch. Sie bildet ein Team mit Bodo, der einzige, der mit ihrem Temperament und Agilität umgehen kann.


Leutnant Zoe Dübbers

Ist die Nahkampfspezialistin im Team. Eine echte Ninja-Kämpferin, die mit Carolina liiert ist. Sie legt jeden Mann flach, sehr zum Ärger der Männer.


Oberleutnant Ulf Clemens

Ist der Sanitäter im Team. Die tödlichste Waffe und der Lebensretter bilden ein Zweierteam und sind das einzige rein militärische Duo in dem Team.

Familie Abel

Dr. Kain Abel, Mediziner, arbeitete in der Forschung und lehrte, Sportfanatiker, Peters Vater, kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.


Dr. Lydia Abel, Allgemeinärztin, inoffizielles Oberhaupt der Familie, mit dem sich keiner anlegt. Kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.


Yvonne Kramer, Peters älteste Schwester, verheiratet mit Robert, zwei Kinder: Charlotte und Tim.


Die Zwillinge: Dr. Carina Abel, Ärztin der Inneren Medizin, war Stammzellspenderin für ihre Zwillingsschwester, als diese Leukämie hatte, Dr. Cecilia Abel, Psychotherapeutin, auf Gewaltopfer spezialisiert. Zwei Jahre älter als Peter.


Angela Abel, fünf Jahre jünger als Peter und damit das Küken, leitet die Stiftung der Familie.

1

Auf Probe

Kerzengerade saß Natasha auf dem Stuhl, die Knie ein Stück auseinander, die Füße parallel auf dem Boden. Ihre Hände lagen locker auf dem Schoß. Egal was er sagen würde, egal wie vernichtend sein Urteil war, sie würde es mit Fassung tragen. Innerlich kochte sie vor Wut, vor Frustration und Enttäuschung. Sie war es nicht gewohnt zu scheitern, wenn sie sich ein Ziel gesetzt hatte. Sie würde einen Teufel tun und sich das vor ihm anmerken lassen.

Sie hatte keine Ahnung, weshalb er sie zu sich zitiert hatte, nachdem sie gestern durch den Leistungstest gefallen war. Als ob sie nicht selbst wüsste, dass sie auf ganzer Linie versagt hatte. Sie unterdrückte die Gedanken und hielt die Augen offen, aus Angst, dass sie anfangen würde zu heulen. Das war die allerletzte Blöße, die sie sich vor diesem Mann geben wollte.

In seiner höflichen, stillen Art hatte er sie ins Büro gebeten, auf den Stuhl vor seinem schlichten Schreibtisch gedeutet und sich auf den Bürostuhl gesetzt. Der Besucherstuhl war hart und unbequem. Bewusst. Eine Taktik. Der Schreibtisch bestand aus einer schlichten weißen Platte auf vier Metallbeinen mit rundem Querschnitt. Ein Laptop und ihre Personalakte lagen auf dem Tisch. Nichts im Raum deutete auf den militärischen Rang des Mannes hin. Sie hatte ihn in voller Uniform gesehen, doch heute trug er Zivil – Anzug, Hemd, aber keine Krawatte. Er blätterte in der Akte, sah dann wieder mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm des Laptops. Worauf wartete er? Dass sie eine Frage stellte? Dass sie wieder aufstand? Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, einer Viertelstunde. Nichts war zu hören, außer dem Klicken der Taste, wenn er weiterblätterte.

Die Wände des Raums waren komplett in Cremeweiß gehalten. Der Boden bestand aus Linoleum, das wie der lasierte Holzfußboden einer skandinavischen Hütte aussah. Die großen Fenster ließen viel Licht herein. An den Wänden ausdrucksstarke Fotografien von Landschaften, Menschen, Tieren, dem Leben. Fast meinte sie, die Wellen zu hören, die an den Steg schlugen, das Salz in der Luft zu riechen. Sie liebte das Wasser, das Meer, die Stille, wenn sie tauchte und die Welt um sich herum mit all ihren Problemen vergessen konnte. Manchmal hatte sie sich gewünscht, nie wieder daraus aufzutauchen.

»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann?«

Herausgerissen aus ihren Gedanken zuckte sie zusammen.

»Generalmajor Hartmann?«

Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und betrachtete sie mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Was machen wir mit Ihnen?«

Sie schwieg, hielt seinem Blick stand.

Er seufzte, beugte sich nach vorn, legte die Unterarme auf die Tischplatte. »Sie wissen, dass Sie beim Leistungstest durchgefallen sind, wenn auch knapp.«

»Beim Hindernisparcours – ja, wegen des Seils.«

Kurz zuckte es um seine Mundwinkel, doch sie war nicht sicher, ob sie nicht einer Täuschung unterlag.

»Beim Sprint erreichten Sie exakt die als Minimum geforderte Zeit.«

»Was bedeutet, dass ich bestanden habe.«

»Beim Schnellschießen war Ihre Reaktionszeit hart an der Grenze.«

»Dafür traf ich das Ziel.«

»Die Bruchteile von Sekunden, die Sie eher reagieren, können in einer kritischen Situation überlebenswichtig sein.«

Sie schwieg. Was sollte sie darauf auch antworten? Sie musste allein mit dem fertig werden, was geschehen war.

»Wie oft haben Sie versucht, das Seil hochzuklettern?«

Er wusste es doch genau. Was wollte er von ihr? Dass sie sich noch mehr als Versagerin fühlte? Gottverdammt, sie hatte sich nicht für diesen Scheißtest beworben! Sie hatte sich für ein Sonderkommando beworben, und man hatte sie zu dem Bewerbungsverfahren für diese Abteilung eingeladen. Niemand hatte ihr sagen können, was von ihr erwartet wurde. Über den physischen Test hinaus waren die Kandidaten in den letzten drei Monaten auch an ihre psychischen Belastungsgrenzen gebracht worden. Sie war sich sicher, dass sie diesen Part herausragend bewältigt hatte. Es kratzte gewaltig an ihrem Selbstwertgefühl, dass sie schließlich an dem dämlichen Seil gescheitert war. Immerhin hatte sie beim gesamten Training je nach Disziplin entweder auf Platz eins, zwei oder drei gestanden. Sie war eine verdammt gute Polizistin, war körperlich fit und psychisch stabil. Sie würde sich jetzt nicht von ihm verunsichern lassen. Irgendein Sonderkommando würde sie schon nehmen.

»Drei Mal.«

»Warum haben Sie es kein viertes Mal versucht?«

»Weil man es mir nicht erlaubte.«

»Wie oft hätten Sie es noch versucht?«

Sie schwieg. Mit Sicherheit wusste er die Antwort. Bis ihre Kräfte nicht mehr gereicht hätten, um auch nur den ersten Meter zu schaffen. Verflucht, sie hatte in dem dreimonatigen Vorbereitungstraining das Seil geschafft, nur war es da im Hindernisparcours relativ weit vorn drangekommen. Beim Leistungstest war es dann das letzte Hindernis gewesen. Das Zeitlimit war nach dem dritten Versuch abgelaufen gewesen. Sie wollte es nur sich selbst beweisen, nach all der Schinderei, dass sie es hätte schaffen können. Keiner der übrig gebliebenen zehn von 37 Teilnehmern hatte am Ende beide Tests – den Leistungstest und den psychologischen Test – bestanden. Nicht, dass es sie tröstete. Sie hätte es schaffen können, wären nicht das Wandhochklettern, das Hangeln und das Hochklettern am Seil direkt hintereinander drangekommen. Der Parcours war in ihren Augen bewusst so gestaltet worden, damit sie es nicht schaffte und Lucas, der Favorit des Trainers, sie schlagen würde. Dumm für ihn, dass er durch den psychologischen Test geknallt war.

Hartmann nahm sein Smartphone, das neben ihrer Personalakte gelegen hatte, und wählte eine Nummer.

»Kriminalhauptkommissar Abel, kommen Sie in mein Büro. – Nein, jetzt sofort. – Das ist mir egal.«

Er legte auf, sah sie weiter an, während sie gemeinsam warteten. Abel, ging es ihr durch den Kopf. Scheiße, ausgerechnet das Arschloch von Trainer. Er hatte das dreimonatige Vorbereitungstraining geleitet. Der Drill hatte ihr nichts ausgemacht. Von ihr aus konnte er sie anbrüllen und verbal unter Druck setzen, so viel er wollte. Mindestens einmal pro Tag hatte er ihr das Aufgeben schmackhaft gemacht. Sie hatte ihn einfach ignoriert. Doch bei vielen anderen war er erfolgreich gewesen, und mit jeder Kandidatin und jedem Kandidaten, die aufgaben, war ihre Wut auf ihn gestiegen und ihr Wille, es ihm zu zeigen, ebenfalls. In den letzten Wochen hatte sie mehr am Boden zerstörte Menschen wieder psychisch hochgepäppelt als in ihrem gesamten Bachelor- und Master-Studiengang zusammen. Sie war die einzige Frau von allen Anwärtern, die es in den Abschlusstest geschafft hatte. Abel war derjenige gewesen, der sie im Leistungstest beim dritten Anlauf gepackt und vom Seil weggezerrt hatte, nachdem er sie angebrüllt hatte, es endlich zu lassen. Es hatte ein kurzes Handgemenge zwischen ihnen gegeben, bis sie das Seil losließ. Nichts, worauf sie stolz war. Es war einfach zu viel Adrenalin in ihrem Blut gewesen.

»Gib auf, du bist raus!«

Sie hatte sich aus seinem Griff befreit. »Wenn ich etwas anfange, dann beende ich es auch.«

Damit hatte sie sich umgedreht und war die zehn Meter über die Ziellinie gesprintet. Sie war froh gewesen, dass der Regen die Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, tarnte.

In Jeans, schwarzem T-Shirt und Turnschuhen trat er ins Büro und ignorierte sie geflissentlich. Die Arme verschränkt baute er sich neben ihr vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten auf. Sie schwor sich: Wenn er es auch nur wagte, zu grinsen oder irgendeine abfällige Bemerkung zu machen, würde er diesmal Kontra bekommen, und nicht zu knapp.

»Es ist nicht mein Problem, dass alle Anwärter durchgefallen sind. Ich habe sie vorbereitet wie alle anderen Gruppen. Überlassen Sie das nächste Mal wieder Oberst Wahlstrom die Auswahl der Kandidaten. Er hat ein Händchen dafür.«

Sie hielt die Luft an. Hartmann ignorierte die provozierende Anmerkung seines Mitarbeiters.

»Sie erinnern sich an Kriminalhauptkommissarin Kehlmann?«

Er warf ihr noch nicht einmal einen Blick zu. Dieser arrogante, selbstherrliche, beschissene, masochistische Saftsack. Zwei Stunden allein in einem Zimmer mit ihm, und sie würde ihm zeigen, wie es sich anfühlte, wenn man jemanden verbal fertigmachte. Ja, das wäre die richtige Strafe für ihn. Erika hatte geheult wie ein Schlosshund, als er mit ihr fertig war. Dabei war sie nach ihr die körperlich Fitteste von ihnen gewesen.

»Die Loserin an den Seilen. Die auf den letzten Metern versagt hat und nicht akzeptieren wollte, dass sie durchgefallen ist.«

»Sie haben exakt zwei Monate und siebzehn Tage Zeit – bis zu unserem Quartalstest.«

Die verschränkten Arme fielen hinunter. »Das ist ein schlechter Scherz.«

»Wann habe ich zuletzt einen Scherz gemacht?«

»Weshalb machen wir den verfluchten Einstellungstest, wenn wir ihn nicht als Maßstab für das Team nehmen?«

»Nun, nach dem, was ich hier vorliegen habe, tun wir das.«

Zum ersten Mal warf ihr Abel einen raschen Blick zu. »Weshalb wollen Sie ausgerechnet bei ihr eine Ausnahme machen?«

»Ich denke, wir beide wissen wieso. Aber ich mache gar keine Ausnahme. Sie werden dafür sorgen, dass sie beim Quartalstest die geforderte Leistung zeigt.«

»Und wenn ich mich weigere?«

Es entstand eine Pause, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann, wären Sie so gut und würden einen Moment draußen warten?«

Wie in Trance erhob sich Natasha, verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich. Sie ging auf die andere Seite des Flurs, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich hinuntergleiten. Hatte sie das eben richtig verstanden? Sie bekam eine zweite Chance? Ein Grinsen machte sich in ihrem Gesicht breit. Generalmajor Hartmann hatte kapiert, dass Abel versucht hatte sie rauszukicken, anders konnte sie es sich nicht erklären.


»Setzen Sie sich, Abel.«

»Einen Teufel werde ich tun. Was soll das? Wenn wir so dringend neue Leute brauchen, dann nehmen wir Lucas. Der hat den Parcours unter dem gesetzten Zeitlimit geschafft.«

»Sie vergessen den psychologischen Test, den er, wenn auch nur knapp, nicht bestanden hat. Abgesehen davon hat er nicht das, was sie hat.«

»Scheiße, und was soll das sein?«

Sein Chef warf ihm die Akte zu. Er fing sie geschickt auf, machte sich erst gar nicht die Mühe, sie durchzublättern, sondern schlug direkt das Blatt am Ende auf, wo Hartmann immer seine Vermerke machte. Er las, runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Schließlich warf er die Akte auf den Tisch zurück.

»Okay, ich gebe zu, es ist beeindruckend.«

»Beeindruckend? Das ist eine Quote von 93 Prozent. Drei – und – neun – zig

»Mag ja sein, aber unsere Fälle sind andere. Wir sitzen nun mal nicht nur am Schreibtisch und setzen die Puzzelteilchen zusammen. Im Einsatz bestimmt das schwächste Glied der Kette am Ende über den Ausgang, und es gibt verflucht noch mal einen Scheißgrund, weshalb wir die Werte beim Leistungstest gesetzt haben. Mein GSG-9-Ausbilder würde sich kaputtlachen über die Anforderungen, die wir bei Themis stellen.«

»Es reicht, Abel. Passen Sie gefälligst auf Ihre Sprache auf. Bei uns kommt es eben nicht nur auf die körperliche Leistungsfähigkeit an. Ich habe die Einheit bewusst mit Männern, Frauen und Hunden aufgebaut. Okay, nur einem Hund momentan.«

»Weshalb ich nicht verstehe, dass Sie ausgerechnet für sie eine Ausnahme machen wollen.«

»Weil Sie den Parcours bewusst so aufgebaut haben, dass sie durchrasselt. Drei Hindernisse, die die Oberkörpermuskulatur fordern, hintereinander? Für wie dumm halten Sie mich? Dachten Sie, ich würde das nicht durchschauen?«

Peter wusste, wann es besser war, zu schweigen. Lucas wäre seiner Ansicht nach die bessere Wahl gewesen. Nicht, dass er etwas gegen eine Partnerin gehabt hätte. Aber Kehlmann, die war ihm vom ersten Tag an ein Dorn im Auge gewesen.

