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Menschenhandel

Sondereinheit Themis

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
402 Seiten
Reihe: Sondereinheit Themis, Band 3

Zusammenfassung

»Wusstet ihr, dass jede Prostituierte bei der Ausübung ihres Berufes schon mal mit Gewalt konfrontiert wurde?...« Natasha wird aufgrund ihrer Sprachkenntnisse zu der Vernehmung einer schlimm misshandelten sechzehnjährigen Prostituierten hinzugezogen, aber bevor sie das Vertrauen des Mädchens gewinnen kann, muss sie hilflos miterleben, wie es vor ihren Augen stirbt. Der Anblick rührt bei Natasha längst vergessen geglaubte Erlebnisse aus ihrer Jugend auf. Für sie ist klar, dass sie dieses Verbrechen nicht auf sich beruhen lassen kann, egal, welchen Preis sie dafür am Ende bezahlen muss. Nach vier Jahren des Widerstandes muss sich Peter Abel eingestehen, dass er weitaus mehr für Natasha empfindet, als Freundschaft. Als ihm sein Chef die Aufgabe erteilt, eine persönliche Vendetta seiner Partnerin zu verhindern, steht er vor einer echten Herausforderung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


All den Frauen, die nicht für sich selbst sprechen können.

Das Team und Familie Abel

Generalmajor Karl Hartmann

Ist der Gründer und Chef der Einheit. Er war lange Zeit Polizist und ist dann zum Militär gewechselt.


Oberst Ben Wahlstrom

Ist der Personalverantwortliche der Einheit. Er war schon immer Soldat und ist mit der Fotografin Johanna Rosenbaum, die immer nur Hanna genannt wird, liiert. Er leitet die Einsätze.


Major Tobias Wagner (TJ)

Ist der Länder Analyst der Einheit. Er ist auch Springer, wenn mal einer ausfällt. Auch er leitet Einsätze. Er ist mit Tamara, kurz Tami verheiratet. Sie ist ein IT-Security Consultant und arbeitet ab und an für die Einheit. Aus erster Ehe bringt TJ drei Kinder mit in die Ehe und mit Tami hat er eine Tochter.


Kriminalkommissar Paul Gerlach

Ist der IT Wizard in der Einheit. Eigentlich gehört er zum BKA, doch oft arbeite er exklusiv für Hartmann.


Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann

Ist die Verhörspezialistin und Hauptfigur in der Reihe. Früher Wettkampfschwimmerin und Polizistin aus Leidenschaft.


Kriminalhauptkommissar Peter Abel (Pit)

Ist der Leiter des Teams. Er erstellt die Trainingspläne für alle und kennt keine Gnade, wenn es um die Leistungsfähigkeit aller geht. Sein Spitzname kommt von Pitbullterrier, weil er sich gerne in etwas festbeißt.


Odin von Lichtenfels (Smart)

Ist der Diensthund in der Einheit und wird von Pit geführt. Er ist unglaublich klug, weshalb er auch seinen Spitznamen hat. Zusammen mit Pit und Natasha bildet er ein Dreierteam.


Kriminalhauptkommissar Kevin Steuber

Ist der Fahrer des Teams. Er kann alles fahren, egal ob auf Vierrädern, Zweiräder, dem Wasser oder in der Luft. Außerdem kann er auch alles kurzschließen.


Stabsfeldwebel Chris Neumann

Ist der Kommunikationstechniker der Einheit. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt zu halten und den Input bei einem Einsatz zu liefern. Er bildet mit Kevin ein Zweierteam.


Kriminalhauptkommissar Mark Becker

Ist der Entschärfer und Spotter (Beobachter für einen Scharfschützen) im Team. Egal um was für Sprengsätze es geht, er weiß, wie er sie deaktiviert. Nur nicht, wenn es um seine Partnerin geht.


Oberleutnant Carolina Herrmann (Caro)

Ist die Scharfschützin im Team. In den ersten drei Monaten bei der Einheit war sie die Partnerin von Pit, dann hat sie zu Mark gewechselt.


Kriminalhauptkommissar Römer

Ist der Forensiker im Team. Er kennt sich mit allen Themen der Forensik aus, ist aber kein Spezialist für ein Teilgebiet. Er beurteilt einen Tatort und zieht daraus Schlüsse oder weiß, was untersucht werden muss.


Kriminalhauptkommissarin Gabriella Santinos

Ist die Fassadenkletterin im Team. Einem Affen gleich, kommt sie überall hoch. Sie bildet ein Team mit Bodo, der einzige, der mit ihrem Temperament und Agilität umgehen kann.


Leutnant Zoe Dübbers

Ist die Nahkampfspezialistin im Team. Eine echte Ninja-Kämpferin, die mit Carolina liiert ist. Sie legt jeden Mann flach, sehr zum Ärger der Männer.


Oberleutnant Ulf Clemens

Ist der Sanitäter im Team. Die tödlichste Waffe und der Lebensretter bilden ein Zweierteam und sind das einzige rein militärische Duo in dem Team.

Familie Abel

Dr. Kain Abel, Mediziner, arbeitete in der Forschung und lehrte, Sportfanatiker, Peters Vater, kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.


Dr. Lydia Abel, Allgemeinärztin, inoffizielles Oberhaupt der Familie, mit dem sich keiner anlegt. Kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.


Yvonne Kramer, Peters älteste Schwester, verheiratet mit Robert, zwei Kinder: Charlotte und Tim.


Die Zwillinge: Dr. Carina Abel, Ärztin der Inneren Medizin, war Stammzellspenderin für ihre Zwillingsschwester, als diese Leukämie hatte, Dr. Cecilia Abel, Psychotherapeutin, auf Gewaltopfer spezialisiert. Zwei Jahre älter als Peter.


Angela Abel, fünf Jahre jünger als Peter und damit das Küken, leitet die Stiftung der Familie.

1

Sonntag

Natasha öffnete leise die Tür. Smart schlüpfte als Erster durch den Spalt in die Wohnung, lief zum Wassernapf und schlabberte gierig das Wasser auf.

Auf Socken schlich sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte das Fressen für den Hund heraus. Smart machte brav sitz. Erst als er die Freigabe zum Fressen von ihr erhielt, machte er sich über seine Portion her. Natasha füllte sich ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug leer, füllte es noch einmal und ließ sich auf dem Boden nieder. Kaum hatte Smart zu Ende gefressen, kam er zu ihr und kletterte halb auf ihren Schoß, der für den großen Schäferhund viel zu klein war. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, dort, wo er es besonders gern mochte.

»Guten Morgen.«

Hastig wischte Natasha sich die Tränen von der Wange, schob Smart von ihrem Schoß und erhob sich. Pit hatte sich eine alte Jogginghose und ein löchriges T-Shirt übergeworfen.

Sie grinste schief. »Ganz schön warm draußen, da kommt man ins Schwitzen«, versuchte sie, die Nässe auf ihren Wangen zu erklären.

»Es ist halb sechs. Seit wann bist du auf?«

Sie zuckte mit den Schultern, stellte ihr Glas auf die Küchenablage.

»Wie viele Kilometer bist du gelaufen?«

»Keine Ahnung.«

Bevor sie sich wehren konnte, zog er sie in seine Arme. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, um ihn abzuwehren, doch so leicht ließ sich Pit nicht wegschieben. Schließlich gab sie nach. Nur kurz legte sie die Stirn auf seiner Schulter ab.

»Nimm das Angebot von Malte an. Er kann wirklich deine Hilfe gebrauchen.«

Sie schüttelte den Kopf. Die Tränen begannen von Neuem zu fließen. Pit rieb ihr mit kräftigem Druck über den Rücken. Es war mehr eine Massage als ein Streicheln, verfehlte aber die Wirkung nicht. Die innere Kälte wich aus ihrem Körper.

»Es bedeutet nicht, dass du ihm untreu bist oder ihn weniger liebst. Akiro wird immer eine ganz besondere Stellung in deinem Leben, in deinem Herzen einnehmen.«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

»So wie du ihm.«

»Er fehlt mir.«

»Mir fehlt er auch. Geh und hilf Malte bei diesem Wotan. Er ist total verzweifelt, und ich bin mir sicher, unter deinem guten Einfluss wird die Bestie zum Lamm werden.« Diesmal schob sie sich mit den Händen von ihm weg, und er ließ sie los, hielt aber ihr Kinn fest. »Du machst es, versprochen?«

Sie verdrehte die Augen. »Ja.«

»Schenk mir noch ein Lächeln.«

Weil sie wusste, dass er sie weiter nerven würde, bis er sein Ziel erreicht hatte, verzog sie den Mund zu einem Grinsen.

»Siehst du, geht doch«, sagte er und gab sie frei.


Er sah ihr nach, als sie im Badezimmer verschwand. Conny stand im Slip und einem seiner T-Shirts im Türrahmen seines Zimmers. Das schlechte Gewissen packte ihn, und gleichzeitig wurde er wütend. Er brauchte sich nicht schuldig zu fühlen.

»Kommst du noch mal ins Bett?«

»Ich kann nicht mehr schlafen. Ich glaub, ich lege eine Runde Krafttraining ein.«

»Ich hatte eigentlich auch nicht an schlafen gedacht.«

»Oh, ich …« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und überlegte, was er darauf antworten sollte.

»Vergiss es.«

Beim Knall der Tür zuckte er zusammen. Shit. Das hatte er gründlich vermasselt.


Natasha schreckte unter der Dusche hoch und stieß sich den Kopf am Brausekopf, den sie heruntergezogen hatte, um möglichst wenig nass zu spritzen. Es war nicht das erste Mal, das Conny die Tür knallte. In letzter Zeit kam das häufiger vor. Oder sie bekam es nur mit, weil Pit in letzter Zeit seine aktuelle Freundin mit in die Wohnung brachte, statt bei ihr zu schlafen, wie er es sonst bevorzugte. Das lag an ihr. Seit Akiro vor drei Monaten eingeschläfert werden musste, ließ Pit sie in der Wohnung nicht mehr allein. Aber es war nicht so, dass er die Regel gebrochen hätte und etwa in ihr Zimmer gekommen wäre. Das war die einzige Regel gewesen, die sie aufgestellt hatte, als sie sein Angebot annahm, in das leere Gästezimmer zu ziehen. Eigentlich hatte sie sich schon längst wieder eine eigene Wohnung suchen wollen, doch irgendwie fand sie nie die Zeit dazu. Nach dreieinhalb Jahren in einer Wohngemeinschaft mit ihm waren sie ein eingespieltes Team. Das zu verstehen, fiel Pits Freundinnen allerdings schwer.

Sie flitschte die Wassertropfen von der Dusche und packte die Sachen, die von Conny im Bad herumflogen, mit in den Wäschekorb. Da er voll wurde, nahm sie ihn gleich mit in die Waschküche drei Räume weiter, packte die Waschmaschine voll und schaltete sie ein. Zurück in der Küche fing sie an, das Frühstück vorzubereiten. Vielleicht würde das ja die Wogen wieder glätten. Oder besser noch, sie deckte für Pit und Conny den Tisch, um sich tatsächlich zu Malte zu verkrümeln und die beiden allein zu lassen.


Natasha blieb im Auto sitzen. Es war das erste Mal nach Akiros Tod, dass sie auf dem Parkplatz stand. Sie wusste noch genau, wie sie das erste Mal an diesem Zaun gehalten hatte, damals ohne jedes Wissen über Hunde. Der Gedanke, dass sie eines Tages einen Hund ihr Eigen nennen würde, war unvorstellbar gewesen. Jetzt, nach drei Monaten, war sie noch immer überwältigt, welche Lücke Akiros Tod in ihrem Leben hinterlassen hatte. Es war noch schlimmer als der Tod ihrer Großeltern, ja selbst als der von Marietta, ihrer Jugendfreundin, mit der sie durch dick und dünn gegangen war und die sich mit sechzehn das Leben genommen hatte. Der Hund hatte sie ohne Worte verstanden, hatte sie getröstet, wenn sie traurig war, und sie mit Liebe überschüttet. Nie war er von ihrer Seite gewichen. Trotz seiner zwölf Jahre hatten sich viele der jüngeren Diensthunde an ihm ein Beispiel nehmen können. Dann hatte sie eines Abends nach einem Zwanzig-Kilometer-Lauf einen Knubbel an seinem Hals ertastet, nicht größer als eine Murmel. Sicherheitshalber war sie mit ihm zum Tierarzt gefahren. Es war Krebs gewesen. Keine sechs Wochen später hatte sie ihn einschläfern lassen müssen.

Malte kam durch die Gittertür an ihr Auto und öffnete den Wagenschlag. »Pit hat mir geschrieben, dass du heute kommst. Komm, ich zeig dir den Kerl, um den es geht.«

Seufzend stieg sie aus dem VW Golf Kombi. Es war eigentlich Pits Dienstfahrzeug, doch sie teilten es sich. Statt vorauszugehen, stiefelte Malte hinter ihr her.

Sie warf ihm über die Schulter einen vernichtenden Blick zu. »Keine Sorge, ich flüchte nicht.«

»Hey, ich halte dir nur den Rücken frei. Das war immer mein Job in der Einheit.«

»Erzähl mir was von Wotan.«

»Anfangs machte der Hund angeblich keine Probleme. Du weißt ja, wie das ist. In letzter Zeit baut er sich aber immer häufiger auf. Er gehorcht nicht auf Anhieb, wenn er loslassen soll. Im Einsatz zeigt er ein niedriges Stresslevel, was inzwischen an Aggressivität grenzt. Beim letzten Einsatz hätte er fast einem der Angreifer den Arm zerfetzt.«

»Und wie, bitteschön, soll ich dir dabei helfen? Du bist der Hundeflüsterer, nicht ich.«

Inzwischen waren sie bei dem betreffenden Zwinger angekommen. Der Hund lag mit gespitzten Ohren auf dem Boden und starrte sie an.

»Es hat mich verdammt viel Überzeugungsarbeit gekostet, aber ich konnte mich durchsetzen – er wurde letzte Woche kastriert. Ich möchte jetzt sehen, wie er reagiert, wenn du statt dem Hundeführer mit ihm arbeitest.«

»Als was wurde er ausgebildet?«

»Als Schutzhund.«

»Na wunderbar«, brummte Natasha. »Kann ich reingehen, ohne dass er mich anfällt?«

Malte grinste und verschränkte die Arme vor der Brust. Wotans Gesicht hatte eine schwarze Maske, die kurz oberhalb der Augen in sandfarbenem Fell auslief, das zum Schwanz hin immer heller wurde. Die Zeichnung erinnerte Natasha an einen Sandstrand bei Ebbe. Sie nahm die Leine vom Haken und betrat den Auslauf. Der Hund rührte sich nicht, beobachtete sie lediglich aufmerksam.

Sie klopfte an ihren Oberschenkel. »Wotan, komm her.« Sofort erhob sich der Hund und kam an ihre linke Seite. »Sitz.« Brav ließ er sich neben ihr nieder. Sie befestigte die Leine an seinem Halsband.

Malte hielt ihr die Tür auf. »Du kannst den hinteren Trainingsplatz benutzen und dich mit ihm einspielen. In einer halben Stunde komme ich, und wir beginnen mit den Übungen.«


Müde und ausgepowert betrat Natasha die Wohnung. Pit saß im Wohnzimmer und schaute die Nachrichten im Fernsehen. Smart kam angelaufen und begrüßte sie. Sie legte die Zeitung mit den Wohnungsanzeigen auf dem Esstisch ab, damit sie ihn ausgiebig kraulen konnte.

»Wenn du noch Hunger hast – im Kühlschrank steht ein Gemüserisotto.«

Sie stellte das Gericht in die Mikrowelle, ging in ihr Zimmer und zog sich eine bequeme Jogginghose an. Mit dem Teller in der Hand ließ sie sich auf einem der Sitzsäcke nieder. Smart schaute von ihr zu Pit, wieder zurück, und streckte sich dann zwischen ihnen aus.

