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Der Terrorist

Sondereinheit Themis Band 2

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
306 Seiten
Reihe: Sondereinheit Themis, Band 2

Zusammenfassung

"Mein Job ist es, Menschen zu beschützen, nicht welche zu töten. Ich bin Polizistin, keine Soldatin." Ein Selbstmordattentat auf einem Konzert in Frankfurt erschüttert die deutsche Bevölkerung. Während die Landespolizei versucht das Chaos in den Griff zu bekommen, macht sich die Sondereinheit Themis an die Arbeit, die Hintergründe für die Tat aufzudecken. Noch bevor die Opfer des Attentats beerdigt sind, gibt es jedoch einen weiteren Anschlag, und unversehens gerät der Fall zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Für Natasha, den Neuzugang im Team, stellt der Fall eine besondere Herausforderung dar. Immer wieder bringt sie durch ihre eigenwillige Vorgehensweise sich und auch anderen in Gefahr. Aber das ist nicht das Einzige, das Natasha zu schaffen macht. Da ist auch noch ihr Partner Peter, der sie besser versteht, als jeder andere Mensch zuvor. Er ist die Schulter, an die sie sich anlehnen kann, der Freund, der für sie da ist, wenn sie ihn braucht. Wäre da nicht die eiserne Regel, an der beide Festhalten und die Natasha davon abhält, ihm ihre wahren Gefühle zu offenbaren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Jörg. Vielen Dank für deine Geduld, mit der du mir meine unzähligen Fragen beantwortest.

Das Team und Familie Abel

Generalmajor Karl Hartmann

Ist der Gründer und Chef der Einheit. Er war lange Zeit Polizist und ist dann zum Militär gewechselt.


Oberst Ben Wahlstrom

Ist der Personalverantwortliche der Einheit. Er war schon immer Soldat und ist mit der Fotografin Johanna Rosenbaum, die immer nur Hanna genannt wird, liiert. Er leitet die Einsätze.


Major Tobias Wagner (TJ)

Ist der Länder Analyst der Einheit. Er ist auch Springer, wenn mal einer ausfällt. Auch er leitet Einsätze. Er ist mit Tamara, kurz Tami verheiratet. Sie ist ein IT-Security Consultant und arbeitet ab und an für die Einheit. Aus erster Ehe bringt TJ drei Kinder mit in die Ehe und mit Tami hat er eine Tochter.


Kriminalkommissar Paul Gerlach

Ist der IT Wizard in der Einheit. Eigentlich gehört er zum BKA, doch oft arbeite er exklusiv für Hartmann.


Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann

Ist die Verhörspezialistin und Hauptfigur in der Reihe. Früher Wettkampfschwimmerin und Polizistin aus Leidenschaft.


Kriminalhauptkommissar Peter Abel (Pit)

Ist der Leiter des Teams. Er erstellt die Trainingspläne für alle und kennt keine Gnade, wenn es um die Leistungsfähigkeit aller geht. Sein Spitzname kommt von Pitbullterrier, weil er sich gerne in etwas festbeißt.


Odin von Lichtenfels (Smart)

Ist der Diensthund in der Einheit und wird von Pit geführt. Er ist unglaublich klug, weshalb er auch seinen Spitznamen hat. Zusammen mit Pit und Natasha bildet er ein Dreierteam.


Kriminalhauptkommissar Kevin Steuber

Ist der Fahrer des Teams. Er kann alles fahren, egal ob auf Vierrädern, Zweiräder, dem Wasser oder in der Luft. Außerdem kann er auch alles kurzschließen.


Stabsfeldwebel Chris Neumann

Ist der Kommunikationstechniker der Einheit. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt zu halten und den Input bei einem Einsatz zu liefern. Er bildet mit Kevin ein Zweierteam.


Kriminalhauptkommissar Mark Becker

Ist der Entschärfer und Spotter (Beobachter für einen Scharfschützen) im Team. Egal um was für Sprengsätze es geht, er weiß, wie er sie deaktiviert. Nur nicht, wenn es um seine Partnerin geht.


Oberleutnant Carolina Herrmann (Caro)

Ist die Scharfschützin im Team. In den ersten drei Monaten bei der Einheit war sie die Partnerin von Pit, dann hat sie zu Mark gewechselt.


Kriminalhauptkommissar Römer

Ist der Forensiker im Team. Er kennt sich mit allen Themen der Forensik aus, ist aber kein Spezialist für ein Teilgebiet. Er beurteilt einen Tatort und zieht daraus Schlüsse oder weiß, was untersucht werden muss.


Kriminalhauptkommissarin Gabriella Santinos

Ist die Fassadenkletterin im Team. Einem Affen gleich, kommt sie überall hoch. Sie bildet ein Team mit Bodo, der einzige, der mit ihrem Temperament und Agilität umgehen kann.


Leutnant Zoe Dübbers

Ist die Nahkampfspezialistin im Team. Eine echte Ninja-Kämpferin, die mit Carolina liiert ist. Sie legt jeden Mann flach, sehr zum Ärger der Männer.


Oberleutnant Ulf Clemens

Ist der Sanitäter im Team. Die tödlichste Waffe und der Lebensretter bilden ein Zweierteam und sind das einzige rein militärische Duo in dem Team.

Familie Abel

Dr. Kain Abel, Mediziner, arbeitete in der Forschung und lehrte, Sportfanatiker, Peters Vater, kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.


Dr. Lydia Abel, Allgemeinärztin, inoffizielles Oberhaupt der Familie, mit dem sich keiner anlegt. Kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.


Yvonne Kramer, Peters älteste Schwester, verheiratet mit Robert, zwei Kinder: Charlotte und Tim.


Die Zwillinge: Dr. Carina Abel, Ärztin der Inneren Medizin, war Stammzellspenderin für ihre Zwillingsschwester, als diese Leukämie hatte, Dr. Cecilia Abel, Psychotherapeutin, auf Gewaltopfer spezialisiert. Zwei Jahre älter als Peter.


Angela Abel, fünf Jahre jünger als Peter und damit das Küken, leitet die Stiftung der Familie.

1

Leistungstest

Natasha atmete tief durch. Sie korrigierte den Sitz ihrer Schwimmbrille, lockerte ein letztes Mal ihre Armmuskeln und ließ den Kopf kreisen. All das gehörte zu ihren Ritualen. Sie blendete die Geräuschkulisse aus. Der erste Pfiff. Sie setzte die Füße auf den Startblock und nahm die Starthaltung ein. Ihre Bahn war rechts außen. Die Auswahl, wer gegen wen antrat, hatte Oberst Ben Wahlstrom, ihr Chef, per Losverfahren getroffen. Sie hatte keine Ahnung, wer im Themis-Team der stärkste Schwimmer oder die stärkste Schwimmerin war. Es war ihr erster Quartalsleistungstest, und der entschied, ob sie ein festes Mitglied von Themis werden würde oder nicht. Im Geist war sie die 400 Meter Freistil bereits mehrfach geschwommen. Es war die letzte Disziplin des Leistungstests. Alles andere hatte sie nach den Anforderungen, die Wahlstrom für sie festgesetzt hatte, bestanden – einschließlich dieses verdammten, verfluchten Seils.

Das Schwimmen war ihre Königsdisziplin, kein Grund also zu befürchten, sie könnte durchfallen. Peter hatte ihr bereits mit einem breiten Lächeln ein Daumen hoch signalisiert. Jawohl, in knapp viereinhalb Minuten, vielleicht auch zwanzig Sekunden mehr, würde sie ein Mitglied der BKA-Sondereinheit Themis sein.

Der Startpfiff ertönte und ihr kräftiger Absprung erfolgte den Bruchteil einer Sekunde später. Sie tauchte flach ins Wasser ein, hielt ihren Körper vollkommen gestreckt, die Finger aneinandergelegt, um möglichst wenig Widerstand zu erzeugen. Sie konnte spüren, wie das Wasser an ihrem Körper vorbeiströmte. Der erste Armzug. Dann im Wettkampftempo im Vierertakt: vier Armzüge, ein Atemzug. Neben ihr schwamm Ulf, in der Mitte folgte Bodo, danach Zoe und auf der Bahn links außen Chris. Bereits nach der ersten Bahn kristallisierte sich heraus, an wem sie sich orientieren musste. Ulf und Chris lieferten sich Kopf an Kopf einen Wettkampf. Sie setzte sich knapp hinter die beiden, blieb an ihnen dran, ohne sie zu überholen. Ab der zehnten Bahn legten sie an Tempo zu. Zoe hatten sie hinter sich gelassen, doch Bodo holte in der Mitte beständig auf, während Chris nachließ. Die letzte Wende. Sie hielt sich aus dem Kampf zwischen Bodo und Ulf heraus. Am Ende war es Bodo, der als Erster anschlug, knapp gefolgt von Ulf und ihr. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schwamm sie auf dem Rücken ein paar Meter zurück. Ihr Blick ging auf die Anzeigetafel, wo die Zeiten aufgeführt waren. 4:59,3 Bodo, 5:10,7 Ulf, 5:11,3 Natasha, 5:16,7 Chris und 5:48,9 Zoe. Ulf hielt die Hand hoch und sie schlug ein. Die anderen Kollegen und Kolleginnen jubelten, nachdem sie gewartet hatten, bis auch Zoes Hand am Beckenrand anschlug.

Sie schwamm zurück zum Startblock.

»Für dein erstes Mal echt gut, Brain. Wenn du noch etwas mehr trainierst und deine Kräfte besser einteilst …« Bodo, noch immer im Wasser, schob die Brille hoch und schenkte ihr ein Lächeln. Er war der Stillste in der Truppe, lächelte selten, und sie war eine der wenigen, die hin und wieder ein Lächeln von ihm zu sehen bekam. Sein Blick fiel auf jemanden hinter ihr, und das Lächeln verschwand. Auch der Jubel der am Beckenrand Stehenden brach abrupt ab. Verwirrt sah sich Natasha um. Hinter ihr, breitbeinig, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augenbrauen finster zusammengezogen, stand der Personalverantwortliche der Sondereinheit, Oberst Ben Wahlstrom. Rasch warf sie noch mal einen Blick auf die Anzeigetafel. Okay, Kevin aus der ersten Schwimmgruppe war definitiv der Schnellste gewesen, doch sie lag knapp hinter Peter und damit exakt in der Mitte, und nach ihr folgten noch Chris, Mark, Gabriella, Carolina und zuletzt Zoe.

»Alle raus aus dem Wasser und unter die Duschen. Zoe, gut gemacht, du hast deine Zeit vom letzten Mal um 32 Sekunden gesteigert.«

Natasha stemmte sich aus dem Wasser, erhob sich und wollte sich an ihrem Chef vorbeidrücken.

»Sie nicht, Kehlmann. Sie bleiben schön hier und fangen an, Liegestütze zu machen, dabei zählen Sie laut und deutlich bis dreißig.«

Eine Sekunde starrte sie den Mann fassungslos an. Auch nach knapp drei Monaten in der Truppe hatte sie keine Ahnung, wie sie Wahlstrom einschätzen sollte. Bei ihrem ersten offiziellen Gespräch war sie in so ziemlich jedes Fettnäpfchen getreten, das sich ihr dargeboten hatte. Zu behaupten, sie wäre entspannt, wenn er sie allein in sein Büro zitierte, wäre gelogen. Aber sie hatte sich in den letzten Wochen ohne größeren Fauxpas durch die Gespräche manövriert.

»Brauchen Sie eine Extra-Aufforderung, Kehlmann?«

Sie begab sich in die Waagrechte und begann mit dem ersten Liegestütz.

»Zählen. Laut und deutlich!«

»Vier, fünf …«

»Von vorne, weil Sie die ersten nicht gezählt haben.«

»Eins, zwei, drei …«

»Boss?«

»Das ›unter die Duschen‹ galt auch für Sie, Abel. Wird’s bald?«

»Ich möchte nur wissen …«

»Das war ein Befehl!«

»Wir sind hier nicht beim Militär.«

»Wollen Sie mir jetzt erklären, wie ich meinen Job zu machen habe?«

»Zehn, elf, zwölf …« Natasha schielte nach oben. Die beiden Männer standen sich förmlich Nase an Nase gegenüber.

»Dreizehn, vierzehn …« Sie brach ab. »Pit, du musst Smart noch was zu fressen geben.«

Der Blick, den Oberst Wahlstrom ihr zuwarf, ließ sie rasch die Liegestütze wieder aufnehmen.

»Fünfzehn, sechzehn …«

»Von vorne, wenn Sie eine Pause einlegen.«

Innerlich fluchend begann sie wieder von eins zu zählen. Sie hörte, wie sich die Schritte ihres Partners entfernten und die Tür mit einem Knall geschlossen wurde. Ihre Arme zitterten vor Anstrengung, als sie sich von dem dreißigsten Liegestütz hochstemmte. Erschöpft ließ sie sich auf dem Hintern nieder, lockerte die Armmuskulatur.

Wahlstrom ging vor ihr in die Hocke, sodass sie sich auf einer Höhe befanden.

»Und jetzt, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann, erklären Sie mir, weshalb Sie die Extraübung einlegen durften.«

Sie starrte ihn an. Er fixierte sie, das Gesicht eine unnahbare Maske. Sie hatte alle Anforderungen erfüllt, sich in jedem Bereich gesteigert. Bei den 400 Metern Freistil lag sie weit unter der von ihm geforderten Zeit von siebeneinhalb Minuten. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Scheiße! Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie im Training schon mal eine bessere Zeit hingelegt hatte. 5:07,2 – also vier Sekunden schneller als heute. Verflucht! Eine Anforderung von Oberst Wahlstrom an sie hatte gelautet, dass sie bei dem Leistungstest in allen Disziplinen eine Steigerung zeigen musste, unabhängig davon, dass die Werte für die Einstellung erreicht werden mussten. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Sie senkte den Kopf. Würde er sie wirklich wegen der vier Sekunden aus dem Team werfen?

»Ich höre.«

»Weil ich vier Sekunden schlechter war als beim letzten Mal?«

»Zwanzig Crunches.«

Diesmal begann sie sofort und zählte auch laut. Er machte es sich auf einem der Startblöcke bequem. Jetzt spürte sie ihre Bauchmuskeln und die Arme. Es war ja nicht so, als hätte sie nicht den ganzen verfluchten Tag bereits Sport getrieben.

»Weshalb bin ich wütend auf Sie, Kehlmann?«

Weil du ein verdammtes Arschloch bist?, dachte Natasha erbost, hütete sich aber davor, es laut auszusprechen. Immerhin hatte er sie noch nicht aus der Einheit geworfen, sondern triezte sie nur. War das ein gutes Zeichen?

»Wissen Sie, Kehlmann, was wichtiger ist als die Leistung des Einzelnen im Team?«

»Dass jeder sein Bestes gibt«, kam es heraus, wie aus der Pistole geschossen. Sie hatte den Spruch in den letzten Wochen unendlich oft zu hören bekommen.

»Und warum ist das wichtig?«

»Damit Sie entscheiden können, wer für welche Aufgabe die beste Wahl ist.«

»Und haben Sie eben im Wasser ihr Bestes gegeben?«

Sie erstarrte. Beim Antworten hatte sie gar nicht mehr an das Schwimmen gedacht.

»Ich kapiere nicht wieso. Sie haben bei allen anderen Aufgaben das Letzte aus sich herausgeholt. Warum haben Sie sich hier beim Schwimmen zurückgehalten? Sie hätten locker sowohl Ulf als auch Bodo schlagen können. Ja, ich glaube sogar, dass Sie schneller hätten sein können als Kevin, unser bester Schwimmer. Also warum?«

»Sie täuschen …«

»Wagen Sie es nicht, mir ins Gesicht zu lügen. Die Leichtigkeit, mit der Sie aus dem Wasser gekommen sind, Ihr Puls, die Art, wie Sie immer wieder das Tempo reduziert haben, als Sie zu dicht an Ulf herankamen. Ich bin weder blind noch blöd.«

Sie schaute auf den Boden.