»Kriminalhauptkommissar Abel, wie viele Partner hatten Sie in diesem Jahr?«

Eine Weile starrten sich beide lediglich an.

Er wusste nicht recht, worauf sein Chef hinauswollte. Es passierte ihm selten, dass er eine Situation nicht einschätzen konnte. Bisher hatte ihm der Generalmajor viel Leine gelassen, weil er verdammt noch mal der Beste in der ganzen Einheit war. Doch er befürchtete, dass er gerade das Ende dieser Leine erreicht hatte.

»Drei.«

»Richtig, drei. Einer hat den Dienst quittiert, einer bekam eine Kugel ab, die ihn dienstuntauglich machte, und die dritte hat die Chance wahrgenommen, ihren Partner zu wechseln, kaum dass sich ihr die Gelegenheit bot.«

Es tat ihm noch immer weh, dass ihn Carolina im Stich gelassen hatte. Sie war die ideale Partnerin für ihn gewesen. Dabei hatte er sie doch mit Samthandschuhen angefasst, weil er wusste, dass er mit einer Partnerin besser zurechtkam als mit einem Mann. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass Manfred den Dienst quittiert hatte.

Niemandem war am Anfang klar gewesen, worauf man sich bei dem Job einließ. Die körperliche Herausforderung war eine Sache, aber die psychische etwas vollkommen anderes. Egal wie sehr man sich im Vorfeld darauf vorbereitete – erst die Realität zeigte einem, ob man damit zurechtkam. Und Sean? Den hatte eine Kugel erwischt. Nicht allzu schlimm, aber blöd nur, dass es sein Schultergelenk getroffen hatte. Es kickte ihn aus dem Team, weil er nicht mehr die geforderte körperliche Leistung erbringen konnte. Ab und an trafen sie sich auf ein Bier in ihrer Stammkneipe.

»Ihre Aufgabe ist ganz simpel, Abel. Entweder Sie schaffen es, dass Kriminalhauptkommissarin Kehlmann den Leistungstest besteht, oder Sie fliegen mit ihr aus dieser Einheit. Je schneller Sie sie fit bekommen, desto eher sind Sie wieder im Einsatz.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt. Es ist mein voller Ernst. Wenn es Ihnen nicht passt, steht es Ihnen selbstverständlich frei, den Dienst zu quittieren.«

Für den Bruchteil einer Sekunde war Peter genau dazu bereit. Er atmete tief durch, erhob sich und rauschte aus dem Büro. Statt die Tür zuzuknallen, was er am liebsten getan hätte, schloss er sie bewusst lautlos. Da – er hatte seine Emotionen vollkommen unter Kontrolle, im Gegensatz zu dieser Frau, die ihm bei der Seilübung an die Gurgel gegangen war. Dabei hatte er ihr lediglich gesagt, was für jeden offensichtlich gewesen war, nämlich dass sie gescheitert war.


Hartmann atmete vorsichtig aus, als sich seine Bürotür geschlossen hatte. Er ärgerte sich maßlos, dass er sich zu diesem Satz hatte hinreißen lassen. Nicht nur hatte er riskiert, seinen besten Mann zu verlieren, er hatte die junge Frau auch noch in eine unmögliche Situation gebracht. Er konnte nur hoffen, dass er sie richtig einschätzte und sie ein überaus hartnäckiger Mensch war und genug Mumm in den Knochen hatte, um bei Abel gegenzuhalten. Immerhin hatte sie während der Vorbereitung mehr als einmal gezeigt, dass sie sich von ihm nicht einschüchtern ließ.

Ansonsten musste er sich Gedanken machen, wenn es so weit war. Am besten würde er dann Wahlstrom vorschieben.

2

Erwischt

Natashas Grinsen gefror, als sie zu dem Mann hochsah, der sich mit verschränkten Armen vor ihr aufbaute und auf sie herabsah. Es war nicht so sehr die Haltung, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte: bewusst einschüchternd, die Füße ein Stück weit auseinander, den Kopf leicht nach vorn gereckt, die breiten Schultern und der starke Rücken, der sich zur Hüfte hin nur eine Spur verjüngte. Eine aufrechte Wand. Es waren vielmehr seine Augen, die ihr die Haare zu Berge stehen ließen. In der Farbe von dunklen Gewitterwolken sahen sie sie an, als würden sie jeden Moment Blitze auf sie herabschicken.

Sie erhob sich vom Boden.

Stehend war sie nur noch wenig kleiner als er. Um den Augenkontakt halten zu können, war sie gezwungen, den Kopf leicht zu heben. Eine Weile starrten sie sich einfach nur an. Die Feindseligkeit quoll aus jeder Pore seines Körpers. Gut, etwas anderes hatte sie nicht erwartet – immerhin eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Generalmajor Karl Hartmann wollte sie haben, und sie würde sich die Chance nicht entgehen lassen, Teil dieser Einheit zu werden. Wenn es sein musste, auch über seine Leiche.

Der Starrwettbewerb hielt an. Sie war gut darin, doch sie wusste, dass es etwas gab, worin sie weit besser war. Sie musste bewusst ihre Gesichtsmuskeln entspannen. Sie legte den Kopf leicht seitlich und lächelte ihn schräg an.

»Es tut mir leid, dass der Generalmajor Ihnen meinetwegen die Pistole auf die Brust setzt, aber wir können unsere erzwungene Zusammenarbeit rasch abkürzen. Machen Sie mir einen Trainingsplan für den Quartalstest, und Sie sind mich los.«

»Einen Scheißdreck werde ich.«

»Sie sind wütend, das kann ich nachvollziehen. Ich bin durch den Leistungstest gefallen, und die Regeln waren klar. Was halten Sie von einem Deal?«

Zum ersten Mal veränderte sich seine Haltung minimal. »Ein Deal?«

Sie standen Nase an Nase. Er roch nach Salz und einem Hauch von Minze. Wie ärgerlich, sie liebte den Geruch dieses minzigen Duschgels, das sie selbst so gern benutzte, weil es nach dem Sport ein kühles, frisches Gefühl auf der Haut hinterließ. Seine Haare waren voll und dicht und erinnerten sie an die Schale von Haselnüssen. Hellere Brauntöne gepaart mit dunklen, beinah schwarzen Strähnen. Seine Nase war groß und prägnant und passte gut zu seiner gröberen, kantigen Form. Im Kontrast dazu standen seine Lippen, die erstaunlich weich geschwungen und voll waren. Seine Nähe, seine Körperhaltung verursachten ihr ein Gefühl von bedrohlicher Enge, der sie sich nur allzu gern entzogen hätte. Dummerweise stand sie mit dem Rücken zur Wand, und die einzige Möglichkeit, Distanz zwischen ihn und sie zu bringen, wäre gewesen, seitlich an ihm vorbei in den Flur zu treten. Keine Option, sonst glaubte er noch, dass er sie einschüchterte.

»Ein Deal«, wiederholte sie. »Vier Wochen, dann erbringe ich die Leistung, und Sie akzeptieren mich im Team.«

»Und wenn nicht?«

»Geh ich zum Generalmajor und sage ihm, dass ich aufgebe.«

Jetzt lichtete sich das Dunkelgrau seiner Iris. Seine Haltung änderte sich kein bisschen.

»Vier Wochen? Warum sollte ich mich vier Wochen mit Ihnen rumschlagen, wenn ich Sie auch in einer Woche wieder loswerden kann?«

Natasha wusste, dass sie ihn am Haken hatte, und der strahlende Blick, den sie ihm schenkte, kam aus tiefstem Herzen. »Von mir aus. Doch sollte es nicht klappen, steht der Deal mit vier Wochen, in denen Sie mich voll unterstützen.«

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich seine Gesichtsmuskeln entspannten und sich die verschränkten Arme voneinander lösten.

»Einverstanden. Ich gebe dir keine Woche, und ich schwöre dir, du wirst jede Minute davon bereuen.«

Er drehte ihr den Rücken zu und ging los. Sie hatte keine Ahnung, ob sie ihm nachlaufen sollte oder nicht.

»Das werden wir ja sehen, mein Lieber, wer es am Ende bereut«, murmelte sie vor sich hin und beeilte sich, ihm zu folgen.


Sie bekam eine Tour durch das Gebäude, das direkt neben der BKA-Zentrale in Berlin stand. Von außen war es ein schlichter Betonklotz, eines dieser modernen architektonischen Gebilde mit symmetrischen Linien. Das Innere war seinem schlichten Äußeren angepasst.

Im Erdgeschoss lag das Schwimmbad mit fünf parallelen Bahnen von 25 Metern Länge. Als sie ankamen, trat gerade eine attraktive Frau mit blonder Mähne im Badeanzug an einen Block. Ihre Beine schienen unendlich. Sie schüttelte den Kopf, packte ihre Haare, schlang sie zu einem Knoten und steckte sie unter eine Badekappe. Mit einem verführerischen Grinsen warf sie ihnen eine Kusshand zu und sprang ins Wasser. Gern hätte Natasha der Frau beim Schwimmen zugeschaut, doch Abel eilte weiter.

Es gab insgesamt fünf verschiedene Trainingsräume. Einer war mit Geräten zum Krafttraining ausgestattet, einer mit Ausdauergeräten, einer war vollkommen leer, dafür mit einem weichen, federnden Boden ausgelegt, und ein weiterer mit den Hindernissen aus dem Parcours. Der Letzte enthielt eine Raumschießanlage vom Feinsten.

Ab und an trafen sie auf einen Mann oder eine Frau aus der Einheit. Deren Gesichtsausdrücke spiegelten immer kurz Überraschung, die dann in Ablehnung wechselte. Jeder schien zu wissen, dass keiner der Anwärter den Test bestanden hatte. Super. Das hieß, dass sie das ganze Team überzeugen musste.

In der ersten Etage lagen die Büroräume. Jeder Raum war funktional mit modernster Technik ausgestattet, die Schreibtische alle wie im Büro des Generalmajors – weiße Platten, metallene Füße, wenig Papier, dafür zwei Monitore auf jedem Tisch.

Im zweiten Stock lagen große Besprechungsräume, eine Küche, mehrere Aufenthaltsräume, einer davon mit Fernseher, verschiedenen Spielkonsolen, einem Billardtisch und einem Kicker. Des Weiteren gab es zwei Räume mit Betten.

Sie kehrten zurück in den ersten Stock, gingen auf einen der Büroräume zu. Abel öffnete die Tür und machte spöttisch eine einladende Geste. Sie folgte der Aufforderung und erstarrte zur Salzsäule. Ein freudig winselnder Deutscher Schäferhund zögerte nur kurz, schoss an ihr vorbei und stürzte auf Abel zu.

Er hob die Hand. »Smart, sit!«

Sofort gehorchte der Hund, leckte sich mit der Zunge über die Lefzen, die Ohren gespitzt, die Augen auf Abel gerichtet. Der Schwanz ging wild hin und her, stockte dann. Als der Hund anfing zu hecheln, bekam Natasha Einblick in ein beängstigendes Gebiss mit scharfen Reißzähnen.

Abel ging in die Hocke, und der Hund bekam nicht nur eine ausgiebige Krauleinheit, sondern auch einen Fluss von schmeichelnden, liebevollen Worten ins Ohr geflüstert.

Interessant.

»Lay down.«

Brav trottete der Hund in ein Körbchen, das hinter dem linken Schreibtisch in der Ecke stand. Kaum lag er dort, fixierte der Hund den Blick auf sie.

Natasha blieb, wo sie war, rührte sich nicht, unsicher, wie der Hund mit ihrer Anwesenheit umgehen würde. Abel kam an ihre Seite, musterte sie ein paar Atemzüge lang. Sie atmete bewusst und versuchte, sich zu entspannen.

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du kennst dich mit Hunden aus.«

»Klar, natürlich«, gab sie hastig zurück.

Es war eine der Fragen auf dem Bewerbungsbogen gewesen. Sie hatte eine Weile überlegt, wie sie antworten sollte, und dann schlicht und ergreifend gelogen. Immerhin, welche Rolle spielte es, ob sie Erfahrung mit Hunden hatte oder nicht? Nur bei der Antwort, ob sie jemals selbst einen Hund besessen hatte, antwortete sie wahrheitsgemäß mit Nein. Der Riesenschnauzer ihrer Nachbarn war ihr lebhaft in Erinnerung. Er hatte ihr in ihrer Kindheit eine Heidenangst eingejagt. Aber danach hatte schließlich niemand gefragt.

»Smart hat heute erst seinen Dienst angetreten. Er ist noch grün hinter den Ohren und ziemlich verspielt. Du kannst das Knotenseil aus seinem Korb nehmen und es ihm werfen.«

Natasha betrachtete den Hund, dann das bunte, geflochtene Seil, das mit den dicken Knoten an den Enden einem Knochen ähnelte, angesabbert und mit abstehenden Fäden durch das viele Kauen. Der Kopf des Hundes ruhte darauf.

Sie schluckte trocken. Unter den wachsamen Augen des Hundes und seines Herrchens ging sie langsam auf den Korb zu. Sie hockte sich hin, wie sie es bei einem Kind gemacht hätte, um Freundschaft zu schließen. Das Fell im Nacken des Hundes sträubte sich. Seine Lefzen zuckten, und er fixierte sie mit seinem Blick.

Ihr brach der Schweiß auf dem Rücken aus.

»Braves Hundchen«, versuchte sie es halbherzig und streckte die Hand aus, in der Absicht, das Spielzeug unter seinem Kopf fortzuziehen.

Sie verdankte es nur ihrer topp Reaktionsfähigkeit, dass sie es noch schaffte, die Hand wegzuziehen, bevor die Fänge des Hundes sich darum schließen konnten. Im Bruchteil einer Sekunde wurde aus dem Hund eine Bestie, die sie mit einem Sprung aus dem Liegen auf den Boden warf, die Fänge dicht über ihrem Hals. Sie roch seinen stinkenden Atem, spürte Sabber auf ihre Haut tropfen und wagte es nicht, sich zu rühren.

»Smart. Let go.«

Ein tiefes Grollen kam aus der Brust des Tieres.

»Smart!« Diesmal kam der Befehl schärfer. »Let go!«

Der Hund hob den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Sit.«

Brav setzte er sich.

»Fine.«

Etwas flog durch die Luft, das der Hund geschickt auffing.

»Lay down.«

Smart kehrte in sein Körbchen zurück, drehte sich ein paarmal im Kreis, bevor er sich wieder niederließ, den Kopf auf dem Spielzeug ablegend.

Noch immer wagte Natasha nicht, sich zu bewegen. Der Schock saß tief. Ihr Gehirn weigerte sich, ihrem Körper irgendwelche Befehle zu geben. Bewusst konzentrierte sie sich auf ihre Atmung und hätte sich gleichzeitig ohrfeigen können. Es war eine Falle gewesen. Ein Test. Und sie war erneut durchgefallen.

Langsam spannte sie die Bauchmuskeln an und kam in eine Sitzposition. Nur um sich ein weiteres Mal mit Peter Abel Nase an Nase zu finden, der vor ihr hockte, schwarze Sturmwolken in den Augen, die Stimme ein gefährlich leises Wispern, als brauchte er all seine Kraftanstrengung, um sie nicht auch körperlich zu attackieren.