»Du kannst ruhig auf die Couch kommen.«

»Ich kann auch von hier gut sehen.«

Im Fernsehen trat Sarah Heidkamp, die Bundespräsidentin, gerade ans Mikrofon. Neben ihr stand ihr Sohn Fabian, im Hintergrund entdeckte Natasha Kriminalhauptkommissar Lindner, den Sicherheitschef der Bundespräsidentin. Eigentlich war es nicht sein Job, bei öffentlichen Auftritten zu erscheinen, doch nach der Entführung und Hinrichtung von Heidkamps Tochter Wiebke hielt er sich, so hatte sie häufiger bemerkt, meist in ihrer Nähe auf. Es war eine der schlimmsten Niederlagen für ihre Sondereinheit gewesen, dass sie die junge Frau nicht hatten retten können. Das Bild der enthaupteten Leiche verfolgte Natasha manchmal in ihre Träume. Sie bewunderte die Bundespräsidentin, die sich trotz allem nicht hatte in die Knie zwingen lassen und die weiterhin die Politik der zivilen Konfliktbewältigung vorantrieb. Natasha war ein ausgesprochener Fan der Frau.

»Wieso hast du eine Zeitung mitgebracht? Sonst liest du doch keine.«

»Ich wollte die Wohnungsanzeigen durchgehen.«

»Wieso? Was passt dir nicht?«

»Nichts. Psst, ich will das hören.«

Pit schaltete den Fernseher aus.

»Hey, ich wollte das sehen!«

»Du kannst es dir später auf dem Computer anschauen. Wieso willst du dir eine Wohnung suchen?«

Sie konzentrierte sich auf das Essen. Verdammt, warum war ihr das auch rausgerutscht. Sie hätte einfach Nägel mit Köpfen machen sollen. Ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Ihr selbst gefiel der Gedanke, einsam in einer Wohnung zu hocken, auch nicht besonders. Allein das war bereits absurd. Sie war Einzelkind und mit neunzehn bei ihren Eltern ausgezogen. Sie brauchte einen Rückzugsort und das Alleinsein wie die Luft zum Atmen. Wann hatte sich das geändert?

»Ist es wegen Conny?«

»Nein.«

»Ich hab mit ihr Schluss gemacht.«

»Wieso?«

»Es wurde kompliziert.«

»Kompliziert? Du bist mit ihr gerade mal sechs Wochen zusammen. Kannst du überhaupt noch die Namen von deinen Freundinnen auseinanderhalten?«

»So schlimm bin ich nun auch wieder nicht. Immerhin war ich mit Marla über ein Jahr zusammen, und sie hat mit mir Schluss gemacht, nicht ich mit ihr. Überhaupt, warum reden wir über meine Beziehungen, wenn du ausziehen willst?«

Sie stand auf, stellte den Teller in die Spülmaschine.

Pit folgte ihr in die Küche. »Also?«

»Weil keiner von uns mehr ein Privatleben hat, deshalb.«

»Bin ich in den Jahren die du hier wohnst, auch nur ein Mal in deinem Zimmer gewesen?«

»Nein.«

»Kannst du nicht tun und lassen, was du willst?«

»Doch.«

»Hast du mal an Smart gedacht?«

Natasha sah hinunter auf den Hund, der zwischen ihnen stand. Er mochte es nicht, wenn sie diskutierten. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, in eine leere Wohnung zu kommen, in der es nicht nach Hund roch.


Erleichtert atmete Pit durch. Kurzfristig war er echt in Panik geraten. Die Vorstellung, Natasha könnte ausziehen … lächerlich. Dabei hatte er beim Auszug aus seinem Elternhaus, in dem er mit vier Schwestern aufgewachsen war, geschworen, sich nie wieder ein Bad mit einer Frau zu teilen. Aber mit Natasha war es anders. Sie war seine Partnerin und seine beste Freundin. Unvorstellbar, sie unter der Dusche nicht mehr schief singen zu hören oder allein zu Abend zu essen. Er hatte sich an sie gewöhnt. Er nahm die Zeitung vom Esstisch und warf sie in die Papiertonne.

»Dir ist klar, dass es auch im Internet genügend Portale gibt, in denen Wohnungen angeboten werden?«

»Was die Frage aufwirft, wieso du überhaupt eine Zeitung mitgebracht hast. Hast du Lust auf eine Schnulze?«

»Nein, auf keinen Fall, aber zu dem neuen Marvel-Film kannst du mich überreden.«

»Popcorn?«

Sie legte den Kopf schief. »Seit wann gibt es so was Ungesundes in unserem Vorrat?«

»Keine Ahnung, aber wir können heute ja mal eine Ausnahme machen.«


Mitten im Film war sie auf der Couch eingeschlafen. Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen, die Hände unter dem Kopf. Erst die Sache mit Wiebke, dann Akiro. Beides hatte Natasha ziemlich mitgenommen. Jeder Fall hinterließ bei ihr Spuren. Empathie war ihre Stärke bei Verhören und auch wenn es darum ging, sich in die Gedankenwelt eines Verbrechers hineinzuversetzen. Doch sie war auch ihre Schwäche, weil sie das Leid der Opfer zu dicht an sich heranließ.

Er war froh, dass Natasha und seine Schwester Cecilia sich so gut verstanden. Cecilia war als Psychotherapeutin auf Jugendliche spezialisiert, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden waren, und sie hatte ihm versichert, dass seine Partnerin nur Zeit brauche, um das alles zu verarbeiten. Alle seine Schwestern, seine Mutter und selbst sein Vater hatten Natasha in den letzten Wochen ständig mit irgendetwas beschäftigt gehalten. In gewisser Weise war sie von seiner Familie adoptiert worden. Sie war bei jeder Familienfeier mit dabei.

Pit stopfte vorsichtig die Decke an den Seiten fest. Natashas Gesicht war im Schlafen vollkommen entspannt. Zum ersten Mal seit Tagen war sie mit einem glücklichen und zufriedenen Gesichtsausdruck nach Hause gekommen. Es war die richtige Taktik gewesen. Malte hatte gesagt, dass sie ihm nach dem Training mit Wotan bei den Junghunden geholfen und später noch mit Marina die Hündinnen mit den Welpen versorgt hatte. Es war für sie wichtig, zu sehen, dass das Leben weiterging. Auch ihm war es damals schwergefallen, den Tod seines ersten Hundes zu verkraften. Flocke würde immer einen besonderen Platz in seinem Herzen einnehmen.

Er ließ sich neben Smart nieder, der vor Natasha auf dem Boden lag. Seit Akiros Tod wich Smart ihr nachts nicht von der Seite. Manchmal glaubte er, dass der Hund nicht nur bei ihr blieb, um sie zu trösten, sondern auch, weil er selbst Trost bei ihr suchte. Die beiden Rüden waren echte Kumpel gewesen.

Mit den Fingern fuhr er durch das kurze Sommerfell des Hundes. »Wir lassen nicht zu, dass sie uns verlässt, was meinst du, Partner?«

Smart drehte den Kopf und leckte ihm über die Hand. In seinem Nacken spürte Pit Natashas warmen Atem.


Natasha lachte, als sie den Welpen auf den Arm nahm. Freya war einfach zuckersüß – forsch und neugierig, aber nie übermütig. Sie stürzte sich in kein Zerrspiel, sondern probierte verschiedene Taktiken aus, um die Beute für sich zu erobern. Noch nie hatte sie einen Hund erlebt, der Strategien entwickelte. Okay, vielleicht übertrieb sie mit ihrer Ansicht etwas, aber diese Hündin war einfach intelligent. Es gab Momente, da erinnerte Freya sie an Akiro. Kein Wunder, denn sie stammten aus derselben Linie. Gleichzeitig sah sie jedoch auch viel von Nannas Weisheit und ihrer ausgeglichenen Art in dem Welpen. Eine perfekte Mischung, wie sie fand.

»Sie liebt dich.«

Rasch setzte sie die Hündin ab, stand auf, klopfte sich die Hose ab und gesellte sich zu Malte außerhalb des Zwingers.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich mit dieser Hündin machen soll.«

»Züchte mit ihr. Sie hat einen klasse Charakter.«

»In ihr steckt unglaubliches Potenzial.«

»Bilde sie als Familienhund aus und behalte dir die Option vor, dass du ab und an mir ihr züchten darfst.«

»Schau sie dir an, wie sie unser Gespräch verfolgt. Sie weiß genau, worüber wir reden, und genauso weiß sie auch, was sie will.«

»Malte, ich glaube, du musst mal wieder mehr unter Menschen. Du fängst an, Hunden Fähigkeiten zuzuschreiben, die sie nicht besitzen.«

»Nein, ich glaube, du unterschätzt diesen Hund.«

Freya, wandte sich ab, lief zu einer Ecke und kam mit einer angeknabberten, fast nur aus Löchern bestehenden Socke zurück. Sie kam bis zum Gitter, legte die Socke vor Natasha ab, machte sitz, schaute zu ihr hoch und wedelte mit dem Schwanz.

»Wo hat sie denn das olle Teil her?«, fragte sie und rümpfte die Nase.

»Damit kam sie gestern an, als wir die Welpen auf dem großen Auslauf spielen ließen. Erkennst du es?«

Sie ging in die Hocke, steckte zwei Finger durch die Maschen, kraulte den Welpen und betrachtete das Teil genauer. Verblüfft sah sie zu Malte hoch. »Das ist meine Socke von damals, als du mich in Nannas Zwinger geschickt hast.«

»Exakt.«

»Ich dachte, die wäre schon längst im Müll gelandet.«

»Dachte ich auch. Sie kann auch unmöglich die ganze Zeit auf dem Platz gelegen haben, dann wäre sie schon verrottet. Andererseits wäre sie, wenn sie die ganze Zeit sichtbar im Zwinger gelegen hätte, längst entsorgt worden. Also, wo kommt sie her?«

»Keine Ahnung.«

»Ich dachte, du wärst so eine klasse Polizistin mit einer mordshohen Erfolgsquote in der Aufklärung von Verbrechen?«

Sie deutete mit dem Finger auf die Socke. »Das ist kein Verbrechen. Ich habe sie damals freiwillig ausgezogen, um diesen lästigen kleinen Kerl, der an meinem Hosenbein hing, loszuwerden.«

»Schau sie dir an. Sie hat sie dir gebracht.«

»Ja, aber nicht, weil sie mal mir gehörte.«

»Sie hat sie seit gestern nicht hergegeben und sie gegen jeden von uns verteidigt. Nicht, indem sie mit den anderen darum gekämpft hätte, sondern weil sie geschickt damit geflüchtet ist und sie versteckt hat. Ich habe mich schon gefragt, wo sie ist, und jetzt bringt sie sie ausgerechnet dir.«

Natasha verschränkte die Arme vor der Brust, konnte aber nicht verhindern, dass ihr eine Gänsehaut über die Arme lief.

»Überleg es dir.«

»Was?«

»Freya gehört dir, wenn du es möchtest. Bilde sie aus, und das mit dem Deal, mit ihr zu züchten, ist eine gute Idee.«

2

Estera

Leise schimpfte Natasha vor sich hin. Malte war ein Teufel. Er hatte ihr bewusst diese Idee in den Kopf gepflanzt, dabei hatte sie sich geschworen, dass sie nach Akiro nie wieder einen Hund in ihr Leben aufnehmen würde. Außer natürlich Smart. Aber der war Pits Hund, nicht ihrer.

»Noch immer sauer, weil du den Bericht schreiben sollst?«, fragte Pit und lugte hinter dem Monitor hervor.

»Warum muss ich das eigentlich immer machen?«

»Weil du diejenige mit dem Superhirn bist. Ich bin nur der Muskelmann.«

»Du bist nur zu faul zum Tippen!«

»Du brauchst mit diesem Zehnfingersystem ein Zwanzigstel der Zeit, die ich brauchen würde. Außerdem war es ein Deal, vergessen? Ich werde dafür die komplette nächste Woche das Essen kochen.«

»Pah, dafür falte ich immer die Wäsche.« Sie hielt inne, verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich es mir recht überlege, bin ich auch diejenige, die das letzte Mal die Fenster geputzt hat.«

Das Gesicht ihres Partners war wieder hinter dem Monitor verschwunden. Dort blieb es still. Das machte er auch bei seinen Schwestern, wenn eine von ihnen in Fahrt kam – schweigen und den Kopf einziehen, bis der Sturm vorüber war. Aber sie durchschaute sein Spiel.

»Ich glaube, ich stelle mal eine Liste mit den Sachen auf, die du machst und die ich mache, und dann wollen wir mal sehen, ob die Aufgaben noch gerecht verteilt sind. Du bist nämlich überaus talentiert darin, Aufgaben auf andere zu verteilen, ohne dass man es merkt. Davor hat mich auch schon Caro gewarnt.«

»Caro war gerade mal drei Monate meine Partnerin. Sie hat keine Ahnung, wovon sie spricht. Außerdem ist sie die Faulste von uns allen. Schau dir an, wie Zoe ihr ständig alles abnimmt. Sie ist schlimmer als jeder Mann.«

»Zoe macht das gern. Aber du hast recht, vielleicht ist das auch der Grund, weshalb Caro weiterhin zusammen mit Mark ein Team bildet und Zoe bei Ulf bleibt.«

Die zwei Frauen waren ein Paar und vor drei Jahren zusammengezogen. Natasha bewunderte es, wie sie es schafften, ihr berufliches und ihr privates Leben auseinanderzuhalten. Nur hin und wieder bekam man mit, dass Carolina versuchte, Zoe bei Einsätzen aus der Schusslinie zu halten – was lächerlich war, denn Zoe war die beste Nahkampfspezialistin, die sie im Team hatten.

Ihr Handy gab den rockigen Sound von Wild Thing, einen Song der britischen Band »The Troggs«, von sich. Ihr Ton für Marla.

»Auf keinen Fall«, kam sie Marla zuvor, ohne dass die überhaupt einen Ton von sich geben konnte.

»Du weißt doch noch gar nicht, was ich von dir will.«

»Das letzte Mal hat mir gereicht.«

Seit einiger Zeit versuchte Marla andauernd, sie mit irgendeinem Typen zu verkuppeln. Sie hatte keine Ahnung, was die Frau dazu antrieb. Als hätte sie mit Yvonne, der ältesten Schwester von Pit, einen heimlichen Pakt geschlossen. Der reichte es anscheinend nicht, nur ihre Geschwister unter die Haube zu bringen. Sie hatte sich auch ihr Liebesglück auf die To-do-Liste gesetzt. Zum Glück hielten auch ihre drei Schwestern sie noch auf Trab. Vor allem Carina war eine harte Nuss. Bei Cecilia hingegen schien sie endlich erfolgreich zu sein. Jedenfalls hatte es sich bei ihrem letzten gemeinsamen Kinobesuch so angehört. Einmal im Monat trafen sie sich alle samstagabends und unternahmen etwas gemeinsam.

Eigentlich war Natasha nicht der Typ, der mit einer Gruppe von Frauen herumhing. Aber mit Pits Schwestern war es anders. Manchmal gesellte sich auch seine Mutter dazu. Im Moment planten sie ernsthaft ein gemeinsames Wanderwochenende, nur die Frauen der Familie Abel und Natasha. Sie war einfach adoptiert worden, deshalb hatte Yvonne sie wohl ihrer List hinzugefügt.

Pits Kopf tauchte wieder mit einem breiten, schadenfrohen Grinsen hinter dem Monitor hervor auf. Sie zeigte ihm den Mittelfinger, stand auf und verließ das Büro.

»Diesmal brauche ich echt deine Hilfe«, sagte Marla. »Kannst du Rumänisch?«

»Ja.«

»Okay, schwing deinen Hintern in ein Auto und komm auf dem schnellsten Weg ins LKA. Wir haben hier ein Mädchen, das vermutlich zur Prostitution gezwungen wurde, aber die Kleine versteht kein Wort Deutsch. Wir können sie nicht mehr lange festhalten, und ihr Zuhälter ist garantiert bereits auf dem Weg zu uns. Also beeil dich.«

Natasha lief ins Büro zurück und schnappte sich ihre Jacke. »Kann ich das Auto haben?«

Pit warf ihr den Schlüssel zu und sie fing ihn auf. »Was ist los, soll ich mitkommen?«

»Nein, nicht nötig. Ich erzähl es dir später.«


Sie hatte mehr als einmal die Geschwindigkeitsgrenze überschritten und war über orangerote Ampeln gefahren. Marla wartete bereits im Foyer auf sie, händigte ihr den Besucherausweis aus und lief mit ihr den Gang entlang.