»Ihre Mutter ist Olga Natasha Orlow, unsere erste olympische Goldmedaille in 400 Meter Freistil mit einer Zeit von 3:55,27. Es ist schwer, Ihre Leistungen in dem Wust an Informationen über ihre Mutter im Internet zu finden. Doch wenn man Geduld hat, dann findet man die kleine Natasha. Sie belegten bei allen Schwimmwettkämpfen, an denen Sie teilnahmen, den ersten Platz. Sie sollten der neu aufgehende Stern unter den deutschen Schwimmerinnen werden. Bis Sie auf einmal von heute auf morgen von der Bildfläche verschwanden, noch ehe die Welt bei den Olympischen Spielen auf Sie aufmerksam werden konnte.«

Natasha schloss die Augen. Genau davor hatte sie Angst gehabt. Dass jemand ihre Vergangenheit aufdecken würde. Sie liebte das Schwimmen über alles. Was sie gehasst hatte, war, im Rampenlicht zu stehen, auch wenn es zu dem Zeitpunkt gerade erst begonnen hatte. Doch sie hatte erlebt, wie man daran zerbrechen konnte.

»Okay, Kehlmann, ich lass Sie von der Leine. Gehen Sie unter die Dusche, packen Sie Ihre Tasche und dann gehen Sie nach Hause.« Oberst Wahlstrom erhob sich langsam, beinahe schwerfällig.

»Bedeutet das, Sie schmeißen mich aus dem Team?« Jede Wärme wich aus ihrem Körper. In ihrem Kopf erklang ein lautes Summen.

»Nein, ich werfe Sie nicht aus dem Team. Sie werfen sich selbst aus dem Team.«

Natasha hatte keine Ahnung, wie lange sie vor dem Startblock ihrer Bahn auf dem Boden sitzen blieb. Als sie sich erhob, zitterte sie am ganzen Körper.


Ben hatte bewusst langsam die Schwimmhalle verlassen. Die ganze Zeit lauschte er darauf, dass sich Natasha erhob, um ihm hinterherzulaufen und ihn umzustimmen. Innerlich fluchend nahm er zwei Treppenstufen auf einmal, um wenigstens etwas wieder runterzukommen. Warum waren die Besten immer die Anstrengendsten und Sturköpfigsten von allen? Was glaubte sie? Ihn verarschen zu können? Seine Stimmung sank noch ein paar Grad tiefer, als er sah, dass seine Bürotür offenstand. Drinnen fläzte sich Peter Abel, Kehlmanns Partner, auf dem Besucherstuhl, und Smart lag neben ihm. Mit dem Kopf auf den Pfoten schien er ihn aus vorwurfsvollen Augen anzuschauen.

Er schloss seine Tür vor dem Rest der Mannschaft, der draußen auf dem Flur herumlümmelte. Auch das noch. Sie hatte das gesamte Team hinter sich.

»Sie sind immer noch stocksauer«, merkte Abel an.

»Gut erkannt. Ein wohlgemeinter Rat, Abel – schwingen Sie Ihren Hintern aus meinem Büro, bevor ich mit Ihnen weitermache.«

Abel beugte sich vor. Er trug sein Pokerface, war nach außen vollkommen gelassen, doch in ihm knurrte der Pitbullterrier, von dem auch sein Spitzname ›Pit‹ herrührte. Er war an dem dunklen Grauton erkennbar, den seine Iris angenommen hatte. Man musste ihn schon sehr gut kennen, um das zu bemerken.

Ben kannte alle Stärken und Schwächen der Mitglieder seines Teams, das war sein Job. Er war für ihr Leben verantwortlich, wenn er sie in einen Einsatz schickte, und musste wissen, womit sie klarkamen und womit nicht.

Bisher hatte er keinen seiner Mitarbeiter verloren. Zwei hatten den Job hingeschmissen. Einer davon war der Partner von Peter Abel gewesen, genauso wie Sean, der aber aufgrund einer Verletzung ausscheiden musste. Seine dritte Partnerin, Carolina Herrmann, hatte zu Mark Becker gewechselt, nachdem dessen Partner den Dienst quittiert hatte.

Generalmajor Hartmann, der oberste Chef der Abteilung und verantwortlich für Verwaltungsaufgaben der Sondereinheit, die viel politisches Fingerspitzengefühl erforderten, hatte daher potenziell interessante Kandidaten und Kandidatinnen zu einem Auswahlverfahren eingeladen.

Normalerweise war das seine Aufgabe. Auch beim abschließenden psychischen und physischen Leistungstest der letzten sechs Kandidaten – darunter eine Frau, Natasha Kehlmann – war er nicht dabei gewesen. Generalmajor Hartmann war für ihn eingesprungen. Am Ende hatte es keiner der Anwärter geschafft, die Anforderungen zu meistern. Abel hatte den Parcours bewusst derart gestaltet, dass Kehlmann durchfiel, wenn auch verdammt knapp. Hartmann hatte daraufhin die Entscheidung getroffen, für sie eine Ausnahme zu machen und sie auf Probe in die Einheit aufzunehmen.

Das Mädel hatte in der Tat nicht lange gebraucht, um überall Leistungssteigerungen zu verbuchen, nicht zuletzt weil Hartmann Pit gezwungen hatte, sie unter seine Fittiche zu nehmen. Sein Verbleib im Team hatte er mit Natashas Erfolg, ein Teil des Teams zu werden, verknüpft.

Ben hasste es, wenn Hartmann anfing, sein manipulatives Spiel zu spielen. Einst war er selbst ein Opfer davon gewesen. Dennoch, so musste er zugeben, besaß der Mann eine nahezu untrügliche Menschenkenntnis. Natasha war eine echte Bereicherung für das Team. Ihr Talent, Menschen zu verhören, und die 27 Sprachen, die sie beherrschte, hatten zu ihrem Spitznamen ›Brain‹ geführt. Aber wo es Licht gab, gab es Schatten, und ihr Schatten war gerade eindeutig zu einem Problem für ihn geworden.

Es störte ihn nicht, wenn seine Leute eigenwillige Entscheidungen trafen. Das gehörte zu ihrem Job. Egal wie gut man einen Einsatz plante, es gab immer etwas, was schieflief. Darauf mussten sie flexibel reagieren, trotz der Stresssituation, in der sie sich befanden. Jedes Teammitglied von Themis war eine starke Persönlichkeit, jeder auf seine Art und Weise. Das Problem mit Natasha war, dass sie sich oberflächlich betrachtet vollkommen in das Team integrierte, doch sah man genau hin, so merkte man, dass sie einen Teil von sich außen vor hielt. Es war eine Eigenschaft, die er nur allzu gut von seiner Frau Hanna kannte. Natasha blieb am Rande des Teams in gewisser Weise eine Einzelgängerin.

Im Gegensatz dazu führte sich ihr Partner Abel nach außen hin als ein typischer Einzelgänger auf, doch war er innerlich ein absoluter Teamplayer. Auf ihn war hundertprozentig Verlass. Er war der Typ Anführer, der erst das untergehende Schiff verließ, wenn alle seine Leute in Sicherheit waren. Alle Mitglieder des Teams Themis waren Platzhirsche, egal ob männlich oder weiblich. Wenn es hart auf hart ging, vertrauten sie jedoch auf die Führung von Abel. Ihm war es zu verdanken, dass bei dem Einsatz, in dem sein Partner Sean die Verletzung erlitten hatte, dass ganze Team lebendig nach Hause zurückgekommen war.

Wegen Natasha hatte das Team eine Wette laufen gehabt, ob sie es ins Team schaffen würde oder nicht, das wusste er. Drei zu sieben hatte es gestanden. Er hatte heute gesehen, wie die sieben genauso erpicht darauf waren, dass sie ein fester Bestandteil von Themis wurde, wie die drei, die von Anfang an an sie geglaubten hatten: Carolina, Bodo und Gabriella – die Attraktivste, der Stillste und die Lauteste im Team.

»Wir wollen Natasha.«

»Es ist mein Job, zu entscheiden, wer ins Team kommt und wer nicht.«

»Das ist mir klar, und keiner von uns stellt das infrage.«

»Ach ja?« Trotz seiner schlechten Laune hob Ben halb belustigt die Brauen. Selbstverständlich würden sie seine Entscheidung infrage stellen, wenn ihnen klar wurde, dass Kehlmann rausflog. Und in dem Fall musste er sich noch eine schlaue Begründung einfallen lassen, warum Abel drinblieb, trotz der Bedingung von Generalmajor Hartmann. Ben war klar, dass er vor einer echten Zerreißprobe stand, die seine Autorität und das Vertrauen in ihn infrage stellen würde.

»Wenn es um die Bedingung geht – ich werde Hartmann erklären, dass Sie Ihren Teil der Abmachung eingehalten haben und Kehlmann die geforderten Leistungen im Test zeigte.«

»Woran liegt es dann?«

»Wissen Sie, weshalb ich stocksauer bin?« Ben beugte sich vor. Abel war der Schlüssel. Wenn er ihn auf seine Seite bekäme, würden die anderen folgen.

Eine Weile betrachtete Abel ihn. Sein Spezialgebiet war das tagtägliche Training der Mannschaft, und darin war er einsame Spitze. Vor allem die Mädel brachte er auf Vordermann. Mit seinen Erfahrungen als Bruder von vier Schwestern verfügte er über ein erstaunliches Einfühlungsvermögen, um die Frauen im Team zu Höchstleistungen anzuspornen. Wenn einer erkannte, wo das Problem lag, dann er.

»Lassen Sie sie den Schwimmtest morgen wiederholen und sie wird besser sein.«

Ben musterte seinen Mitarbeiter. »Besser?«

»Geben Sie ihr einfach ein bisschen mehr Zeit.«

»Wissen Sie, wie schnell sie wirklich ist, wenn sie alles gibt?«

»Nein«, gab Pit zähneknirschend zu. Wann immer er Natasha beim Schwimmen zusah, konnte er sich der Faszination, sie in diesem Element zu sehen, nicht entziehen. Es war, als würde sie eins werden mit dem Wasser. Eine verdammte Meerjungfrau.

»Wissen Sie, warum Sie es nicht wissen?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wer ihre Mutter ist?«

»Ja.«

»Haben Sie sie kennengelernt?«

»Nein.«

»Redet Kehlmann mit Ihnen über ihre Eltern?«

»Nein.«

»Besucht sie ihre Eltern?«

»Ja. – Okay, was wird das hier, ein Verhör?« Pit rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Oberst Wahlstrom, Sie wollen Natasha doch nicht ernsthaft aus dem Team werfen.«

»Wie ich bereits Ihrer Kollegin sagte – nicht ich werfe sie aus dem Team, sondern sie wirft sich selbst raus.«

»Warum? Nur weil sie beim Schwimmen nicht alles gibt? Sie können sicher sein, dass sie im Einsatz alles geben wird.«

»Was macht Sie da so sicher?«

Pit atmete tief durch. »Ich weiß es einfach.«

»Tut mir leid, das reicht mir nicht.«

»Geben Sie mir 24 Stunden.«

»Und dann?« Ben sah, wie Abel einen Moment zögerte, bevor er tief durchatmete. »Danach stehe ich voll hinter Ihnen, wenn Sie dem Team sagen, dass Natasha rausfliegt.«

Ben nickte. »24 Stunden.«

Ohne eine für ihn sichtbare Aufforderung war der Hund direkt an Abels Bein, kaum dass dieser sich erhob und das Büro verließ. Ben sah den zweien mit gemischten Gefühlen nach.


Peter schaute als Erstes in ihr gemeinsames Büro. Keine Spur von Natasha. Er fühlte, wie die anderen ihn beobachteten und versuchten, aus seinem Gesicht abzulesen, was vorgefallen war. Aber niemand sprach ihn an. Kein Grund, die anderen mit reinzuziehen. So sehr es ihm gegen den Strich ging, Wahlstrom hatte recht. Es gab etwas in Natasha, das für das Team zum Problem werden konnte. Nicht umsonst beinhaltete das psychologische Profil seiner Partnerin, das Dr. Franziska Naumann, die Psychologin, mit der jedes Teammitglied regelmäßig Gespräche führen musste, weiterhin zwei Einschränkungen: ihre Empathie und ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen. Ihre Empathie war eine Stärke bei den Verhören, konnte aber beim Verarbeiten dessen, womit sie in ihrer Arbeit konfrontiert wurden, problematisch werden.

Nicht dass er das psychologische Profil seiner Partnerin mit der Ärztin besprochen hätte. Es reichte ihm, mit ihr zusammenzuarbeiten, um zu wissen, dass sie einen verletzbaren Kern besaß, den sie gut zu schützen wusste. Was ihre Risikobereitschaft anging, so hatte er zuerst angenommen, diese fehle ihr vollkommen. Inzwischen wusste er, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Sie ging zu viele Risiken ein. Ohne die geringste Erfahrung mit Hunden hatte sie den Zwinger von Akiro betreten, weil sie glaubte, etwas verbinde sie mit dem traumatisierten Hund. Er hatte sie angegriffen und verletzt, am Ende jedoch hatte sie recht behalten, und Akiro hatte den Wesenstest bestanden. Vor vier Wochen hatte Jake Benedict, ein amerikanischer Soldat, in dessen Einheit der Hund seinen Militärdienst absolviert hatte, Akiro adoptiert.

Natasha hatte es das Herz gebrochen, den Hund gehen zu lassen. Mindestens einmal am Tag kam ein Bild oder eine Textnachricht von Jake aus den USA. Statt sich um den Hund zu kümmern, ließ Jake ihn die meiste Zeit in der Familie seines Bruders. Nach Peters Ansicht war er kein Familienhund. Was er brauchte, war ein psychologischer Anker. Das war Natasha für ihn gewesen. Er hatte das Thema bereits mit Malte, einem Hundetrainer und guten Freund von ihm, besprochen und beschlossen, mit Jake ein ernsthaftes Gespräch über die Verantwortung für ein Tier zu führen.

Bodo hielt ihn auf, als er die Treppe in den Keller nehmen wollte.

»Wenn du Natasha suchst – sie hat sich vorhin rausgeschlichen. Was ist los? Wahlstrom denkt nicht ernsthaft darüber nach, sie rauszuwerfen?«

Bodo war der stille, introvertierte Typ und sah mehr als jeder andere im Team. Wenn es bei einem Tatort um Spuren ging, war er unschlagbar. Er schaffte es, aus geringem Spurenmaterial einen ganzen Tathergang zu rekonstruieren. Es war schon ausgesprochen irritierend, dass er ausgerechnet mit der temperamentvollen, extrovertierten Gabriella ein Team bildete. Doch es funktionierte hervorragend.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Sag den anderen nichts. Wahlstrom hat mir ein Zeitfenster von 24 Stunden eingeräumt. Hast du eine Ahnung, wohin sie gegangen ist?«

»Nein. Sieh zu, dass du das geradebiegst, nicht nur im Interesse des Teams. Wenn du sie verlierst, musst du dich auf die Suche nach einem neuen Partner machen.«

Allein bei dem Gedanken lief es Peter eiskalt den Rücken hinunter. Er wollte keinen anderen Partner. Er wollte seine Natasha behalten.

2

Orientierung

Natasha wusste nicht, wann sie das letzte Mal einfach so durch Berlin gestreift war. Sie beobachtete die Menschen auf der Straße, in den Kaufhäusern, in den Restaurants und den Cafés. Den Menschen, die verloren auf ihre Straßenkarten schauten, half sie, sich zu orientieren. In Berlin begegnete man einer Menge Touristen aus aller Herren Länder. Irgendwann wurden die Straßen ruhiger, durch die sie ging. Es gab weniger Verkehr, und weniger Menschen waren unterwegs. Schließlich stand sie vor einem Wohnhaus in Berlin Pankow. In den letzten Monaten war ihr wenig Zeit für Besuche geblieben. Das würde sich wohl bald wieder ändern. Sie klingelte.

»Ja?«

»Hallo Sybille, ich bin’s, Natasha. Ich möchte Frau Franke besuchen.«

Ein Summen ertönte. Sie betrat das Treppenhaus und stieg in den vierten Stock.

»Natasha, das ist aber schön, dass du mal wieder vorbeischaust.« Sybille, die eine Küchenschürze über dem Rollkragenpulli trug, nahm sie in den Arm. »Du bist schmal geworden. Hast mehr Muckies bekommen.«

»Das macht das viele Training. Stör ich?«

»Ach was, wir backen gerade Plätzchen für unseren Tag der offenen Tür. Bianca sticht welche aus. Wenn du möchtest, kannst du uns helfen. Aber erst mal kriegst du einen Becher Kakao.«

Nicht nur Bianca, auch die anderen beiden Mitbewohnerinnen der WG waren in der Küche mit Teigkneten, Ausstechen und Plätzchenverzieren beschäftigt. Im Hintergrund lief das Radio.

»Hallo, Frau Franke«, sagte Natasha und setzte sich neben die schmale, gebrechliche Gestalt an den Tisch.