»Wag es nie wieder, mich zu belügen. Hast du mich verstanden?«

Sie schluckte trocken.

»Hast du mich verstanden?«, wiederholte er.

Sie nickte stumm.

»Ich will es aus deinem Mund hören.«

»Verstanden«, brachte sie mühsam hervor.

»Oh nein, das reicht mir nicht. Sag: Ich werde dich nie wieder belügen, das schwöre ich bei allem, was mir wert und heilig ist

Sie sah ihn perplex an, um festzustellen, ob er sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Doch es schien sein bitterer Ernst zu sein.

»Findest du das nicht ein wenig ...« Sie brach ab. Hatte er da gerade geknurrt oder der Hund?

»Okay. Ich werde dich nie wieder belügen, das schwöre ich bei allem, was mir wert und heilig ist.«

Seine Haltung entspannte sich ein wenig. Er stand auf. Auch sie erhob sich.

»Muss ich mir jetzt noch in den Finger schneiden und ein paar Blutstropfen herausquetschen?«

Er warf ihr ein Multifunktionstaschenmesser zu, das sie sicher auffing.

»Das war ein Scherz, um die Stimmung ein wenig aufzulockern«, erklärte sie. »Ich gehöre nicht zu den Pfadfindern oder irgendeinem Geheimbund.«

»Du willst ein Teil unserer Einheit werden.« Seine Mimik blieb unergründlich.

Sie warf ihm das Messer zurück. »Noch bin ich es nicht.«


Obwohl er sein Augenmerk auf alle ihre Schwächen konzentrierte, kam er nicht umhin, ihre Widerstandskraft zu bewundern.

Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz seines Dienstfahrzeugs. Ein Golf Kombi, allerdings mit reichlich PS unter der Haube.

Sie hatte sich weder von Smart noch von ihm einschüchtern lassen, obwohl er stinksauer auf sie war. Zwar war Smart frisch in der Einheit, aber es war von Anfang an klar gewesen, dass Hunde dazugehören würden – der einzige Grund, weshalb er von der GSG 9 zu der neuen Sondereinheit gewechselt war, die sie intern mit »Themis« bezeichneten. Deshalb gab es auf dem Bewerbungsbogen die Frage zum Umgang mit Hunden, und er hatte schon lange darauf hingewiesen, dass diese wesentlich spezifischer gestellt und die Hunde in den Test mit einbezogen werden mussten. Nur hatte es bis dato eben noch keinen Hund gegeben. Er warf Natasha einen raschen Seitenblick zu.

Ihren Kopf auf die Hand gestützt, den Ellenbogen auf den Türrahmen, starrte sie aus dem Seitenfenster. Sie hatte keine Frage gestellt, als er sie aufgefordert hatte, mitzukommen. Allerdings war ihm schon im Training aufgefallen, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die viel redeten. Dennoch wirkte sie geknickt. Vielleicht genügten sogar drei Tage, um sie loszuwerden.

Er hielt vor einem flachen Gebäude, neben dem ein Wohnhaus stand und an das sich ein riesiges, mit einem Maschendrahtzaun komplett eingezäuntes Freigelände anschloss. Es war eines der vielen ehemaligen Militärgelände, die Malte für einen Apfel und ein Ei gekauft hatte.

Malte war für seine Hunde bekannt, die überall auf der Welt im Einsatz waren. Eine neue Sparte, die er zur Zeit aufbaute, war der Schutzhund für Familien. Das stellte besondere Herausforderungen an den Charakter des Tieres, da es sowohl mit Kindern zurechtkommen als auch im Zweifel einen Täter angreifen musste.

Die leer stehenden Gebäude, Fahrzeuge, verfallenes Gemäuer, dichtes Gebüsch, ein Wäldchen, durch das ein Bach floss, ein See und eine Sandgrube bildeten die perfekte Trainingsumgebung für die Ausbildung der Hunde. Malte bot ein breites Spektrum von Dienstleistungen an. Dazu zählte neben der Hundeausbildung auch die Ausbildung der Hundeführer zusammen mit ihrem Hund, die Korrektur von Problemhunden sowie die Ausbildung von Junghunden aus dem Bestand der Behörden.


»Wir sind da.«

Natasha warf dem Mann auf der Fahrerseite einen spöttischen Blick zu, verkniff sich aber eine Bemerkung. Immerhin war es offensichtlich gewesen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, nachdem er das Fahrzeug vor dem Zaun geparkt und den Motor abgestellt hatte. Sie stieg aus. Smart klebte am Bein seines Herrchens, kaum dass er aus der Transportbox hinten im Kofferraum gelassen wurde. Seine Augen schienen beständig auf Peter Abel gerichtet zu sein. Obwohl sie seit dem Vorfall im Büro tunlichst Distanz zu dem Tier wahrte, konnte sie sich der Faszination, mit der der Hund Peter vergötterte, nicht entziehen. Ihr Herz zog sich sehnsüchtig zusammen, ohne dass sie verstand weshalb.


Peter betätigte die Klingel am Tor. Eine von Maltes Angestellten kam aus dem flachen Gebäude zum Tor und öffnete es. Das Mädel war neu. Er schaltete seinen Charme ein. Hunde waren wirklich ein nicht zu unterschätzendes Asset, wenn es darum ging, Frauen aufzureißen.

»Hi, ich bin Marina, was kann ich für euch tun?«

»Ich möchte zu Malte. Ist er da?«

»Habt ihr einen Termin?«

»Brauch ich einen?«

»Was für ein schöner Hund, ist das einer aus Maltes Zucht? Wie heißt er denn?«

Marina ging in die Hocke und hielt Smart eine Hand hin. Der Hund rührte sich nicht.

»Be friendly, Smart.«

Langsam schob Smart die Schnauze vor, schnüffelte an der dargereichten Hand. Der Schwanz pendelte langsam hin und her.

»Hat Malte ihn ausgebildet?«

»Nein, ich.«

Wie erwartet bekam er einen bewundernden Blick aus ihren karamellfarbenen Augen und wusste, dass er heute Nacht nicht allein im Bett liegen müsste, wenn er es darauf anlegte. Durchaus einen Gedanken wert, nach den letzten Wochen mit den Anwärtern und dem heutigen Tag.

»Unter meiner Anleitung.«


Natasha wandte den Blick von dem Trio ab, bei dem zwischen den Menschen unverkennbar sexuelle Schwingungen zu bemerken waren. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen, sportlichen Typen in kakifarbener Cargohose und dunkelbraunem T-Shirt, der hinter der Frau aus dem Gebäude getreten war. Dunkelblonde, lockige Haare, die ihm bis in den Nacken reichten, waren hinten durch das Band der Kappe gezogen.

Kurz musterte der Mann sie aus veilchenblauen Augen und reichte ihr die Hand. Sein Gesicht war wettergegerbt. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Der Druck seiner Hand war fest, die raue, schwielige Haut zeugte davon, dass er viel mit den Händen arbeitete.

»Malte Balthaus.«

»Natasha Kehlmann.«

Sie lächelte ihn an, worauf er nicht reagierte, stattdessen wanderte sein Blick weiter zu Smart, der jetzt schneller mit dem Schwanz wedelte, jedoch weiterhin wie festgeklebt am Bein seines Herrchens saß, und zuletzt zu Peter.

»Ich wusste nicht, dass du heute zum Training kommen wolltest. Marina, kümmer dich bitte um Alina und sieh zu, dass sie genug Stroh hat, damit sie sich wohlfühlt. Ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis sie wirft. Schau auch nach, ob sie genug Wasser hat, und gib ihr noch was von dem Futter, das ich für sie vorbereitet habe. Denk daran, nur eine kleine Portion.«

»Klar doch, mach ich. – Jetzt kenne ich den Namen deines Hundes, aber deinen nicht«, schickte sie hinterher und grinste Peter an.

»Peter, aber meine Freunde nennen mich Pit.«

»Man sieht sich, Pit.« Sie blinzelte ihm zu.

Nein, er würde heute Abend nicht allein schlafen. Sein Blick blieb auf ihrem vielversprechenden, knackigen Hintern in der engen Jeans hängen. Auch das eng anliegende T-Shirt, das ihr nur gerade so über den Busen reichte, ließ keinen Raum für Fantasie. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

»Vergiss es, Freundchen, Marina ist Sperrgebiet, capisce?«

Er wartete, bis sie um die Ecke gebogen war, bevor er sich Malte zuwandte. »Nur weil du verheiratet bist, heißt das nicht, dass wir alle in Abstinenz leben müssen.«

»Sie ist die Tochter einer Freundin meiner Frau. Wenn du mit ihr rummachst, bekomme ich Ärger von zwei Seiten. Darauf hab ich keinen Bock.«

»Ich denke, sie kann selbst entscheiden, was sie will oder nicht. Immerhin ist sie volljährig.«

»Ist mir scheißegal. Ich habe jedenfalls keine Lust, mir ständig neues Personal zu suchen, weil du deinen Schwanz nicht bei dir behalten kannst.«

»Pah! Als ob ich schon jemals mit einer deiner Angestellten rumgemacht hätte. Das tun nur deine Ami-Freunde. Stell Männer ein, dann hast du das Problem nicht.«

Er machte Anstalten, an Malte vorbei das Gelände zu betreten. Doch der versperrte ihm den Weg. »Du hast keinen Termin.«

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Wofür?«

Über seine Schulter hinweg deutete er mit dem Daumen auf Natasha. »Für die da.«

»Weshalb? Geht sie auf deine charmanten Offerten nicht ein?«

»Nein, sie ist auf …«

»Eine Kollegin«, kam ihm Natasha zuvor. »Ich denke, es geht um Ihre Sachkompetenz betreffend Hunden, da mir eben diese fehlt.«

Peter drehte sich um und musterte sie, doch sie ließ sich von ihm nicht aus dem Konzept bringen.

»Mir war bei den zwei Fragen zum Thema Hund auf dem Bewerbungsbogen nicht bewusst, in welche Tiefe sie zielten.«

»Sie hat gelogen. Hatte noch nie im Leben mit Hunden zu tun, und Smart hat sie angegriffen.«

Malte ließ den Blick zwischen ihnen hin und her wandern.

»Smart würde nie jemanden angreifen, ohne dass du ihm dazu die Freigabe erteilt hast. Und sollte er es getan haben, dann ist er noch nicht diensttauglich.«

»Es war meine Schuld, weil ich ihm sein Spielzeug unter dem Kopf wegholen wollte. Wie gesagt, ich habe wenig Erfahrung mit Hunden und wusste nicht, dass er so eifersüchtig über sein Spielzeug wacht.«

»Wie kamst du auf die blöde Idee, einem Hund das Spielzeug unterm Kopf wegzuziehen?«

»Ich dachte, wenn ich es ihm werfe, werden wir Freunde.«


Einen Moment sah Malte sie nur an, und sie erkannte, dass er genau wusste, dass sie die Situation anders darstellte, als sie sich abgespielt hatte.

»Mal ehrlich, wie machst du das?«, wandte er sich an Peter. »Nicht nur, dass du keine zwei Sätze brauchst, damit sie in dein Bett steigen, sie stellen sich auch noch schützend vor dich.« Er deutete auf Smart. »Das ist nicht nur ein Hund, sondern auch eine Waffe. Wenn du nicht reif dafür bist, ihn zu führen, dann werde ich Generalmajor Hartmann anrufen und ihm mitteilen, dass ich jemand anderen aus der Truppe an dem Hund ausbilden werde.«

»Ich weiß genau, was ich mache.«

»Sicher?«

Die Atmosphäre zwischen den Männern wurde merklich angespannter.

»Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir helfen würden. Es ist mein großer Traum, in die Einheit zu kommen, und für mich würde eine Welt zusammenbrechen, wenn ich doch noch rausfliege, nur weil ich nicht weiß, wie ich richtig mit Hunden umgehen muss.«

Als Malte sie ansah, setzte sie umgehend die größte Waffe ein, die sie besaß: ein strahlendes Lächeln und einen tiefen, herzerweichenden Blick, den sie bereits als Kind perfektioniert hatte. »Ich verspreche, ich werde Ihre beste Schülerin sein. Großes Ehrenwort.«

Es funktionierte. Brummend gab Malte nach. Mit großen Schritten überquerte er die Distanz zwischen Tor und Flachbau. Rasch folgte Natasha seiner wortlosen Einladung.


Peter klappte den Mund zu, als Natasha sich an ihm und Smart vorbei drängte und Malte hinterherlief. Dieser Kleinmädchenausdruck in ihrem Gesicht war pure Berechnung gewesen. Er hatte noch nie erlebt, dass eine Frau seinen Freund binnen Sekunden weichkochte. Immerhin war er seit 25 Jahren glücklich verheiratet und Vater von zwei Mädchen, die sein ein und alles waren und auf die er wie ein Schießhund aufpasste. Malte war absolut immun gegen weiblichen Charme. Und das waren nicht seine Worte, sondern die seiner Töchter, in deren Augen er viel zu streng war.

Er legte eine Hand auf Smarts Kopf. »Pass bloß auf, mein Freundchen, dass sie dich nicht um den Finger wickelt. Deine Aufgabe ist dir hoffentlich klar. Du machst ihr das Leben zur Hölle, wo immer es geht, verstanden?«

Smart sah ihn mit seinem treuesten, süßesten Hundeblick an, womit er dieselbe Wirkung bei ihm erzielte wie zuvor Natasha bei Malte.

Peter hockte sich vor ihn und nahm seinen Kopf in beide Hände. »Denk daran, wir tun nur so, als ob wir ihr helfen. Keiner darf uns am Ende vorwerfen, wir hätten nicht alles in unserer Macht Stehende getan, damit sie in die Einheit aufgenommen wird. Nur so habe ich die Chance, unseren Arsch zu retten, damit wir beide zusammen bei Themis bleiben können. Klar, Partner?«

Zur Antwort leckte Smart mit tierischem Enthusiasmus jedes freie Stück seiner Haut.

3

Zwinger

Sie blieben an einem Zwinger mit einer großen Hundehütte stehen. Eine Hündin lag draußen vor der Hütte. Sechs Welpen drängten sich über- und untereinanderliegend an ihre Zitzen, aber die Hündin ließ das Gewusel um ihre Nahrungsquellen mit stoischer Geduld über sich ergehen.

»Das ist Nanna mit ihrem Wurf. Die Welpen sind knapp vier Wochen alt. Geh in den Zwinger.«

Natasha löste ihren Blick von dem entzückenden Schauspiel und musterte Malte skeptisch.