»Wir sind diesem Typen seit einiger Zeit auf den Fersen. Ein Rumäne, der in Deutschland lebt. Wir glauben, dass er Menschenhandel betreibt, konnten ihm aber bisher nichts nachweisen. Wenn wir das Mädchen zum Reden kriegen, wäre das unser erster Durchbruch nach acht Jahren Ermittlungsarbeit.«

Sie erreichten den Verhörraum. Marla hielt Natasha fest. »Das Mädchen hat Todesangst. Du musst behutsam mit ihr sein.«

Marla wirkte müde und gestresst. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Natasha atmete tief durch, zwang ihren Mund zu einem freundlichen Lächeln und wollte das Zimmer betreten, aber dann hielt sie inne, zog ihren Gürtel aus der Hose und reichte ihn Marla mitsamt der Dienstwaffe.

»Ich glaube, so ist es besser.« Sie öffnete die Tür.

Sofort sah das Mädchen verschreckt hoch. Auf den Schock war Natasha nicht vorbereitet. Kurz entglitt ihr das Lächeln beim Anblick des Mädchens. Malachitgrüne, große, runde Augen sahen sie panisch an. Das dünne Top war durchscheinend, der Spitzen-BH darunter ließ wenig Raum für Fantasie. Hervorstehende Schlüsselbeine, ein Gesicht, das sie an eine Spitzmaus erinnerte. Alles an dem Mädchen war mager. Sie bemerkte Narben, Brandflecke, deren Form ihr nur allzu bekannt waren. Jemand hatte brennende Zigaretten in ihr Fleisch gedrückt. Aber das waren nicht die einzigen Spuren von Gewalt.

Sie saß ganz am Rand der L-förmigen roten Couch. Warum man ausgerechnet diese Farbe gewählt hatte, war Natasha schleierhaft. Das hier war eines der Opferbefragungszimmer, in denen man den Befragten eine angenehme Atmosphäre bieten wollte, ähnlich einem Wohnzimmer. Ein Bild von einem Boot im Sonnenuntergang hing an der Wand, und auf dem Boden lagen flauschige Teppiche. Langsam, mit viel Abstand zu dem Mädchen, setzte sich Natasha auf das längere Ende der Couch.

»Ich nichts getan«, wisperte das Mädchen mit gesenktem Kopf.

»Ich weiß«, antwortete Natasha auf Rumänisch. »Mein Name ist Natasha und ich möchte dir gerne helfen.«

Das Mädchen sprang auf und wich zurück in die hinterste Ecke des Zimmers. Es glitt auf den Boden, presste sich gegen die Wand und hielt schützend die Hände über den Kopf. »Bitte, bitte, nicht schlagen. Es ist nicht meine Schuld. Ich schwöre es. Er hat mir nichts getan. Er war nur nett zu mir und hat mich zu einem Getränk eingeladen.«

Natasha schluckte schwer, kämpfte mit ihren Emotionen. Ganz langsam erhob sie sich. Als würde sie sich einem scheuen Reh nähern, ließ sie sich mit Abstand neben dem Mädchen auf den Boden sinken.

»Niemand wird dir hier weh tun. Niemand wird dich schlagen. Niemand hat das Recht, dir Gewalt anzutun. Ich bin Polizistin und möchte dir helfen. Sagst du mir deinen Namen?«

Sie verbuchte es als Erfolg, dass das Mädchen nicht weiter vor ihr zurückwich. Es würde Geduld und viel Zeit brauchen, damit es Vertrauen zu ihr fasste. Geduld war für sie kein Problem. Wenn nötig würde sie Stunden schweigend mit der jungen Frau im Raum sitzen bleiben, bis sie ihr glaubte, dass sie ihr keine Gewalt antun würde. Die Zeit war das Problem. Doch sie wusste, sie durfte das Mädchen nicht weiter bedrängen.

»Mein Großvater ist in Radautz geboren«, begann sie zu erzählen. »Seine Eltern waren Moldaviendeutsche, die im zweiten Weltkrieg Hitlers Ruf nach Hause folgten. Vor ein paar Jahren bin ich dort gewesen. Ich war neugierig. Mein Opa konnte die tollsten Geschichten erzählen. Doch er hat seinen Geburtsort nie gesehen, hatte nicht mal irgendeine Erinnerung daran. Er scheute sich davor, in den Osten zu fahren. Er ist in der Zeit des kalten Krieges groß geworden, musst du wissen. Weißt du, was mich am meisten an Rumänien beeindruckt hat?« Sie machte eine Pause.

Das Mädchen verharrte in seiner Haltung. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es noch atmete. Die dünnen Beine steckten in obskuren High Heels. Der kurze Lederrock war so hoch gerutscht, dass er nur bis zum Po reichte. Am liebsten hätte Natasha ihre Jacke über die Knie des Mädchens gelegt, damit man ihren Slip nicht sah. Doch sie hatte keine Ahnung, wie es darauf reagieren würde.

»Die Karpaten«, fuhr sie fort, »dieser Gebirgszug, der sich durch vier Länder zieht und dessen Ausläufer noch in drei weitere Länder reichen … Uralte Wälder, in denen mein Ururgroßvater gewandert ist. Er war Förster, musst du wissen, und hat damals unter der Habsburgermonarchie für einen Grafen die Wälder bewirtschaftet. Als wäre die Zeit dort stehen geblieben. Ich bin auf den Moldoveanu-Gipfel gewandert. Was haben diese Berge schon alles gesehen und erlebt? Und wer wohl vor mir bereits dort oben war …«

»Estera.«

Beinahe hätte Natasha es überhört. »Estera? Die Leuchtende, die Strahlende. Der Name ist doch von der biblischen Esther abgeleitet? Die ihr Volk gerettet hat?«

Ein kaum wahrnehmbares Nicken. Tränen liefen dem Mädchen jetzt über die Wangen.

»Hmm. Ich kenne mich mit der Bibel nicht so gut aus. Aber gibt es da nicht ein ganzes Kapitel über Esther?«

Sie wartete und kramte gleichzeitig in ihrem Hirn, hatte aber keine Ahnung, worum es in dem Abschnitt der Bibel genau ging. Nur das mit dem Retten des Volkes war bei ihr hängen geblieben.

»Sie war eine jüdische Sklavin, wunderschön und anmutig. Sie kam in den Harem des Königs, und er war so bezaubert von Esther, dass er sie zur Königin machte. Das rief den Neid seines Dieners hervor. Er versuchte, den König gegen sie aufzuhetzen, und beeinflusste ihn, dass er das jüdische Volk töten sollte. Doch Esther ging zum König, ohne dass er sie gerufen hätte, was sie mit dem Leben hätte bezahlen müssen, und sie erzählte ihm von den Machenschaften des Dieners. Am Ende wurde dieser hingerichtet.« Estera löste die Arme und hob ihr tränennasses Gesicht. »Ich bin keine Königin, ich bin eine Hure.«

Achtsam, nur mit den Fingerspitzen, strich Natasha ihr die Haarsträhnen, die an ihren Wangen klebten, aus dem Gesicht. Das Mädchen kippte in ihre Arme, hielt sich an ihr fest. Ihr Körper bebte vom Schluchzen. Sie streichelte es. Der Duft eines süßlichen Parfüms kroch ihr unangenehm in die Nase. Sie konnte jeden einzelnen Wirbel an Esteras Rücken fühlen. »Ich verspreche dir, dass ich denjenigen, der dir das angetan hat, zur Strecke bringe. Niemand wird dir jemals wieder wehtun«, flüsterte sie und kämpfte gegen ihre Tränen an.

Draußen gab es einen Tumult. Das Mädchen schreckte hoch, kroch zurück in die Ecke, presste sich wieder gegen die Wand.

»Bitte, Estera, du musst mir vertrauen. Ich kann dich beschützen, aber dafür brauche ich deine Hilfe. Du musst mir nur den Namen desjenigen nennen, der dich dazu gezwungen hat. Dann können wir ihn festnehmen.« Das war gelogen. Nur mit einer Zeugenaussage des Mädchens und den entsprechenden Beweisen, dass sie nicht freiwillig als Prostituierte arbeitete, gäbe es überhaupt eine Chance, den Mann zu verurteilen.

Scheiß Prostitutiongesetz, fluchte sie innerlich. Es hatte in ihren Augen nicht dazu beigetragen, den Frauen mehr Rechte zu geben und sie vor Gewalt zu schützen. Stattdessen verdiente der Staat nun an dem Millionengeschäft mit und erschwerte der Polizei die Arbeit.

Sie kniete sich vor Estera und hielt ihr die Hand. »Du musst mir vertrauen. Bitte.«

»Razvan Ciobanu«, wisperte Estera.

Die Tür wurde aufgestoßen, und blitzschnell sprang Natasha auf. Ein schlanker, drahtiger Typ stürmte mit zornigem Gesichtsausdruck herein. Etwas an dem Mann kam ihr vage bekannt vor. Kohlrabenschwarzes Haar, in dem sich das Licht bläulich fing, lag glatt gegelt an seinem Kopf. Dennoch sorgte ein Wirbel dafür, das es an einer Stelle abstand. Der Mann trug ein weinrotes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen. Der anthrazitfarbene Anzug saß perfekt und betonte seine schlanke Linie. Am Hals trug er an einer feinen goldenen Kette einen Anhänger, einen sechszackigen Stern, gebildet von Linien aus Goldstreben und runden Bögen, die die Mitte bildeten.

Marla und ihr Kollege folgten dem Mann auf den Fersen, der noch einen Anwalt im Schlepptau hatte, wie sie unschwer an dem Anzug, der Aktentasche und der überheblichen, besserwisserischen Ausstrahlung erkannte, die einer bestimmten Art von Anwälten wie ein schlechter Geruch anzuhaften schien.

»Sie haben kein Recht, das Mädchen von Herrn Ciobanu festzuhalten. Er hat sich große Sorgen um sie gemacht, als er sie nicht zu Hause antraf.«

»So? Sie ist minderjährig, und wir haben sie in einer Bar aufgegabelt«, konterte Marla.

Natasha baute sich vor dem Rumänen auf und blockierte ihm den Weg. »Keinen Schritt weiter, Herr Ciobanu.«

Er blieb abrupt stehen. Kurz sah sie Überraschung in seinen sepiabraunen Augen aufflackern. Es war nicht das erste Mal, dass Natasha mit ihrer Ausstrahlung jemanden dazu brachte, vor ihr zurückzuweichen. Dieser Mann würde nur über ihre Leiche in Esteras Nähe kommen. Und genau das signalisierte sie mit jedem Quadratzentimeter ihres Körpers.

»Sie haben nicht das Recht, eine Minderjährige ohne die Anwesenheit eines Anwalts einem Verhör zu unterziehen. Ich werde Sie wegen Amtsmissbrauchs anzeigen.«

Sie machte sich nicht die Mühe, den Anwalt anzuschauen, sondern behielt Razvan Ciobanu im Auge, der unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurückwich. »Raus hier, sofort! Bevor ich Sie wegen Menschenhandels und sexuellen Missbrauchs an einer Minderjährigen festnehmen lasse.«

»Dazu …«, begann der Anwalt, aber sie hob die Hand, machte einen Schritt auf die beiden Männer zu.

»Ich sagte raus, und das ist mein Ernst.«

»Estera, komm mit.« Seine Stimme hatte einen samtig warmen, verführerischen Klang.

Obwohl seine Worte an das Mädchen gerichtet waren, sah er sie an. Natasha bekam eine Gänsehaut. Diese Stimme!

Sie musste sich regelrecht der hypnotischen Ausstrahlung des Mannes entziehen. »Sie bleibt bei mir, und nur, damit wir uns verstehen – ich werde sie nicht mehr eine Sekunde aus den Augen lassen.«

»Ist das eine Drohung? In dem Fall …«

Diesmal hob der Rumäne die Hand und brachte seinen Anwalt zum Schweigen. »Estera, der Teufel wird dich und diese Frau holen. Ich hätte dich beschützen können, aber jetzt bist du verdammt.« Er wandte sich ab und verließ den Raum.

Der Anwalt klappte den Mund auf, sah Natasha an, das Mädchen, klappte den Mund zu und folgte seinem Mandanten. Marla grinste sie an, packte ihren Kollegen am Arm, der leicht verdattert hinter den beiden Männern hersah, und schob ihn aus dem Raum. Leise machte sie die Tür hinter sich zu.

Lächelnd drehte Natasha sich zu dem Mädchen um. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ihr das Herz stehen. Jegliche Farbe war Estera aus dem Gesicht gewichen, ihre Augen waren glasig, der Ausdruck verzerrt, als hätte sie eine Lähmung. Es schien, als wollte sie schreien. Schaum trat aus ihrem Mund.

Natashas Trainingsroutine setzte ein. Blitzschnell war sie an der Seite des Mädchens, prüfte, ob es noch bei Bewusstsein war. Kein Pulsschlag, keine Bewegung. Rasch legte sie Estera auf die Seite und begann mit der Herz-Lungen-Massage.

Marla kam hereingestürzt. »Was ist passiert?«

»Ruf den Notarzt.«

Marla wählte bereits die Nummer.

Ich lass dich nicht sterben. Ich lass dich nicht sterben. Wie ein Mantra wiederholte Natasha die Worte im Kopf. Schweiß begann ihr den Rücken hinunterzurinnen.

»Nicht«, bremste Marla sie, als sie Sauerstoff über Mund-zu-Mund-Beatmung spenden wollte. Sie kniete sich zu ihr, Plastikhandschuhe über den Händen. »Es könnte eine Zyankalikapsel gewesen sein oder sonst irgendein Gift.«

Umsichtig säuberte Marla den Mund des Mädchens, drehte Esteras Kopf dabei leicht zur Seite und verstaute das Tuch in einem Plastikbeutel. Als Nächstes legte sie ihr einen Finger an die Halsschlagader.

Natasha hielt nicht eine Sekunde mit ihrer Bemühung inne. Wenn es sein musste, würde sie das Herz zum Schlagen zwingen.

»Natasha.«

Sie spürte Marlas Hand auf ihren Schultern. Nein!

»Natasha, es hat keinen Sinn. Hör auf. Das Mädchen ist tot.«

Nein. Verbissen kämpfte sie weiter. Schweißtropfen rannen ihr in die Augen, brannten und nahmen ihr die Sicht. Sie bekam nur am Rande mit, dass der Notarzt kam.

»Gehen Sie zur Seite.«

Sie hörte die Worte, doch sie drangen nicht zu ihr. Jemand packte sie und schob sie von dem Mädchen weg. Im letzten Moment bremste sie sich, ihm eine zu verpassen. Sie stierte die zwei Rettungssanitäter und den Notarzt an.

Eine kurze Überprüfung der Vitalfunktionen, der Arzt aktivierte den Defibrillator, gab einen Schock, wartete, machte einen zweiten und dritten Versuch.

Nein. Nein. Nein.

Er sah sie an, schüttelte den Kopf und schloss dem Mädchen die Augen.

3

Vergessen

Sie hockte auf dem Stuhl, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände im Nacken verschränkt. Was, verflucht noch mal, war da eben passiert? Wie konnte es sein, dass ein junges Mädchen auf einmal aus dem Nichts heraus einen Herzinfarkt erlitt? War es Gift gewesen? Aber warum? Warum hätte das Mädchen sich vergiften sollen? Es war doch verflucht noch mal bei ihr gewesen, und sie hatte ihren Peiniger und diesen Arsch von Anwalt vertrieben.

Marla legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. Vor ihrem Sichtfeld tauchte eine Flasche Wasser auf. »Trink. Es sei denn, du möchtest lieber einen Schnaps.«

Wortlos nahm Natasha die Flasche entgegen, schraubte die Kappe ab und trank in großen Zügen das Wasser aus.