Dunkle, ausdruckslose Augen streiften kurz ihr Gesicht, dann widmete die Frau sich wieder dem Ausstechen, als erforderte die Arbeit ihre ganze Konzentration.

Sybille legte Natasha mit einem Lächeln die Hand auf die Schulter und stellte ihr einen Becher Kakao vor die Nase. »Sag doch ruhig ›Bianca‹ zu ihr.«

Das brachte Natasha einfach nicht über sich. Für sie würde die Mutter ihrer besten Freundin Marietta immer Frau Franke bleiben.

»Bianca, sei so lieb und reich Natasha den Entenausstecher rüber, dann kann sie dir helfen.«

Ohne Natasha anzusehen, schob die Angesprochene ihr eine Ausstechform zu. Eine Weile sprach niemand. Jede arbeitete still vor sich hin. Natasha wusste nie, wie sie sich verhalten sollte. Es fiel ihr schwer, die Frau von früher mit der von heute zusammenzubringen. Krampfhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Thema, über das sie reden konnte.

»Erinnern Sie sich noch, wie begeistert Sie von dem Buch ›Der Alchimist‹ von Paulo Coelho waren? Ich hab es jetzt gelesen. Denken Sie, er musste die Reise antreten und alles erleben, um zu verstehen?«

Keine Antwort.

»Ich denke ja, denn erst durch seine Erlebnisse verstand er, was wirklich wichtig für ihn war«, sprang Sybille ein, als Bianca keine Anstalten machte, ihr zu antworten. Zwischen Natasha, Sybille und den beiden Mitbewohnerinnen entstand ein lebhaftes Gespräch über Bücher und Filme. Heiße Bleche wurden aus dem Backofen gezogen, mit neuen ausgestochenen Plätzchen belegt und die fertigen dekoriert. Nach zwei Stunden waren die Dosen voll.

Kaum war die Arbeit beendet, erhob Frau Franke sich ohne ein Wort des Abschieds und zog sich in ihr Zimmer zurück. Die beiden anderen Frauen gingen zum Kartenspielen ins Wohnzimmer. Natasha half Sybille, die Küche in Ordnung zu bringen.

»Ich weiß, für dich sieht es nach nicht viel aus. Aber sie kommt in die Küche, hilft uns und ist auch bei dir sitzen geblieben. Das ist für sie ein enormer Fortschritt.«

»Ich weiß, es ist nur …« In einer hilflosen Geste zog sie die Schultern hoch.

»Sei geduldig, gib ihr Zeit. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Ohne dich wäre sie verloren gewesen. Sie wäre vor die Hunde gegangen, ein Sozialfall geworden, vielleicht sogar auf der Straße gelandet, oder sie hätte sich das Leben genommen.«

»Es ist zehn Jahre her. Verdammte zehn Jahre.«

»Du kannst es nicht in Jahren berechnen. Du musst es an den Fortschritten messen. Sie ist aus der geschlossenen Abteilung raus. Sie nimmt wieder Alltagsaufgaben wahr. Manchmal schaut sie mit uns zusammen einen Film an. Und neulich hat sie sogar gelacht.«

»Sie hasst mich, weil ich lebe und Marietta tot ist.«

Sybille seufzte. »Okay, was ist passiert?«

»Wie meinst du das?«

»Ich sehe dir an, dass du am Boden zerstört bist. Hat es mit deinem neuen Job zu tun?«

»Sie haben mich rausgeworfen.«

»Dann müssen sie ziemliche Idioten sein.«

»Nein, sind sie nicht. Ich bin selbst schuld.«

»Warum, was hast du gemacht?«

»Versprichst du mir, nicht zu lachen?«

»Ich versuch’s.«

»Ich war zu schlecht im Schwimmen.«

Sybille brach in Gelächter aus.

»Das ist nicht lustig«, brummte Natasha verstimmt.

»Konntest du nicht mehr geben oder wolltest du nicht?«

»Letzeres.«

»Wieso um alles in der Welt?«

»Weil ich nie wieder die Beste sein will. Das habe ich mir an Mariettas Grab geschworen.«

»Aber das ist doch purer Unfug. Du versuchst, überall die Beste zu sein, und du liebst das Schwimmen. Dass du besser warst als Marietta, hat nichts damit zu tun, dass sie sich das Leben genommen hat. Ihr beide seid durch die Hölle gegangen, und jede von euch ist anders damit umgegangen. Du kannst dir für Mariettas Tod nicht die Schuld geben.«

»Sie war der Liebling der Presse. Sie war in der Marian mit einem großen Interview, und sogar auf der Titelseite. Dann kam ich zurück und sie war wieder Zweite.« Sie zuckte mit den Schultern.

Sybille nahm sie in den Arm. »Wenn du diesen Job willst, geh zu deinem Boss und erklär es ihm, oder ist es eine Frau?«

»Mann.«

»Also, erkläre deinem Boss, warum du dich zurückgehalten hast, dann wird er es verstehen.«

»Du kennst ihn nicht.«

»Das stimmt«, gab Sybille zu und verpasste ihr eine Kopfnuss, »aber ich kenne dich und deinen Dickschädel. Wenn du dir was in den Kopf gesetzt hast, schaffst du es. Lebe und liebe, Natasha, du hast es verdient wie jeder andere Mensch auch. Das hätte auch Marietta gewollt. Ganz bestimmt.«


Zum zweiten Mal an diesem Tag stand Natasha vor einem Wohnhaus. Diesmal hatte es drei Etagen. Für das Erdgeschoss stand auf einem Messingschild: Praxis für Innere Medizin Dr. Elisabeth und Tom Jung. Dieselben Namen standen auf dem Klingelschild für die Wohnung im mittleren Stock. Auf dem obersten Namensschild stand »Rosenbaum/Wahlstrom«.

Sie spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Was, wenn er ihr erst gar nicht die Tür aufmachte? Was, wenn er ihren Versuch zur Erklärung direkt abblockte? Sie schloss die Augen. Jetzt reiß dich verdammt noch mal am Riemen, er ist auch nur ein Mann. Energisch drückte sie auf die Klingel.

»Natasha? Bist du das?«, erklang eine Frauenstimme.

Irritiert blinzelte Natasha. Woher …? Dann bemerkte sie die Kamera an der Haustür und lächelte. »Ja, ich bin’s.«

»Komm rauf und zieh dir vor der Wohnungstür die Schuhe aus.«

Jede Treppenstufe, die sie ihrem Ziel näherbrachte, war für sie schwerer zu erklimmen. Die Wohnungstür stand einen Spalt offen. Natasha zog die Turnschuhe aus. Auf Socken betrat sie den Flur. Sie hörte leise klassische Musik aus einem der hinteren Räume.

»Du kannst dich ins Wohnzimmer setzen!«, rief Hanna über den Korridor. »Ich bin gleich bei dir, ich will nur noch den Effekt an dem Bild testen. Wenn du was trinken möchtest – in der Küche steht alles. Bedien dich einfach. Ben wird noch ein Weilchen mit Einkaufen beschäftigt sein.«

Natasha schaute in den Raum auf der rechten Seite, dessen Tür weit offen stand, und grinste, weil sie intuitiv richtig geraten hatte. Eine große, gemütliche Couch mit Chaiselongue-Elementen und einer Menge kuscheliger Kissen dominierte das Zimmer. An allen Wänden hingen eingerahmte Landschaftsszenen, Menschen, Tiere, Pflanzen, Sonnenauf- und -untergänge. Jedes Foto für sich fing das Wunder des Lebens ein.

»Hi.« Hanna lehnte barfuß, in Jogginghose und Sweatshirt am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Hi.« Verlegen richtete Natasha die Aufmerksamkeit auf die Frau ihres Chefs. »Es tut mir leid, dass ich einfach so unangemeldet hier reinplatze.«

»Kein Problem.« Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Hannas Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich wäre enttäuscht gewesen, wenn du nicht gekommen wärst.«

»Warum? Das verstehe ich nicht.«

»Erinnerst du dich an die Bilder, die ich von dir gemacht habe?«

»Wie könnte ich sie vergessen?«

»Das bist du, eine Frau, die genau weiß, was sie will. Mutig und entschlossen. Nicht jemand, der vor einem Hindernis, das sich ihm in den Weg stellt, kneift. Ist dein Plan damals aufgegangen?«

»Für mich ja.«

»Es tut mir leid, dass du deine Freundin verloren hast.«

»Mir auch.«

»Du kannst nicht das Leben für andere leben.«

»Ich weiß, aber ich kann sie beschützen.«

»Ja, das kannst du. Magst du einen Tee?«

»Gerne.«


Ben schleppte die Einkaufstaschen zur zweiten Etage hoch. Hanna hatte ihm eine lange Einkaufsliste gemacht – zum Abreagieren – und es hatte tatsächlich funktioniert. Er hoffte, dass sie bereits gekocht hatte. Ihm knurrte der Magen. Schnuppernd hob er die Nase und blieb abrupt im Flur stehen. Im Wohnzimmer hörte er zwei Frauen lachen. Das zweite Lachen klang weder nach seiner Schwester Lisa noch nach seiner Schwägerin Marie, Hannas Zwillingsschwester.

Er stellte erst die Einkaufstaschen auf dem Küchentisch ab, bevor er neugierig ins Wohnzimmer blickte. Seine Frau lachte nur mit wenigen Menschen, und bisher hatte er geglaubt, alle von ihnen zu kennen. Kaum erkannte er den Gast, der dort mit seiner Frau zusammenstand, sank seine Laune auf den Gefrierpunkt. »Kriminalhauptkommissarin Kehlmann«, stieß er hervor und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie strahlte noch, als sie sich zu ihm umwandte. »Oberst Wahlstrom«, sagte sie dann, und das Lächeln wich aus ihrem Gesicht.

Hanna ging an ihm vorbei, drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Siehst du, ich hatte recht«, wisperte sie ihm ins Ohr und fügte laut hinzu: »Ich koche Linsen-Dal. Möchtest du mit uns essen?«

»Nein.«

»Nein danke«, erwiderte Natasha höflich und senkte den Blick. »Es tut mir leid, dass ich Sie zu Hause überfalle.«


So wie er dort am Türrahmen stehen blieb, machte er ihr überdeutlich, dass sie unerwünscht war. Man, ist das ein harter Brocken, stöhnte sie innerlich auf. »Darf ich mich setzen?«

Weder verweigerte er es ihr, noch sandte er irgendein körperliches Signal aus, dass es in Ordnung sei. Sie entschied, sich einfach hinzusetzen. Was sie erzählen wollte, konnte sie unmöglich im Stehen loswerden. Sie verknotete nervös die Finger miteinander. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

»Es tut mir leid, Oberst Wahlstrom, Sie hatten recht. Ich hätte beim Schwimmen mein Bestes geben müssen. Dafür gibt es keine Entschuldigung.«

Ein abgrundtiefes Seufzen ertönte. Sie hörte seine Schritte, dann ließ er sich ihr gegenüber auf einem der Sessel nieder, die gegenüber der Couch standen. »Weshalb sind Sie hier?«

»Sie sagten, dass Sie mich nicht aus der Sondereinheit werfen, sondern dass ich mich selbst rausgeworfen hätte. Sie möchten wissen, weshalb ich mich beim Schwimmen zurückhielt. Sie glauben, der Grund sei etwas, das im Einsatz ein Problem darstellen könnte.« Sie sah ihm geradewegs in die Augen.

»Nur zu. Reden Sie weiter.« Er lehnte sich im Sessel zurück.

»Das ist nicht so leicht, wie Sie denken.«

»Kehlmann, ich muss wissen, welche Leistung Sie erbringen können. Wie sonst soll ich in den Einsätzen entscheiden, wer wofür der Geeignetste ist? Das kann aber für das Team überlebenswichtig sein.«

»Ich weiß, und ich kann Ihnen versichern, dass ich für das Team immer das Beste geben werde.«

»Wirklich? Wissen Sie, was ich sehe? Ich sehe eine Frau, die Geheimnisse hat. Jemanden, der sich scheinbar in ein Team einbringt und ein Teil davon ist, aber in Wahrheit für sich bleibt. Jemanden, der etwas aus seiner Vergangenheit tief in sich vergräbt, von dem ich nicht weiß, ob es vielleicht in einer extremen Stresssituation hervorbricht. Wir sind nicht nur ein Team, Kehlmann, wir sind eine Familie. Und ich frage mich, ob sie wirklich bereit sind, ein Teil von uns zu sein, mit allen Konsequenzen.«

»Ich bin ein Einzelkind. Ich brauche einen Rückzugsort. Ich hatte nie Geschwister, keine Cousinen und keinen Cousin. Ich war immer anders als die anderen, und von mir wurde immer mehr erwartet. Ich habe gelernt, mich in eine Gruppe zu integrieren, doch ich brauche auch meine Privatsphäre. Und wenn Sie ehrlich sind, werden Sie zugeben, dass die jeder von uns braucht. Ich weiß auch nicht alles über Sie.«

»Stimmt.«

»Warum ist es dann ein Problem für Sie, wenn Sie nicht alles von mir wissen?«


Ihre Stimme war sanft, ihr Blick offen und verständnisvoll. Sie hörte zu, wollte wissen, wollte verstehen und akzeptieren. Er spürte sein inneres Nachgeben. »Wie ich bereits sagte, ich muss mir über Ihre Reaktionen in einer Stresssituation absolut sicher sein. Ich kann Sie einfach nicht greifen, Kehlmann.«

Sie saugte ihre Ober- und Unterlippe zwischen die Zähne und nickte langsam. »Verstehe. Ich möchte, dass das, was ich Ihnen jetzt erzähle, unter uns bleibt.«

»Mein Ehrenwort.«

Sie rückte auf die Kante der Couch, legte die Arme auf die Knie. »Bevor ich laufen lernte, konnte ich bereits schwimmen, und das ist kein Scherz. Meine Mutter fing an, mich richtig zu trainieren, als ich keine drei Jahre alt war. Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie hatte in ihrer sportlichen Karriere alles erreicht, was sie erreichen wollte. Ich war nicht etwa der Ersatz für ihren Traum. Sie machte es, weil ich ihr Talent geerbt hatte. Es war für mich nie fraglich, ob ich in den Leistungssport gehen würde oder nicht. Ich liebe das Schwimmen. Wasser ist mein Element.«

»Keine Frage. Jeder kann das sehen, wenn er Sie im Wasser beobachtet.«

»Neben der Schule und dem Schwimmen blieb mir keine Zeit für andere Aktivitäten. Meine beste Freundin war eine Schwimmerin wie ich. Wir waren derselbe Jahrgang. Sie war die ewig Zweite im Wettbewerb. Mit fünfzehn hatte ich einen Fahrradunfall. Ich zog mir einen Bruch in der linken Schulter zu, nichts Dramatisches, aber zum ersten Mal in meinem Leben musste ich eine Pause einlegen, und um die Rekonvaleszenzzeit und den damit verbundenen Trainingsverlust gering zu halten, bekam ich ein Schmerzmittel, das auf der Dopingmittelliste stand. So lange das Mittel in meinem Blut nachweisbar war, durfte ich nicht in offiziellen Wettkämpfen starten. Das war die Stunde des Ruhms für Marietta.«

Sie schwieg und begann, ihre Hände zu kneten. »Als ich wieder starten durfte, verdrängte ich Marietta sofort vom ersten Platz. Sie hat das nicht verkraftet. Sie nahm sich das Leben, und ich stieg aus dem Leistungssport aus und schwor mir, nie wieder die Erste bei einem Schwimmwettbewerb zu sein.«

Ihre grünen Augen schimmerten feucht, doch keine Träne stahl sich daraus hervor. Ihm war klar, dass hinter diesen einfachen Worten noch viel mehr steckte, aber mehr würde sie nicht erzählen.

»Wie schnell können Sie die 400 Meter schwimmen?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Ehrlich.«


Er musterte sie eine Weile schweigend, dann stand er auf. Natasha sah ihm nach. Alles in ihr fühlte sich taub an, in ihren Ohren rauschte es. Es war aus. Ihre Antwort reichte ihm nicht. Sie musste aufstehen und gehen, doch sie schaffte es nicht, ihrem Körper diesen Befehl zu erteilen.

Er kam zurück, setzte sich diesmal neben sie auf die Couch. In der Hand hielt er eine schmale, längliche Schachtel, die er ihr hinhielt. Sie starrte die Schachtel verständnislos an.