»Geh rein, beweg dich langsam auf sie zu, reich ihr deine Hand, damit sie deinen Geruch aufnehmen kann. Lies ihre Körpersprache und finde heraus, ob du sie streicheln kannst. Setz dich zu ihr und beobachte.«

»Als ich vorhin sagte, ich hätte null Erfahrung mit Hunden, war das mein absoluter Ernst.«

»Du lügst.«

Sie atmete tief durch. »Okay, unsere Nachbarn hatten einen Riesenschnauzer, der hat mir eine Riesenangst eingejagt. Für mich verkörperte er den Hund von Blackwood Castle. Du weißt schon, der aus dem Edgar-Wallace-Krimi.«

»Hat er dich gebissen?«

»Nein, aber es ist keine drei Stunden her, da hatte ich einen anderen Höllenhund an meiner Kehle. Ich spüre jetzt noch den heißen Atem auf meiner Haut und kann den Sabber riechen.«

Er grinste. Sie hätte ihm am liebsten eine gelangt. Ungewöhnlich für sie. Sie war kein Mensch, der Gewalt anwendete, wenn es sich vermeiden ließ. Doch sie verspürte nackte Panik bei der Vorstellung, in den Zwinger gehen zu müssen. Obwohl die Welpen wirklich total knuffig aussahen. Schwer vorstellbar, dass sie irgendwann einmal zu solchen Bestien wurden wie dieser Smart.

»Hunde erkennen an deiner Körpersprache, ob du Angst hast oder nicht. Doch das viel wesentlichere Organ für alle ihre Informationen ist die Nase. Sie können alles riechen und eine Spur auch noch quer über einen von Menschen überquellenden Platz verfolgen, selbst wenn sie Stunden alt ist.« Er tippte ihr auf die Nase. »Die Riechschleimhaut deiner Nase umfasst fünf Quadratzentimeter, die des Hundes 150. Das ist das Dreißigfache. Auf dieser Fläche hat ein Mensch fünf Millionen Riechzellen, ein Hund zweihundert Millionen, also das Vierzigfache. Während wir Menschen uns überwiegend auf die optische Wahrnehmung verlassen, orientieren sich Hund hauptsächlich über die Nase.«

»Mit anderen Worten, Nanna riecht gerade, dass ich mir vor Schiss in die Hosen mache.«

»Schau sie dir an. Was siehst du?«

Natasha nahm sich ein bisschen Zeit, versuchte, ruhig zu atmen, hätte auch gern ihre anderen körperlichen Reaktionen kontrolliert – den Pulsschlag, die Trockenheit im Mund, das flaue Gefühl im Magen und den Schweißausbruch. All das würde die Hündin riechen. Aufmerksam beobachtete das Tier sie, während es über einen der Welpen leckte. Im Ausdruck der Augen lag eine unglaubliche Weisheit, als wüsste die Hündin genau, worüber sie sprachen. Nichts an ihrer Körpersprache signalisierte Aggressivität. Im Gegenteil, sie wirkte vollkommen entspannt.

»Sie ist klug, liebevoll, beschützend und unglaublich geduldig.«

»Meinst du, sie würde dich angreifen und dir die Kehle rausreißen, wenn du den Zwinger betrittst?«

Wieder ließ sich Natasha mit der Antwort Zeit. Die Hündin packte einen der Welpen im Nacken, zog ihn von seinen Geschwistern fort und leckte ihm einmal quer über das Gesicht und dann über die Schnauze. »Warum hat sie das gemacht?«

»Das ist Kitaro. Er glaubt, er wäre der Big Boss in der Gruppe, und ärgert oft seine Geschwister. Sie hat eingegriffen, um den anderen ein bisschen Ruhe vor ihm zu geben.«

Natasha warf Malte einen skeptischen Seitenblick zu. Er zuckte mit den Achseln.

»Hunde sind Rudeltiere. Wir Menschen sind nicht viel anders. Beobachte sie und lerne.«

Natasha atmete einmal tief durch. Ihre Hand zitterte, als sie die Zwingertür öffnete. Sie schlüpfte hinein und schloss die Tür wieder hinter sich.

Kitaro kam direkt auf sie zugesprungen, schnüffelte an ihren Schuhen und bellte. Wunderbar, es schien, als würde er ihre Angst bereits riechen. Sie näherte sich der Hündin unter deren aufmerksamem Blick, während der Welpe sich in ihrem Hosenbein verbiss und daran zerrte. Sie ging in die Hocke, bot der Hündin ihre zitternde, schwitzende Hand dar. Nanna schnüffelte lange daran.

Natasha drehte ihre Hand, sodass sie auch an der Innenfläche schnüffeln konnte. Achtsam begann die Hündin, ihr den Schweiß abzulecken. Einen Moment verharrte Natasha vor lauter Panik, bis sie sich langsam entspannte. Im Schneidersitz ließ sie sich neben der Hündin nieder. Um Kitaro von ihrem Hosenbein wegzubekommen, zog sie kurzerhand ihren Schuh und den Socken aus. Den Schuh zog sie wieder an, wedelte aber mit dem Socken vor seiner Nase herum. Sofort stürzte sich der Welpe auf die neue Beute. Der kleine Stummelschwanz rotierte, als er sein ganzes Körpergewicht einsetzte, ihr die Beute zu entreißen. Dabei gab er helle Knurrlaute von sich und schüttelte immer wieder heftig den Kopf. Es war erstaunlich, wie viel Kraft dieser kleine Bursche entwickelte. Er würde eine Bestie werden, da war sie sich sicher.


Peter gesellte sich mit Smart an Maltes Seite und beobachtete, wie Natasha mit dem Welpen spielte. Nanna gab ein tiefes Grollen von sich. Gegenüber Rüden waren Hündinnen mit Nachwuchs oft aggressiv. Malte löste sich von dem Bild, gab ihm ein Zeichen, und zusammen gingen sie in den Flachbau.

Malte schloss die Tür zu seinem Büro. »Raus mit der Sprache, und am besten mit allem. Wie hat sie es geschafft, in die Einheit zu kommen?«

»Gar nicht. Sie ist nicht in der Einheit, sondern nur auf Probe dabei.«

»Auf Probe?« Malte ließ sich in den Sessel fallen. »Willst du mich verarschen?«

»Ich wünschte, es wäre so. Aber nein, es ist mein Ernst. Sie ist mit fliegenden Fahnen durch den Leistungstest gefallen. Okay, das ist nicht ganz fair. Sie wäre grundsätzlich in der Lage gewesen, ihn zu bestehen, hat das Seil aber nicht geschafft und dabei ihre Zeit verspielt.«

»Und der Generalmajor gibt ihr tatsächlich eine zweite Chance? Wieso? Habt ihr einen derartigen personellen Engpass? Gab es keine besseren Kandidaten?«

»Gab es, jedenfalls was den Leistungstest betrifft. Den psychologischen Test hat sie mit Abstand als Beste absolviert.«

»Das ist ja schön und gut, aber was nützt euch ihre psychische Stärke im Einsatz, wenn ihr an einem Seil in den Hubschrauber klettern müsst, weil er nicht im Gelände landen kann?«

Peter warf die Hände hoch und ließ sich ebenfalls in den Sessel fallen. »Exakt mein Punkt, aber auf mich hört ja keiner.«

Nachdenklich runzelte Malte die Stirn. »Es muss irgendetwas geben, was sie für den Generalmajor interessant macht. So interessant, dass er bereit ist, ihr eine zweite Chance zu geben. Ich nehme an, es ist dein Job, dafür zu sorgen, dass sie den Leistungstest das nächste Mal besteht?«

Peter kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du das?«

»Weil du angepisst bist. So angepisst, dass du sie Smart zum Fraß vorgeworfen hast.«

»Sie hat behauptet, sie hätte Erfahrung mit Hunden.«

»Trotzdem war es echt mies von dir, und das will was heißen. Sie hat wie Espenlaub gezittert, als sie in den Zwinger sollte.«

»Als ich kam, sah sie nicht aus, als würde sie zittern.«

»Weil sie tough ist und sich ihrer Angst stellt. Und es passt dir nicht, dass ich das sage. Wie hat dich Hartmann dazu gekriegt, dass du es machst?«

Peter atmete tief durch. Malte und er waren schon viel zu lange befreundet und hatten viel zu viel gemeinsam erlebt, als dass er ihm eine Lüge auftischen würde. Ganz abgesehen davon durchschaute er ihn viel zu leicht. Er hatte ihm mehr als einmal aus der Patsche geholfen, mehr als einmal seine Hand über ihn gehalten, als er Blödsinn gemacht hatte. Malte war kein Mann, der sich jemals provozieren oder aus der Ruhe bringen ließ. Das war die Eigenschaft, die er am meisten an ihm bewunderte. Die zweite war, dass er einen Sachverhalt klar und objektiv beurteilen konnte, ohne sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen.

»Er war ziemlich sauer wegen meiner Reaktion auf seinen Vorschlag und hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Wenn sie beim nächsten Quartalcheck durch den Leistungstest fliegt, bin ich raus aus dem Team.«

»Das ist ein Scherz.«

»Nein, es ist sein bitterer Ernst.«

»Du musst ihn ganz schön geärgert haben.«

»Carolina ist zu Mark gewechselt.«

Malte stieß einen Pfiff aus. »Na, das war aber ein echter Schlag für dich. Sie war so ideal. Lesbisch, und eben doch eine Frau. Du konntest schon immer besser mit Frauen arbeiten als mit Männern. Wenn du es geschafft hast, lange genug deine Finger von ihnen zu lassen.«

»Hey, hör auf, mich darzustellen, als wäre ich der Casanova schlechthin.«

»Bist du, denn ich weiß, dass du Frauen liebst und sie nicht benutzt. Also sei froh, dass ich dich nicht mit jemand anderem vergleiche. Möchtest du ein Bier? Ich könnte eines vertragen.«

Malte erhob sich, ging zum Kühlschrank und holte zwei Bier heraus. Eine Flasche warf er Pit zu, der sie geschickt auffing. Sie prosteten sich zu und tranken.

»Welche Strategie verfolgst du?«

»Nun, ich werde sie trainieren und unterstützen, damit mir niemand etwas vorwerfen kann.«

»Hm«, stieß Malte aus und trank wieder. »Und sorgst ganz nebenbei dafür, dass sie den Bettel hinschmeißt und Generalmajor Hartmann anfleht, sie zurück in ihren alten Job zu lassen.«

Peter grinste breit. »Ich wusste, dass du mich verstehst.«

»Da gibt es nur ein Problem, mein Lieber.«

»Das wäre?«

Jetzt war es an Malte, breit zu grinsen. »Dass du die Kleine nicht so leicht loswerden wirst, wie du dir das vorstellst.«

»Wetten?«

»Meinen Arsch.«

»Hundert?«

Sie reichten sich die Hände und besiegelten den Pakt.

»Ich nehme an, dass es dir dann nichts ausmacht, wenn du sie für die nächsten paar Tage unter deine Fittiche nimmst?«

»Kein Problem. Harald ist in Urlaub, Gerd hat eine Grippe, ich kann also gut noch ein weiteres Paar Hände gebrauchen.«

»Und du packst sie nicht mit Samthandschuhen an, um die Wette zu gewinnen?«

»Bestimmt nicht. Wenn es um die Sondereinheit geht, können wir uns keine Schwachstelle leisten, da bin ich mit dir einer Meinung.«

»Sie hat dich verdammt schnell um den Finger gewickelt.«

»Ich war stinkig, weil du Marina angebaggert hast.«

»Ich hab sie nicht angebaggert.«

»Ich weiß, ich hab Augen im Kopf. Lass trotzdem einfach die Finger von ihr.«

»Und wenn sie die Finger nicht von mir lässt?«

»Ich bin mir sicher, dass du weißt, wie du das höflich abblocken kannst. Immerhin schaffst du es, deine Frauengeschichten ohne echte Schrammen zu beenden, auf beiden Seiten, soweit ich weiß. Ich denke da nur an Sandra und ihre Kekse.«

»Okay, verstanden. Die nächste Ladung kriegst du.«

»Deal?«

»Deal.«


Müde ließ sich Kitaro mitten im Spiel fallen, legte sich auf die Seite und schlief ein. Zwei der anderen Welpen zerrten jeder gerade an einer Seite des Sockens, den sie wohl nie wieder tragen würde. Von den nadelspitzen Zähnen war er total durchlöchert. Einer der Welpen hatte es sich in der Kuhle auf ihren gekreuzten Beinen bequem gemacht. Mit den Fingerspitzen kraulte sie das Welpenmädchen hinter dem Ohr. Mit einem wohligen Schmatzen rollte das Tierchen sich auf den Rücken, die Pfoten locker angewinkelt, und präsentierte ihr den dicken kleinen Milchbauch. Natasha kam der Aufforderung nach. In dieser Rückenposition entblößte der Hund ihr seine Kehle. Beim Spielen der Welpen miteinander hatte sie die Geste häufiger gesehen. Nie von Kitaro, aber häufig von dem Weibchen, das jetzt in ihrem Schoß lag.

»Kaum zu glauben, dass diese niedlichen Wesen mal solche Kampfmaschinen werden wie Smart.«

Natasha schaute hoch zu Marina. Diese stellte ihre Schubkarre mit Hobelspänen und einem Eimer ab und kam zu ihr in den Zwinger.

»Sie vielleicht nicht«, sagte sie und deutete auf den Hund in ihrem Schoß, »aber er ganz sicher.« Sie zeigte auf Kitaro.

»Kira hat das Wesen von Nanna. Sie ist total lieb und verschmust. Wahrscheinlich wird Malte sie als Familienschutzhund ausbilden. Wobei er erst schauen muss, ob sie überhaupt Biss entwickelt. Sonst wird sie wirklich ein reiner Familienhund.«

Marina setzte sich im Schneidersitz zu ihr und holte sich einen der Welpen auf den Schoß.

»Kitaro, Kira?«

»Ja, wir sind gerade beim K-Wurf.« Sie zeigte auf den Welpen in ihrem Schoß. »Das ist Kassim.« Sie wies nacheinander auf die anderen Welpen. »Kosta, Khan und Keya.«

»Was bedeutet K-Wurf?«

»Der erste Wurf eines Züchters fängt mit A an, dann geht es weiter bis Z.«

»Das ist erst Maltes elfter Wurf?«

Marina lachte. »Nein. Keine Ahnung, der wievielte. Es fängt halt immer wieder von vorn an.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach: »Ähm, du und Peter …« Marina brach ab und wurde rot.

»Keine Sorge, da läuft nichts zwischen uns. Ich bin seit heute eine Kollegin von ihm. Wenn du Tipps von mir haben willst, wie du bei ihm landen kannst, muss ich passen.«

»Nein, nein«, wehrte Marina hastig ab. »Ich wollte mich nur nicht in was reindrängen.«

»Darf ich dir einen Rat geben, auch wenn ich weiß, dass es deine Angelegenheit ist?«

Marina sah unter ihren langen, dichten Wimpern hervor. Das weiche, runde Gesicht machte sie bestimmt um vier Jahre jünger, worüber sie sich eines Tages bestimmt freuen würde.