»Was hat sie dir erzählt?«

»Nichts.«

»Sie muss dir irgendetwas erzählt haben.«

»Nein. Sie hat mir nur seinen Namen genannt. Das war’s, mehr nicht.«

»Scheiße.«

»Polizeikommissarin Altenburg, ich bitte Sie.« Der Mann im Anzug, der soeben sein Büro betrat, setzte sich hinter den Schreibtisch, der mit Papieren überladen war. Ähnlich war es im gesamten Raum. Die Regale waren mit irgendwelchem Zeug vollgestopft. Ein paar Urkunden und gerahmte Fotos von dem Mann zusammen mit allen möglichen Prominenten hingen an den Wänden.

»Ist doch wahr«, maulte Marla. »Für jeden Schritt, den wir uns vorwärtsbewegen, gehen wir wieder zwei Schritte zurück.«

Sie warf sich auf den Stuhl neben Natasha, hob die Arme frustriert hoch und ließ sie wieder fallen.

»Wie wäre es, wenn wir erst mal mit der Frage anfangen, wer die Dame neben Ihnen ist?«

»Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann vom BKA.«

»Und Sie haben sie weshalb genau hinzugezogen, ohne vorher mit mir zu sprechen?«

»Weil sie verflucht noch mal Rumänisch spricht.«

»Warum haben Sie nicht eine Übersetzerin angefordert?«

»Es musste schnell gehen, und Natasha ist einsame Spitze in Sachen Verhöre.«

»Dennoch gehört sie zum BKA, nicht zum LKA.«

Natasha blinzelte und musterte den Mann, dessen Aufmerksamkeit auf seine Mitarbeiterin gerichtet war. Seine Hände lagen wie zum Gebet gefaltet auf einem der Papierstapel. Mit seiner Haltung, dem akkurat sitzenden Anzug, dem bis oben hin zugeknöpften Hemd wirkte er wie ein Fremdkörper in dem chaotischen Büro.

»Ich bin nicht zum ersten Mal für das Berliner Landeskriminalamt tätig. Herr …?«

»Polizeioberkommissar Klingenthal. Leiter der Abteilung LKA 13, Sexualdelikte.«

Natasha zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Wenn sie so weitermachte, würde ihr Gesicht zu einer Grinsegrimasse erstarren wie bei Joker, dem Antagonisten in dem DC-Comic-Batman, und das ohne Säurebad. Sie fragte sich, ob Bürokraten wie Klingenthal nicht wesentlich dazu beitrugen, dass das Verbrechen am Ende meist die Oberhand behielt. Sie schob den Gedanken energisch beiseite.

»Sehen Sie, ich gehöre zwar zum BKA, bin aber Mitglied einer Sondereinheit, deren Aufgabe es ist, überall dort auszuhelfen, wo bei der Landes- und Bundespolizei spezielle Ressourcen benötigt werden. Dazu zählen in meinem Fall besondere Sprachkenntnisse und eine Ausbildung als Verhörspezialistin.«

»Nun, und ich halte nichts von diesen Sondereinheiten, die auf einmal wie Pilze aus dem Erdboden sprießen. Wenn es Ihre Absicht war, mich zu beeindrucken, Frau Kehlmann, haben Sie gerade das Gegenteil erreicht.«

»Natasha war in dem Team, das geholfen hat, die Terroristen dingfest zu machen, die für die Anschlagsreihe vor drei Jahren verantwortlich waren.«

»Sechs der Geiseln kamen bei der Befreiungsaktion ums Leben. Welchen Beitrag leisteten Sie?«

»Ich brachte das Essen.«

Eine Pause entstand, in der Klingenthal sie betrachtete. Es entsprach der Wahrheit, war jedoch von ihr sarkastisch gemeint. Sie musste sich am Riemen reißen. Ihr war klar, dass sie nach dem Tod des Mädchens nicht einfach weggehen konnte.

»Es tut mir leid, Polizeioberkommissar Klingenthal, Sie haben natürlich recht. Polizeikommissarin Altenburg und ich kennen uns seit Langem. Ich habe sie im Zusammenhang mit einem Fall kennengelernt, bei dem BKA und LKA zusammenarbeiteten. Sie weiß, was ich kann, und hat mich angerufen. Ich habe mir, ehrlich gesagt, nichts dabei gedacht.«

»Weiß Ihr Chef, dass Sie während Ihrer Arbeitszeit einer Bekannten aushelfen?«

»Nein.«

»Dachte ich mir. Nun, das ist sein Problem, sobald ich ihn darüber in Kenntnis gesetzt habe. Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass ich einen Bericht schreiben muss und es eine interne Untersuchung geben wird.«

»Selbstverständlich.«

»Also, was genau ist passiert?«

Natasha gab den Ablauf dessen, was vorgefallen war, präzise wieder und ließ auch nicht das winzigste Detail aus – angefangen von Marlas Anruf bis zu ihrem Aufenthalt in diesem Raum, um auf Klingenthal zu warten. Zwischendurch verengte Klingenthal immer wieder die Augen, als müsste er blinzeln. Jede seiner Fragen beantwortete sie so genau wie möglich.

»Sie waren mit dem Mädchen allein im Zimmer?«

»Ja.«

»Haben Sie darauf bestanden?«

»Nein«, kam ihr Marla zuvor, die sich bisher komplett im Hintergrund gehalten hatte. »Das ist bei uns die übliche Vorgehensweise in so einem Fall. Wir möchten, dass sich das Opfer wohlfühlt und Vertrauen fasst. Deshalb haben wir die Opferbefragungsräume auch wie ein Wohnzimmer oder Kinderzimmer gestaltet, damit die Opfer keine Angst haben.«

Irritiert sah Natasha Marla an. Der Mann war doch ihr Chef, der Leiter der Dienststelle. Wieso belehrte sie ihn über etwas, das in seinem Verantwortungsbereich lag? Warum war er nicht im Bilde?

Unbeirrt fuhr Marla fort: »Aus diesem Grund spricht auch meistens nur eine Frau mit dem Opfer. Alle anderen Beamten sind im Beobachtungsraum. Je mehr Personen sich mit im Raum aufhalten, desto bedrohlicher würde die Situation auf das Mädchen wirken. Vergessen Sie nicht, dass die Zuhälter die Mädchen in Länder bringen, deren Sprache sie nicht verstehen, und ihnen eine panische Angst vor der Polizei einflößen.«

Klingenthal presste die Lippen zusammen, seine Augen verengten sich wieder, und die dünnen, kaum sichtbaren Augenbrauen trafen sich an der Nasenwurzel.

Na wunderbar, gerade hatte sie gedacht, der Mann hätte sich ein wenig entspannt.

»Es gibt einiges, was mein Vorgänger in dieser Abteilung eingeführt hat, und was ich zu ändern gedenke. Nur Frau Kehlmann weiß, was genau sich in dem Raum abgespielt hat. Sie können nicht mit Sicherheit wissen, ob sie dem Mädchen nicht etwas zugesteckt hat, und weshalb verließen Sie den Raum wieder, nachdem Herr Ciobanu aus dem Zimmer gegangen war?«

»Aus demselben Grund, den ich zuvor aufführte. Es war eine beängstigende Konfrontation für das Mädchen. Ihr Peiniger wollte sie mit seinem Anwalt herausholen. Frau Kehlmann hat sie beschützt, und ich hoffte, dass es ihr den Mut geben würde, uns zu erzählen, was ihr geschehen ist. Wir brauchen Zeugen, damit wir solchen Verbrechern wie Ciobanu das Handwerk legen können. Doch die Mädchen haben Angst, weil sie wissen, was er ihnen antun wird, sobald sie wieder auf der Straße sind.«

»Ist das der Grund, weshalb ich zur Spurensicherung musste? Sie glauben ernsthaft, ich hätte das Mädchen getötet?«, hakte Natasha verblüfft ein.

»Das Mädchen war sechzehn Jahre alt, dem ersten Anschein nach gesund, und Sie waren die einzige Person, die mit ihr im Raum war.«

»Und warum hätte ich das Mädchen töten sollen?«

»Eine durchaus interessante Frage, nicht wahr, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann? Wie kommt es, dass eine Frau in Ihrem Alter bereits einen derartigen Rang bekleidet?« Perplex sah Natasha ihn an. »Der Anwalt von Herrn Ciobanu hat Anzeige gegen Sie erstattet. Der Mann beschuldigt Sie, das Mädchen bedroht und getötet zu haben.«

»Das ist absolut lächerlich.«

»Finden Sie das? Nun, ich nicht. Denn ich muss meinem Chef zum einen erklären, wie es dazu kam, dass ein sechzehnjähriges Mädchen in unserer Obhut gestorben ist, und warum eine Beamtin, die nicht Teil meiner Abteilung ist, mit diesem Mädchen allein im Befragungszimmer war.«

Langsam erhob sich Natasha. »Kann ich gehen?«

»Vorerst ja, und nehmen Sie Ihre Freundin Frau Altenburg gleich mit, allerdings erst, nachdem sie mir ihren Dienstausweis und ihre Waffe ausgehändigt hat.«

»Bitte?« Marla starrte ihren Chef fassungslos an.

»Sie sind vorläufig vom Dienst suspendiert, bis uns die Ergebnisse der Todesursache vorliegen und die internen Untersuchungen abgeschlossen sind.«


»Dieses gottverdammte Arschloch!« Marla schlug wütend mit der Faust auf die Theke, dass der Barmann beinahe ein Glas fallen ließ.

»Hey!«

Entschuldigend hob Marla die Hände. »Tut mir leid, Bob, ich hatte heute echt einen Scheißtag.«

»Das Übliche?«

»Nein, mach einen Doppelten daraus. Natasha?«

»Dasselbe.«

»Dasselbe?«

Mit einem finsteren Gesichtsausdruck ließ sie sich neben Marla auf den Barhocker fallen. »Dasselbe.«

Marla zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.«

Bob stellte ihnen einen Teller mit halbierten Limettenscheiben, zwei Salzstreuer und zwei Gläser mit einer glasklaren Flüssigkeit vor die Nase. »Zum Wohl, Mädels.«

Skeptisch betrachtete Natasha das Glas. »Was ist das?«

»Tequila.«

»Und was soll das da?« Sie deutete auf Salzstreuer und Limetten.

»Ich zeig’s dir.« Marla streute Salz auf die Haut zwischen den Mittelhandknochen ihres Daumens und des Zeigefingers und nahm das Glas in dieselbe Hand. Sie leckte das Salz ab, kippte das Getränk hinunter, nahm eine der halben Limettenscheiben, lutschte sie aus und schüttelte sich. »Ah, das hat gutgetan. Jetzt geht es mir gleich viel besser. Probier’s.«

Pures Feuer rann Natasha die Kehle hinunter, das vom sauren Saft der Limette ein wenig abgemildert wurde.

»Noch eine Runde«, verlangte Marla.

»Bist du sicher? deine Freundin sieht aus, als wäre es der erste Tequila in ihrem Leben.«

»Ist es auch«, keuchte Natasha, nickte aber. »Noch einen. Okay, und jetzt erzählst du mir, seit wann du so einen Arsch von Vorgesetztem hast. Was ist mit Schäfer passiert?«

»Er wurde befördert.« Marla machte mit den Fingern zwei Paar Anführungsstriche in die Luft. »Klingenthal leitet die Abteilung seit zwei Monaten. Drei meiner Kollegen haben sich bereits versetzen lassen.«

»Du denkst nicht ernsthaft darüber nach zu wechseln?«

Marla ließ ihr Glas auf der Theke kreisen.

»Das darfst du nicht. Die Mädchen brauchen Polizistinnen wie dich. Frauen, die ihnen klarmachen, dass ihnen Gewalt angetan wird, die ihnen den Rücken stärken, damit sie aussteigen.«

»Vergiss nicht, ich wurde suspendiert. Es gibt eine interne Untersuchung. Ich bin Klingenthal mit meinen unorthodoxen Methoden ein Dorn im Auge. Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe. Hätte ich die Anfrage über Klingenthal gestellt …« Marla brach ab.

»… wäre Estera wieder bei ihrem Zuhälter.«

»Andererseits wäre sie noch am Leben.«

»Glaubst du wirklich, sie hat Gift genommen?«

»Keine Ahnung.«

»Aber wieso?«, grübelte Natasha und kippte den nächsten Tequila weg. Diesmal war sie auf die Schärfe des Getränks vorbereitet. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus, und ihre Muskeln entspannten sich wie bei einem heißen Bad.

»Fliegst du jetzt aus dem Team?«

»Nein. Ich glaube nicht. Ich meine, Wahlstrom …« Sie seufzte. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie mit ihrem Chef klargekommen war. Noch immer fiel es ihr schwer, ihn in bestimmten Situationen einzuschätzen. Er konnte es nicht leiden, wenn sie die Gesetze in ihrem Sinne verbog. Doch für ihn zählten vor allem Ergebnisse. Wenn eine andere Dienststelle Beschwerde einlegte, stand er voll hinter seinem Team. Stellte sich dann aber heraus, dass der Vorwurf berechtigt war, konnte er unangenehm werden. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Klar, sie hätte ihn vorher fragen können, ob es in Ordnung wäre, wenn sie Marla half. Hätte ihre Aktion zu einem Ergebnis geführt, wäre es keine Frage. Jetzt jedoch gab es ein totes Mädchen, und sie stand unter Verdacht, ihren Tod herbeigeführt zu haben. Andererseits – sie war unschuldig. Oder?

»Ist halt Wahlstrom, ich weiß bei ihm nie, woran ich bin. Noch eine Runde«, orderte sie. Sie musste ihre Stimme über die Musik erheben. Allmählich füllte sich das Lokal.

»Hey, das Zeug ist hochprozentig. Du solltest langsam machen.«

»Behauptest du nicht immer, dass ich ein Moralapostel wäre?«

»Pit reißt mir den Kopf ab, wenn du mir in einer Kneipe aus den Latschen kippst.«

»Wieso hast du eigentlich mit ihm Schluss gemacht? Es war die längste Beziehung, die du je hattest. Er war wochenlang am Boden zerstört.«

Ein wehmütiges Lächeln erschien auf Marlas Gesicht. »War er das?«

»Ja, war er. Das Training mit ihm war die Hölle, nachdem du mit ihm Schluss gemacht hast. Caro hat eine Pizza ausgegeben, als er endlich wieder eine Freundin hatte. Also, warum hast du es beendet?«

»Warum hast du Jake einen Korb gegeben?«

»Weil ich nicht der Typ Frau bin, der auf kurzfristige Beziehungen steht. Ist mir viel zu anstrengend und kompliziert.«

»Du stehst auch nicht auf langfristige. Wenn ich es recht bedenke, kann ich mich überhaupt nicht erinnern, dass du je einen Freund gehabt hättest, seit wir uns kennen, und das sind fünf Jahre.«

»Keine Zeit.«

»Ach Quatsch. Du stehst doch nicht echt auf Frauen, oder?«

»Nein, das hatte Pit nur angenommen, und ich fand es ganz praktisch.«

»Jake war echt verliebt in dich.«

»Woher willst du das denn wissen?« Natasha grinste Marla an und hatte keine Ahnung wieso. Ihr war ein wenig leicht im Kopf. Marla wich ihrem Blick aus, machte in Bobs Richtung ein Zeichen für eine weitere Runde. »Du hast mit ihm geschlafen!«

»Du wolltest nichts von ihm.«

»Wann?«

»Als er hier war, um sich von Akiro zu verabschieden.«

»Bist du deshalb letzten Monat in die USA geflogen?«

Marla grinste und hob die Augenbrauen. »Du weißt gar nicht, was du verpasst hast. Jake ist echt der Hammer im Bett.«

Theatralisch hielt sich Natasha die Ohren zu. »Ich will es gar nicht hören. Außerdem hast du das auch von Pit behauptet.«

»Oh ja. Schwer zu entscheiden, wer von den beiden besser ist. Vielleicht keiner, nur anders. Man kann süchtig danach werden.«

»Marla, in einer Beziehung dreht sich nicht alles um Sex.«

»Stimmt, aber es ist eine wichtige Komponente. Jake war von Anfang an ein Typ, der mich gereizt hat.«

»War er der Grund, weshalb du mit Pit Schluss gemacht hast?«

»Nein.« Marla wandte sich auf dem Barhocker um und fixierte sie. »Du warst der Grund.«

»Ich?«

»Und – ist das nicht die absolute Ironie, dass ausgerechnet die zwei Männer, die mich bisher am meisten gereizt haben, ausgerechnet von dir besessen sind?«

Natasha schnaubte. »Du spinnst. Du bist ja betrunken.«

»Herrgott, ich war dermaßen eifersüchtig auf dich, dass ich sogar ernsthaft überlegt habe, ob ich mir die Haare schneiden lassen soll wie du.«

»Bist du wahnsinnig? Mach das auf keinen Fall. Du hast traumhafte Haare.«

Marla fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Lockenpracht. »Da stimme ich dir zu. Ich bin einfach eine umwerfend attraktive Frau.«

»Wie die Venus selbst. Herabgekommen auf die Erde zu uns Sterblichen, damit wir Männer uns vor ihr niederknien dürfen. Darf ich Ihnen eine Runde ausgeben?«

Marla klimperte den Typen, der sich auf ihrer anderen Seite an der Theke niederließ, mit ihren künstlichen Wimpern an. Es war Natasha ein Rätsel, warum sie jeden Morgen diesen Aufwand betrieb. Zum Ausgehen konnte sie es ja noch verstehen, aber bei der Arbeit? Sie durfte gar nicht daran denken, wie oft am Tag sie schwitzte, schwamm und duschte. Wie machte Marla das nur?