»Nehmen Sie, bevor ich es mir anders überlege.«

»Was ist das?«

»Machen Sie es auf.«

Zögernd nahm sie das Kästchen aus seiner Hand und klappte es auf. Darin lag eine Uhr, wie sie jeder vom Themis-Team trug. Eine Sportuhr mit Tiefenmesser, Höhenmesser, Kompass, automatischer Einstellung auf die Zeitzone sowie einer Beleuchtung, die das Ablesen im Dunkeln ermöglichte, ohne ein Signalfeuer zu verursachen. Ehrfürchtig nahm sie die Uhr aus dem Kästchen und drehte sie um. Dort war das Abbild von Themis, der Göttin der Gerechtigkeit in der griechischen Mythologie eingraviert, darunter die Initialen NK.

Überrascht sah sie ihn an. »Das verstehe ich nicht.«

Er zuckte mit den Achseln. »Weder Generalmajor Hartmann noch ich hatten Zweifel, dass Sie den Aufnahmetest bestehen würden. Noch mal, nicht ich hätte sie aus der Einheit geworfen, sondern Sie sich selbst.«

»Heißt das, ich bin aufgenommen?«

»Wonach sonst sieht das Ihrer Meinung nach aus?«

Am liebsten wäre sie ihm vor Freude um den Hals gefallen, aber sie hielt sich wohlweislich zurück.

»Enttäuschen Sie mich nicht noch einmal, Kehlmann.«

»Das werde ich nicht, Oberst Wahlstrom. Versprochen.«


Ben ließ nachdenklich den Wein im Glas kreisen. Hanna hatte den Kopf in seinen Schoß gelegt und machte, was sie am besten konnte: schweigen. Das war gefährlicher, als wenn sie ihm zig Fragen gestellt hätte.

»Es reicht.« Sie erhob sich vom Sofa und lief hinaus.

Verblüfft sah Ben ihr nach.

Als sie wiederkam, hatte sie ihren Laptop dabei. Sie setzte sich diesmal im Schneidersitz neben ihn und hielt den Computer fest an ihre Brust gepresst. »Das, Oberst Ben Wahlstrom, widerspricht absolut meiner Berufsethik, und das weißt du. Schwöre mir hoch und heilig, dass das, was ich dir jetzt zeige, unter uns bleibt. Und zwar nur unter uns, ohne Wenn und Aber. Auch nicht Karl, verstanden?«

Viel zu sprachlos, um ihr zu antworten, legte er eine Hand aufs Herz.

Sie klappte den Laptop auf. Er rutschte zu ihr hin, sodass er mit auf den Bildschirm schauen konnte, sah eine Schwimmhalle mit Kindern. Eine Frau in einem leichten Trainingsanzug und mit einer Trillerpfeife im Mund war vollkommen auf die Schwimmer und Schwimmerinnen konzentriert. Sie hatte ein klassisches Profil, die langen, glatten Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Licht reflektierte goldene Töne im Haar. Es folgten Porträtaufnahmen. Ein ernster, melancholischer Ausdruck lag in ihren grünen Augen. Ihre waren dunkler als die ihrer Tochter, hatten braune Sprenkel. Es folgte ein Bild von zwei Mädchen, die beide den Arm über die Schulter der jeweils anderen gelegt hatten. Das eine trug ein breites Grinsen im Gesicht, das andere verzog den Mund zu einem schüchternen Lächeln. Ob es an der Haltung lag, der Vertrautheit der Berührung? Für den Betrachter war es offensichtlich, dass die beiden Mädchen ein Herz und eine Seele waren.

»Sie waren mehr als nur beste Freundinnen. Marietta war wie Marie, laut, frech und immer mitten im Geschehen. Natasha hingegen ähnelt mir. Aber das brauche ich dir nicht zu sagen, denn genau deshalb hast du ein Problem mit ihr.«

»Habe ich nicht.«

»Oh doch, mein Lieber, das hast du. Du liebst mich, und doch gibt es da ganz hinten in deinem Herzen eine Stelle, die verletzt ist, weil ich dir nicht alles erzählt habe. Und genau den Teil unserer Beziehung projizierst du auf Natasha.«

»Ihre Mutter sieht streng aus.«

»Diszipliniert. Sie liebt Natasha, aber ihrer Ansicht nach vergeudet sie ihr Talent.«

»Danke.«

»Das war es nicht, was ich dir zeigen wollte. Sie hat die Bilder ins Internet gestellt und mir nie verboten, sie zu zeigen.« Sie startete eine zweite Diashow auf dem Bildschirm.

Im ersten Moment wollte Ben sich abwenden, weil er es definitiv ablehnte, in die Privatsphäre seiner Angestellten einzudringen, was sie in seinen Augen hier taten. Es war ein Aktshooting. Natashas nackter, muskulöser Rücken, ihre Finger auf ihren Schulterblättern. Das eine Bein war aufgestellt, das andere lag angewinkelt am Boden. Sie hielt den Kopf schräg, ihre langen Haare fielen in weichen Wellen, ließen nur die Nasenspitze erkennen. Hanna hatte mit viel Licht und Schatten gearbeitet. Nie sah man einen nackten Busen oder ihr Geschlecht. Nirgendwo wirkte etwas obszön oder sexuell stimulierend. Stattdessen sah man eine Frau, die sich ihrer Weiblichkeit und Verletzlichkeit nicht schämte, die deshalb umso stärker wirkten – geheimnisvoll, sinnlich und trotz ihrer Blöße unerreichbar. So stellte er sich Athene vor, die Göttin der Weisheit und des Krieges.

»Zweifelst du immer noch, ob du ihr vertrauen kannst?«

»Nein«, erwiderte er leise, beinah ehrfürchtig. »Wieso hat sie das Fotoshooting gemacht, und wieso hat sie die Bilder ins Internet gestellt?«

Hanna lächelte und klappte den Laptop zu. »Du musst nicht alles wissen. Vertrau ihr. Sie ist mit Leib und Seele Polizistin.«

3

Geheimnisse

Peters Versuche, Natasha über ihr Smartphone zu erreichen, schlugen fehl. Die Anrufe wurden direkt auf die Mailbox geleitet. Er hinterließ eine Sprachnachricht und schickte ihr eine SMS. Ihm fielen nur zwei Orte ein, wo sie sein konnte. Zuerst versuchte er es bei ihrer Wohnung. Trotz hartnäckigen Schellens machte ihm niemand auf. Sein nächster Stopp führte ihn Richtung Potsdam, wo Malte seine K9-Hundezucht und -ausbildung betrieb. Kaum war er aus dem Auto, kam Malte zum Tor gejoggt und hielt inne, als er niemand Weiteren aus dem Auto steigen sah.

»Was ist passiert? Sag mir nicht, sie ist durch den Leistungstest gerasselt.«

»Doch, ist sie.«

»Du hast selbst gesagt, dass sie topfit ist!«

»Ist sie auch. Sie hat alles geschafft.«

»Aber?«

»Sie hat beim Schwimmen nicht alles gegeben.«

»Wie schnell war sie?«

»Sie hat die sechstbeste Zeit hingelegt.«

»Okay. Ich versteh das Problem. Werd mal mit Ben reden.«

»Das brauchst du nicht, ich habe mit ihm gesprochen, und er gibt mir ein Zeitfenster von 24 Stunden, wovon drei inzwischen verstrichen sind. Hat sie sich bei dir gemeldet?«

»Nein.« Nachdenklich schob er sich die Kappe in den Nacken, runzelte die Stirn, griff nach seinem Smartphone und wählte eine Nummer. Peter verdrehte die Augen.

»Denkst du, ich wäre blöd?« Er bekam keine Antwort, weil die Angerufene direkt abnahm.

»Hi Marina, hast du eine Ahnung, wo Natasha sein könnte, wenn sie ein wenig Abstand zum Nachdenken braucht?« Malte lauschte und seufzte. »Okay, na ja, war einen Versuch wert. – Gute Idee.«

»Sorry, hätte mir denken können, dass du mich nicht für blöd hältst. Auf Marina hätte ich auch kommen können.« Sie war Hundetrainerin bei Malte und hatte einen Draht zu Natasha.

»Sie hat keine Ahnung, aber sie sagt, wir sollten Jake fragen.«

Peter verzog das Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. Jake … Ständig schickte er Natasha Nachrichten. Je öfter er damit ein Schmunzeln in ihr Gesicht zauberte, desto mehr ärgerte sich Peter. Er war froh, dass der Atlantik zwischen den beiden lag. Bevor er Malte bremsen konnte, hatte der ein zweites Mal sein Smartphone am Ohr.

»Hi Jake. Ruf Pit zurück, sobald du diese Nachricht erhältst. Es geht um Brain.« Er legte auf. »Was ist mit Marla? Sind die zwei nicht befreundet?«

Langsam kam sich Peter wirklich wie ein Idiot und nicht wie ein Polizist vor. Er wählte die Nummer seiner Freundin. Bevor er etwas sagen konnte, hörte er Marlas sexy, rauchige Stimme am anderen Ende sagen: »Die Antwort lautet ›Ja, bei wem?‹.«

Er grinste. »Bei mir, heute Abend.« Sie war die erste unter seinen Freundinnen, die mit seinem eigenen sexuellen Appetit locker mithalten konnte. Malte verdrehte die Augen. Purer Neid, dachte Peter, wobei Malte seit über 25 Jahren mit seiner Susanne verheiratet war und sich unter Garantie auch nicht beklagen konnte. Die beiden führten sich oft genug wie verliebte Teenager auf. »Aber deshalb rufe ich nicht an.«

»Ach nein?«

»Marla, wenn Natasha über etwas nachdenken möchte und Abstand braucht, wo würde sie hingehen?«

»Auf keinen Fall in die Kneipe. Hast du es bei ihr zu Hause versucht?«

»Als Erstes. Sie ist nicht in ihrer Wohnung.«

»Ich meinte nicht in ihrer Wohnung, sondern bei ihren Eltern.«

»Hast du die Adresse?«

»Soll das heißen, du kennst die Eltern noch nicht?« Er ignorierte die Spitze in ihrer Frage. Ab und an bekam er das Gefühl, dass Marla auf Natasha eifersüchtig reagierte, wozu es absolut keinen Grund gab. Er hatte ihr allerdings wohlweislich verschwiegen, dass seine Mutter Natasha zur traditionellen Familienweihnachtsfeier eingeladen hatte.

»Würdest du sie mir schicken? Sonst noch jemand? Eine andere Freundin?«

»Keine Ahnung. Natasha ist nicht der Typ, der ausgeht oder sich mit Freundinnen trifft, von Freunden ganz zu schweigen. Sie vergräbt sich lieber in der Arbeit und im Lernen von Sprachen.«

»Wem sagst du das – hat sie sich nicht bei dir gemeldet?«

»Nein. Was ist überhaupt los? Warum suchst du sie? Klebt ihr bei der Arbeit nicht ständig zusammen?«

»Nichts Besonderes. Ähm …« Shit, was sollte er sagen?

Malte beobachtete ihn mit einem breiten Grinsen.

»Vergiss es. Ich will es gar nicht wissen.«

Er schloss kurz die Augen. »Ja. Bis heute Abend.«

»Ist gestrichen. Ich mache heute einen Mädelabend mit Doris.«

Bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie aufgelegt.

»Regenwolken im Paradies?«, spottete Malte.

Er warf ihm einen finsteren Blick zu. Dann signalisierte sein Handy eine eingehende SMS: Berlin Mahlsdorf, Markgrafenstraße.

Malte spickte ihm über die Schulter. »Um diese Zeit fährst du besser über die A 10, das geht schneller, auch wenn du komplett außenrumfährst.«

Peter verdrehte die Augen. »Ich weiß, Papa.«

Malte verpasste ihm eine Kopfnuss. »Werd nicht frech, sonst zeig ich dir, wo der Hammer hängt.«

Er verkniff sich eine Antwort. Auch wenn Malte nicht mehr die Form aus seiner Zeit als KSK-Soldat besaß, machte er nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Der Mann trainierte täglich mit den Hunden, das hielt fit.


Er brauchte mehr als eine Stunde. Das Erste, was ihm an dem bürgerlichen Haus auffiel, waren die liebevoll restaurierte Fassade und der gepflegte Garten. Der Garten seiner Eltern glich eher einem Urwald, der ein paar Mal im Jahr von einem Gärtner gelichtet wurde, damit das Haus nicht völlig darin verschwand.

Er ließ Smart aus der Transportbox. »Bei Fuß.«

Folgsam kam Smart an seine Seite. Gemeinsam gingen sie die Treppen zur Haustür hoch. Peter fühlte sich unwohl in seiner Haut. Natasha schätzte ihre Privatsphäre sehr und würde nicht erfreut sein, wenn er auf einmal bei ihren Eltern aufkreuzte. Die Frage war, wie ihre Eltern darauf reagierten.

»Guten Tag. Sie sehen nicht wie der Postbote aus.« Ein Mann stand hinter ihm am Fuß der Treppe, der einen Hut trug und eine grüne Gartenschürze umgebunden hatte. Sein Gesichtsausdruck war freundlich reserviert. Mit seinen braunen Augen musterte er ihn, wobei ihm kein Detail zu entgehen schien. Er schälte seine Hände aus den mit Erde verkrusteten Gartenhandschuhen. Dann blieb sein Blick an Smart haften, der Sitz gemacht hatte und den Mann ähnlich intensiv musterte wie dieser ihn.

»Sie sind Kriminalhauptkommissar Abel, der neue Partner meiner Tochter«, stellte der Mann fest. Schlagartig wich der Ausdruck von Freundlichkeit dem reiner Besorgnis. Seine rechte Hand ging zum Herzen. Alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Peter eilte die Treppe hinunter. Das fehlte noch, dass Natashas Vater einen Herzinfarkt bekam, weil er einfach vor seiner Haustür aufkreuzte. Er packte den Mann an der Hand und unterm Ellenbogen.

»Setzen Sie sich, haben Sie Tabletten für Ihr Herz?«

Sie setzten sich beide auf die Stufen. »Im Haus. Was ist passiert? Ist sie …« Seine Stimme brach zitternd ab.

»Nein, alles in Ordnung. Ich suche sie nur.« Diesmal hatte er sich im Vorfeld etwas überlegt. »Sie hat heute früher Schluss gemacht und ihren Laptop im Büro vergessen. Ich wollte ihn ihr bringen. Sie ist also nicht hier?«

»Nein.«

Was für eine blöde Frage, schalt sich Peter. Wäre der Mann sonst vor Sorge in die Knie gegangen? »Ist Ihre Frau im Haus?«

»Nein. Sie trainiert die Kinder.«

»Soll ich Ihnen die Tabletten holen?«

Ein zögerliches, dünnes Lächeln erschien auf den Lippen des Mannes. »Alles in Ordnung. Es war nur der erste Schreck. Es erinnerte mich an damals.« Er schwieg, atmete tief durch, und sein Blick wurde abwesend. »Wir waren damals bei Bianca, als sie die Nachricht erhielt. Ich werde das nie vergessen.« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Aber das ist lange her. Mir geht es gut, ich brauche keine Medikamente, doch ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ein Glas Wasser bringen würden. Die Haustür ist offen. Die Küche ist gleich links durch die erste Tür.«

»Selbstverständlich, kein Problem.« Er warf einen kurzen prüfenden Blick auf den Mann. Sie alle wurden regelmäßig in Erster Hilfe ausgebildet, schwerpunktmäßig auf die Verletzungen, mit denen sie am ehesten bei ihrem Job konfrontiert wurden. Aber Ulf, der Sanitäter in der Einheit, nahm seinen Job verdammt ernst. Die Farbe war in die Wangen des Mannes zurückgekehrt. Er verstand, dass es nicht um das Wasser ging, sondern dass er einen Moment allein sein wollte, um sich zu fangen.

»Smart, take care«, befahl er dem Hund dennoch sicherheitshalber. Der setzte sich vor den Mann und beobachtete ihn mit gespitzten Ohren.