»Sei dir erst mal sicher, was du dir von dieser Beziehung erhoffst. Peter ist kein Typ, mit dem sich eine dauerhafte Beziehung aufbauen lässt.«

»Und das weißt du, nachdem du ihn wie lange kennst?«

Natasha grinste. »Das wusste ich nach meiner ersten Begegnung mit ihm. Sein Job kommt für ihn an erster Stelle. Daneben ist wenig Platz für etwas anderes.«

»Danke für den Rat.«

»Den du dir selbstverständlich nicht zu Herzen nehmen wirst.«

Oha, das sexy Lächeln sagte alles.

»Wer sagt, dass ich was Festes suche? Ich steh halt auf Sex, ist das verkehrt?«

»Nein. Ich hab eine Freundin, die arbeitet bei der Sitte, und die denkt genauso wie du. Wichtig ist ihr nur, dass sie die Kontrolle über alles behält.«

»Und du?«

»Ich liebe meinen Job über alles«, sagte Natasha mit einem Augenzwinkern, »und daneben gibt es für mich nichts anderes. Ich bin eher der beständige Typ, und das würde mit dem Job nicht funktionieren.«

»Dann gibst du mir freie Bahn?«

»Du bist alt genug. Tu, was du nicht lassen kannst. Allerdings glaube ich, dass Malte nicht begeistert sein wird.«

Marina verdrehte die Augen. »Der ist schlimmer als meine Mutter.«

»Marina, ist deine Arbeit erledigt?«

Das Mädel zuckte zusammen und sprang auf. »Klar, Boss. Alles erledigt. Ich wollte gerade Nannas Zwinger sauber machen und ihr Fressen geben.«

»Das sehe ich.«

Marina ließ sich nicht im Geringsten von der kühlen Bemerkung ihres Chefs aus der Bahn werfen. Natasha legte die schlafende Kira vorsichtig auf dem Boden ab und erhob sich. Gemeinsam mit Marina, die sich den Napf geschnappt hatte, verließ sie den Zwinger.

Rasch trat Peter zur Seite, als Marina Anstalten machte, sich an ihm vorbeizudrücken, um an den Futtereimer in der Schubkarre zu gelangen.

»Wolltest du noch zum Trainieren auf den Platz? Ich könnte dich als Dummy unterstützen«, wandte sich Marina mit einem Augenaufschlag an Peter. In ihrer Stimme lag dabei ein Unterton, der Natasha unwillkürlich die Frage aufdrängte, ob ein Dummy etwas mit einem Vorspiel beim Sex zu tun hatte.

Malte verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte seine Angestellte mit einem kalten Blick.

»War ja nur ein Angebot, weil Gerd noch krank ist.«

»Danke, aber Natasha und ich müssen noch zurück ins Büro.«

Höflich, aber deutlich distanziert und ohne auf den Flirt einzugehen, lehnte Peter das Angebot ab. Aha, dachte Natasha. Sieht aus, als hätte sich Malte den Kollegen zur Brust genommen. Sie hätte nicht erwartet, dass er sich von ihm derart einschüchtern ließe.

»Morgen um acht Uhr«, wandte sich Malte an sie.

»Acht?«, echote sie und ging rasch die öffentlichen Verkehrsverbindungen in Gedanken durch. Das würde verdammt knapp. Berlin war halt keine normale Stadt, da konnte es dauern, bis man von einem Ende bis zum anderen gelangte. Außerdem gehörte das hier gar nicht mehr zu Berlin, sondern bereits zu Potsdam.

»Ist das ein Problem für dich?«

»Nein, nein, kein Thema. Gibt es etwas, das ich beachten sollte?«

»Reißfeste Klamotten, Schuhe, die was aushalten, und wasch dich ausschließlich mit Kernseife oder irgendwas anderem möglichst Geruchsneutralen.«

Einen Moment starrte sie ihn an, um festzustellen, ob er scherzte. Nein, er meinte es todernst. Kernseife, wo bekam man die her?

»Morgen um acht Uhr«, bestätigte sie mit einem Nicken.


»Wohin?«, wollte Peter wissen.

»Lass mich an der S-Bahn-Station raus.« Dann konnte sie schon mal auf der Rückfahrt die Verbindung testen.

»Was ist mit deinem Auto?«

»Ich bin mit der S-Bahn gekommen.«

»Dann fahr ich dich nach Hause.«

»Danke. Nicht nötig.«

Das klang eindeutig defensiv. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie hatte dieselbe Haltung eingenommen wie zuvor bei der Hinfahrt. Alles beobachtend und in sich aufsaugend, als hätte sich die Umgebung seit der Hinfahrt geändert und sie müsste die neuen Eindrücke aufnehmen.

»Bist du sauer, weil ich mit Marina geflirtet habe?«

Der perplexe Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht gespielt. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine Möchtegern-Partnerin, die einen Crush auf ihn hatte. Er achtete streng darauf, Arbeit und Beziehungen zu trennen. Dann fiel bei ihm der Groschen.

»Du bist lesbisch. Marina gefällt dir.«

»Bitte?«

Er zuckte mit den Schultern. »Carolina ist auch lesbisch. Das macht den Umgang mit ihr leichter.«

»Carolina?«

»Die Blonde im Schwimmbad mit der sexy Figur, hinter der alle Männer herstarren und sich vorstellen, wie es wäre, mit ihr im Bett zu sein. Genau die.«

»Redest du immer dermaßen herablassend über deine weiblichen Kollegen?«

Er runzelte die Stirn und schaute zu ihr hinüber. »Das sollte nicht herablassend klingen. Es ist die Wahrheit. Wir Männer sind in manchen Dingen ziemlich einfach gestrickt. Carolina war meine Partnerin. Sie ist die beste Scharfschützin im Team.«

»Sie war deine Partnerin? Was ist passiert? Da vorn ist die S-Bahn-Station.«

»Ich fahr dich nach Hause.«

»Halt an!«, fuhr sie ihn an.

»Du bist doch sauer«, bemerkte er und fuhr ungerührt von ihrer Stimmung an der S-Bahn-Station vorbei. Nicht umsonst war er mit vier Schwestern aufgewachsen. Er wusste, wann es ernst wurde und wann nicht.

»Ich bin müde und fertig und muss morgen verdammt früh aufstehen. Außerdem reicht mir deine Gesellschaft für heute.«

»Die S-Bahnen sind um diese Uhrzeit voll.«

»Besser als mit dir weiter im Auto zu fahren.«

Er schwieg, blinkte, fuhr in eine Seitenstraße und hielt am Rand. Bevor sie sich ihren Rucksack von der Rückbank schnappen konnte, hielt er sie am Arm fest.

»Ich fahr dich zur nächsten S-Bahn-Station, versprochen. Aber bevor ich das mache, müssen wir beide zwischen uns etwas klar regeln.«

»Ich höre?«

»Es passt mir nicht, dass ich deinen Babysitter spielen muss. Ich tue es, weil ich keine andere Wahl habe. Ich werde dich trainieren, egal ob du beim Training rumheulst oder auf allen vieren kriechst, wenn es dir zu viel wird. Das funktioniert nämlich bei mir nicht, genauso wenig wie dein Kleinmädchenblick, mit dem du Malte weichgekocht hast. Gegen so was bin ich immun. Gibst du vor dem Test auf, steigt bei mir eine Fete für das Team.«

»Fertig?«

»Nein. Bis du aussteigst, gibt es zwischen uns beiden keine Geheimnisse und keine Lügen. Denn sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass du es schaffst und meine Partnerin wirst, dann muss ich mich zu hundert Prozent auf dich verlassen können. Kapiert?«

Sein Blick schien sich durch ihre Augen in ihre Gedanken zu bohren, und das war beängstigend. Einen Scheißdreck würde sie tun und ihm ihre Geheimnisse offenbaren. Ihre Gedanken, ihr Leben, ihre Vergangenheit gingen ihn nicht das Geringste an.

»Mir ist deine Vergangenheit und was du in deiner Freizeit treibst, schnurzpiepegal«, las er ihre Gedanken. »Was jedoch den Job angeht, gibt es ab heute, wie gesagt, keine Geheimnisse und keine Lügen mehr. Und sollte es etwas in deiner Vergangenheit oder deinem Privatleben geben, was deine Arbeit beeinflusst, dann will ich es wissen.«

»Dasselbe gilt für dich, nehme ich an?«

»Selbstverständlich.«

»Einverstanden«, lenkte sie ein. Immerhin zog er in Erwägung, dass sie es schaffte. Partnerin? Um das Problem konnte sie sich kümmern, wenn es so weit war.

Er hielt ihr die Hand hin.

»Du hast da jetzt nicht draufgespuckt, oder?«

»Du machst gern Witze.« Er taxierte sie.

»Das ist meine Art, eine angespannte Situation zu deeskalieren.« Sie ergriff seufzend seine Hand und wollte den Griff wieder lösen, doch er hielt sie fest.

»Noch ein Punkt.«

Sie verdrehte die Augen. »Hey, dein Liebesleben ist mir schnurzpiepegal. Du solltest nur mit deinem Kumpel aufpassen. Ich schätze, seine Warnung war ernst gemeint, und das weißt du auch, sonst hättest du nach dem Gespräch keinen Rückzieher gemacht.«

»Solltest du bisexuell veranlagt sein – zwischen uns beiden läuft nichts, rein gar nichts. In unserer Einheit sind wir nicht nur Kollegen, wir sind ein Team, und Sex bringt nur Komplikationen in ein Team. Ganz abgesehen davon, dass es Smart irre machen würde.«

Sie warf einen Blick in den Kofferraum. Der Hund hatte sich zusammengerollt, kaum dass er in der Box war.

»Ein irrer Smart? Möchte nicht wissen, wie das aussieht.«

Der Druck auf ihre Hand verstärkte sich.

»Okay, okay, das war auch nur ein Scherz. Deal. Und das ist auch überhaupt kein Problem, weil …«

»Du lesbisch bist, ich wusste es, als du Marina angeschaut hast.«

»Ich habe Marina angeschaut?«

»Hast du, aber das Wie ist ausschlaggebend.«

Sie grinste. »Ich schaue mir jeden Menschen an, egal ob männlich oder weiblich. Das liegt daran, dass mich Menschen und menschliches Verhalten faszinieren. Kann ich meine Hand wiederhaben?«

Er ließ ihre Hand los, startete das Auto und fuhr an.

Natasha hatte Mühe, sich ihr Vergnügen nicht anmerken zu lassen. Sie konnte verstehen, dass er sauer war, weil er den Babysitter für sie spielen musste. Allein deshalb würde sie ihm ein wenig Leine geben und das Beste aus sich herausholen. Etwas nicht zu korrigieren, war ja kein Lügen. Wenn er die falschen Schlüsse zog, war das sein Problem. Es war auch eine ihrer eisernen Regeln, nie etwas mit einem Kollegen anzufangen. Abgesehen davon reichten ihr die Männer bei der Arbeit vollkommen, das brauchte sie nicht auch noch in ihrem Privatleben.

4

Akiro

Der sanfte Weckerton holte sie aus den Tiefen des Schlafs. Mit einem Stöhnen verbarg Natasha den Kopf unter dem Kissen. Sie fühlte sich, als wäre eine Walze über sie gefahren. Sie gönnte sich die zehn Minuten bis zum zweiten Signal.

Um fünf Uhr morgens war es in dem Wohnblock still. Kein Geschrei, kein Streit, keine lärmenden Kinder oder randalierenden Jugendlichen.

Sie rollte den Futon, der ihr als Bett diente, zusammen und schaffte Platz für ihre Sportmatte. Sie begann mit dem Krafttraining, zog dann ihre Joggingschuhe an. Da die Zeit knapp war, entschied sie sich für ein Intervalltraining. Langsames Laufen, abgewechselt mit Sprints, bei denen sie alles gab.

Den Dreck auf den Straßen, die Obdachlosen und die wenigen Leute, die unterwegs waren, umrundete sie wendig. In der Bäckerei holte sie sich drei Vollkornbrötchen.

Wieder zu Hause sprang sie unter die Dusche. Zehn Minuten ließ sie sich Zeit für einen Instantkaffee und ihr Müsli, schmierte sich dabei die Brötchen mit Marmelade. Die Brotdose, ein Liter Leitungswasser und zwei Äpfel fanden den Weg in ihren Rucksack.

Um Viertel vor acht stand sie am Tor von Maltes Anlage und klingelte. Wie gestern kam Marina und ließ sie herein.

»Komm, ich zeig dir erst mal unseren Aufenthaltsraum, da kannst du deinen Rucksack lassen.«

Als Nächstes bekam sie eine Führung durch die Anlage. Es gab Einzelzwinger und größere Gehege, in denen sich mehrere Hunde zusammen aufhielten. Sie machten eine kurze Tour durch das angrenzende Gelände mit verschiedenen landschaftlichen Gegebenheiten. Dicht bei den Zwingern gab es eingezäunte Rasenflächen, zwei davon mit Hindernissen: Wippen, Bretterwände in Form eines umgedrehten V und unterschiedlichen Höhen, eine Leiter zu einem Balken, Rutschen, Slalomstangen, Tunnel und Bretterwände in Hüfthöhe. Zwei Männer und auch Malte trainierten mit Hunden auf den Plätzen. Marina zog sie mit sich, als sie fasziniert dem Training zusehen wollte. Ihr Job war das Füttern der Hunde und das Saubermachen der Zwinger.

Natasha hatte sich gestern zu Hause ihren Computer geschnappt und angefangen zu lesen, was sie im Internet über Hunde finden konnte. Auch die Fahrzeit in der S-Bahn nutzte sie für die Lektüre. Etwas über den Kopf zu begreifen, war für sie immer der erste Schritt, bevor sie das Gelernte dann in der Realität auch umsetzen konnte.

Beim spielerischen Training der Welpen durfte sie Malte zusehen. Im Schneidersitz saß sie im Gras und passte genau auf. Als der Welpe, mit dem Malte als Letztes gearbeitet hatte, ausgepowert war, kam er zu ihr, kletterte auf ihren Schoß und rollte sich hechelnd zusammen. Sie kraulte den Hund mit einer Fingerspitze hinter den Ohren, strich ihm sanft mit der Hand über den Körper. Er schloss die Augen und schlief ein. Sie nahm ihre Hand weg, beobachtete beeindruckt, wie leicht der Hund aus seinem wilden Spiel in diese entspannte Haltung fand. Das Leben schien für ihn so einfach zu sein.

Malte ließ sich neben ihr nieder.

»Du hast eine natürliche Ausstrahlung.«

»Bitte?«

Er deutete auf den Welpen. »Hunde gehen nicht einfach zu jemandem hin und rollen sich auf dessen Schoß zusammen.«

»Es sind Rudeltiere. Khan ist noch ein Baby, er sucht Wärme und Nähe. Sich allein auf dem Boden zusammenzurollen, wäre gegen seinen Instinkt. Ich war in der Nähe und habe sein Bedürfnis nach Körperkontakt befriedigt.«

»Woher kennst du seinen Namen?«

»Marina hat mir gestern die Namen von Nannas Welpen verraten.«

»Und du kannst sie unterscheiden?«

»Sie sehen verschieden aus. Khan hat an der Brust einen schwarzen Fellstreifen, der wie eine Krawatte aussieht.«

»Marina hat gesagt, du hättest heute einen guten Job gemacht. Sie dachte, ich würde sie verarschen, als ich ihr sagte, du hättest keine Erfahrung mit Hunden.«

»Ich habe seit gestern viel über Hunde gelesen.«

»Gelesen? Okay. Welches Ziel habe ich bei Khans Training verfolgt?«

»Du meinst bei den Kampfspielen?«

Malte grinste sie an.