»Ich bin Robin«, stellte er sich vor. Einer dieser geleckten, von sich selbst überzeugten Kerle, die sich für unwiderstehlich hielten.

Natasha schwieg, stierte den Typen angewidert an und überließ Marla das Ruder.

»Ich bin Marla, und das ist Natasha, aber ich muss dich warnen, sie steht nicht auf Männer wie dich. Sie mag überhaupt keine Männer.«

»Und du?«

»Ich mag Männer sehr gern, bin aber ziemlich verwöhnt, was das betrifft, und gerade nicht in Stimmung. Du kannst dir also die Runde sparen und dir ein vielversprechenderes Ziel suchen.«

»Schlechten Tag gehabt?«

»Das ist noch untertrieben.«

»Erzähl, ich bin ein guter Zuhörer.«

»Ganz bestimmt, aber siehst du, meine Freundin hier«, sie legte ihr den Arm um die Schulter, »hatte einen noch beschisseneren Tag als ich, und zum ersten Mal, seitdem ich sie kenne, trinkt sie einen mit mir. Dabei kann ich sie unmöglich aus den Augen lassen. Wenn ihr nämlich etwas passiert, dann macht mir Pit hinterher die Hölle heiß.«

»Wer ist Pit?«

»Der Mann, der sie seit Jahren liebt und doch nicht den Mut aufbringt, es ihr zu sagen. Stattdessen wohnt er mit ihr in einer WG und leidet still vor sich hin.«

»Erzähl nicht so einen Scheiß«, mischte sich Natasha verärgert ein.

»Es ist wahr. Nicht nur, dass er dich zu Familienfeiern mitnimmt. Nee, ich weiß gar nicht mehr, wie oft er mich beim Aufwachen in die Arme nahm und ›Natasha‹ murmelte.«

»Das muss ein echter Volltrottel sein, wenn er mit einer Frau wie dir im Bett ist und von der da redet.«

»Hey, Vorsicht, ›die da‹ ist meine Freundin.«

»Dann hättet ihr es vielleicht mal mit einem Dreier probieren sollen.«

Natasha setzte die Füße auf den Boden und musste sich kurz an der Theke festhalten, um die Balance zu finden. Warum drehte sich nur alles in diesem Raum? »Okay, es reicht, Freundchen, verschwinde und such dir jemand anders, den du nerven kannst.«


Pit warf einen Blick auf seine Uhr. Es war halb zehn, und noch immer keine Spur von Natasha. Ein weiteres Mal versuchte er es auf ihrem Handy. Wieder ging die Mailbox dran. Es war so typisch für diese Frau. Immer machte sie ihr Handy aus und trieb ihn damit in den Wahnsinn. Kurz zögerte er, dann wählte er Marlas Nummer. Dasselbe Ergebnis. Sein nächster Versuch zielte auf seine Schwester Cecilia ab. Vielleicht hatte Natasha sie angerufen, nachdem Marla sie zu was auch immer hinzugezogen hatte. Immerhin arbeitete Marla im LKA 13, wo es um Sexualdelikte ging, und Cecilia war auf Opfer von Sexualverbrechen spezialisiert.

»Willst du was von mir oder suchst du Natasha?«

»Woher weißt du das?«

Er hörte sie am anderen Ende lachen.

»Ehrlich, Bruderherz, manchmal weiß ich nicht, ob du mir leidtun sollst, oder ob ich dir einen kräftigen Tritt in den Hintern verpassen soll. Yvonne und Carina sind für Letzteres. Angela hingegen meinte, wir sollten subtiler vorgehen. Sorry, aber ich habe keine Ahnung, wo Natasha ist. Sie hatte mir zwischendurch eine kurze Nachricht geschickt, ob ich mich bei ihr melden kann, wenn ich Zeit habe. Als ich das versuchte, ging aber nur die Mailbox dran.«

»Wann war das?«

»Dass sie mich kontaktiert hat oder dass ich sie zurückgerufen habe?«

»Beides.«

»Lass mich schauen. Ihre Nachricht ist von 15:42 Uhr, mein Anruf war um 17:33 Uhr. Ist dir das präzise genug.«

»Lies mir die Nachricht vor.«

»Brauche deinen fachlichen Rat. Ruf mich an, wenn du Zeit hast.«

»Mehr nicht? Keine Emojis oder so was?«

»Nein, mehr nicht. Worum geht es?«

»Keine Ahnung. Marla hat sie heute Nachmittag angerufen, und sie ist rübergefahren.«

»Marla? Die Marla?«

Er verdrehte die Augen. »Ja, die Marla.«

»Und was hat das damit zu tun, dass Natasha meinen fachlichen Rat braucht?«

»Keine Ahnung. Ich muss jetzt auflegen. Wenn sie sich meldet, sag mir Bescheid.«

Kaum hatte er aufgelegt, signalisierte sein Handy einen Anruf. Er nahm das Gespräch direkt an.

»Wo bist du?«

Kurz blieb es still. »Noch im Krankenhaus, wieso? Was ist passiert? Geht es Natasha gut?«

Carina klang besorgt. In seinem Magen bildete sich unwillkürlich ein Knoten. »Wieso fragst du das?«

»Was ist das eigentlich mit euch beiden? Wieso beantwortet ihr Fragen immer wieder mit einer Gegenfrage?«

»Wir sind Polizisten. Damit bringt man Leute zum Reden. Also, wieso willst du wissen, ob es ihr gut geht?«

»Sie hat mir heute Nachmittag eine Nachricht geschickt, in der sie um Rückruf bittet, doch ich war in einer OP, dann in einer Besprechung, und erst jetzt bin ich dazu gekommen, mich bei ihr zu melden. Und voilà, statt ihr geht ständig nur die Mailbox ran. Deshalb rufe ich dich an. Wo ist sie? Ist sie verletzt? Liegt sie im Krankenhaus?«

»Nein. Ich weiß nicht – wieso sagst du so was? Was hat sie geschrieben?«

»Brauche dringend deinen fachlichen Rat. Ruf mich bitte an, wenn du Zeit hast.«

»Shit. Ich leg jetzt auf. Hast du Bereitschaft?«

»Nein. Ich wollte gleich nach Hause fahren. Ruf mich an, sobald du sie gefunden hast.«

»Okay. Danke.« Bevor er die nächste Nummer wählte, atmete er tief durch. Es dauerte sechs Klingeltöne, bis sich am anderen Ende jemand meldete.

»Ich hoffe für Sie, Abel, dass es eine echte Krise gibt«, knurrte Wahlstrom außer Atem.

Shit, jetzt fiel es Pit ein. Seine Frau war gestern von einer Reise nach Hause gekommen. Keine gute Ausgangslage, wenn man seinen Chef beim Sex störte.

»Und damit meine ich nicht die Sache mit Kehlmann! Ihre Partnerin knöpfte ich mir morgen vor, und sagen Sie ihr, sie kann sich auf was gefasst machen. Also, was wollen Sie?«

»Welche Sache mit Natasha?«

»Soll das heißen, sie ist nicht zu Hause?«

»Wieso wollen Sie sie sich vorknöpfen?«

»Hat sie Ihnen nichts erzählt?«

»Was ist passiert?«

»Wo ist sie?«

»Deshalb rufe ich Sie an. Irgendwas muss passiert sein. Sie hat den Zwillingen eine Nachricht geschickt. Ich weiß, dass wir das eigentlich nur im Einsatz machen, aber ich muss wissen, wo sie ist.«

»Kein Problem«, unterbrach ihn Wahlstrom, »geben Sie mir zwei Minuten. Ich rufe Sie zurück.«

4

Eingesammelt

Pit ließ Smart zu Hause, was diesem überhaupt nicht passte. Der Hund spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, und war den ganzen Tag ähnlich unruhig gewesen wie er.

Er joggte die Querstraße hinunter, als der Anruf von Wahlstrom kam.

»Red Zora, das ist eine Bar in –«,

»Kenn ich. Das ist völlig untypisch für sie. Sagen Sie mir, weshalb Natasha Ärger bekommt?«

»Nein. Nur so viel – jemand will, dass sie suspendiert wird.«

»Suspendiert?«

»Keine Sorge, das wird nicht passieren. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand meint, er müsste in meine Personalangelegenheiten reinreden. Laufen Sie?«

»Natasha hat das Auto, ich bin auf dem Weg zu Kevin.«

»Weiß er, dass Sie kommen?«

»Nein, ich wollte erst auf Ihren Anruf warten.«

»Legen Sie einen Zahn zu, ich ruf Steuber an.«

Kevin saß bereits im Auto, als er angerannt kam. Pit hatte noch nicht den Sicherheitsgurt angelegt, da drückte er bereits das Gaspedal durch. »Was hat sie diesmal verbrochen?«

Sie bretterten in einer irrsinnigen Geschwindigkeit durch die Innenstadt von Berlin. Kevin kannte jeden Schleichweg. Das Spiel zwischen Kupplung, Gas und Bremse erfolgte in einem Rhythmus, der beruhigend auf Pit wirkte. Die rechte Hand schaltete, ging ans Lenkrad, schaltete. Nicht ein Mal kam der Volvo ins Schlingern. Auch nicht, als er eine Vollbremsung hinlegte, weil ein Fahrzeug auf ihre Spur wechselte und kein Platz blieb, um auszuweichen und daran vorbeizuziehen.

»Vielleicht solltest du das Blaulicht einschalten.«

»Wir sind nicht im Einsatz.«

»Pass auf!« In letzter Sekunde wich Kevin einer Gruppe von Jugendlichen aus, die ohne achtzugeben die Straße überquerte. Alle sichtlich unter Alkoholeinfluss.

»Also?«, hakte Kevin nach.

»Keine Ahnung. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass Marla sie angerufen und um ihre Hilfe gebeten hat.«

»Marla? Die Marla?«

»Warum fragt jeder, wenn ich ›Marla‹ sage, ›die Marla‹?«

»Das fragst du? Hör mal, Chris war kurz davor, ihr an die Gurgel zu gehen. Sie hat dir das Herz gebrochen, als sie dich abgeschossen hat.«

»Hat sie nicht. Schau auf die Straße, wenn du wie der letzte Henker fährst!« Er atmete tief durch. »Mehr weiß ich nicht. Die Bar ist Marlas Stammkneipe, also denke ich mal, dass sie Natasha mitgeschleppt hat.«

»Sei wann geht Natasha freiwillig in eine Kneipe?«

»Genau das macht mir Sorgen.«

»Hat sie gesagt, wobei Marla Hilfe braucht?«

»Nein, und ich Idiot habe auch nicht nachgefragt.«

Um Kevins Mundwinkel zuckte es.

»Was!«, blaffte er ihn an.

»Nichts.«

»Du verkneifst dir ein Grinsen.«

»Ja, weil ich keinen Bock habe, wieder von dir auseinandergenommen zu werden. Ich habe noch von der letzten Aktion blaue Flecken.«

Gekonnt parkte Kevin den Volvo in eine Parklücke ein, von der Pit nicht mal im Traum gedacht hätte, dass sie für das Fahrzeug ausreichend Platz bot. Er war froh, als Kevin sich ihm anschloss.

»Na dann, auf in den Kampf.«

Das Lied »Whenever« der Gruppe Nemesea dröhnte ihnen entgegen. Pit kannte den Lieblingsplatz von Marla an der Bar, doch da saß sie nicht. Nicht weit davon entfernt hatte sich ein kleiner Pulk gebildet, und die Umstehenden johlten, klatschten und lachten.

»Da ist Marla.« Kevin zeigte auf eine der Frauen in dem Pulk.

Gemeinsam arbeiteten sie sich vor.

Pit packte Marla an der Schulter, die völlig auf das Geschehen vor ihr fixiert war, allerdings nicht lachte, und drehte sie ein Stück zu sich um. »Wo ist …«

Das Entsetzen in Marlas Augen ließ ihn den Satz abbrechen.

»Shit«, murmelte Kevin gleichzeitig neben ihm.

»Ehrlich, ich habe nichts getan. Sie hat sich Tequila bestellt. Hätte ich gewusst, was passiert …«

Erst jetzt wandte Pit den Blick in das Zentrum des Pulks. Dort tanzte – wenn man es so nennen wollte – Natasha vor einem Typen, dem eine gewisse Panik in den Augen stand, passend zum Text des Liedes. Zornig untermalte sie die Worte mit Handbewegungen. Als sie den Mann mit beiden Händen schubste, stand Kevin bereits bei ihr und packte sie.

Ein Fehler, das hätte er ihm gleich sagen können, und Kev hätte es wirklich besser wissen müssen. Natasha konnte es überhaupt nicht leiden, wenn man sie festhielt, und es brachte sie nur dazu, zur Höchstform aufzulaufen. Ihre Bewegungen waren allerdings verlangsamt. Sie bewegte sich bei Weitem nicht so ausbalanciert und flink wie im Training. Dennoch hatte Kevin seine liebe Not mit ihr, zumal er ihr nicht wehtun wollte.

Als sie ihm einen Aufwärtshaken verpasste, reichte es ihm. Pit ging geradewegs auf sie zu, versetzte ihr einen Handkantenschlag auf die Halsschlagader und warf sie sich über die Schulter, als sie zusammensackte.

Mit der freien Hand holte er seinen Ausweis heraus. »Polizei. Bleiben Sie zurück und machen Sie den Weg frei.«

Sofort öffnete sich die Menge und machte ihm Platz.

»Okay, so kann man das Problem auch lösen«, brummte Kevin und rieb sich das Kinn.

»Nimm Marla mit«, befahl er seinem Teamkameraden knapp.

»Ich komme. Du brauchst mich nicht auszuknocken«, hörte er Marla sagen.

»Hatte ich auch nicht vor. So was macht nur unser Pit.«

»Wo steht mein Auto?«, fragte er.

»Etwa hundert Meter rechts.«

Marla klang nüchtern, obwohl sie unter Garantie einiges intus hatte. Immerhin war sie geistesgegenwärtig genug gewesen, ihre Handtasche und beide Jacken mitzunehmen.

»Danke, Kev, dass du mich gefahren hast.«

»Kein Problem. Ich hoffe, dir ist klar, dass sie stocksauer sein wird, wenn sie aufwacht. Marla, soll ich dich nach Hause bringen?«

»Marla kommt mit mir.«

Marla hielt ihren Oberkörper mit den Armen umfangen und sah abwechselnd zwischen ihnen beiden hin und her. Sie machte einen Schritt auf Kevin zu.