Alles im Haus war genauso sorgfältig gepflegt wie der Garten. Kein Staub, keine Krümel, kein Fingerabdruck an den Küchenschränken. Ganz anders als in seinem Elternhaus, wo es immer chaotisch zuging. Er füllte ein Glas mit Wasser aus einer Sprudelflasche, die er auf der Arbeitsplatte fand, ging zurück, reichte dem Mann das Glas Wasser und setzte sich neben ihn. Smart hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

»Der Hund ist wirklich gut erzogen. Ich bin kein Fan von Hunden, muss ich gestehen. Wir hatten früher Nachbarn mit einem Riesenschnauzer. Jeden Morgen war ich froh, wenn ich sicher in meinem Auto saß.«

»Hatte Natasha auch Angst vor dem Hund?«

Ein leises Lachen. »Und wie. Sie hatte eine Zeit lang regelrechte Albträume. Wir waren froh, als die Leute nach zwei Jahren das Haus verkauften und wegzogen. Umso erstaunlicher, dass sie jetzt mit Ihnen zusammenarbeitet.«

»Natasha kann gut mit Hunden umgehen. Sie hat eine beruhigende Ausstrahlung. Hunde mögen das.«

»Ja, das ist wohl so. Ich hatte immer das Gefühl, dass der Nachbarshund in ihrer Gegenwart weniger aggressiv wirkte.«

»Sie haben einen wunderschönen Garten.«

»Mit irgendetwas muss ich mir die Zeit vertreiben, seit ich im Ruhestand bin. Allerdings war die Gartenarbeit schon immer meine Leidenschaft. Es hat etwas ungemein Beruhigendes an sich, in der Erde zu wühlen.«

»Ich habe immer geflucht, wenn meine Eltern mich zwangen, das Unkraut zwischen den Steinen zu entfernen. Ich hielt das für reine Zeitverschwendung. Nach ein paar Wochen wächst es eh wieder nach.«

Herr Kehlmann trank einen Schluck Wasser. »Sie suchen meine Tochter doch nicht, um ihr den Laptop zu bringen. Sie vergisst sicher nie ihre Sachen im Büro.«

Peter musterte den Mann an seiner Seite, der, das Glas in der Hand, seine Augen auf die orangerote Blütenpracht der Dahlien gerichtet hielt. Er hatte keine Ahnung, wie die beiden zueinander standen. Natasha sprach nie über ihre Eltern, ihre Kindheit oder Jugend. Er hingegen hatte in den letzten Wochen mehr über seine Familie ausgeplaudert, als er es jemals zuvor bei einem Kollegen oder einer Kollegin gemacht hatte. Nicht nur das, er hatte sie auch zu der Familienfeier aus Anlass von Mias Genesung mitgenommen. Immerhin hatte Natasha einen wesentlichen Anteil dazu beigetragen. Doch er hatte nur einmal den Fehler gemacht, seinen Eltern eine Freundin vorzustellen. Seine Mutter und seine Schwestern hatten das arme Mädchen damals einem regelrechten Verhör unterzogen. Das hatten sie auch bei Natasha getan, und am Ende hatte ausgerechnet seine Mutter sie zur Weihnachtsfeier eingeladen.

Herr Kehlmann sah ihn an. Wache, intelligente Augen, die alles zu wissen schienen, betrachteten ihn. Er kannte diesen Blick nur allzu gut.

»Nein. Sie haben recht, ich habe Sie belogen. Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?«

»Nein, nicht genau. Nur dass er für sie wichtig ist. Sie hat uns für Sonntag zum Essen eingeladen.«

»Wir müssen in jedem Quartal einen Leistungstest absolvieren. Natasha ist bisher nur auf Probe in unserer Einheit. Der heutige Test sollte darüber entscheiden, ob sie Teil der Einheit wird oder nicht.«

Der Mann runzelte die Stirn. »Und Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass sie ihn nicht bestanden hat?«

»Im Grunde genommen schon, allerdings hat sie bei den 400 Metern Freistil nicht die volle Leistung gebracht. Sie schwamm taktisch, hielt sich zurück und landete auf Platz sechs.«

»Natasha auf Platz sechs? Welche Zeit?«

»5:16,7.«

»Das ist schnell. Der Weltrekord bei den Frauen liegt bei 3:56,46.«

»Sie war im Training schon mal vier Sekunden schneller.«

»Bedeutet das, sie wird nicht in die Einheit aufgenommen?«

»Es kommt darauf an.«

Ein weiteres Mal sah Herr Kehlmann ihn in seiner intensiven Art an, die dem Blick seiner Tochter so unheimlich glich. »Sie möchten, dass sie bleibt, deshalb sind Sie hier. Was sagt Ihr Chef dazu?«

»Er hat mir 24 Stunden Zeit gegeben.«

»Ich verstehe. Und jetzt suchen Sie sie, weil Sie ihr Handy abgestellt hat und verschwunden ist.«

»Wissen Sie, wo sie sein könnte?«

Herr Kehlmann trank sein Glas leer und erhob sich langsam. »Manchmal braucht Natasha Zeit, um über etwas nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen. Wenn Sie die getroffen hat, wird kein gutes Wort sie davon abbringen. Glauben Sie mir, ich weiß das aus leidvoller Erfahrung.« Er streckte ihm die Hand hin.

»Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Abel.« Er blickte zu dem Hund, blieb aber vorsichtig auf Distanz. »Und natürlich Ihren Hund. Wenn Sie entschuldigen, die Gartenarbeit ruft.« Er zog sich die Gartenhandschuhe an, nickte ihm noch mal freundlich zu und ließ ihn auf der Stufe sitzen, während er seitlich hinterm Haus verschwand. Peter starrte dem Mann nach. Er wusste, wo seine Tochter war. Peter konnte es erkennen, wenn ihm jemand etwas verschwieg. Verdammt, er war kein Stück weitergekommen. Frustriert packte er Smart in die Transportbox. Die Zeit rann ihm durch die Finger, und dieser Dickschädel von Frau drohte alles kaputtzumachen, in das er in den letzten Wochen seine ganze Zeit investiert hatte. Kaum saß er hinter dem Steuer, klingelte sein Handy. Hoffnungsvoll schaute er aufs Display, knirschte mit den Zähnen, als er den Namen Jake las. »Hi.«

»Was ist passiert?«, klang Jakes Stimme verzerrt aus dem Lautsprecher.

Peter wechselte ebenfalls ins Englische. »Natasha ist beim Schwimmen durch den Leistungstest gefallen.«

»Shit. Ich dachte, sie wäre fit.«

»Ist sie auch. Es ist etwas komplizierter. Hat sie sich bei dir gemeldet?«

Eine kurze Pause, dann hörte er im Hintergrund einen Hubschrauber. Jake musste im Einsatz sein.

»Nein. Sie hat auf keine meiner Nachrichten der letzten dreizehn Stunden geantwortet.«

»Na ja, war einen Versuch wert.« Obwohl er einen weiteren Fehlschlag hinnehmen musste, konnte er sich das Grinsen nicht verkneifen. »Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

Eine kurze Pause entstand. »Sagt dir der Name Marietta was? Ich glaube, sie ist ihre beste Freundin. Frauen gehen immer zu ihren besten Freundinnen, wenn sie jemanden zum Reden brauchen. Du, ich muss. Schick mir eine SMS und halt mich auf dem Laufenden.«

Peter starrte sein Handy an. Er hatte den Namen noch nie gehört. Wie konnte es sein, dass Jake ihn kannte?

4

Tochter

Georg Kehlmann beobachtete durch das Küchenfenster, wie Peter Abel nach einem Telefongespräch das Fahrzeug startete und losfuhr. Er war zur Rückseite des Hauses und durch den Keller gegangen, hatte rasch seine Gartensachen abgelegt, um dann wie ein Dieb nach oben in die Küche zu schleichen. Der junge Mann machte einen kompetenten Eindruck auf ihn. Er schien ernsthaft daran interessiert, dass seine Tochter in die Einheit aufgenommen wurde. »Im Schwimmen nicht die Leistung gezeigt.« Georg hatte keine Ahnung, worum es bei dieser Einheit des BKAs ging. Ihm wäre es lieber gewesen, seine Tochter hätte ihre Schwimmkarriere weiterverfolgt, ihr Abitur gemacht und wäre Fremdsprachenkorrespondentin oder etwas Ähnliches geworden. Sie hatte ein außergewöhnliches Gefühl für Sprachen. Doch im Gegensatz zu seiner Frau Olga akzeptierte er ihre Entscheidung, dem Schwimmsport den Rücken zu kehren.

Er hatte sich ihre Bilder im Internet nie angeschaut, hatte versucht, seine Tochter und Marietta zu beschützen, indem er einen Anwalt hinzuzog. Es hatte nichts genützt. Man konnte niemanden verurteilen, wenn es keine Beweise gab. Und die Bilder im Internet? Das Video? Einmal hochgeladen, ließ es sich trotz Gerichtsbeschluss nicht löschen. Der Weg, den Natasha gewählt hatte, entsetzte ihn. Doch sie behielt damit recht. Sie übernahm die Kontrolle über ihr Leben. Sie wusste, was es bedeutete, ein Opfer zu sein. Er verstand ihren Wunsch, andere davor zu bewahren. Was nichts daran änderte, dass er sich Sorgen um sie machte.

Natasha war mit Leib und Seele Polizistin. Genau darin lag in seinen Augen das Problem. Es war, als würde sie sich nicht nur die Schuld an Mariettas Tod geben, sondern sich gleichzeitig das Recht absprechen, zu leben und zu lieben. Manchmal kam ihm seine Tochter vor wie eine dieser tragischen Heldenfiguren, die die Dunkelheit bekämpften und doch wussten, dass sie eines Tages daran scheitern würden. Es würde immer Verbrecher geben, immer Opfer, und jeder Fall hinterließ seine Spuren bei ihr. Er wusste es, ohne dass er je mit ihr darüber gesprochen hätte, weil er sie kannte.

Georg seufzte. Er zog Schuhe an, nahm sich Jacke und Autoschlüssel. Es gab nur drei Orte, zu denen es seine Tochter hinzog, wenn sie nachdenken musste. Sie würde auf seinen Rat nicht hören, doch er konnte für sie da sein.


Aus dem Garten hatte Georg einen Strauß orangeroter Dahlien zusammengestellt. Seine Tochter stand vor Mariettas Grab, die Hände in den Jackentaschen vergraben, die dunkelrote Wollmütze tief ins Gesicht gezogen.

»Kaum zu glauben, dass es zehn Jahre her ist, seit sie sich das Leben genommen hat«, sagte er und steckte die Dahlien zu der Sonnenblume von Natasha in die Grabvase. Sie sah aus wie eine lebendige Flamme. Marietta hätte die Farbenpracht geliebt. Seine Tochter hakte sich bei ihm ein und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Dabei kommt es mir manchmal so vor, als wäre es erst gestern geschehen. Was machst du hier, Papa?«

»Dich suchen.« Er küsste sie auf die Wange.

Sie sah traurig und nachdenklich aus, doch er konnte keine Spuren von Tränen auf ihrem Gesicht entdecken. Natasha hob den Kopf, runzelte die Stirn und sah ihn an.

»Wieso suchst du mich? Wir sind doch heute gar nicht miteinander verabredet.«

»Peter Abel, dein Kollege, ist mit seinem Hund bei mir gewesen. Er sucht dich. Schien, als würde er sich Sorgen um dich machen.«

Alarmiert ließ sie ihn los und trat einen Schritt zurück. »Soll das heißen, er ist zu dir gefahren? Er kennt doch noch nicht mal eure Adresse.«

»Er ist Polizist, also vermute ich, dass es für ihn kein Problem ist.«

»Dieser Kerl ist echt unmöglich und nervig.«

»Auf mich machte er einen ziemlich netten Eindruck. Es scheint ihm viel daran zu liegen, dich als Partnerin zu behalten.«

Sie verdrehte die Augen, hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Ja, weil es keiner länger als drei Monate mit ihm aushält.«

»Bei dir sind es schon vier Monate.«

Sie grinste. »Stimmt, und er hatte mir nur drei Wochen gegeben.«

»Er hat mir im ersten Moment einen riesigen Schrecken eingejagt. Ich dachte …« Er seufzte tief und griff nach ihrer Hand. »… dir wäre etwas passiert.«

Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn. »Du weißt doch, Papa, Unkraut vergeht nicht. Es tut mir leid. Er kann sich echt auf was gefasst machen, versprochen.«

»Stimmt es, dass du nur den sechsten Platz Freistil über 400 Meter gemacht hast und deshalb aus der Einheit zu fliegen drohst?«

»Ehrlich, dieser Mann ist das schlimmste Tratschweib, das mir je untergekommen ist!«, schimpfte sie erbost.

»Es gab eine Zeit, da wärst du die Erste gewesen.«

Sie stopfte die Hände wieder in die Jackentaschen und drehte sich zum Grab. »Es ist nicht irgendeine Einheit, um die es hier geht. Die Jungs und Mädels haben wirklich was drauf. Du kannst sie locker mit Hochleistungssportlern vergleichen.«

»Und wozu hast du dich entschieden? Wirst du darum kämpfen?«

Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht. »Das brauch ich nicht mehr.« Sie zog die linke Hand aus der Tasche, schob den Ärmel hoch und zeigte ihm die Uhr. »Ich gehöre dazu.«

Er seufzte. Er hätte sie lieber getröstet.

Sie hakte sich bei ihm ein, und er bekam einen Kuss auf die Wange. »Papa, Polizistin zu sein, ist nicht gefährlich. Wirklich, ich sitze hauptsächlich im Büro und werde dafür bezahlt, Sport zu treiben.«

»Das versuchst du mir schon seit Jahren weiszumachen.«

»Weißt du, wie viele Polizisten in ihrem Job sterben, im Vergleich zu Menschen, die einfach nur Auto fahren?«

Er verdrehte die Augen. »Das ist ein Totschlagargument. Ich will es dir ja gar nicht ausreden.« Eine Weile betrachteten sie beide das Grab. »Dein Partner, dieser Peter Abel, scheint ein kompetenter Mann zu sein.«

»Du meinst, wenn er dich nicht in Angst und Schrecken versetzt?«

»Das konnte er nicht wissen. Ich wusste nicht mal, dass heute ein besonderer Tag für dich war.«

»Ich wollte nicht, dass du und Mama euch Gedanken macht.«

»Hättest du es uns am Sonntag erzählt?«

Sie schenkte ihm ein schiefes Grinsen, das sein Herz erwärmte. »Dass ich in die Einheit aufgenommen worden bin – ja. Dass ich nur auf dem sechsten Platz gelandet bin – nein.«

»Also stimmt es, was er sagt. Du hast dich beim Schwimmen zurückgehalten.«

Sie schwieg, schmiegte ihre Wange an seine Schulter.

»Natasha, Marietta wird nicht wieder lebendig, indem du aufhörst, beim Schwimmen dein Bestes zu geben. Sie hat sich nicht deswegen das Leben genommen, weil sie immer die Zweite nach dir war, und das weißt du. Sie hat sich geschämt und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.«

»Ich habe mich auch geschämt«, wisperte sie.

»Ja, aber du hast deinen Kopf hochgereckt und hast mit den Mitteln gekämpft, die dir zur Verfügung standen.«

»Denkst du, das war leicht?«

»Nein. Um ehrlich zu sein, hätte ich mir gewünscht, du hättest es nicht getan. Doch es war richtig für dich.«

»Aber nicht für dich und Mama.«

»Kinder müssen irgendwann im Leben ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und das Wichtigste ist, dass es dich stark gemacht hat. Alles andere geht irgendwann vorbei. Du musst aber aufhören, dir die Schuld dafür zu geben.«

Sie schwieg.

»Wie geht es Bianca?«

»Sie ist in einer WG für betreutes Wohnen.« Natasha hielt inne, sah mit schmalen Augen ihren Vater an. »Woher weißt du, dass ich bei ihr war?«

»Weil ich es zuerst dort probiert habe.«

»Du weißt davon?«

»Ja, und auch, dass du sie finanziell unterstützt.«

»Wer um alles in der Welt …«

»Sybille. Ich mag sie. Es ist toll, was sie leistet. Ich könnte einen solchen Job nicht ausüben.«

»Scheint, als könnte niemand mehr ein Geheimnis für sich behalten«, brummte sie verstimmt.

»Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen?«

»Nur wir beide?«

Er hakte sich bei ihr unter. »Nur wir beide.«


Es war kurz nach sechs, als Natasha den Schlüssel in ihre Wohnungstür steckte. Sie wusste nicht, was es war, das sie alarmierte, doch bevor sie sich eine Strategie überlegen konnte, hörte sie Smart winseln. Verflucht noch mal, dieser Mann hatte aber auch vor nichts Hemmungen.