Sie sprach weiter: »Du beobachtest, wie er die Beute attackiert, wie beharrlich er um sie kämpft, wie lang er sie festhält. Gleichzeitig möchtest du herausfinden, ob er bereit ist nachzugeben, aufzuhören, oder ob er sich in Rage völlig verbeißt. Lässt er sich Angst machen? Erschreckt er sich? Lässt er sich ablenken? Nimmt er noch wahr, was in seiner Umgebung passiert, oder ist er nur auf dich fixiert?«

Er legte die Arme um die Knie und musterte sie mit einer stillen Intensität, die Natasha den Blick auf den Welpen senken ließ.

»Was ist dein Eindruck von ihm?«

»Er ist neugierig, verspielt, aufmerksam, selbstbewusst, doch er geht kein volles Risiko ein. Er hält fest, nimmt es aber wahr, wenn du ihn hochhebst, und lässt los, wenn er es als gefährlich für sich einstuft. Er kann von voller Power wieder zurückfahren und ist bereit, deine Signale zu beachten. Ich finde es außergewöhnlich, denn es zeigt, dass er auch bereit ist, sich unterzuordnen. Allerdings hat er das heute nicht gemacht, als Marina ihm einen Stock wegnehmen wollte, was mich zu der Annahme führt, dass du bei ihm eine andere Stellung einnimmst als sie.«

»Wie lange hast du geschlafen?«

Verwirrt von dem abrupten Themenwechsel überlegte sie, ob sie ihm antworten sollte. Immerhin ging ihn das nichts an.

»Fünf Stunden«, sagte sie dann.

»Hast du ein fotografisches Gedächtnis?«

»Ich wünschte, es wäre so, dann wäre mir das Abi leichtergefallen und ich hätte besser abgeschnitten.«

»Was machst du dann, um dein Wissen zu speichern?«

»Ich verknüpfe das, was ich lese, mit dem, was ich sehe, höre, rieche und spüre.«

Er stand auf, nahm den Welpen aus ihrem Schoß, der verschlafen die Augenlider hob. »Solange die Knochen der Hunde noch nicht fest sind, ist es wichtig, dass du sie auf diese Weise trägst. So bleiben die Schultergelenke in einer stabilen Lage.«

Sie erhob sich ebenfalls, und er reichte ihr den Welpen. Sie übernahm ihn mit dem Griff, den er ihr vorgemacht hatte. Die äußeren Finger hielten die Schultern zusammen, wohingegen die mittleren die zwei Vorderpfoten auf Abstand hielten. Ihre Hand war ein ganzes Ende kleiner als seine. Dennoch schaffte sie es, den Welpen auf diese Weise zu halten.

»Du kannst zwei Stunden Pause machen, dann zeige ich dir die Arbeit mit unseren Youngstern. Eigentlich hatte ich das erst für übermorgen vorgesehen, doch ich glaube, wir können ein paar Lektionen überspringen.«

Gemeinsam gingen sie zu den Zwingern. Er öffnete ihr die Tür und sie setzte Khan ab, der zu seinen Geschwistern hinübertapste. Sie gab den anderen Welpen ebenfalls eine Streicheleinheit, genauso wie Nanna. Als sie an dem nächsten Zwinger vorbeigingen, blieb sie stehen. Gestern war er leer gewesen. Jetzt war er belegt, obwohl dieser Umstand nur schwer auszumachen war, denn der Hund lag in der Hütte, den Rücken ihnen zugewandt.

»Das ist Akiro. Er stammt aus Nannas erstem Wurf. Ich hatte gehofft, dass die Nähe zu ihr und den Welpen ihn herauslocken würde.«

»Was ist mit ihm?«

»Er hat im Einsatz seinem Team das Leben gerettet, allerdings nicht allen Mitgliedern. Sein Herrchen ging dabei drauf, und er selbst wurde schwer verletzt. Einer der Männer packte ihn in die Jacke seines toten Kameraden, versorgte seine Wunden und brachte ihn zurück. Der Tierarzt kämpfte vier Stunden um sein Leben. Sie ließen ihm die Jacke, damit er sich beim Aufwachen nicht allein fühlt, aber es war ein Fehler. Seitdem trauert er, und nichts und niemand kann ihm den Lebenswillen wiedergeben. Auch Hunde können ein posttraumatisches Syndrom erleben. Jake – das ist der Soldat, der ihn gerettet hat – rief mich an und bat mich, es zu versuchen. Er hat sich bei seinem Offizier den Mund fusselig geredet, bis er bereit war, ihn auf seine Kosten nach Deutschland zu lassen. Wir hofften, dass er neuen Lebensmut fasst, wenn er wieder in die Umgebung seiner Geburt zurückkommt. Solange ihm Jake das Fressen ins Maul geschoben hat, hat er noch was zu sich genommen, aber sein Urlaub war zu Ende und er musste wieder zurück. Es geht auch nicht, dass er ihm für den Rest seines Lebens jede Mahlzeit aus der Hand füttert, und abgesehen davon wäre das nicht genug. Akiro hat es nur gemacht, weil Jake nicht bereit ist, ihn gehen zu lassen. Morgen kommt der Tierarzt und schläfert ihn ein.«

Natashas Herz zog sich zusammen und Tränen traten ihr in die Augen. Sie schluckte.

»Hey, denk nicht, ich wäre herzlos. Er war der beste Hund, den ich je ausgebildet habe, bis Smart kam. Genau deshalb darf ich ihn nicht weiter quälen. Er will nicht mehr, und ich kann es ihm nicht verdenken. Komm nicht auf die Idee, zu ihm reinzugehen. Er ist gefährlich. Einer der Assistenten des Tierarztes hat es zu spüren bekommen, als er von ihm gebissen wurde. Smart ist gegen Akiro ein Waisenknabe.«

Natasha folgte Malte zum Haus. »Ich stelle es mir schwer vor, Welpen zu züchten und sie auszubilden, um sie dann fortzugeben.«

»Ja, das ist der schwierigste Part an meiner Arbeit. Aber es ist so wie bei Kindern. Du kannst nur das Fundament legen und musst sie dann ihr eigenes Leben leben lassen. Also – zwei Stunden. Nutze die Zeit, um dich auszuruhen. Der Nachmittag wird Knochenarbeit, vor allem für dich, denn dann geht es für dich und die Hunde über Hindernisse. Einer deiner Schwachpunkte, und wir wollen ja, dass du im Training bleibst.«

Sie starrte ihm nach, als er mit einem fröhlichen Lachen zu dem Wohnhaus ging, in dem er mit seiner Familie lebte. Dieser verdammte Peter Abel hatte es ihm erzählt. Was war der Mann doch für ein Tratschweib.

Erbost stiefelte sie zu dem Flachdachgebäude, wo sich der Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter befand. Oben gab es mehrere kleine Apartments. In zweien wohnten Mitarbeiter, die drei anderen waren für die neuen Hundebesitzer, wenn sie im Endtraining mit ihren Hunden zusammengebracht wurden.

Aus dem Aufenthaltsraum klang fröhliches Geplapper. Rasch integrierte sich Natasha in die Gruppe. Das war eines ihrer Talente, sich einzufügen und gleichzeitig am Rand zu bleiben. Als Kind war sie unglaublich schüchtern gewesen. Nur ihre Sportlichkeit hatte sie davor bewahrt, zu einem Mobbingopfer zu werden.

Sie lauschte den Gesprächen, lachte bei Scherzen, hörte zu und beobachtete. Simon, einer der älteren Trainer, fing an, Obst zu schnipseln, und kochte Gemüse mit Fleisch.

»Was machst du da?«

»Das Fressen für die Hunde.«

»Es gibt kein Fertigfutter?«

Er verdrehte die Augen, als hätte sie gerade ein Sakrileg begangen. »Hast du eine Ahnung, was dem Zeug alles beigemischt ist? Isst du Fertigessen?«

»Meistens, und es ist gar nicht schlecht. Aber jetzt mal rein von der praktischen Seite betrachtet. Mag ja sein, dass Malte genug Leute hat, die das Fressen für die Hunde kochen, aber wie soll das bei den Besitzern funktionieren? Die Kochen garantiert nicht für ihre Hunde.«

»Du würdest dich wundern, wie viele das für ihre Hunde machen. Es sind Hochleistungssportler und Experten, und wenn du sie fit halten möchtest, musst du schon den Aufwand betreiben. Malte kann das ziemlich gut rüberbringen. Wenn er einen nicht überzeugt, bekommt er ihn wenigstens dazu, dass er Rohkost und Obst mit in das Futterangebot mischt.«

»Du meinst, ein Hund isst Karotten und so was?«

»Äpfel, Bananen, Paprika, Kohlrabi. Kommt halt auf den Hund an. Aber ja, Hunde sind grundsätzlich Allesfresser. Den Mageninhalt eines gerissenen Tieres bekommen immer das Alphamännchen und das Alphaweibchen in einem Wolfsrudel, deshalb sind sie besonders kräftig und gesund.«

»Kann ich ein bisschen was von der Rohkost haben?«

Er grinste sie an. »Sind dir deine Vollkornbrötchen zu trocken?«

»Ertappt.«

Sie klappte ihre Brotdose auf und füllte die eine Seite mit Rohkost. Dann schnappte sie sich ihren Rucksack und ging raus.

»Wohin willst du?«, rief Marina hinter ihr her. »Es gibt noch Kuchen. Marvin hatte gestern Geburtstag.«

»Danke, aber Malte sagte, ich sollte mich ein wenig ausruhen, weil der Nachmittag anstrengend wird, deshalb suche ich mir ein ruhiges Plätzchen für ein Nickerchen.«


Eine Weile stand sie nur außerhalb des Zwingers und versuchte, sich mit logischen Argumenten davon zu überzeugen, dass das, was sie machen wollte, vollkommen idiotisch war. Ihr Herz klopfte heftig, Schweiß bildete sich auf ihrer Haut. Sie hatte Angst. Malte war kein kalter Typ. Er mochte eine raue Schale haben, doch darunter war er weich wie Butter. Kochen für die Hunde. Der Hund war gefährlich. Er war ein ausgebildeter Diensthund, der in den Einsatz ging. Sie hatte gestern viel über Hundestaffeln gelesen. In Deutschland waren sie bereits seit langer Zeit ein Teil der Polizei und Streitkräfte. Auch in anderen europäischen Staaten. In den USA waren sie erst relativ kurz vor allem im militärischen Bereich im Einsatz. Sie hatte sich eine Dokumentation auf YouTube angeschaut. Sie verstand, was Malte meinte, als er sagte, dass auch Hunde unter dem posttraumatischen Syndrom leiden können. Sie musste wahnsinnig sein. Sie hatte null Erfahrung mit Hunden und Schiss vor ihnen. Aber sie konnte nicht anders. Etwas an der Geschichte des Hundes verband sie mit ihm. Und es war stärker als ihre Angst. Sie hob die Hand, öffnete die Verriegelung und schlüpfte in den Zwinger.

Ein tiefes, bösartiges Knurren kam aus der Hütte.

Natasha drückte sich ganz an das Gitter neben der Tür, ließ sich auf dem Boden nieder und ignorierte die Geräusche aus der Hundehütte. Sie legte die Brotdose auf den Boden vor sich, holte aus dem Rucksack ihre Wasserflasche und den Kindle, auf den sie sich gestern zwei Bücher über Hunde heruntergeladen hatte. Die Rohkost aus der Brotdose legte sie mit Abstand vor sich auf den Boden. Sie begann zu lesen, trank und aß. Es geschah vollkommen unerwartet, ohne eine Vorwarnung. Aus der Hütte schoss ein Fellknäuel in einem derartigen Tempo hervor, dass sie vor Schreck ihr Lesegerät fallen ließ. Ihr blieb überhaupt keine Zeit zu reagieren, da hatte der Hund bereits ihren Arm mit seinem Fang gepackt. Wildes Knurren drang aus seiner Brust. Seine Augen funkelten bösartig – eine zornige Bestie, die ihr deutlich machte, was sie davon hielt, dass sie in ihr Revier eingedrungen war. Sie spürte den Druck von Akiros Gebiss, die Zähne, die sich in ihr Fleisch bohrten. Noch hielt er den Arm fest, ohne ihn zu schütteln.

Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, baute keinen Gegendruck auf, weil sie gestern beim Spielen mit Kitaro bemerkt hatte, dass das den Reiz zu schütteln erhöhte. Sie versuchte, so passiv wie möglich zu bleiben, und senkte den Blick. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

»Es tut mir leid, Akiro, unendlich leid. Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Ich will nur da sein, damit du nicht allein bist. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man liebt und für dessen Tod man sich verantwortlich fühlt. Lass mich einfach hier bleiben und dir ein bisschen Gesellschaft leisten. Morgen kommt der Tierarzt, und dann ist alles vorbei. Okay? Be friendly, Akiro«, befahl sie am Ende mit Nachdruck.

Sie wusste nicht, wer von ihnen beiden erstaunter war, als er ihren Arm losließ – sie oder er. Einen Moment schauten sie sich an, dann verzog sich der Hund erschöpft wieder in die Hütte.

Natasha atmete flach, rührte sich volle fünf Minuten nicht. Ihre Muskeln waren verkrampft, und in ihrem Arm pochte es. Langsam quoll Blut aus den Bisswunden, die nicht tief waren, hervor. Scheiße, sie musste wirklich von allen guten Geistern verlassen sein. Seltsamerweise machte es ihr aber keine Angst. Im Gegenteil. Ein Hund hatte sie angegriffen, hatte ihren Arm malträtiert und ihn wieder losgelassen. Smarts Fang hatte über ihrer Kehle gehangen, und hätte er zugebissen, hätte es nicht nur einen schmerzenden Arm, sondern ihren Tod bedeutet. Er hatte es aber nicht getan, sondern war von ihr weggegangen, als Peter es befohlen hatte.

Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen holte sie ihr Notfallkit aus dem Rucksack. Sie besprühte die zwei Wunden, die die Fangzähne oben und unten hinterlassen hatten, mit einem Antiseptikum. Oben gab es noch eine länglich gezogene Schramme, unten nur den Einstichpunkt vom unteren Reißzahn. Vom Druck auf ihre Knochen würde sie vermutlich eine Prellung zurückbehalten. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihren Arm heute Nachmittag gebrauchen konnte.