»Ich bin nicht sauer auf dich«, sagte Pit. »Ich will nur wissen, was passiert ist. Ich fahr dich später nach Hause, wenn du mir erzählt hast, was los war. Versprochen.«

Marla kramte den Autoschlüssel aus Natashas Jacke hervor und öffnete die Tür.

Vorsichtig ließ er Natasha von seiner Schulter gleiten, hielt eine Hand auf ihren Kopf, als er sie auf den Beifahrersitz verfrachtete. Er schnallte sie an und stieg auf der Fahrerseite ein. »Gib mir ihre Jacke.«

Marla, die hinten eingestiegen war, reichte sie ihm rüber. Er rollte sie zusammen, schob Natashas Kopf zur Beifahrertür und bettete ihn auf die zusammengerollte Jacke. Sicherheitshalber fühlte er ihren Puls. Sie roch nach Alkohol. Ihr Mund war leicht geöffnet.

Er drehte sich zu Marla um. »Wie viel?«

»Vier Doppelte.«

Er starrte sie an. »Bist du wahnsinnig geworden? Damit hat sie mit Sicherheit über zwei Promille im Blut.«

»Sie hat mehr Muskeln als ich«, entgegnete Marla und schob die Unterlippe vor.

»Nur dass ihre Leber im Gegensatz zu deiner keinen Alkohol gewohnt ist.«

Er wählte Carinas Nummer, während er das Fahrzeug in den Verkehr einfädelte.

»Hast du sie?«, fragte seine Schwester gleich.

»Ja.«

»Gib sie mir.«

»Geht nicht, sie ist bewusstlos.«

»Bring sie zu mir ins Krankenhaus, ich setze mich sofort ins Auto.«

»Nicht nötig. Sie ist bewusstlos, weil ich sie k. o. geschlagen habe.«

»Du hast was

»Könntest du einmal zuhören, statt dauernd Fragen abzuschießen?«

Am anderen Ende sog Carina scharf die Luft ein. Er sah sie genau vor sich, wie sie durch ihre Wohnung tigerte.

»Okay, hör zu. Marla war mit ihr in einer Kneipe und hat ihr Tequila eingeflößt …«

»Sie hat sich den Schnaps selbst bestellt!«, schrie Marla von hinten.

Blöde Freisprechanlage.

»Wieso? Natasha trinkt nie Alkohol.«

Auch er wartete auf eine Antwort, aber von der Rückbank kam nichts mehr. Marla presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich möchte wissen, ob die Menge gefährlich für sie ist.«

Im Rückspiegel sah er, wie Marla die Augen verdrehte. Auf der anderen Seite des Telefons blieb es still.

»Carina?«

»Du bist echt süß, Pit. Keine Sorge, sie stirbt nicht daran. Es wird ihr nur sterbenselend sein, wenn sie aufwacht. Vermutlich wird sie brechen, das wäre auch das Beste. Du solltest dir mehr Gedanken über den Grund machen, weshalb sie getrunken hat.«

»Mir wäre es lieber, wenn du vorbeikommen und nach ihr sehen könntest.«

»Ich bin in einer halben Stunde bei euch.«

Stöhnend bewegte Natasha den Kopf. Ihre Augenlider flatterten. »Ich glaub, mir ist schlecht.«

Pit schaltete die Warnblinkanlage an und hielt an. Natasha brauchte mehrere Anläufe, bis sie die Tür aufbekam. Sie schaffte es nicht raus, weil der Anschnallgurt sie festhielt. Er öffnete ihn, beugte sich hinüber, hielt ihren Kopf, als sie anfing, sich zu erbrechen. »Brav, kotz alles aus.«

»Ich hasse kotzen«, brachte sie zwischen zwei Würganfällen hervor.

»Besser?«

»Weiß noch nicht.«

Er reichte ihr eine Flasche Wasser. Zum Glück hatte er allein schon wegen Smart immer Wasser im Auto. Ihre Hand zitterte. Mit den ersten Schlucken spülte sie sich den Mund und spuckte das Wasser aus. Dann trank sie ein wenig, wartete und wiederholte das Ganze. Langsam lehnte sie sich wieder zurück in den Sitz.

»Meinst du, wir können weiterfahren?«

»Wieso bist du hier? Wieso sitz ich im Auto? Marla?« Ruckartig setzte sie sich auf und verzog sofort das Gesicht.

»Ich bin hier«, kam es kleinlaut von hinten.

»Und der Typ?«

»Du hast ihn am Leben gelassen. Obwohl ich einen Moment glaubte, du würdest ihm wirklich eine verpassen.«

»Scheiße, was hab ich gemacht?«

»Ziemlich eindrucksvoll getanzt. Mir war bisher nicht bewusst, dass Tanzen dermaßen bedrohlich sein kann. Jetzt verstehe ich, was mit Kriegstanz gemeint ist.« Marla gluckste.

Pit warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

»Mir ist hundeelend und ich bin hundemüde.«

»Schlaf.« Er strich ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange. Sie hatte bereits wieder die Augen geschlossen. Er schnallte sie an und fuhr los.

Statt seine Partnerin zu wecken, nahm er sie ein weiteres Mal über die Schulter. Marla öffnete die Türen. Smart winselte, schnupperte an Natasha und leckte ihr die Hand.

»Alles gut, Kumpel, keine Sorge. Ihr ist nur schlecht vom Alkohol. Sie muss schlafen und wird morgen schlecht gelaunt sein, weil sie einen Kater hat«, erklärte er Smart, der mit gespitzten Ohren und schräggelegtem Kopf zuhörte.

Marla ging vor und öffnete ihm die Tür zu Natashas Zimmer. Er blieb vor der Schwelle stehen.

»Das ist jetzt nicht echt dein Ernst«, sagte sie und verdrehte die Augen.

Er sah Marla an, dann das Bett, die Schwelle und wieder sie.

Sie schüttelte den Kopf. »Hör auf, so ein Drama zu veranstalten, und leg sie in ihr Bett. Sie bekommt es sowieso nicht mit.«

»Es war ihre einzige Bedingung.«

»Meinst du, das interessiert sie in ihrem Zustand?«

»Jetzt nicht, aber wenn sie aufwacht schon.«

Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Dann leg sie in dein Bett.«

»Bist du wahnsinnig?«

»Auf die Couch.«

Er holte Natasha vorsichtig von seiner Schulter und hielt sie fest. Ihre Beine sackten ein. Rasch schlang er die Arme um ihre Taille. Sie lehnte sich an ihn.

»Hey, Natasha, wach auf, wir sind da.«

»Mhm.«

Es klingelte an der Haustür.

»Das ist Carina.«

Marla hob die Hand. »Ich mach ihr auf.«

Er klopfte Natasha auf die Wange. Ihre Augenlider flatterten auf und wieder zu. Sie bewegte nicht einen Muskel, und fast wäre sie ihm aus der Hand gerutscht, also hob er sie diesmal auf die Arme, indem er mit seiner freien Hand unter ihre Kniekehlen griff. Hilflos drehte er sich um. Sein Blick fiel auf die Couch.

»Stopp, was machst du da? Wieso legst du sie nicht in ihr Bett?«, bremste ihn Carina, ihre Arzttasche in der Hand.

»Oha, sag bloß, du kennst die Regel nicht?«, kam ihm Marla zuvor.

»Natürlich kenne ich die. Das hier ist ein Notfall.« Energisch ging Carina voraus. »Leg sie in ihr Bett, und dann kannst du verschwinden. Ich mache den Rest. Hat sie gebrochen?«

»Ja.«

»Bring mir trotzdem eine Schüssel mit Wasser, falls es noch nicht alles war.«

Er musterte seine ältere Schwester mit zusammengekniffenen Augen. »Übernimmst du die Verantwortung?«

»Ich gebe es dir schriftlich.«

»Okay.«

Er ging rasch in das Zimmer, und legte sie direkt vorsichtig ab, sodass Carina gerade noch den Überzug und die Bettdecke weggezogen bekam. Kaum war er seine Last los, verdrückte er sich wieder aus dem Raum.

»Nimm Smart mit. Ich habe keine Lust, mich von ihm anknurren zu lassen, wenn ich sie ausziehe.«

»Come here, Smart.«

Der Schäferhund, der seinen Kopf auf dem Bett abgelegt hatte, zögerte, kam dann aber an seine Seite. Pit schloss die Tür und atmete erleichtert durch. Kurz sah er den traurigen Blick in Marlas Augen, bevor sie sich abwandte und zur offenen Küche stiefelte.

»Ich brauch einen Kaffee«, murmelte sie.

»Setz dich. Ich mach dir einen. Nimm dir schon mal Wasser, das hilft auch, einen klaren Kopf zu bekommen. Möchtest du noch Kartoffelgratin?«

»Hast du es gemacht?«

»Ja.«

»Sehr gerne. Das vermisse ich am meisten. Dein Kochen.«

»Schon vergessen? Du hast mit mir Schluss gemacht. Nicht ich mit dir. Wie geht es Jake?«

»Woher weißt du das?«

Er nahm eine Mikrowellenschüssel aus dem Kühlschrank, stellte sie in das Gerät und startete es, während er die Kaffeemaschine einschaltete.

»So wie ihr euch angesehen habt, als ihr euch bei uns getroffen habt? Ich dachte, ihr fallt direkt übereinander her. Wenigstens habt ihr gewartet, bis ihr draußen wart. Natasha ging es schon schlecht genug. Und dann fliegst du kurzerhand in die USA … Ist es was Ernstes zwischen euch?«

»Nein.« Marla schüttelte den Kopf. »Jake ist nicht gerade der treue Typ, anders als du.«

»Was ist heute passiert?«, kam er zur Sache und stellte ihr das auf einem Teller angerichtete Kartoffelgratin, Salz und einen Becher mit heißem schwarzen Kaffee vor die Nase. Fast wie in alten Zeiten. Nur, dass sie danach nicht in seinem Bett landen würden.

»Das war das Abendessen für Natasha«, murmelte sie und stocherte in dem Gratin herum.

»Ich wusste nicht, wann sie nach Hause kommt.«

Sie schob sich die erste Portion mit der Gabel in den Mund, schloss die Augen. »Hmm. Das ist so gut wie in meiner Erinnerung.«

Er ließ sich ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches nieder. Ihre künstlichen Wimpern hatten sich verschoben. Ihr Mund war in einem dezenten, dunklen Rotton geschminkt, den sie üblicherweise für die Arbeit wählte. Ihre schulterlangen schwarzen Haare, die sie offen trug, rahmten ihr schmales, längliches Gesicht ein. Die kornblumenblauen Augen waren eine Spur dunkler als sonst. Um ihre Augenwinkel konnte er erste feine Linien entdecken. Es gab eine Zeit, da hätte er dieser Frau nicht widerstehen können. Als Jake ihn in einer Kurznachricht fragte, ob es in Ordnung sei, wenn er mit Marla ins Bett ging, hatte er erwartet, einen Stich von Eifersucht zu spüren. Stattdessen hatte er sich beim Grinsen erwischt. Seine Antwort – Viel Spaß euch beiden – war ernst gemeint gewesen. Es stimmte, er war lange mit Marla zusammengeblieben, aber nicht, weil er sie liebte. Und im Gegensatz zu dem, was alle anderen um ihn herum dachten, war seine schlechte Laune nicht von einem gebrochenen Herzen gekommen.

»Warum brauchtest du Natashas Hilfe?«

»Mein Partner und ich hatten eine Bar in einem Hotel überprüft, nachdem wir einen anonymen Hinweis erhalten hatten, dort würden minderjährige ausländische Mädchen zur Prostitution gezwungen. So was lässt sich natürlich immer nur schwer nachweisen. Da wir auch die Beschreibung eines der Mädchen geliefert bekamen, erkannten wir dieses sofort in der Hotelbar, wo es sich in Begleitung eines älteren Mannes befand, der ihr angeblich nur etwas zu trinken spendierte. Ihr Pass wies sie als Estera Damsescus aus, sechzehn Jahre alt. Von dem Mann konnten wir nur die Personalien aufnehmen, weil sie seine Story bestätigte, soweit sie uns verstand. Wie nahmen sie mit auf die Wache, doch sie sprach nur wenige Worte Deutsch, also rief ich Natasha an. Ich wusste, dass uns nicht viel Zeit bleiben würde, bis der Freier den Zuhälter informiert, und so war es auch. Natasha hatte keine zwanzig Minuten mit dem Mädchen, bis er zu ihr hineinstürmte.«

Sie machte eine Pause, trank von ihrem Kaffee, aß mehr von dem Gratin. Am liebsten hätte er sie gedrängt, doch er blieb geduldig.

»Natasha hat sich wie eine Wand vor dem Kerl aufgebaut. Er hat echt Schiss vor ihr gekriegt und ist zurückgewichen. Das hab ich bei diesen Typen noch nie erlebt. Der Anwalt hat versucht, sie einzuschüchtern, aber du kennst sie ja.«

»Ja, unsere Brain kennt jeden Paragrafen des Strafgesetzbuches.«

»Wir gingen alle raus und ließen sie wieder allein. Mein Partner begleitete Ciobanu und seinen Anwalt aus dem Büro, ich ging zurück ins Beobachtungszimmer. Da angekommen sehe ich auf einmal Natasha Wiederbelebungsversuche bei dem Mädchen machen. Ich rufe den Notarzt, der ja bei uns nur um die Ecke ist. Er hat noch mit Elektroschocks versucht, die Kleine wiederzubeleben, aber es war zu spät. Das Mädchen war tot.«

»Tot? Weshalb? Eine Überdosis …?«

Marla schüttelte stumm den Kopf. »Bisher weiß niemand, was die Todesursache war.«

»Wer will, dass Natasha suspendiert wird?«

»Mein neuer Chef, und er hat mich auch vom Dienst suspendieren lassen. Er glaubt, dass Natasha am Tod des Mädchens schuld ist. Abgesehen davon war er angepisst, weil ich ihn nicht vorher gefragt habe, ob ich sie einschalten darf.«

»Hättet ihr jemanden gehabt, der dolmetschen kann?«

»Ja, auch bei uns gibt es inzwischen Übersetzerinnen für die meisten Sprachen, auf die wir in diesem Umfeld treffen. Aber die sind nicht zwingend Polizistinnen und haben auch nicht Natashas Geschick, Menschen zum Reden zu bringen. Manchmal habe ich das Gefühl, wir kämpfen bei den Sexualdelikten gegen Windmühlen. Prostitutionsgesetz, Loverboys, K.-o.-Tropfen … Die Pornoindustrie ist ein Millionengeschäft, und nirgendwo sonst bewegen sich die legale und die kriminelle Welt in einem so engen Kreis. Oft genug findet alles nur noch in Hotels statt oder in angemieteten Wohnungen.«

»Da kannst du dich mit Cecilia zusammentun«, bemerkte Carina, die sich zu ihnen gesellte. »Sie sagt, dass das Gesetz nicht die Frauen schützt, sondern die Gewalt nur legalisiert. Fast jede Frau, die in dem Job arbeitet, wurde schon geschlagen und vergewaltigt. Hast du noch was von dem Kartoffelgratin?« Carina sah ihn hoffnungsvoll an.

»Nein, tut mir leid.«

Marla schob ihr den Rest von ihrer Portion hin. »Sonst muss ich morgen früh nur noch mehr Kalorien abarbeiten. Ich bin Marla.«

»Carina.« Schwester und Exfreundin reichten sich die Hand.

»Alles in Ordnung mit Natasha?«, fragte er.

»Ja, ich habe Smart zu ihr gelassen. Er lag vor der Tür. Jetzt liegt er mit in ihrem Bett. Ich nehme an, das ist in Ordnung?« Sie hob fragend die Augenbrauen in seine Richtung.

»Klar.«

Im Gegensatz zu Marla schaufelte Carina sich das Essen hungrig in den Mund. »Wie alt war das Mädchen?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.