»Verdammt, Pit! Was machst du in meiner Wohnung? Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«

Er klappte seinen Laptop zu und lehnte sich im Stuhl zurück. »Das willst du gar nicht wissen.«

»Du hast das Schloss aufgebrochen, ich fass es nicht. Ist dir klar, dass ich bereits die dritte Abmahnung von der Hausverwaltung erhalten habe?«


Er hob einen Briefumschlag hoch. »Nun, dann vermute ich, dass das die Kündigung ist.«

Sie schnappte ihm verärgert den Briefumschlag aus der Hand und riss ihn auf. »Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte sie, während ihre Augen über die Zeilen flogen.

Sie sah müde und abgespannt aus, gleichzeitig wütend und eine Spur zufrieden, nicht heulend und am Boden zerstört, wie er es sich ausgemalt hatte. Moment …

Er packte ihre linke Hand und hielt sie fest. »Woher hast du die Uhr?«

Trotz des Ärgers über ihn und ihren Vermieter grinste sie. »Von Oberst Wahlstrom persönlich.«

»Du verarschst mich.«

»Nein.«

»Wie hast du das geschafft?«

Sie zog ihm die Hand weg. »Mein Geheimnis. Oh, Schätzchen, tut mir leid. Dich habe ich jetzt wegen deinem dämlichen Herrchen vollkommen vergessen. Dabei kannst du gar nichts dafür, dass er so ein Arschloch ist und sich in Sachen einmischt, die ihn absolut nichts angehen. Nicht wahr, mein Guter?« Sie ging auf die Knie und gab Smart eine Schmuseeinheit.

Er betrachtete die beiden kopfschüttelnd und wusste nicht, ob er böse auf sie oder erleichtert sein sollte. Er hatte eine neue Partnerin. Allerdings gab es einiges, was sie beide miteinander klären mussten. »Wer ist Marietta Franke?«

Den Arm um den Hund gelegt, ihre Wange auf seinem Kopf, sah sie ihn an. »Das geht dich nichts an.«

»Du hast es Jake erzählt.«

»Ich habe ihm gar nichts erzählt, und selbst wenn ich hätte, ginge es dich nichts an.«

»Sie war deine beste Freundin. Ist das der Grund, weshalb du beim Schwimmen nicht dein Bestes gibst?«

»Hör verflucht noch mal auf, in meinem Privatleben zu schnüffeln. Und wenn wir gerade dabei sind – was fällt dir ein, aus heiterem Himmel bei meinen Eltern aufzukreuzen? Papa hat sich wegen dir fast zu Tode erschreckt! Und dann erzählst du ihm noch brühwarm was von einer Einheit, aus der ich rausgeflogen bin. Er wusste nicht mal, dass ich mich bei einer Sondereinheit beworben habe. Er macht sich auch schon so genug Sorgen um mich.«

»Ich bin nicht aus heiterem Himmel bei ihm aufgekreuzt. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du warst am Boden zerstört.«

»Wer sagt, dass ich am Boden zerstört war? Ich musste lediglich nachdenken, wie ich die Sache mit Wahlstrom geradeziehen konnte.«

»Und bist du einmal auf den Gedanken gekommen, dass ich dir dabei hätte helfen können?«

»Nein, denn ich renne nicht jedes Mal zu meinem Partner, damit er meine Probleme löst, wenn ich sie selber lösen kann.«

Er erhob sich vom Stuhl, baute sich vor ihr auf. »Wir sind ein Team! Vergessen?«

»Im Job ja, aber nicht privat. Du bist in meine Privatsphäre eingedrungen. Du bist verdammt noch mal zu meinem Vater gefahren.«

»Es ging um den Job.«

»Nein, es ging um mich und um den Fehler, den ich gemacht habe, nicht um dich.«

»Hast du mal daran gedacht, dass ich aus Themis rausfliege, wenn du es nicht schaffst?«

Sie verdrehte die Augen und ging zum Kühlschrank. Ja, sie wusste, dass ihr oberster Boss, Generalmajor Karl Hartmann, Pit mit dem Rauswurf gedroht hatte. Ihr war aber inzwischen klar, weshalb. Er wollte, dass er ihr beim Training half und sie nicht rausgraulte. Sie bezweifelte stark, dass Hartmann seine Drohung jemals wahr gemacht hätte. Und wenn, hätte es da immer noch Wahlstrom gegeben. Sie nahm einen Smoothie heraus und trank ihn.


Er verschränkte die Arme vor der Brust, weil er sie am liebsten gepackt und geschüttelt hätte, wusste jedoch, dass er damit bei ihr nicht weiterkam.

»Also, was ist passiert? Was hat Marietta Franke damit zu tun, dass du beim Schwimmen nicht mehr Vollgas gibst?«

Stumm holte sie ihr Smartphone heraus und aktivierte es. Kaum war es an, ertönte ein ›Ping‹ nach dem anderen. »Was zum Teufel …«, stieß sie aus und starrte entsetzt auf das Display. Er sah, dass sie jede Menge Nachrichten erhalten hatte.

Ihre Augen blitzten auf wie geschliffene Smaragde. »Wen um alles in der Welt hast du außer Papa noch kirre gemacht? Malte, Marina, Marla, Bodo, Carolina, Zoe und Gabriella?«

»Ich bin nicht der Einzige in der Truppe, der sich Sorgen um dich macht. Du gehörst jetzt dazu. Ob es dir passt oder nicht.«


Natasha rief als Erstes die Nachricht von Jake auf, die er ihr am Morgen geschickt hatte. Obwohl sie ständig welche von ihm bekam, hatte sie im Hinterkopf immer die Sorge, dass Akiro etwas passiert war. Es war kein Foto von dem Hund dabei, dafür gab er jede Menge motivierender Sprüche von sich, von der Art, dass die Welt nicht unterginge, wenn sie nicht in Themis aufgenommen würde. Dass sie dann ja endlich Urlaub einreichen und zu ihm rüberkommen könne. Akiro würde sie vermissen, und so ging es weiter. Herzchen, Blümchen und schließlich noch ein Selfie, in dem er ein komisches Gesicht machte, um sie zum Lachen zu bringen. Was er auch schaffte. So ein Kindskopf.


»Rück mal«, brummte Peter und holte sich ebenfalls einen Smoothie aus dem Kühlschrank. »Dir ist klar, dass dieser Kerl an jeder Ecke eine Flamme hat?« Den Kommentar konnte er sich nicht verkneifen, nachdem er auf ihr Display gespickt hatte.

Sie öffnete die neueste Nachricht, eine von Marla: »Meld dich bei Peter, wenn er dich nicht schon gefunden hat. Er macht sich Sorgen um dich. Nur gut, dass ich nicht zu den eifersüchtigen Freundinnen zähle.«

Shit. Warum mussten Frauen auch immer alles ausplaudern? Sie sah ihn an. »Jetzt ehrlich? Bin ich demnächst daran schuld, dass deine Liebesbeziehung in die Binsen geht?«

»Nein, bist du nicht – und keine Sorge, sie geht nicht in die Binsen.« Jedenfalls hoffte er, dass sie noch ein Weilchen hielt.

»Verschwinde. Geh zu deiner Freundin. Bring ihr Blumen. Du kannst Smart bei mir lassen. Jetzt hat mir der Vermieter eh wegen unerlaubter Hundehaltung gekündigt.«

»Deshalb hast du die Kündigung erhalten? Er ist doch nur hin und wieder bei dir. Außerdem, was ist mit deiner Nachbarin rechts, die mit ihrem komischen Fifi?«

»Die sind erlaubt. In der Hausordnung, die ich unterschrieben habe, sind in der Wohnung nur Hunde nicht erlaubt, die nach dem Gesetz als Kampfhunde geführt werden.«

»Smart ist ein Diensthund.«

»Ich weiß, das interessiert meinen Vermieter aber nicht.«

Er betrachtete sie einen Moment nachdenklich. »Wie lange brauchst du, um deine Sachen zusammenzupacken?«

»Keine Ahnung. Einen Tag, vielleicht auch nur einen halben. Das ist nicht das Problem. Die Schwierigkeit ist, eine neue Wohnung mit einer ÖVP-Anbindung zu finden, die in meinen Budgetrahmen passt.«

»Das kann dauern, zumal du kein Sozialfall bist.«

»Danke.«

»Bitte. Du kannst bei mir einziehen.«

»Spinnst du? Bist du jetzt völlig durchgeknallt?«

»Zweihundert Euro, wir teilen uns das Putzen, Waschen und Kochen. Glaubst du, du findest so schnell etwas Günstigeres, wo auch Kampfhunde übernachten dürfen?«

»Nein. Aber ich bin ja nicht lebensmüde. Ich würde mit dir ja innerhalb kürzester Zeit am Rad drehen.«

»Wieso?« Er hob mit unschuldigem Blick die Augenbrauen.

Sie breitete demonstrativ die Arme aus. »Meine Wohnung, und du bist eingebrochen? Oder, um es korrekt zu formulieren, hast Hausfriedensbruch begangen?«

»Es war eine Notsituation. Du hättest mit einem gebrochenen Herzen auf dem Boden liegen können, unfähig, nach Hilfe zu rufen.«

Gerade noch rechtzeitig biss sie sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Was für ein Blödmann.

»Jetzt mal ehrlich, Brain, das ist die ideale Lösung. Du bezahlst weniger für dein Zimmer als für die Wohnung jetzt. Wir müssten Smart nicht mehr ständig hin und her schieben, und wir verlieren keine Zeit mehr beim Training.«

»Ach ja, und was wird aus meiner Privatsphäre? Meiner wohlverdienten Ruhe vor dir?«

»Kein Problem. Dein Zimmer, dein Reich. Ich werde die Schwelle nicht überschreiten. Ehrenwort, und die Wände zwischen den Räumen sind schalldicht, falls das deine nächste Frage ist. Außerdem sind wir sowieso meistens bei Marla.«

Sie hielt sich die Ohren zu. »Das will ich gar nicht wissen, weil es mich überhaupt nichts angeht.«

»Los, pack deine Sachen. Ich organisiere für morgen einen Transporter und bringe den Rest der Truppe mit, außer denen, die Wochenendbereitschaft haben. Wir bringen das Ganze an einem Tag über die Bühne.«

»Ich weiß nicht.« Sie zog die Nase kraus.

»Lass es uns probieren. Wenn es nichts ist, suchst du dir halt eine andere Bleibe. Du verlierst nichts, sparst nur jede Menge Geld.«

Er merkte, dass das letzte Argument am meisten zog. Bisher hatte er noch nicht herausgefunden, was sie mit ihrem Geld machte. Schulden hatte sie keine, das hatte er inzwischen geprüft. Drogen nahm sie auch nicht. Das wäre bei den ärztlichen Untersuchungen herausgekommen. Er gab ihr einen freundschaftlichen Fausthieb auf den Oberarm.

»Mach eine Liste von den Regeln, die dir wichtig sind, und ich mache eine von meinen. Ich lass dir Smart da und versuche, bei meiner Freundin gut Wetter zu machen.«

Er war weg, bevor sie weitere Bedenken äußern konnte.

5

Phase 1

Enes beendete sein Morgengebet. In ihm war tiefe Ruhe. Alles ergab auf einmal einen Sinn. Sein Leben war ein Gestrüpp von vielen Irrungen und Wirrungen gewesen. Zeit seines Lebens hatte er Angst gehabt und war vor allem und jedem davongelaufen. Er hatte sich hinter den anderen versteckt und einen hohen Preis dafür bezahlt. Sie alle hatten ihn nur benutzt. Doch dann war Mabrouk zu ihm gekommen. Er hatte an seinem Bett gesessen und ihn noch einmal ins Leben zurückgeholt, damit er eine Aufgabe erfüllen konnte.

Er war es, der ihn den islamischen Glauben lehrte. Er war es, der ihm ein Gefühl von Identität und Zugehörigkeit schenkte. Es gab Strukturen. Es gab Regeln. Er war nie allein. Allah war bei ihm, er hatte ihn auserwählt, damit er ein Opfer brachte. Eines, das ihn unsterblich machen würde und mit dem er all seine Sünden und Fehler wiedergutmachen konnte.

Die letzten Monate in der Justizvollzugsanstalt waren für ihn eine Offenbarung gewesen. Jeden Freitag hatte er sich mit den anderen Moslems zum Gebet eingefunden. Der Imam war ein freundlicher Mann, der jedoch nicht verstand, wie gefährlich der Einfluss der Nichtgläubigen auf die jungen Muslime war. Sie verloren ihren Glauben, liefen den falschen Göttern nach oder den Verführungen des Kapitalismus. Auch der Konsum war eine Droge, die einen von dem Weg des Propheten abbrachte. Erst seine eigene Loslösung von den materialistischen und körperlichen Versuchungen hatte ihm die wahre Freiheit der Seele gezeigt.

Er würde das Werkzeug Allahs sein, um Deutschland seine Verletzbarkeit zu zeigen. In den letzten drei Monaten vor seiner Entlassung aus der JVA hatte er sich auf seinen Auftrag vorbereitet. Das Leben auf Erden war voller Versuchungen für ihn. Sein Opfer würde ihn nicht nur läutern, er würde mit seiner mutigen Tat helfen, in diesem Land den Boden für den wahren Glauben zu ebnen. Es würde offenbart werden, welche der vielzähligen muslimischen Vereinigungen in Deutschland wirklich hinter dem islamischen Glauben stand und bereit war, zu kämpfen. Sie ehrten die alten Werte und widerstanden der Versuchung, sie den modernen Zeiten anzupassen. Seine Seele war geläutert worden. Sein tief in ihm verwurzelter Glaube nahm ihm jede Angst vor der weltlichen Pseudogerechtigkeit. Mabrouk hatte in ihm den guten Kern erkannt. Er hatte jeden Tag an seinem Krankenbett gesessen, wenn seine Familie keine Zeit hatte. Mit unendlicher Geduld hatte er ihm aus dem Koran und der Hadith vorgelesen. Er hatte seine Fragen beantwortet, von denen es viele gab. Auch das hatte Enes in der Zeit, als er sich von seiner Furcht leiten ließ, verloren – die Fähigkeit und Freude, zu lernen.

Enes verstand, dass es Mabrouks Aufgabe war, für die verlorenen Seelen da zu sein und sie zu Allah zurückzuführen. Ihm reichte ein Blick, um zu wissen, wer von ihnen das gute Samenkorn in sich trug, das nur ein wenig Wasser brauchte, um zu erblühen. Deshalb konnte Mabrouk die Aufgabe nicht selbst übernehmen. Deshalb vertraute er sie Enes an. Er würde stolz auf ihn sein. Mehr noch, er würde ihm alle Ehre zuteilwerden lassen, und Enes würde als Märtyrer in die Geschichte des Kampfes gegen die Ungläubigen eingehen. Eines Tages würden auch in Deutschland die Menschen erkennen, dass es nur einen wahren Gott gab – Allah.

Die Tür zu seiner Zelle wurde geöffnet. Der Beamte nickte ihm freundlich zu, als er sah, dass er seine wenigen persönlichen Sachen gepackt hatte, das Bett gemacht war und die Zelle vor Sauberkeit glänzte. Er war in den letzten Monaten ein vorbildlicher Gefangener gewesen, dem man viele Privilegien zugestand, da er auch einen positiven Einfluss auf die anderen jugendlichen Inhaftierten ausübte.

»Folgen Sie mir, Herr Yavuz.«

Er folgte dem Beamten und blieb dezent in seinem Schatten. Fall nicht auf, halt die Augen und das Haupt gesenkt, so hatte Mabrouks Rat gelautet. So hatte er es in den letzten Monaten praktiziert. Die Veränderungen waren langsam erfolgt, doch nach und nach war jeder der Beamten ihm gegenüber freundlicher geworden. Aber nicht nur das. Sie waren auch nachsichtiger geworden und erlaubten ihm mehr. Es war, als würde er selbst Zeuge der Macht Allahs. Und er war nicht der Einzige gewesen, der das bemerkte. Leon, einer der jüngeren Beamten, kam abends, wenn alle schliefen, häufiger in seine Zelle. Sie sprachen über seinen Glauben und darüber, wie er durch ihn verändert worden war. Leon war seine innere Stärke aufgefallen, die ihm die Angst vor den Mitgefangenen genommen hatte. Beinahe wäre er hier getötet worden, doch jetzt hielten sie Abstand zu ihm. Ja, sie erwiesen ihm sogar Respekt. Es war wie ein Wunder, nachdem er zeit seines Lebens von anderen als Prügelknabe missbraucht worden war. Leon war so beeindruckt, dass er sogar selbst zum islamischen Glauben übertrat. Er besuchte regelmäßig die Al-Quds-Moschee, deren Vorsitzender Mabrouk war und zu deren Gemeindemitgliedern auch Enes’ Familie gehörte.