Der Appetit war ihr vergangen. Die Lust zum Lesen ebenfalls. Sie verstaute die Brotdose mit den verbliebenen Brötchen im Rucksack, drehte sich auf die Seite und benutzte ihren Rucksack als Kopfkissen. Zehn Minuten schlafen, beschloss sie, nicht länger.


Malte blieb das Herz stehen. Natasha lag in Akiros Zwinger und schlief tief und fest. Der Unterarm, der vor ihrem Gesicht lag, zeigte eindeutig Bissspuren. Aber das war es nicht, was seinen Herzschlag stocken ließ, sondern die Tatsache, dass sich Akiro an ihrem Bauch zusammengerollt hatte und ihn nun mit wachsamen Augen beobachtete. »Wage es ja nicht, einen Schritt näherzukommen«, konnte er in dem Blick lesen.

Langsam ging er in die Hocke. »Alles in Ordnung, Akiro. Be friendly.«

Zur Antwort erhielt er ein tiefes Knurren. Akiro hob den Kopf und fletschte die Zähne, aber die Drohgebärde galt nicht ihm.

»Bleib in Herrgottsnamen stehen, verdammt noch mal!«, fluchte er denjenigen an, der hinter ihm aufgetaucht war.

»Oh, mein Gott«, hörte er Simon flüstern. »Ist sie lebensmüde?«

»Ich hätte es wissen müssen. Ich verfluchter Idiot hätte es wissen müssen. Bring mir meine Waffe.«

»Was?«

»Du hast mich gehört. Bring mir die Waffe. Sie ist im Haus in meinem Safe. Die Kombination ist 9576389.«

»Du kannst ihn nicht erschießen.«

»Was soll ich deiner verfluchten Meinung nach dann tun? Zusehen, wie er sie in Stücke reißt?«

»Du kannst in den Zwinger gehen und ihn zurückhalten.«

»Das ist mir zu riskant.«

»Kann es nicht sein, dass er sie nur beschützt?«

Malte atmete flach, versuchte, in der Haltung des Hundes zu lesen. Es waren widersprüchliche Signale, die er sendete. Empfand er sie als eine Beute, die ihm wegzunehmen keiner wagen durfte? Oder hatte er sich an sie angelehnt, Trost gesucht? Beschützte er ihren Schlaf?

Natasha machte die Augen auf, und das Erste, was sie sah, war ein Hundekopf mit gefletschten Zähnen.

»Nicht bewegen«, kam es leise mit ruhiger Stimme von Malte. »Geh und hol meine Waffe.«

Sie hörte, wie sich eine zweite Person entfernte, wagte aber nicht, den Kopf zu drehen. Die angespannte Haltung des Hundes veränderte sich minimal.

»Warum liegt er bei mir?« Natasha sprach ebenfalls leise und versuchte, einen beruhigenden Klang in ihre Stimme zu bringen.

»Sag du es mir. Verdammt, Natasha, bist du wahnsinnig geworden? Wie konntest du in den Zwinger gehen?«

Seinen Fluch in einem fröhlichen Ton zu hören, war irritierend. Doch ihr war klar, dass er es für den Hund machte. Er war sauer auf sie. Zu Recht.

Sie ignorierte Malte, hob ihren verletzten Arm und hielt Akiro die Hand hin. Die Haltung tat verflucht weh. Der Schmerz in ihrem Arm war zu einem dumpfen Pochen geworden. Akiro ignorierte die Hand, winselte, stand auf und verschwand in der Hundehütte.

»Komm raus. Sofort! Aber beweg dich ganz langsam!«, befahl ihr Malte. »Verstanden?«

Statt mit dem Rücken zur Öffnung der Hundehütte zu liegen wie zuvor, hatte Akiro jetzt den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet und beobachtete alles aufs Genaueste.

Sobald sie am Eingang stand, öffnete Malte die Tür, packte sie am Kragen, verriegelte den Zwinger wieder hinter ihr und schüttelte sie, wie sie es bei Nanna gesehen hatte, wenn es einer der Welpen zu bunt getrieben hatte.

»Bist du wahnsinnig? Was habe ich dir über den Hund gesagt?«

»Dass er gefährlich ist.«

»Und?«

»Dass ich mich von ihm fernhalten soll.«

Simon kam mit einer P8 Combat angerannt, einem Sondermodell der P8, die statt des üblichen Sicherungs- und Entspannungshebels nur einen Entspannungshebel besaß und so eine schnellere Schussbereitschaft sicherstellte. Er hielt die Pistole, als wäre sie eine giftige Schlange.

Malte nahm sie ihm aus der Hand und warf einen kurzen Blick auf den Entspannungshebel.

»Du willst ihn erschießen?«

»Es ist ein schneller Tod.«

Sie trat in die Schusslinie, legte ihm eine Hand auf den Arm. »Tu das nicht.«

»Ich verschwinde, ich kann das nicht mitansehen«, presste Simon hervor, machte kehrt und rannte davon.

»Sag den anderen, sie sollen im Aufenthaltsraum bleiben«, rief ihm Malte hinterher. »Geh aus dem Weg, Natasha.«

»Glaub mir, du würdest es dir nie verzeihen. Es tut mir leid, dass ich in den Zwinger gegangen bin. Er hat mir nichts getan.«

»Nichts getan?« Er deutete auf ihren Arm, der anfing, sich zu verfärben.

»Er hat losgelassen, nachdem er mir gezeigt hat, was er davon hält, dass ich in sein Territorium eingedrungen bin.«

Sie standen voreinander, beide entschlossen in dem, was sie wollten.

»Geh zur Seite oder ich werde handgreiflich.«

»Versuchs«, sagte sie entschlossen und änderte ihren Stand in eine Verteidigungsposition.

Abschätzend musterten sie sich. Er hatte die selbstsichere Ausstrahlung eines Kämpfers, mit dem man sich besser nicht anlegte. Egal. Sie würde es nicht zulassen, dass er Akiro wegen ihres Fehlers erschoss. Mochte der Hund auch nur noch einen Tag zu leben haben, sie war entschlossen, dass er ihn auch bekam. Sich auf einen Kampf einzulassen, war zu riskant, also verlegte sie sich auf das, was ihre Stärke war: reden.

»Wie schläfert ihn der Tierarzt morgen ein? Ich meine, er lässt niemanden an sich ran.« Immerhin hatte sie erlebt, wie der Hund auf Fremde reagierte.

»Ich verpasse ihm eine Beruhigungsspritze und dann das Gift. Der Tierarzt ist nur dabei, weil er mir die Mittel nicht aushändigen darf und um später sicherzustellen, dass er tot ist.«

»Du hast die Jacke von seinem Herrchen, damit er daran schnuppern kann, während er stirbt.«

»Woher …« Er brach ab. »Du versuchst, mich abzulenken und meine Gedanken auf morgen zu richten.«

»Es tut mir leid, dass ich in den Zwinger gegangen bin. Schau, er hat mich in Ruhe gelassen, nachdem er mir gezeigt hat, was er von mir hält. Bitte erschieß ihn nicht. Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass du recht hast, dass es funktioniert und Nanna einen guten Einfluss auf ihn ausübt. Akiro ist dir nicht egal. Du liebst ihn, und wenn er sterben muss, dann soll er friedlich sterben.«

»Ihn zu erschießen geht schnell, und egal auf welche Weise er stirbt, ich werde immer der sein, der ihn tötet.«

»Dann lass es uns morgen zusammen machen. Wenn du es jetzt machst, werde ich für immer das Gefühl haben, an seinem Tod schuld zu sein, und das ist das Letzte, was ich will.«

»Was wolltest du überhaupt beweisen? Dass du mit dem bisschen, was du gesehen und gelesen hast, mehr Ahnung von Hunden hast als ich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur so, dass ich ihn verstehen kann, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden verliert, und ich wollte, dass er weiß, dass er mit seinem Kummer nicht allein ist.«

Sie ärgerte sich, dass ihr Tränen in die Augen traten. Malte senkte die Waffe. »Er hat von dir abgelassen. Was hast du gesagt?«

»Be friendly, Akiro, neben vielem anderen Unsinn.«

Malte blickte an ihr vorbei.

Sie drehte sich um. Der Hund saß direkt hinter ihr auf der anderen Seite des Zauns. Seine schokoladenbraunen Augen waren auf sie gerichtet. Sein Schwanz ging einmal von rechts nach links. Dann wandte er sich ab, schnüffelte an der Rohkost, die sie auf dem Boden liegengelassen hatte, und begann zu fressen.

5

Auf dem Abstellgleis

Peter betrat als Letzter den Raum, in dem die Besprechung stattfand. Wie in einem Schulraum mit Tischreihen saßen die anderen vom Team Themis bereits an ihren bevorzugten Plätzen, während Oberst Wahlstrom vorn stand und leise mit Hauptmann Wagner sprach. Beide hatten im KSK gedient, bevor sie ins Team gewechselt waren.

Oberst Ben Wahlstrom war bei einer Vorversion der Einheit dabei gewesen, als diese den militärischen Streitkräften zugeordnet gewesen war. Vor knapp anderthalb Jahren war die Entscheidung gefallen, eine offizielle Sondereinheit aufzubauen, deren Schwerpunkt mehr auf der polizeilichen Seite lag. Die militärische Führung brachte ihre Erfahrung aus der internationalen Zusammenarbeit mit anderen Streitkräften und ihre Kampferfahrung aus anderen Ländern mit ein.

Generalmajor Karl Hartmann, der das öffentliche Gesicht und die politische Schnittstelle darstellte, war zwanzig Jahre im BKA tätig gewesen, bevor er für eine Sondertruppe in den militärischen Dienst übernommen worden war. Er verband beide Welten miteinander.

Oberst Ben Wahlstrom war für das Team in der Zentrale verantwortlich und bereitete die Einsätze vor, was auch bedeutete, dass er derjenige war, der die Koordination mit den anderen polizeilichen und militärischen Diensten übernahm, national und international.

Generalmajor Hartmann hingegen bewegte sich auf der politischen Ebene, trug die Verantwortung und musste ihre Einsätze vor dem Sonderausschuss der Regierung rechtfertigen. Hauptmann Tobias Wagner hingegen, auch TJ genannt, war der Analyst in ihrer Abteilung und hatte viel Erfahrung mit internationalen Einsätzen. Er war häufig mit dem Navy-Seals-Team der USA unterwegs gewesen und hatte auch deren Training absolviert.

Peter setzte sich neben Mark.

Carolina, die auf Marks anderer Seite saß, hob die fein geschwungenen Augenbrauen. »Wo ist unser Neuzugang?«

»Noch ist sie kein Neuzugang.«

»Was soll das heißen?«

Wahlstrom hob die Stimme. »Okay, Leute, jetzt, wo wir vollzählig sind, können wir loslegen. Hauptmann Wagner wird Ihnen als Erstes einen Überblick über die Situation geben, in der wir operieren müssen.«

Sie alle konzentrierten sich auf die Ausführungen von Hauptmann Wagner. Ein Geschäftsmann und seine Frau waren in Mexiko entführt worden. Die Lösegeldforderung lag bei drei Millionen Euro. Die Geschäftsleitung hatte sich an das BKA gewandt, und von dort war ihr Auftrag gekommen.

Zuerst wurden sie von Wagner auf den aktuellen Stand der Ermittlungen gebracht – alles, was er bisher recherchiert und in Erfahrung gebracht hatte. Es gab Hintergrundinformationen über die aktuelle Situation in Mexiko, die bekannten Syndikate und mögliche Hintermänner der Entführungen. Das Unternehmen würde die Lösegeldsumme transferieren, wie es derzeit in diesem Szenario empfohlen wurde.

Es war die fünfte Entführung von Deutschen in Mexiko in den letzten drei Monaten. Ihr Auftrag verfolgte zwei Ziele. Das erste bestand darin, die Entführten wieder sicher nach Deutschland zu bringen. Das zweite war es, zu den Hintermännern vorzudringen und diese möglichst in Deutschland vor Gericht zu stellen. Dieser Punkt wurde zurzeit vom Generalmajor und dem Bundesaußenministerium mit den Mexikanern verhandelt. Es gab einen zwischenstaatlichen Auslieferungsvertrag zwischen Mexiko und Deutschland. Sie hatten bereits häufiger mit den mexikanischen Sicherheitskräften zusammengearbeitet und diese, bisher vor allem bei Drogendelikten, unterstützt. Bei manchen Einsätzen wurde das Team aufgesplittet, sodass eines vor Ort operierte, während das andere in Deutschland die Arbeit unterstützte.

Diesmal jedoch fiel die Entscheidung, das gesamte Team nach Mexiko zu schicken.

Entspannt rollte Peter seine Schultern. Es war Zeit, dass er nach knapp vier Monaten wieder aktiv ins Geschehen eingreifen konnte. Bei der Aufgabenverteilung blieb sein Name außen vor, sicher ein Versehen, denn er war der einzige Hundeführer in der Staffel.

Er hob die Hand, doch Wagner ignorierte ihn.

»Okay, das war’s. Wenn noch jemand Fragen hat, können wir sie in Einzelgesprächen klären«, beendete Wagner seinen Part.

Wahlstrom übernahm. »So weit sind Sie jetzt auf dem Laufenden. Ein paar von Ihnen sind nicht in den Fall involviert. Das ist kein Fehler, sondern eine bewusste Entscheidung.« Sein Blick wanderte zu ihm. »Lassen Sie uns das nachher unter vier Augen klären. Kommen wir zu unserer monatlichen Besprechung, Ihren Trainingsergebnissen und dem Debriefing des letzten Einsatzes.«

Peter hatte Mühe, sich auf die Diskussion zu konzentrieren. Mehr als einmal musste ihn Mark anstoßen, damit er seinen Input gab. Er fragte sich, warum Wahlstrom mit ihm allein sprechen wollte. Dass er eine neue Partnerin zugeteilt bekommen hatte, bedeutete ja nicht, dass er in nächster Zeit an keinem Einsatz mehr teilnahm. Die operative Leitung des Teams unterstand Wahlstrom, und auch wenn der Generalmajor von seinem Verhalten angekratzt sein mochte, war er nicht der Typ, der eine Ressource seines Teams ungenutzt ließ. Ihn und Smart außenvorzulassen, wenn es um die Suche nach Menschen ging, stellte in seinen Augen ein absolutes No-Go dar.


Sie wechselten in das kleine Besprechungszimmer. Wahlstrom legte Natashas Akte auf den Tisch.