»Laut ihrem Pass sechzehn.«

»Hatte sie Schaum vor dem Mund?«

»Ja.«

»Waren ihre Augen glasig, das Gesicht verzerrt, als wäre es eine Lähmung? Hat sie versucht zu schreien, und es kam nur ein gurgelnder Laut heraus?«

»Puh, das kann ich dir nicht so genau sagen. Aber wieso fragst du so spezifische Fakten ab? Sind das alles Symptome einer Droge?«

»Nein. Cecilia hat mich kürzlich zu einem Vortrag über das Phänomen ›Tod durch Voodoo‹ mitgenommen. Sie arbeitet manchmal auf der Straße, um Mädchen aus der Prostitution zu holen, und dabei stieß sie auf eine nigerianische Frau, die starb, als sie sie zu einem Essen einlud. Daraufhin hat sie angefangen, sich mit dem Phänomen zu beschäftigten. Ehrlich gesagt war ich anfangs ziemlich skeptisch. Die Vorstellung, jemand könnte seinen gesunden Körper selbst zum Kollabieren bringen, aus reiner Einbildungskraft, kam mir doch weit hergeholt vor.«

»Und jetzt siehst du es anders?«, hakte Marla gespannt nach.

»Ich habe mir dazu noch keine endgültige Meinung gebildet. Könntest du einen Kontakt zu dem Pathologen herstellen? Vielleicht darf ich ja bei der Autopsie mit dabei sein?« Carinas Augen glänzten.

Pit starrte seine Schwester an. Ihr Abstraktionsvermögen, ein Lebewesen als Objekt für wissenschaftliche Untersuchungen zu betrachten, hatte ihm schon als Kind Angst eingejagt. Ein weiblicher Frankenstein …

»Sorry, wie ich Pit schon vorhin sagte, ich bin vom Dienst suspendiert.«

»Pit, kannst du nicht über deine Kontakte versuchen, mich da reinzubringen?«

»Nein.«

»Okay, dann nicht. Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal.«

Bei den Worten seiner Schwester lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

5

Kater

In ihrem Kopf hämmerte es, als würden Straßenarbeiter mit dem Vibrationsstampfer einen Graben in ihrem Gehirn verdichten. Sie blinzelte, stöhnte, versuchte, sich zu erinnern. Marla, Estera, Bar, Tequila – ach Shit, sie hatte Alkohol getrunken. Grimmig presste sie die Lippen zusammen und zwang die Augen auf. Der Schmerz war nur die gerechte Strafe dafür, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Zum zweiten Mal in ihrem Leben.

Sie richtete sich ruckartig auf und verzog das Gesicht. Wie war sie ins Bett gekommen? Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war der Typ, der Marla in der Bar angebaggert hatte – und das Tanzen. Tanzen, ja. Sie atmete tief durch. Nein, sie hatte ihn nicht zusammengeschlagen, obwohl sie das gern getan hätte. Immerhin war er ein Mann, und von denen hatte sie die Schnauze voll. Pit … Mist, sie war in Pits Auto gewesen und er hatte ihr den Kopf gehalten, als sie sich übergeben musste. Sie starrte auf ihren Shorty, hob das T-Shirt an, schaute in ihren Ausschnitt. Darunter war sie nackt. Hatte sie sich selbst ausgezogen und ins Bett gelegt? Stöhnend verbarg sie den Kopf in den Händen. Bitte nicht, bitte nicht! Ja, sie lebte seit dreieinhalb Jahren mit Pit zusammen. Ja, sie schliefen bei Einsätzen oft genug in einem Raum oder nebeneinander im Schlafsack. Ja, er kannte sie im Badeanzug, in ihren Sportsachen und auch im Schlafanzug. Aber nackt? Die Vorstellung, dass er sie gestern in ihrem Zustand ausgezogen, sie berührt hatte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie hatte sich geschworen, dass sie nie wieder die Kontrolle verlieren würde. Nie wieder. Tränen quollen ihr aus den Augen, sie ließ sich ins Bett fallen, rollte sich zusammen. Nie wieder.

Ihr Blick fiel auf einen großen weißen Zettel auf dem Nachttisch. Durch den Tränenschleier erkannte sie die geradlinige, steile Schrift von Carina. Sie zog den Zettel heran.

Ich habe dich ausgezogen und zugedeckt. Peter wollte dich nicht mal in dein Bett legen, aber darauf habe ich bestanden. – Carina.

PS: Nimm die Tablette, die ich dir hingelegt habe, die ist nicht stark dosiert, aber wirkt Wunder, oder leide, wenn du dich unbedingt bestrafen möchtest.

PPS: Ruf mich an, wenn du wach bist. Ich bin heute zu Hause.

Natasha grinste erleichtert. Ein ganzer Steinhaufen purzelte ihr von der Seele. Dennoch verkroch sie sich noch einmal in ihrem Bett. Nie wieder, schwor sie sich zum zweiten Mal in ihrem Leben, und hätte sie ein Messer zur Hand gehabt, sie hätte einen Blutschwur daraus gemacht.

Es war still in der Wohnung. Sie sah auf die Uhr. Sieben Uhr früh. War Pit zum Dienst gegangen und hatte sie allein gelassen? Mist! Wahlstrom hatte ihr gestern noch eine Nachricht geschrieben, dass sie pünktlich um neun Uhr in seinem Büro erscheinen sollte. Sie musste sich ein Taxi kommen lassen, wenn sie das noch schaffen wollte. Aber erst mal unter die Dusche und Zähne putzen. Sie fühlte sich schmutzig, und zwar nicht nur äußerlich.


Das heiße Wasser tat gut. Sie seifte sich zweimal ein, roch an ihrer Haut, bis sie nur noch den Minzduft des Duschgels wahrnahm. Die Zähne putzte sie sich gleich dreimal und gurgelte zusätzlich.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Von der vielen Heulerei in den letzten Wochen hatte sie Ringe um die Augen und sah alt aus. Sie war alt. Nur noch drei Wochen, dann würde eine Drei vorn stehen. Wie viel Zeit blieb ihr in der Einheit? Wann wäre sie zu alt für diesen Job?

Ein Kratzen an der Badezimmertür – Mist, sie hatte ihre Sachen im Zimmer gelassen. Sie kramte im Wäschekorb den Shorty hervor, brachte es aber nicht fertig, den nach Alkohol stinkenden, durchgeschwitzten Schlafanzug wieder anzuziehen. Der Geruch widerte sie an. Die Erinnerung daran steckte seit der Nacht damals in ihrer Nase und ließ sie von jedem männlichen Wesen Abstand halten. Selbst wenn ihr Papa etwas getrunken hatte, war es so.

Sie schlang sich eines der Badetücher um den Körper und öffnete die Tür. »Smart, sit.«

Das Handtuch hielt sie sicherheitshalber mit der einen Hand fest, als sie vorsichtig langsam in die Hocke ging und den Hund kraulte, der breit zu grinsen schien. Jede Bewegung war schmerzhaft.

»Ich habe Carina gleich gesagt, dass sie die Tablette wieder mitnehmen kann«, hörte sie Pit sagen.

Sie verzog das Gesicht. »Könntest du bitte leiser reden?«

»Leiser? Natasha, du hast in knapp anderthalb Stunden einen Termin beim Oberst. Wirf die Tablette ein oder melde dich krank.«

»Ich bin nicht krank, ich hab einen Kater.«

»Einen Tod musst du wohl sterben. Wenn du in dem Zustand bei ihm im Büro aufkreuzt, überlegt er es sich womöglich anders mit der Suspendierung.«

»Suspendieren?« Sie schoss in die Höhe und hielt in letzter Sekunde das Handtuch fest, als der Knoten sich durch die heftige Bewegung löste. Auch ihr Kopf rebellierte. Sie kniff die Augen zusammen. »Oh Shit, Shit, Shit! Wieso flucht es sich auf Englisch eigentlich besser?«, brummte sie.

»Gott verflucht, du leidest aber wirklich.«

»Schrei nicht so.«

»Nimm die Tablette, und ich stell dir für morgen einen Trainingsplan zusammen, mit dem du dich nicht nur selbst bestrafen kannst, sondern auch noch dein Trainingsdefizit wiedergutmachst.«

»Geh unter die Dusche, du stinkst«, kommentierte sie und rümpfte die Nase.

»Würde ich, wenn du mich vorbeilässt.«


Mit einem Grummeln schaute er Natasha nach, die auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer schlich, während Wasser aus ihren Haaren zwischen den Schulterblättern hinabrann. Eine Duftwolke des minzigen Sportduschgels hing noch in der Luft. Er liebte diesen Geruch an ihr genauso wie ihren langen, schlanken Nacken, in den er am liebsten gebissen hätte. Doch das würde sie ihm diesmal wirklich nicht verzeihen.

»Gib Laut«, wisperte er Smart zu. Der folgte brav seinem Befehl und bellte ein Mal. Wie erwartet zuckte sie zusammen. Diesmal rutschte das Handtuch bis zur Taille hinunter. Das hatte er wirklich nicht einkalkuliert. Zum Glück stand sie mit dem Rücken zu ihm. Hastig zog er sich ins Badezimmer zurück und stellte die Dusche auf eiskalt.

Das Frühstück war fertig, als er angezogen aus seinem Zimmer kam – Porridge und Obst. Natasha sah die Schüssel nachdenklich an, während sie schlückchenweise einen Kamillentee trank. Er setzte sich ihr gegenüber und schnappte sich seine Portion. Sie sah besser aus als vorhin und verzog auch bei den Geräuschen, die er machte, nicht mehr das Gesicht.

»Weißt du noch, was gestern passiert ist?«

»Bruchstückhaft«, antwortete sie, den Blick auf den Inhalt ihres Bechers gesenkt.

»Woran erinnerst du dich?«

»Dass ich mit Marla in ihre Stammkneipe gegangen bin und den Fehler machte, Tequila zu trinken.«

»Marla hat vom Tod des Mädchens erzählt.«

»Hat sie das?« Sie begann, mit den Zeigefinger Kreise auf die Tischplatte zu zeichnen.

»Wusstest du, dass Carina zusammen mit Cecilia bei einem Kongress zum Thema ›Voodoo-Tod bei nigerianischen Prostituierten‹ war?«

»Wusste ich, deshalb wollte ich gestern mit den beiden sprechen. Ich meine – eben rede ich noch mit dem Mädchen, dann drehe ich mich um, und zack, ist sie tot. Ich habe so was noch nie erlebt. Außer in Filmen, wenn jemand eine Zyankali-Kapsel zerbeißt.«

»Aber das ist es nicht allein, was dich aus der Bahn geworfen hat.«

Sie stellte den Becher ab und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.

»Hängt es damit zusammen, was damals passiert ist?«

Ein funkelnder Blick traf ihn. »Darüber will ich nicht reden.«

Kurz überlegte er, ob er sie unter Druck setzen sollte. Dreieinhalb Jahre hatte er ihr jetzt schon Zeit gelassen, ihm zu erzählen, was damals passiert war. Keiner in der Familie Kehlmann verlor auch nur ein Wort darüber. Selbst Olga nicht, ihre Mutter, mit der er sich super verstand. Dabei war sie ihm anfangs mit viel Zurückhaltung begegnet. Er wusste, dass Marietta Franke Selbstmord begangen hatte, und dass ihre Mutter einen psychischen Zusammenbruch erlitten hatte, der sie in eine geschlossene Anstalt brachte. Inzwischen lebte Bianca Franke in einer Wohngemeinschaft, eine Therapieform, die Natasha finanziell unterstützte. Aus dem Grund hatte sie damals sein Angebot angenommen, zu ihm zu ziehen. Bisher hatte ihre Vergangenheit keine Auswirkungen auf ihren Job gehabt. Diesmal jedoch lag der Fall in seinen Augen anders. Dennoch – Druck würde ihn heute sicher nicht an sein Ziel bringen.

»Du solltest etwas essen.« Er deutete auf ihre Schüssel.

»Ich habe keinen Hunger. Putz dir ruhig schon die Zähne, ich räum die Sachen weg. Ich möchte nicht zu spät zu dem Gespräch mit Wahlstrom kommen.«


Oberst Wahlstrom war nicht gerade ein Mann, der die Blicke auf sich zog. Dafür war sein Äußeres zu wandelbar. Er hatte ähnlich nebelgraue Augen wie Pit, nur driftete die Farbe bei ihm mehr ins Bläuliche ab. Bei Pit ging sie eher in Richtung Schwarz, vor allem wenn er wütend wurde. Dann glichen seine Augen Sturmwolken.

Der Oberst trug ein hellblaues Hemd und eine dunkelbraune Stoffhose, nicht sein normales Büro-Outfit, das aus Cargohose und T-Shirt oder Hoodie bestand. Wenn er nicht gerade wie die anderen Teammitglieder in Sportklamotten beim Training dabei war.

»Setzen Sie sich, Kehlmann.«

In den letzten Jahren kam sie besser mit dem Mann zurecht. Allerdings gehörte er neben Generalmajor Hartmann, der die Sondereinheit Themis leitete, zu denjenigen, die sie am meisten verunsichern konnten. Sie fragte sich oft, was in seinem Kopf vorging. Wahlstrom unterstanden sämtliche Personalangelegenheiten, von der Einstellung und dem Training bis zur Leitung von Einsätzen. Inzwischen bestand die Sondereinheit aus fünfzig Männern und Frauen, eingeteilt in fünf Teams. Sie waren das erste Team der Einheit gewesen. Im Leistungstest maßen sich die anderen an ihnen. Nach dem letzten Quartalstest lagen sie auf Platz 3. Allerdings hatte ihr Team die größte Einsatzerfahrung.

Wahlstrom musterte sie und wartete. Das war das Schwierige an den Gesprächen mit ihm. Er machte selten den Anfang. Was bei ihr immer dazu führte, dass sie ein schlechtes Gewissen bekam und krampfhaft überlegte, was sie diesmal falsch gemacht hatte. Heute wusste sie es nur allzu gut.

»Polizeioberkommissar Klingenthal hat Ihnen gesagt, dass Sie mich suspendieren sollen.«

»Sie sehen scheiße aus, Kehlmann.«

»Danke.«

»Sie haben getrunken.«

Wer hatte ihm das wohl erzählt? Sie hätte Pit erwürgen können. Sie war ihm noch nie in den Rücken gefallen, egal was er angestellt hatte.

»Das machen andere im Team häufiger.«

Er beugte sich vor. »Die anderen. Exakt. Aber nicht Sie.«

»Sie sagten vor ein paar Jahren zu mir, dass ich mich mehr in das Team einfügen solle.«

»Was Sie bis heute nicht getan haben. Sie sind und bleiben diejenige, die außen vor ist. Sie haben unten in Syrien hervorragende Arbeit geleistet. Nicht nur, dass Captain Malki Ihnen erlaubt hat, das Verhör durchzuführen. Nein, ich habe sogar gehört, dass der Entführer von Wiebke Heidkamp schnell hingerichtet wurde, anstatt gefoltert zu werden.«

»Ich wünschte, wir hätten Wiebke retten können.«

»Das haben wir uns alle gewünscht.«

»Warum erwähnen Sie es, und warum loben Sie mich? Das machen Sie sonst nie. Ist es die Einleitung dafür, dass Sie mich suspendieren? Oder werfen Sie mich gleich raus?«

Um seine Mundwinkel zuckte es. »Ich dachte, darüber wären wir beide inzwischen hinweg.«

»Sind wir das?«

»Sagen Sie es mir.«

»Hat Ihnen Klingenthal alles erzählt?«

»Ich möchte Ihre Version der Geschichte hören.«

Präzise, mit allen Einzelheiten, an die sie sich erinnern konnte, erzählte sie ihm, was am Tag zuvor beim LKA vorgefallen war. Wahlstrom hatte eine intensive Art, zuzuhören. Nur zweimal unterbrach er sie mit einer Frage.

Als sie geendet hatte, betrachtete er sie schweigend. »Was hat Sie aus der Bahn geworfen?«, fragte er schließlich.