Sie erreichten das Büro, wo er die verwahrten Sachen aus seinem Besitz ausgehändigt bekam. Er bedankte sich höflich und unterschrieb die Papiere.

»Es gelingt nicht jedem Inhaftierten, einen neuen Weg im Leben einzuschlagen. Ich wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem weiteren Lebensweg, Herr Yavuz.« Damit verabschiedete sich der Beamte von ihm, ließ ihn hinaus und schloss das Tor der JVA hinter ihm.

Suchend schaute Enes sich um. Ja, er war da, wie er es versprochen hatte. Mabrouk lehnte am Kühler seines dunkelblauen, verbeulten Renaults und lächelte ihm über die Straße hinweg aufmunternd zu. Enes setzte die Füße in Bewegung und machte seine ersten Schritte in die Freiheit, seinem Schicksal entgegen.


Eigentlich hätte es Natasha erschrecken müssen, dass ihr Umzug in Pits ehemaliges Gästezimmer nur einen knappen Tag in Anspruch nahm. Die Kisten mit den Küchenutensilien und dem Geschirr standen jetzt in seinem Keller. Nur ihre Lieblingstassen und die Müslischüssel fanden Platz in den Küchenschränken. Auch ihr Futon landete im Keller, da im Gästezimmer ein 1,40 Meter breites Queensize-Bett stand, das überaus gemütlich aussah. Ohne Probleme fanden ihre Kommode und der rollende Kleiderschrank seinen Platz im Raum, ebenso der Schreibtisch. Im Badezimmer hatte Peter ihr zwei Regale für ihre Handtücher freigeräumt, drei neue Haken angebracht und ihr eine Hälfte des Regals über dem Waschbecken überlassen. Auch bekam sie zwei Schubladen, von denen sie nur eine benötigte.

Die Wohnung war schlicht angelegt, ein Loft in einem alten Fabrikgebäude. Vom Eingang her öffnete sich der Blick auf den Koch- und Wohnbereich. Die Fenster gingen hier bis zum Boden. Rechts davon reihten sich wie auf einer Perlenschnur mit eingezogenen Trockenbauwänden abgetrennte Räume: Waschraum, Vorratsraum, Peters Zimmer, das Bad, ihr Zimmer und zuletzt ein Büro.

Im Wohnzimmer machten es sich die Helfer bei Wein und Bier gemütlich. Die Frotzeleien und das Gelächter drangen lediglich gedämpft durch die geschlossene Tür in ihr Zimmer.

Kevin hatte sich als handwerklich äußerst geschickt herausgestellt. Er hatte ihr ein neues Regal über dem Schreibtisch aufgehängt und an der langen Wand hinter der Tür ihre Pinnwand befestigt. Sie schob das letzte Buch an seinen Platz und sah sich im Raum um. Das Ahornparkett, das große Fenster, die Wände im Beigeton, das in Grüntönen gehaltene Plaid auf dem Bett mit den vielen Kissen darauf, die Sachen ließen alles viel heimeliger und gemütlicher wirken als in ihrer alten Wohnung.

Sie ließ sich auf den Stuhl fallen. Ihr wurde leicht im Kopf und sie spürte einen Anflug von Panik. Es kratzte an ihrer Tür. Sie ignorierte es. Es hörte nicht auf. Mit einem abgrundtiefen Seufzen ging sie zur Tür, öffnete sie aber nur einen Spaltbreit, gerade weit genug, dass Smart mit seinem Spielzeug in der Schnauze durchflutschen konnte. Sie lehnte sich gegen die Tür und ließ sich auf den Boden rutschen. Smart legte ihr schwanzwedelnd den Seilknochen vor die Füße.

»Was soll das sein? Ein Einzugsgeschenk?«

Der Hund schien zu grinsen. Seine Rute ging weiter hin und her. »Ich verstehe, du möchtest spielen. Gibt es da draußen nicht zwei Frauen und fünf Männer, die dich bespaßen können? Muss es ausgerechnet ich sein?«

Smarts Blick wanderte von dem Spielzeug zu ihr und wieder zurück. Sie gab nach. Es entwickelte sich ein Zerrspiel, bei dem Natasha nicht nur mit ihrem gesamten Gewicht gegenhalten musste, sondern auch zweimal auf dem Hintern landete.

»Okay, genug gespielt.« Ihr Magen knurrte. Sie lauschte. Im Wohnzimmer schien es still zu sein. »Hast du auch Hunger?« Smart spitzte die Ohren. »Na, komm.«

Das Wohnzimmer war leer. Peter stand in der Küche und schob einen Auflauf in den Ofen. Keine einzige Bierflasche stand herum, und auch die Reste des gemeinsamen Mittagessens waren verschwunden. Der Tisch war mit zwei Platzdecken, einer Flasche Wasser und Gläsern gedeckt.

Peter lehnte sich an die Küchentheke und kreuzte die Beine an den Fußknöcheln. Er hob die Flasche mit dem restlichen Bier und trank einen Schluck.


Sie stand im Übergang zur Küche, die Hände in der Jogginghose vergraben. Smart schaute zwischen ihnen beiden erwartungsvoll hin und her.

»Kann ich dir was helfen?« In ihrer Stimme lag ein schüchterner Unterton.

»Alles erledigt. Aber wenn du möchtest, kannst du Smart füttern.«

Sie schien froh zu sein, etwas zu tun zu haben. Er rutschte zur Seite, damit sie Platz hatte. »Möchtest du auch ein Bier oder Wein?«

»Nein danke.«

»Trinkst du nie?«

»Selten.«

Sie kam auch nie mit, wenn sie manchmal nach Feierabend noch zusammen in ihre Stammkneipe gingen. Auch heute war sie in ihrem Zimmer geblieben, statt mit den anderen auf den Einzug anzustoßen. Niemand hatte es ihr übel genommen. Sie waren es von ihr gewohnt, dass sie sich bei den Feierlichkeiten außen vor hielt.

»Hast du dich eingerichtet?«

»Ja, danke. Bist du sicher, dass ich das Bett behalten soll? Ich kann auch auf meinem Futon schlafen.«

»Alles in Ordnung. Das Bett ist gefühlt neu. Ich glaube, nur Angie hat einmal darin geschlafen und vielleicht zweimal Randolf, ein alter Klassenkamerad aus meiner Schulzeit.«

»Wo sollen deine Gäste schlafen?«

»Die Couch im Wohnzimmer kann man ausklappen. Außerdem können wir ja deinen Futon bei Bedarf in mein Arbeitszimmer stellen. Aber wie ich schon sagte, es hat so gut wie nie jemand bei mir übernachtet.«

»Du meinst, niemand, der nicht in deinem Bett geschlafen hätte.«

Er grinste, wackelte mit den Augenbrauen. »Exakt. Ist das ein Problem für dich?«

Sie hob abwehrend beide Hände hoch. »Nein, kein Thema. Mir ist es vollkommen egal, wen du mit nach Hause schleppst.«

»Hast du deine Liste mit Regeln geschrieben?«

»Nein. Eigentlich gibt es nur eine Regel.«

»Das klingt easy. Und die wäre?«

»Mein Zimmer ist absolut tabu für dich.«

»Selbstverständlich.«

»Auch wenn ich nicht zu Hause bin. Was ist mit deiner Liste?«

»Kein Lügen, wie gehabt. Kein schmutziges Geschirr, das auf der Theke oder dem Tisch herumsteht, und keine Kleidungsstücke, die überall im Wohnzimmer verteilt sind. Das wär’s. Vorerst.«

»Ich hab mir noch nie mit jemandem eine Wohnung geteilt.«

Er trank den letzten Rest von seinem Bier. »Wie lange hast du im Haus deiner Eltern gelebt?«

»Das zählt nicht.«

»Wie lange?«

»Ich bin nach dem Abi ausgezogen, als ich die Ausbildung beim BKA angefangen habe.«

»Weißt du, was noch ein Vorteil ist, wenn man mit jemandem zusammenwohnt?«

Sie nahm den Fressnapf und stellte ihn auf die abwaschbare Matte, nahm den Wassernapf und füllte ihn mit frischem Wasser auf.

»Dass wir uns die Arbeit teilen können. Ich habe gekocht, was bedeutet, dass du das Spülen übernimmst.«

»Du meinst das Einräumen des benutzten Geschirrs in die Spülmaschine?«

»Und morgen machen wir es umgekehrt.«

»Ich kann nicht kochen.«

Er drehte sich um, nahm ein Buch aus dem Regal und legte es ihr hin. »Aber du kannst lesen.«

»Was ist mit den Lebensmitteln?«

»Wir machen eine gemeinsame Haushaltskasse für das Essen, und jeder kauft das, was er sonst noch gern isst, von seinem Geld. In der Schublade und in dem Fach …« Er öffnete die Tür zur Vorratskammer. »… kannst du deine Sachen unterbringen.«


Der Auflauf war wirklich lecker, obwohl er hauptsächlich aus Gemüse bestand. »Wie lange?«, wollte sie wissen.

»Wie lange was?«

»Die Wetten.«

»Soll das heißen, du hast an der Wand gelauscht?«

Sie verdrehte die Augen. »Nein, aber ihr wettet ständig über alles, also läuft doch auch garantiert eine Wette darüber, wie lange es dauert, bis wir uns in unserer Wohngemeinschaft an die Kehle gehen.«

»Die kürzeste Zeit wäre drei Wochen«, grinste er.

»Und die längste?«

Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er pickte konzentriert Gemüse auf die Gabel. Amüsiert beobachtete sie, wie er ihrem Blick auswich. Er schwieg, machte aber auch keinerlei Anstalten, ein neues Thema anzuschneiden, was sonst seine übliche Taktik war, wenn er eine ihrer Fragen nicht beantworten wollte. Schließlich hob er den Kopf, zuckte mit den Schultern. »Für immer.«

Natasha verschluckte sich an dem Essen und begann zu husten. Er schüttete ihr aus der Wasserkaraffe das Glas voll. Sie trank es, rang um Atem.

»Wer kommt denn auf die blöde Idee? Da kann man ja gar nicht gewinnen.«

»Bodo.«

Sie schüttelte den Kopf. »Dabei dachte ich immer, er wäre der Vernünftigste von euch allen.«


Allah musste die Hände über ihn halten, anders konnte es nicht sein. Er war viel leichter mit seinem Rucksack durch alle Kontrollen gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Seine Finger zitterten, als er die verschiedenen Komponenten für die Bombe in der Toilettenkabine zusammenbaute. Leise begann er, die Verse aus dem Koran vor sich hin zu murmeln. Er musste sich beeilen, durfte nicht als Letzter in die Konzerthalle kommen, sonst würde er womöglich einem der vielen Sicherheitsleute auffallen. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hatte extra normale Kleidung angezogen, damit er zwischen all den anderen Besuchern nicht auffiel. Endlich hatte er alles zusammengebaut. Vorsichtig zog er die Jeansjacke an, führte die Kabel durch einen Ärmel und verbarg den Auslöser in seiner Faust. Ein letztes Mal atmete er flach durch, dann öffnete er die Kabinentür. Der Nächste drängte sich an ihm vorbei. Niemand wollte den Anfang des Konzerts verpassen. Enes ging zum Waschbecken, da fiel ihm ein, dass er sich ja gar nicht die Hände waschen konnte. Beinahe wie in Trance bewegte er sich durch die Besuchermenge. Er drängelte sich durch eine der vielen offenen Türen in den Saal. Es gab keine Sitzplätze, nur eine riesige offene Fläche.

Er ließ sich einfach schieben. Nicht nach vorn, wo die Menschen am dichtesten standen, wo sich auch die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte und Sanitäter konzentrierte. Die ersten Mädchen wurden ohnmächtig aus der Menge gezogen. Der Lärm und das dichte Gedränge raubten ihm schier den Atem. All das war er nach der Zeit im Knast nicht mehr gewohnt. Über die Boxen kam bereits Musik, was die Stimmung der Anwesenden anheizte. Er musste gegen die Panik in ihm ankämpfen. Ihm war flau im Magen, und er glaubte, sich übergeben zu müssen.

Jemand stieß ihn an. »Hey, alles in Ordnung mit dir? Soll ich einen der Sanis rüberwinken?«, brüllte ihm ein Junge, der etwa in seinem Alter war, ins Ohr.

»Nein danke. Alles okay.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Ist nur das erste Livekonzert, das ich besuche.«

»Verstehe. Dann solltest du etwas weiter nach hinten gehen oder an den Rand, da ist das Gedränge nicht so dicht.«

Er folgte dem Rat und ließ sich ein Stück weiter an die Seite drängen, bis er zu sich und dem Jungen Abstand gewonnen hatte. Bloß nicht auffallen. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wiederholte er wie ein Mantra im Kopf. Er blieb am Rand, rückte nur ein klein wenig dichter zur Mitte. Achtsam hielt er weiten Abstand zur rechten Seite der Hauptbühne. Die Aufregung stieg, das Gekreische nahm zu. Es wurde kurz pechschwarz, dann begann das Lichterspiel passend zum ersten Song von Minandou, einer der angesagtesten Popsängerinnen aus den USA, die das erste Konzert ihrer Europatournee in Deutschland gab, in der Festhalle Frankfurter Messe.

Das Gekreische nahm zu. Die Besucher gerieten in Ekstase. Um ihn herum begannen die Leute zu hüpfen und zu klatschen, als die Sängerin aus einem Loch im Boden emporfuhr. Das Lichtspiel veränderte die Farben, verschiedene Blautöne konzentrierten sich auf der schlanken Gestalt im silber glitzernden Kostüm. Ein Steg fuhr langsam über die Menge und verband das Podium mit der Haupttribüne. Die Sicherheitskräfte um das Podium bekamen alle Hände voll zu tun. Reihenweise kippten Besucher um, die seit dem Einlass vorn ausgeharrt hatten. Die Stimme der Sängerin erklang, langsam sank der Lärmpegel.

Warte nicht zu lange, so hatte der Rat von Mabrouk gelautet. Er ignorierte ihn. Gestern war die schönste Nacht seines Lebens gewesen, und er wusste genau, zu welchem Song er sterben wollte. Die Lichter wurden beim vierten Song gedimmt, Leuchtstäbe nahmen den Rhythmus des Taktes auf. Enes schloss die Augen, lauschte dem Text des Songs, den Worten der Sängerin, wartete ab, bis der Refrain verklang und drückte den Knopf.


»Du kannst zuerst unter die Dusche, wenn du willst.«

Das ließ Natasha sich nicht zweimal sagen. Peter wandte sich nach rechts und ging in die Waschküche. Er zog seine Sportklamotten aus und packte alles in die Waschmaschine. Erst als er nackt in Richtung seines Zimmers ging, wurde ihm klar, dass er sich das in Zukunft wohl abgewöhnen musste. Mist, sein Bademantel hing im Bad, die Handtücher auch. Er ging zurück in den Waschraum, zog sich Boxershorts an, das musste reichen. Immerhin hatte sie sich bei ihrem ersten Auftrag auch nicht beschwert, als er ebenso leicht bekleidet in der Wohnung herumlief.

Smart saß bereits in Habachtstellung schräg vor dem Kühlschrank und starrte auf die Kühlschranktür. Pit gab dem Hund sein Futter und eine halbe Schale Wasser, damit er nicht zu viel auf einmal trank.

»Fertig.«

Natasha schlüpfte, eingewickelt in ein Badetuch und mit ihren gebrauchten Sportsachen in der Hand in ihr Zimmer.

»Du kannst deine Sachen mit in die Waschmaschine stecken und sie einschalten. Das Waschmittel für die Sportsachen steht über der Waschmaschine im Regal.«

»Mach ich, ich zieh mir nur schnell was über.«

Er machte sich innerlich darauf gefasst, ein Badezimmer vorzufinden, das von weiblichen Düften erfüllt und mit Utensilien überflutet war. Da er sich in seiner Kindheit mit vier Schwestern ein Bad hatte teilen müssen, war er einiges gewohnt. Überrascht blieb er in der Tür stehen. Es hatte sich gar nicht viel verändert. Zahnpasta, Zahnbürste, Deo und ein Parfüm, mehr stand nicht auf dem Regalbrett vor dem Spiegel. Neugierig zog er die Schublade auf. Auch da fand er nur das Notwendigste, keine zig Cremetiegel, Lippenstifte, Wimperntusche und was sich noch alles bei seinen Schwestern gestapelt hatte. Nichts dergleichen. Auch roch das Bad nicht süßlich feminin, sondern nach Pfefferminze und Zitrone. Die Dusche war sauber, trocken und frei von langen Haaren, nun ja im Gegensatz zu seinen Schwestern trug sie ja auch die Haare kurz. Er grinste. Eigentlich hätte er es sich denken können, nachdem er die paar Kisten mit ihren Sachen hochgetragen hatte. Das meiste an Besitztümern waren ihre Bücher gewesen. Er stellte sich unter den heißen Wasserstrahl und stellte die Massagedüsen an.