»Bevor Sie sich aufregen – Sie stehen mit Smart auf der Springerliste für den Einsatz. Sobald wir Ihre und Smarts Fähigkeiten benötigen, bringen wir Sie rüber.«

Erleichtert atmete Peter auf. »Wieso nicht sofort? Warum die Kosten eines zusätzlichen Transports einkalkulieren?«

»Weil ich denke, dass wir in diesem Fall auf Sie verzichten können. Der Befehl des Generalmajors lautet, Sie komplett aus den operativen Aufgaben herauszuhalten, bis Kriminalhauptkommissarin Kehlmann so weit ist, dass sie Sie begleiten kann. Wenn ich mir deren Ergebnisse vom Leistungstest ansehe – oder besser gesagt, vom Seilklettern –, möchte ich sie auf keinen Fall im Mexiko-Einsatz dabeihaben. Sie wäre ein Risiko für das Team, wenn wir sie mit einem Hubschrauber rausholen müssen. Wo ist sie überhaupt? Krank? Oder haben Sie es bereits geschafft, dass sie hinwirft?«

Es war schwer, in Wahlstroms Gesicht zu lesen. Normalerweise war er derjenige, der das Auswahlverfahren übernahm. Doch diesmal war er in einem heiklen Auftrag unterwegs gewesen, sodass Generalmajor Hartmann mit seiner Hilfe das Auswahlverfahren durchgezogen hatte. Peter war sich sicher, dass Natasha, hätte Wahlstrom zu entscheiden gehabt, rausgeflogen wäre. Er rieb sich die Nase.

Die Formulierung des letzten Satzes ließ ihn hellhörig werden, weshalb er sich entschied, erst einmal das Terrain zu testen.

»Sie hat bei dem Test gelogen, als es um ihre Erfahrung mit Hunden ging.«

»Hat sie das?«

»Ja. Sie hat keine Ahnung, wie man mit Hunden umgehen muss. Da sie meine Partnerin werden soll, muss sie jedoch in der Lage sein, Smart im Einsatz so wie ich zu führen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie besser mit Chris Neumann oder Kevin Steuber zusammenarbeiten könnte.«

»Die beide einen Partner haben. Sie haben keinen.«

»Ich hatte eine Partnerin. Carolina Herrmann.«

»Ja, und Herrmann war diejenige, die sich entschieden hat, zu Mark Becker zu wechseln, als sein Partner wegen dessen Frau aus dem Team ausgestiegen ist.«

»Wieso hat sie eigentlich gewechselt?«

Wahlstrom schüttelte den Kopf. »Fragen Sie sie, nicht mich. Schauen Sie sich die zwei an, und Sie wissen, es war die richtige Entscheidung. Sie harmonieren super.«

»Herrmann und ich waren ebenfalls ein gutes Team.«

»Wo ist Kehlmann?« Wahlstrom ignorierte seinen letzten Satz.

»Bei Balthaus. Er bringt ihr die Grundlagen bei, die ein Diensthundeführer beherrschen muss. Allerdings hat sie ziemlich Schiss vor Hunden. Außerdem hat sie das Schnellschießen nur ganz knapp geschafft.«

»Ich weiß, ich kann lesen.«

»Können wir offen miteinander reden?«

»Schießen Sie los.«

»Sie hat einfach nicht das Zeug, ein Teil von Themis zu werden. Sie ist emotional und kann keine Distanz halten. Mehr als einmal hat sie sich beim Auswahltraining schützend vor andere gestellt, dabei kannte sie vorher keinen Einzigen von ihnen. Als ein Mädel die Glocke schlug, hat sie mich angesehen, als wollte sie mich lynchen. Außerdem ist sie in sich gekehrt und brütet viel. Kein gutes Zeichen, wenn jemand zu viel denkt, das wissen Sie. Glauben Sie mir, in der ersten Krisensituation bricht sie uns zusammen.«

»Was Sie als emotional bezeichnen, heißt in ihrer Akte Empathie. Das kann durchaus eine Stärke sein. Außerdem zeigt ihr psychologisches Profil bei den Belastungstests, dass sie mit Krisensituationen umgehen kann.« Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. »Ich habe gehört, dass Sie sie beim Ausbildungstraining ziemlich rangenommen und provoziert haben. Sie ist Ihnen nicht an die Kehle gesprungen und Sie haben keine Macke abbekommen.«

Die letzte Bemerkung ignorierte Peter geflissentlich. »Es wäre nicht das erste Mal, dass der Belastungstest zu einer Fehleinschätzung führt.«

»Ich stimme Ihnen zu, und ich gebe zu, dass wir an dem Teil des Einstellungstests weiterhin feilen müssen. Ich denke, dass wir mit unserer neuen Psychologin Dr. Franziska Naumann einen richtigen Weg eingeschlagen haben.«

»Warum ist Generalmajor Hartmann so verdammt fixiert auf Kehlmann? Sie kennen ihn länger als ich. Erklären Sie es mir?«

»Er hat Ihnen ihre Akte gezeigt?«

»Ja.«

»Sie haben sich mit ihr beschäftigt?«

»Ja.«

»Dann wissen Sie, dass sie an einer Spezialausbildung für Verhörmethoden der CIA teilgenommen hat. Haben Sie ihre Beurteilung gelesen?«

»Ja.« Peter rutschte auf dem Stuhl hoch. »Es ist nicht so, dass ich ihre Stärken nicht sehen würde. 27 Sprachen sind nicht schlecht.«

»Nicht schlecht?«

»Okay, von mir aus, ja, es ist beeindruckend. Trotzdem.«

»Nein, genial ist es, und das wissen Sie. Ich habe ihre Leistungssteigerung in den drei Ausbildungsmonaten gesehen. Sie haben sie sich vorgeknöpft. Beeindruckend, was Sie da bei ihr geleistet haben, und hätten Sie den Hindernisparcours anders gestaltet, hätte sie es vermutlich geschafft. Wenn Sie ehrlich sind, stinkt es Ihnen nur, dass Hartmann sie Ihnen aufgedrückt hat und Sie jetzt das Gefühl haben, den Babysitter spielen zu müssen. Aber es geht am Ende um einen neuen Partner für Sie.« Er machte eine Pause. »Allerdings haben wir die Kriterien nicht umsonst aufgestellt. Durchgefallen ist durchgefallen. Bei uns gibt es keine zweite Chance, sonst weichen wir demnächst alles auf.«

Erleichtert lehnte sich Peter zurück und grinste Wahlstrom an. »Als hätten Sie meine Gedanken gelesen.«

»Weil ich ebenso dachte. Aber wie Sie es vorhin so schön formuliert haben, stand ich von Anfang an unter dem Kommando von Generalmajor Hartmann, und wenn ich eines gelernt habe, dann dass er über eine enorme Menschenkenntnis verfügt, das kann Ihnen auch Hauptmann Wagner bestätigen.«

»Das bezweifle ich auch gar nicht.«

»Dann lassen Sie mich für Sie anders formulieren. Hartmann sieht etwas in dem Mädel, das wir beide nicht sehen. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie werfen den Job hin oder Sie machen Ihren Job und sehen zu, dass Sie sie fit bekommen. Je eher Sie es schaffen, desto schneller sind Sie wieder voll einsatzbereit im Team. Das wäre meine Strategie an Ihrer Stelle. Allerdings reichen mir die Eckdaten nicht. Ich möchte, dass Kehlmann auch in Ausdauer, im Nahkampf und im Schießen einen Sprung nach vorn macht. Wie Sie das hinbekommen, überlasse ich Ihnen.«

»Und was, wenn sie hinschmeißt?«

Eine Weile musterte ihn Wahlstrom. »Es wäre eine Möglichkeit, aber meiner Ansicht nach ist das unter Ihrem Niveau. Geben Sie ihr eine faire Chance, und ich verspreche Ihnen, dass ich meine Hand über Sie halte, falls sie es nicht schafft. Deal?«

»Deal.«

»Dienstag achthundert möchte ich ein Gespräch mit ihr führen, damit ich mir einen Eindruck von ihr machen kann.«


Diesmal war es Simon, der Peter das Tor öffnete und ihn dann gleich wieder allein ließ.

»Wenn du deine Kollegin suchst, die trainiert mit Malte und den anderen das Eindringen in Häuser.«

Er wanderte übers Gelände, bis er den Trainingsbereich erreichte. Malte machte ihm ein kurzes Zeichen, und er blieb mit Smart auf Abstand, während Malte seine Anweisungen erteilte. Als die Teams an die Arbeit gingen, kam er zu ihm herüber.

»Hey, willst du mitmachen?«

Peter starrte noch immer auf Natasha, die gerade mit dem ihr zugeteilten vierbeinigen Partner geduckt die Mauer entlangschlich.

»Du lässt sie beim Training mitmachen? Die Hunde sind in der Endphase, bereit für die Übergabe.«

»Exakt. Hijack ist das Sensibelchen in der Truppe. Colin und er funktionieren als Team überhaupt nicht miteinander. Er hat jetzt Homer zugeteilt bekommen, das hat geklappt.«

»Bist du wahnsinnig? Die Frau hat keine Ahnung von Hunden.«

Malte grinste breit. »Das mag am Freitag der Fall gewesen sein, aber heute ist Montag. Schau selbst, wie präzise sie in ihren Signalen ist und wie aufmerksam Hijack auf sie achtet.«

Peter verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete aufmerksam, wie das Paar das erste Hindernis überwand. Der Hund kletterte hoch, legte sich hin, wartete, bis seine menschliche Partnerin bei ihm war und sich auf der anderen Seite herunterhangelte, um ihr dann in die Arme zu springen. Natasha schaffte es nicht, das Gewicht auszugleichen, und landete unsanft auf ihrem Hintern.

»Daran musst du mit ihr arbeiten, ihr fehlt die Stärke im Oberkörperbereich«, brummte Malte neben ihm.

»Morgen starte ich mit dem Krafttraining.«

»Das geht nicht.«

»Bitte?«

»Gib uns noch diese Woche. Bis dahin schaffen wir es hoffentlich, dass Akiro jemand anderen als Bezugsperson akzeptiert.«

»Akiro? Der Hund, der im Einsatz einen Teil seines Teams verloren hat?«

»Ja. Ich wollte ihn einschläfern, aber Natasha hat es geschafft, ihn aus seinem Loch herauszulocken.«

»Was?! Willst du mir gerade sagen, dass sie zu einer verdammten Hundeflüsterin mutiert ist?«

»Du musst nicht gleich dermaßen übertreiben. Aber ja, es gibt bestimmte Hunde, die auf sie reagieren. Sie hat diese Ausstrahlung, die … Ich weiß gar nicht, wie ich es genau formulieren soll. Wenn du dich mit ihr unterhältst, hast du nach einer Weile das Gefühl, dass du ihr alles anvertrauen kannst, weil du meinst, dass sie alles versteht, ohne zu urteilen. Dieses Akzeptieren um jemandes selbst willen ist wirklich eine überaus starke Waffe. Das wird eine echte Bereicherung für euer Team. Eine Woche. Ich spreche mit Wahlstrom.«

»Sie hat morgen einen Termin mit ihm, und ich muss mit dem Training anfangen. Ihretwegen sitze ich auf der Reservebank.«

»Trag es mit Fassung, ich finde, es lohnt sich. Genug geplaudert, wenn du und Smart nicht mitmachen wollt … Ich muss die Übung überwachen.« Malte ging zurück zum Trainingsgebäude.

Smart neben ihm war angespannt bis zu den Haarwurzeln. Dem Hund fehlte das Training, und er saß auf der Reservebank. Er ärgerte sich, dass er nicht Maltes Angebot angenommen hatte und an der Übung teilnahm. Das Letzte, wozu er Lust hatte, war zu warten, bis sie fertig war. Alles in allem würde das Szenario mit anschließender Manöverkritik etwa zwei Stunden dauern.

Er drehte sich um und ging zum Platz, damit er wenigstens mit Smart einen Hindernisparcours absolvieren konnte. Was er jetzt brauchte, war Bewegung.

Er füllte Smart den Napf voll Wasser, und der Hund soff ihn gierig leer.

Er selbst steckte den Kopf kurz unter den Wasserhahn.

»Du kannst auch die Dusche in meinem Apartment benutzen.«

Er schlug sich den Kopf am Hahn an.

Marina fing an zu lachen. »Sorry, aber das sah zu lustig aus.«

»Ja, ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.«

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ehrlich, es tut mir leid, ich hätte dich nicht erschrecken dürfen.«

Dezent trat er einen Schritt zurück, benutzte sein T-Shirt, um sich das feuchte Haar trocken zu rubbeln.

Marina ließ einen hungrigen Blick über seinen durchtrainierten nackten Oberkörper wandern. Rasch zog er sich das feuchte T-Shirt wieder über.

»Wegen mir brauchst du dich nicht anzuziehen. Du bist nicht der einzige Mann, der ohne Oberteil hier rumläuft. Ich hab euch beobachtet. Ihr zwei seid verdammt gut im Training. Darf ich?«

Er nickte, und sie gab Smart einen großen Hundekeks, den er genüsslich zermalmte.

»Wie oft trainierst du mit ihm?«

»Täglich, unterschiedliche Sachen.«

»Er ist ganz schön intelligent. Nimmt viele Sachen vorweg. Man merkt, dass ihr ein eingespieltes Team seid.«

»Marina …« Er seufzte. »Sorry, du bist echt süß, und im Normalfall würde ich gern mit dir flirten, aber …«

»Malte hat gesagt, dass du Ärger kriegst, wenn du was mit mir anfängst.«

Er grinste. »So ist es.«

»Weißt du, ich bin 24 und kann selber entscheiden, worauf ich mich einlasse und worauf nicht. Ich bin nicht auf der Suche nach einer Beziehung, wenn es das ist, wovor du Angst hast. Ich möchte nur schlicht und ergreifend Sex mit einem Mann, der mir gefällt.«

»Ich mag es, wenn Frauen wissen, was sie wollen.«

Marina trat näher an ihn heran, legte eine Hand auf seine Brust und ließ sie mit Druck nach unten wandern. Er hielt ihr Handgelenk fest, als sie den Hosenbund erreichte. Am Ende war er auch nur ein Mann. Er zog sie zu sich heran und küsste sie. Weiche, willige Lippen öffneten sich seiner fordernden Zunge. Hmm, sie schmeckte süß und eine Spur nach Apfel und Karotte. Er vertiefte den Kuss, ließ seine Hand in ihren Nacken wandern, vergrub seine Finger in ihren Haaren.

»Ups, sorry, ich wollte euch nicht stören.«

Er fuhr zurück, hielt Marina jedoch mit der einen Hand an der Taille fest, da sie ihren festen Stand verloren hatte.

Natashas Lippen umspielte ein amüsiertes Lächeln, und in ihren Augen blitzte es vergnügt. Seine Laune fiel schlagartig auf den Tiefpunkt von zuvor zurück, als er sich vom Übungsplatz getrollt hatte.

Sie wedelte mit der Hand. »Lasst euch von mir nicht stören. Ich wollte sowieso erst unter die Dusche, aber Malte meinte, es wäre besser, ich würde mich direkt zum Rapport bei dir melden.«

»Warte, wie weit ist es von hier bis zu dir nach Hause?«

Sie hob die Augenbrauen, und ihm wurde klar, dass seine Worte vielleicht etwas seltsam klangen. Er ließ Marina los, die ihn ebenfalls irritiert ansah.

»Wir müssen mit deinem Training anfangen.«

»Ich dachte, das hier wäre Teil meines Trainings.«

»Ja. Nein. Ich meine, wir müssen an deiner Fitness arbeiten.«

»Bei mir zu Hause?«

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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