Natasha rubbelte sich die Haare trocken und hängte ihr Handtuch zum Trocknen über die Stange, die ihr Chris zu diesem Zweck um den Heizkörper herum angebracht hatte. Sie schlüpfte in frische Unterwäsche und zog sich ihre gemütliche alte Jogginghose, ein T-Shirt und eine Fleecejacke über. Sobald sie an ihrem Schreibtisch saß und der Rechner hochfuhr, hörte sie ein Kratzen an der Tür. Sie schüttelte den Kopf, seufzte, stand auf und machte Smart die Tür auf.

»Ehrlich, sonst bist du doch auch allein in der Wohnung.«

Der Hund drehte sich um, zerrte sein Kissen ins Zimmer und platzierte es neben ihrem Schreibtisch. Dann kratzte er darauf herum, drehte sich ein paar Mal im Kreis, bis er sich mit einem abgrundtiefen Stöhnen niederließ. Er legte den Kopf auf die Vorderpfoten und blinzelte kurz, bevor er die Augen schloss.

Einen Moment überlegte Natasha, dann zuckte sie mit den Achseln und ließ sie die Tür einen Spaltbreit auf. Spätestens wenn Peter aus der Dusche kam, würde der Hund unter Garantie zu ihm wechseln. Auf diese Weise sparte sie sich das ständige Aufspringen. Sie vertiefte sich in den Artikel über die Rede von Sarah Heidkamp über zivile Konfliktbewältigung auf dem EU-Gipfeltreffen. In ihren Augen war Sarah Heidkamp die beste Bundesaußenministerin gewesen, die Deutschland bisher gehabt hatte. Warum sie vor knapp zehn Jahren zurückgetreten war, konnte sie zwar nachvollziehen, bedauerte es aber dennoch. Sie hatte gehofft, dass man sie nun zu einem Regierungsamt überreden würde, da ihre Partei sich von der Krise erholt hatte und inzwischen als stärkste Partei der aktuellen Koalition regierte. Doch das war nicht geschehen.

Sie zuckte erschrocken zusammen, als ihre Armbanduhr gleichzeitig mit ihrem Smartphone, das sie neben der Tastatur auf den Schreibtisch gelegt hatte, vibrierte und einen schrillen Signalton abgab. Kriseneinsatz. Sie starrte auf das Wort im Display. Sie war darüber informiert worden, dass es diesen Alarm gab, doch es war das erste Mal, dass sie als Teammitglied von Themis zu einem echten Einsatz gerufen wurde.

Nachdem sie die Schrecksekunde überstanden und innerhalb von Sekundenbruchteilen die Information verarbeitet hatte, sprang sie auf. Smart war bereits vorgeprescht. Anscheinend hatte Peter ihn auf das Signal trainiert. Die Badezimmertür wurde aufgerissen. Hastig drehte Natasha sich um, als er nackt und pitschnass in sein Zimmer stürmte.

»Nimm den Schlüssel und pack Smart ins Auto. Vergiss nicht das Hundegeschirr, Maulkorb und Leine!«

Sie schnappte sich die Schlüssel vom Haken an der Tür und rannte die Treppe runter, statt auf den Aufzug zu warten. Gerade hatte sie sich auf den Fahrersitz geschwungen, da riss Pit auch schon die Beifahrertür auf.

»Bist du sicher, dass du fahren willst?«

»Brauchen wir Blaulicht?«

»In diesem Fall ja.«

Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Dann will ich fahren.«

Es dauerte ein paar Schaltungen, dann hatte sie das Fahrzeug im Griff. Zu seinem Erstaunen flitschte sie geschickt durch den Verkehr und blieb voll konzentriert. Als er sicher war, dass sie klarkam, wählte er die Zentrale an.

»Hi, Valentina. Immer wieder schön, deine Stimme zu hören. Was ist passiert?«

»Du kannst das Flirten nicht lassen, wie? Wo bist du?«

»Etwa zehn Minuten von der Zentrale entfernt.«

»Ist Kehlmann bei dir?«

»Ja.«

»Stell mich auf laut.«

Er folgte ihrer Aufforderung.

»Es gab ein Selbstmordattentat auf einem Konzert im Festsaal Frankfurter Messe. Feuerwehr, Polizei und Notarztwagen evakuieren gerade die Örtlichkeit. Bisher 24 Tote einschließlich dem Attentäter. Die Zahl der Verletzten beläuft sich auf 457, darunter viele Schwerverletzte. Der Hubschrauber steht bereit. Ihr seid die Letzten. Beeilt euch.«

Er reichte Natasha die Parkkarte. Sie stellten das Auto in der Tiefgarage auf seinen Platz und sprangen hinaus. Peter holte Smart aus der Transportbox. Auch dem Hund war die Anspannung anzumerken. Sie gingen direkt zu den Umkleidekabinen, zogen sich die Uniformen an, schwarze Cargohosen, schwarzes Longshirt, Schutzweste, Jacke und Boots, schnappten sich die Rucksäcke, gepackt mit Wechselklamotten und Waschsachen. Der nächste Stopp war die Waffenkammer, wo sie auf Bodo, Chris, Kevin, Zoe und Gabriella trafen. Carolina und Mark hatten Bereitschaftsdienst gehabt und waren bereits fertig. Fehlte nur noch Ulf. Es gab kein Geschwafel. Jeder packte konzentriert seine Waffen und Utensilien zusammen.

Die Mannschaft wurde in zwei Hubschrauber verfrachtet, die jeweiligen Teams zusammen: Chris und Kevin, Carolina und Mark sowie Zoe und Ulf belegten den ersten Hubschrauber, Bodo und Gabriella, Peter und Natasha mit Smart sowie Oberst Wahlstrom den zweiten.

Knapp zwei Stunden dauerte der Flug mit dem Hubschrauber der Bundespolizei, einem Eurocopter EC 135 in Knatschblau, der sich angesichts der Abendstunden vom schwarzen Nachthimmel kaum abhob. Ihr Hubschrauber landete als erster auf dem Platz zwischen Halle 4 und Halle 3 der Frankfurter Messe.

Smart sprang ihnen voran aus dem Gefährt. Sobald sie sich alle auf dem Boden befanden, hob der Hubschrauber wieder ab und der zweite landete. Sie liefen zum Forum. Überall auf den Straßen tummelten sich Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht, Feuerwehr und Notarzt. Es gab Straßensperren.

Im ersten Moment sah es für Natasha aus, als herrschte absolutes Chaos. Rasch wurde ihr jedoch das System klar. Das Deutsche Rote Kreuz hatte ein Zelt für die leichter Verletzten aufgebaut, in dem eine Erstversorgung stattfand. In einer Schleife fuhren die Rettungsfahrzeuge auf der einen Seite zur Halle, luden den nächsten Verletzten ein und machten Platz für den folgenden Rettungswagen. Feuerwehrleute löschten die Feuer und schufen mit Unterstützung der Polizei Transportgassen.

Natasha blieb nicht viel Zeit, sich einen Überblick zu verschaffen, da Wahlstrom sie zielsicher zu einem Zelt der hessischen Landespolizei führte. Hier hatte man die Kommunikations- und Schaltzentrale aufgebaut. Ein älterer Mann mit einem Headset auf dem Kopf hob grüßend die Hand. Rasch gab er einige Befehle durch den Äther, bevor er Oberst Wahlstrom die Hand reichte.

»Ehrlich gesagt ist mir nicht ganz klar, weshalb man Sie gerufen hat. Mein Chef gab mir die Anweisung, Ihnen die aktuelle Lage darzustellen.«

»Keine Sorge, wir haben nicht vor, uns einzumischen. Unsere Aufgabe ist es lediglich, Sie zu unterstützen.« Wahlstrom schüttelte dem Mann die Hand.

Dessen skeptischer Blick vertiefte sich. »Es gibt zur Zeit genug Einheiten vor Ort, die sich gegenseitig im Weg stehen.«

»Nach dem, was ich von oben sehen konnte, leisten Sie hier auch hervorragende Arbeit, Kriminalhauptkommissar Dahlheim. Konnten Sie die Halle bereits komplett räumen?«

»Den Kernbereich, dort, wo die Explosion stattfand, ja. Meine Männer arbeiten sich zusammen mit den Feuerwehrleuten langsam von innen nach außen. Die Brandherde haben wir im Griff. Die Statik des Gebäudes wurde durch die Sprengkraft nicht in Mitleidenschaft gezogen, sodass wir die äußeren Bereiche für die Versorgung der leichter Verletzten mitnutzen können. Die Zahl der Toten hat sich von 24 auf 43 erhöht, doch es werden mit Sicherheit noch mehr.«

Der Polizist hielt inne, rieb sich mit den Fingerspitzen kurz die Stirn. »Fünf meiner Männer und Frauen sowie sieben Feuerwehrleute sind zusammengebrochen. Es ist ein regelrechtes Schlachtfeld dort drinnen.« Er blickte auf Smart, der dicht an Peters Bein gedrängt dem Gespräch aufmerksam zu folgen schien. »Auch der erste Hund aus unserer Hundestaffel musste den Bereich verlassen. Viele Besucher sind geflüchtet, bevor die ersten Einsatzkräfte vor Ort eintrafen. Wir überprüfen von jedem der noch Anwesenden die Personalien, auch ihre Taschen und Rucksäcke. Worauf ist Ihr Hund spezialisiert?«

»Er hat eine breite Ausbildung, doch seine Schwerpunkte sind Personensuche und Personenschutz«, antwortete Pit.

»Wen wollen Sie suchen? Von dem Attentäter ist nichts übrig geblieben.« Frustration, gepaart mit Wut, machte sich in der Stimme des Einsatzleiters bemerkbar. »Es gab Übungen zur Vorgehensweise bei einem terroristischen Attentat auf deutschem Boden. Die waren ein Scheißdreck gegen das, was Sie hier zu sehen bekommen.«

Ein junger Beamter kam ins Zelt gestürzt. »Chef, ein Pressehubschrauber hält sich nicht an das Flugverbot über der Festhalle.«

»Dann holt ihn verflucht noch mal dort herunter!«, motzte Dahlheim.

Der Beamte starrte seinen Vorgesetzten an. Kurz herrschte Stille.

»CK, kümmern Sie sich darum«, wandte sich Oberst Wahlstrom an ihre Kommunikationsspezialisten. »Sorgen Sie auch dafür, dass im Bereich von zwei Kilometern niemand mehr Verbindung zum Internet hat. BG, ihr geht zum Tatort und arbeitet mit dem Forensik-Team. Die übrigen Teams sondieren die Lage.«

Wie es aussah, verwendete Wahlstrom jetzt nur noch die Abkürzungen für die Teams. CK stand für Chris und Kevin. BG für Bodo und Gabriella.

6

Chaos

In silberner Leuchtschrift prangte das Wort ›Polizei‹ auf ihren Jacken. Auf diese Weise konnten sie sich problemlos auf dem Gebiet bewegen. ›Die Lage sondieren‹ bedeutete, dass sie Augen und Ohren offenhielten und sich einen Überblick über die Situation verschafften.

Smart blieb dicht an Pits Seite. Dahlheim hat recht, dachte Natasha. Es war etwas anderes, ob man ein Szenario übte oder mit der Realität konfrontiert war. Sie sah Menschen, die sich umarmten und weinten. Die einen redeten ohne Punkt und Komma, andere hockten schweigend in eine Decke gehüllt und mit einem heißen Getränk in der Hand da und starrten vor sich hin.

Das erste terroristische Selbstmordattentat mit einer derartig hohen Opferzahl. Sie hoffte, dass die Politiker Ruhe und Vernunft bewahrten und jetzt keine Hetzreden begannen, die sich gegen jeden Fremden richteten. In ihrem Kopf ploppten Hunderte von Fragen auf. Sie betrachtete die Plakate an der Wand. Mussten Popstars immer attraktiv sein? Schwarze, wallende Mähne bis zu den Schultern, leicht geöffnete, volle Lippen, enge schwarze Lederjacke, die einen tiefen Blick ins Dekolleté zuließ, die Hände in die Taille gestemmt, in der linken Hüfte abgeknickt – so sah sie herausfordernd sexy auf die Betrachter des Plakats herunter.

»Weißt du, was für eine Stilrichtung Minandou verfolgt?«

Peter warf ihr einen irritierten Blick zu. »Von wem sprichst du?«

Sie deutete auf das Plakat. »Die Popsängerin.«

»Glaubst du, es spielt eine Rolle?«

»Sie ist Amerikanerin.«

»Wir bleiben bei den Rettungsdienstleuten und helfen dort aus«, kam es durch ihr Headset von Ulf.

»Was ist mit Zoe?«, hakte Peter nach.

»Ich bleib bei meinem Partner. Bin zwar nicht dieselbe Hilfe wie er, aber hier ist die Hölle los, und vielleicht schnappen wir ja ein paar Informationen auf.«

»Störsender sind etabliert«, kam es von Chris. »Wir knöpfen uns jetzt den Pressehubschrauber vor.«

»Wir sind im Eingangsbereich der Festhalle«, meldete sich Mark. »Die Jungs und Mädels können unsere Unterstützung gebrauchen.«

»PBS, vor dem Eingang wartet ein Polizeiauto auf Sie«, teilte ihnen Wahlstrom mit. »Die Sängerin Minandou ist im Jumeirah-Hotel Frankfurt. Ich möchte, dass Sie mit ihr sprechen. Denken Sie daran, dass Kriminalhauptkommissar Dahlheim ein vollständiges Protokoll von dem Gespräch erhalten muss.« PBS, das stand für Pit, Brain und Smart, und Natasha grinste in sich hinein, weil der Oberst in der Abkürzung für das Team ihren Spitznamen verwendete.

»Scheint, als dürftest du deine Neugierde befriedigen.«


Als sie die Eingangshalle des Jumeirah betraten, kam Natasha sich vor wie in einer Welt aus Tausendundeiner Nacht. Sanft spielte im Hintergrund beruhigende Musik. Durch ihre Klamotten und den Hund zogen sie die Blicke der Angestellten und Hotelgäste auf sich. Zum Glück prangte auch am Hundegeschirr das Wort »Polizei« in leuchteten Buchstaben.

Ein livrierter Mann kam auf sie zu. Man sah ihm an, dass er sie möglichst rasch aus dem Eingangsbereich herausmanövrieren wollte. »Frau Kehlmann, Herr Abel, bitte folgen Sie mir.« Rasch schob er sie in einen Aufzug, der mit dem Schild ›Personalaufzug‹ gekennzeichnet war. »Ich bitte um Verständnis, dass wir unseren Personalaufzug verwenden. Wir möchten unsere Gäste mit Ihrer Anwesenheit nicht unnötig beunruhigen. Allein dass der Anschlag nur vier Kilometer entfernt passierte – die Nerven unserer Gäste liegen blank. Gebuchte Zimmer werden storniert. Andere brechen ihren Aufenthalt bei uns frühzeitig ab. Es ist eine Katastrophe.«

»Für die Oper, die Angehörigen und die Überlebenden ist es ein Trauma«, mahnte Pit den Angestellten.

»Ja ja, selbstverständlich. Natürlich. Ich meine nur. Die Sicherheitsvorkehrungen in unserem Hotel wurden verstärkt. Wir haben direkt die Security aufgestockt.«

Sie erreichten den 24. Stock. Dicker Teppichboden auf dem Flur verschluckte jedes Geräusch. Äußerlich hatte sich der Hoteltower nahtlos in die moderne Architektur der ihn umgebenden Frankfurter Skyline eingefügt. Innen jedoch strömte jedes winzige Detail puren Luxus aus. Natasha kam sich vollkommen fehl am Platz vor. Vor der Suite waren zwei Bodyguards postiert. Ihre Ausweise wurden überprüft, dann ließ man sie hinein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492216
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Terrorismusbekämpfung Verbrechensbekämpfung Islam Berlin internationale Ermittlungen Krimi Sondereinheit Zeitgeschehen Selbstmordattentäter Ermittler Liebesroman Liebe

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Der Terrorist