»Der Tod des Mädchens.«

»Es war nicht der erste Todesfall in ihrer Gegenwart und auch längst nicht das Schlimmste, was sie bisher gesehen haben. Die Suche nach dem Kopf eines Opfers war unter Garantie eine traumatischere Erfahrung.«

»Ein kerngesundes sechzehnjähriges Mädchen von jetzt auf gleich sterben zu sehen, ohne dass ich etwas hätte tun können …« Sie legte den Kopf in den Nacken, schluckte, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt.«

»Noch nie?«

Verärgert presste sie die Fäuste auf die Augen. Dumpf begann es in ihrem Kopf wieder zu pochen. »Was wollen Sie von mir, Wahlstrom?«

Er öffnete den Mund.

»Und antworten Sie mir nicht wieder mit ›Sagen sie’s mir‹, das steht mir nämlich bis hier.« Sie legte die Handkante unter ihr Kinn.

Er hob die Augenbrauen. Sie stand auf. Sie hatte heute keine Geduld für diese Art von Spielchen.

»Was haben Sie vor?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Nehmen Sie sich den Tag frei, Kehlmann. Es wird eine interne Untersuchung geben.«

»Soll das heißen, Sie glauben diesem Oberaffen Klingenthal und suspendieren mich vom Dienst?«

»Ich sagte, nehmen Sie sich den Tag frei. Sie haben sechsundfünfzig Tage offenen Urlaub. Hängen sie noch ein paar Tage dran und halten Sie sich fern von Razvan Ciobanu. Das ist ein Befehl. Verstanden?«


Ben Wahlstrom rieb sich mit der Hand übers Kinn. Er schätzte jeden seiner Mitarbeiter, wusste wo ihre Stärken und Schwächen lagen. Vor allem das erste Team, das er zusammengestellt hatte, war ihm ans Herz gewachsen. Jeder Mann und jede Frau in der Sondereinheit war ein Alphatier. Das machte das Zusammenwachsen zu einer Einheit nicht leicht. Kehlmann war jedoch anders. Sie war die Einzige, die je zur Probe aufgenommen worden war. Innerhalb kürzester Zeit war sie zu einem vollwertigen Mitglied von Themis geworden. Die anderen akzeptierten, dass sie außen vor blieb, was für ihn ein Rätsel war. Niemand erwartete von ihr, dass sie abends noch mit einen trinken ging. Jeder hielt Abstand, wenn er spürte, dass sie Zeit für sich brauchte. Aber andererseits gingen alle im Team mit ihren Problemen zu ihr. Das hatte sich fraglos auf die anderen Gruppen übertragen. Wer einen Rat brauchte, egal ob beim Training, im Job oder im Privatleben, ging zu Natasha Kehlmann.

Selbst Dr. Franziska Naumann, die Teampsychologin, die inzwischen exklusiv für sie tätig war, fand die Rolle, die Kehlmann in der Einheit innehatte, faszinierend. Für ihn jedoch stellte sie eine besondere Herausforderung dar. In mancher Hinsicht war sie seiner Frau Hanna verdammt ähnlich, ein Grund, weshalb er sich zu ihr hingezogen fühlte. Äußerlich war Natasha ein tougher Typ. Sie besaß Biss, war eine herausragende Schwimmerin – kein Wunder bei der Mutter – und konnte verdammt viel einstecken. Nie hatte er sie jammern hören. Nie hatte sie vor einer Herausforderung gekniffen. Da, wo andere aufgaben, fuhr sie zur Höchstform auf. Sie bewies ein Einfühlungsvermögen bei Verhören, das Verbrecher zum Reden brachte, ohne dass sie dessen gewahr wurden. Peter, Natasha und Smart waren seine Geheimwaffe, wenn er nicht mehr weiterwusste. Das hatte sich auch bei der Entführung der Tochter der Bundespräsidentin und ihrer nachfolgenden unterstützenden Ermittlungsarbeiten zu den Hintergründen der Entführung gezeigt. Politisch war es ein hochbrisantes Thema gewesen, das sein Chef Hartmann mit viel Fingerspitzengefühl lösen musste. Ben zog auch seinen Hut vor der Bundespräsidentin. Er wäre an einem derartigen Verlust zerbrochen. Hanna war ein überzeugter Fan der Frau, was ihn nicht weiter wunderte, denn immerhin stand sie für die friedvolle Konfliktbewältigung.

Noch nie hatte er Kehlmann dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht gesehen. Er wusste, dass sie eine verletzbare Seele hatte. Die Bilder aus dem Aktfotoshooting, das Hanna mit der damals sechzehnjährigen Natasha gemacht hatte, offenbarten auch diese Seite von ihr. Er hatte keine Wahl. Sie ließ ihm keine Alternative.

Ben hob den Telefonhörer und wählte eine Nummer. Jemand war ihm noch einen Gefallen schuldig.


Natasha wollte nicht allein sein. Sie hatte Angst davor. Pit war nicht im Büro. Die Schreibtische von Kevin und Chris, die mit bei ihnen im Raum standen, seit die Einheit so groß geworden war, waren ebenfalls verwaist. Vermutlich waren alle beim Training. Smart setzte sich mit seinem Spielzeug vor sie hin und wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz. Zehn Minuten lang tat sie ihm den Gefallen. Wahlstrom blieb vor der offenen Tür stehen.

»Im Büro mit Smart zu spielen, entspricht nicht meiner Vorstellung davon, dass Sie sich den Tag freinehmen, Kehlmann.«

Sie unterdrückte das kindische Bedürfnis, ihm die Zunge herauszustrecken. »Ich wollte nur meinem Partner Bescheid geben. Sie wissen ja, wie er sein kann, wenn ich einfach verschwinde. Ehe man es sich versieht, gibt er eine Vermisstenanzeige auf.«

»Keine Sorge, ich werde ihm Bescheid geben.« Er lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie haben keine Ahnung, was Sie mit sich anfangen sollen.«

Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Habe ich wohl. Komm, Smart, wir gehen. Sagen Sie Pit, dass ich ihn mitgenommen habe.«


Dieser blöde, verfluchte Mistkerl konnte echt nervig sein. War er ihr gefolgt? Womöglich nur, um zu kontrollieren, ob sie auch wirklich nach Hause ging? Sie hatte keine Ahnung, was sie mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte. Sie blieb an der Spree stehen, starrte eine Weile in das strömende Wasser. Dann nahm sie ihr Handy und wählte eine Nummer.

»Hast du die Tablette genommen?«

»Ja. Du hast gesagt, dass du heute frei hast. Können wir uns treffen?«

»Komm zum Haus der Begegnung. Kann sein, dass du einen Moment warten musst, bis ich mit meiner Beratung durch bin.«

»Ich dachte, du hast frei.«

»Habe ich auch, sonst wäre ich ja nicht hier.«

Natasha legte auf und streichelte Smart. »Und da sagt mein Chef, ich hätte keine Ahnung, was ich an einem freien Tag machen soll.«


Lästig, dass man nie wusste, ob man trainieren konnte. Pit überlegte ernsthaft, ob er einen Belegungsplan für die einzelnen Hallen ausarbeiten sollte. Zum Glück war heute das Wetter ideal, sodass sie auf den Außenbereich wechseln konnten, da fand sich immer ein freies Plätzchen. Er beobachtete das Alpha-Team beim Bewältigen der Hindernisse. Die Jungs und Mädels waren topfit. Kein Wunder, ihr Durchschnittsalter lag bei sechsundzwanzig Jahren, wohingegen es in ihrem Team in Kürze bei dreiunddreißig liegen würde, wenn ihr Küken Natasha dreißig wurde. Bodo ging steil auf die vierzig zu, und er selbst erreichte nächstes Jahr die fünfunddreißig. Er konnte es nicht fassen, wie die Zeit verging. Manchmal kam es ihm wie gestern vor, dass er Natasha beim Vorbereitungstraining zum ersten Mal gegenübergestanden hatte.

»Hey«, hörte er Chris hinter sich sagen und bekam einen kräftigen Schubs. »Ich dachte, wir wollten eine Runde drehen. Ich habe keine Lust, beim nächsten Quartalstest noch weiter hinter die Youngsters zurückzufallen.«

»Als ich bei Dr. Hofmeister zum Check war, hörte ich, wie er mit Wahlstrom darüber sprach, ob wir beim nächsten Test Alterspunkte bekommen sollen«, ergänzte Kevin und verzog das Gesicht. Er war mit sechsunddreißig Jahren der Zweitälteste in ihrer Gruppe.

»Letztes Mal hast du von Erfahrungspunkten gesprochen.«

»Weil ich dich nicht frustrieren wollte«, konterte Kevin.

»Hat unser Pit gerade selig gegrinst?« Chris verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das musst du falsch interpretiert haben, immerhin ist er wieder Single, und du weißt, welche Auswirkungen ein Monat Sexentzug auf ihn hat.«

»Wenn ihr zwei euch mehr auf das Training konzentrieren würdet, statt euch mit Klatsch und Tratsch zu beschäftigen, würden wir das Alpha-Team locker schlagen.«

»Träum weiter«, knurrte Kevin.

Yasmin vom Beta-Team tauchte hinter ihnen auf. »Na, wollt ihr Senioren eine Runde auf dem Parcours wagen oder lieber eine Kaffeepause einlegen?«

»Leg ruhig los. Wir machen noch ein paar Dehnübungen«, konterte Chris und überließ ihr mit einem breiten Grinsen den Vortritt. Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu und zwinkerte.

»Das ist also die geheimnisvolle Verfasserin deiner erotischen Kurznachrichten.«

Kevin verschränkte die Arme vor der Brust, während sie alle Yasmin zuschauten, die den Parcours absolvierte.

»Wie kommst du darauf?«, versuchte Chris erfolglos, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Hey, wir hatten eine Regel.«

»Oh nein, mein Lieber.« Chris stach Pit mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Du hast eine Regel. Zoe und Caro sind seit über drei Jahren ein Paar, und es hat keinerlei negative Auswirkungen auf die Einsätze gehabt. Im Gegenteil. Und wenn du endlich mal dem folgst, was dir …«, er legte Pit die Hand auf die Brust, »… das da seit Jahren begreiflich zu machen versucht, müssten wir nicht ständig unter eurer schlechten Laune leiden.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete Pit und startete in den Parcours, bevor einer der beiden auf weitere dumme Gedanken kam. Innerhalb kürzester Zeit hatte er Yasmin überholt.

»Shit, er hat es echt drauf! Los, Chris, dann zeig mal deinem Mädel, was du mit der richtigen Motivation leisten kannst.« Damit sprintete Kevin hinter ihm her.

Am Ziel wartete Wahlstrom auf sie. Alle blickten irritiert auf ihre Uhren, die keinen Signalton abgegeben hatten. Der Oberst sah sich das Training nur selten an.

Dann machte es bei Pit klick. »Natasha …«

»Nimmt sich heute einen Tag frei, und ich soll Ihnen ausrichten, dass sie Smart mitgenommen hat.«

»Also haben Sie sie doch suspendiert.«

Wahlstrom verdrehte die Augen. »Nein. Sie hatten mich gebeten, meine Kontakte spielen zu lassen, damit Ihre Schwester bei der Autopsie der Leiche dabei sein kann.«

»Was Sie ablehnten.«

»Sie soll sich um vierzehnhundert in der Pathologie des LKA melden. Im Gegenzug möchte ich einen vollständigen Bericht von ihr, was ihre Einschätzung zu der Todesursache des Mädchens betrifft.«

Verblüfft sah Pit seinen Vorgesetzten an. Er war im Normalfall alles andere als ein wankelmütiger Typ, wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte.

»Folgen Sie mir«, sagte er, indem er zu den anderen Trainierenden hinübersah, die sich unmerklich nähergearbeitet hatten, um das Gespräch mitzubekommen. »Alle drei.«

Chris und Kevin warfen Pit einen fragenden Blick zu. Der zuckte nur mit den Schultern. Kaum hatten sie sich etwas entfernt, sodass sie allein standen, wandte sich Wahlstrom ihnen wieder zu.

»Ich möchte, dass Sie Razvan Ciobanu unter die Lupe nehmen. Ich möchte wissen, wo der Mann schläft und isst, womit er sein Geld verdient und mit wem er sich trifft. Das bleibt unter uns. Es ist kein offizieller Auftrag, wenn Sie also auffliegen, haben Sie auf eigene Faust gehandelt. Lassen Sie den Rest der Truppe außen vor. Das gilt vor allem für Kehlmann. Verstanden?«

Sie nickten.

»Bis zum Ende der Woche wünsche ich einen umfassenden Bericht auf meinem Schreibtisch vorzufinden. Es wird eine interne Untersuchung zu dem Vorfall geben, und dafür will ich gewappnet sein.«

»Wie soll das mit Natasha funktionieren? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir es vor ihr geheimhalten können?«

Pit war froh, dass Chris ihm mit dem Gedanken zuvorkam.

»Das wird Ihr Job sein, Herr Abel. Lassen Sie sich was einfallen, damit Ihre Partnerin sich die restliche Woche Urlaub nimmt.«

»Wie soll er das denn anstellen?« Kevin schüttelte den Kopf.

»Sein Problem. Noch Fragen?«

Sie alle sahen Wahlstrom nach, bis er im Gebäude verschwand.

6

Unter Beobachtung

Das Haus der Begegnung war eine Einrichtung mit dem Ziel, Menschen, die in Not geraten waren, zu helfen. Es umfasste eine Beratungsstelle, die Eltern, Jugendliche und Kinder bei medizinischen Problemen aufsuchen konnten. Aber auch Sportkurse, Sprachunterricht und Computerkurse wurden in dem Haus neben vielen anderen Angeboten abgehalten. Alles wurde geboten, was Menschen half, wieder in ihrem Alltag Fuß zu fassen oder einen Weg aufgezeigt zu bekommen, welche Hilfe sie dahin gehend beanspruchen konnten. Yvonne, Carina und Cecilia engagierten sich wie viele andere ehrenamtlich in dem Haus, das über die Stiftung der Familie Abel ins Leben gerufen worden war. Angela, die Jüngste in der Familie, leitete die Stiftung als Geschäftsführerin. Auch Natasha half ab und an, wenn es ihre Zeit zuließ. Sie bot Selbstverteidigungskurse an und beriet diejenigen, die mit dem Rechtssystem in Konflikt geraten waren.

Obwohl Smart den Umgang mit Kindern durch Charlotte und Tim, Yvonnes Kinder, gewohnt war, legte sie ihm sicherheitshalber den Maulkorb an. Er war eben kein Therapiehund, sondern ein Schutzhund. Wann immer er eine Situation als bedrohlich für sie empfand, würde er ohne Zögern angreifen.

»Oh, Natasha, ich wusste gar nicht, dass du heute eingeteilt bist«, empfing sie Sylvie, eine Angestellte der Stiftung, die sich um den Empfang und die Buchhaltung kümmerte.

»Bin ich auch nicht, ich wollte zu Carina.«

Erleichterung breitete sich in Sylvies Gesicht aus, denn sie war ein Organisationstalent, und nichts hasste sie mehr, als wenn ihre Planung durcheinandergebracht wurde.

»Sie ist hinten im Raum ›Paris‹ und berät noch eine Dreizehnjährige wegen Magersucht. Möchtest du mit Smart draußen im Garten warten, und ich schicke sie zu dir, wenn sie fertig ist?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber im Gang warten. Im Garten ist mir zu viel los.«

»Klar, kein Thema.«

Sie machte es sich auf dem Fußboden bequem. Smart legte sich neben sie, den Kopf auf ihrem Oberschenkel. Sie hatte die neuesten BKA-Studien zum Thema Menschenhandel und Prostitution auf ihr Tablet heruntergeladen und vertiefte sich darin.

Sie hob den Kopf, als die Tür von »Paris« nach einer halben Stunde geöffnet wurde. Das Mädchen, das herauskam, glich einem Skelett. Seine Beine waren sogar noch dünner als die Arme.

»Ist der Hund gefährlich? Weil er einen Maulkorb trägt …?«

»Nein. Das ist nur zur Sicherheit, weil er es manchmal zu ernst nimmt, wenn er auf mich aufpasst.«

»Darf ich ihn streicheln?«

»Ja, klar. Magst du Hunde?«

»Ich liebe Hunde. Meine Chica war ein echt süßer Mischling aus Tibet-Terrier, Jack-Russel und Pudel. Wir mussten sie leider vor einem Jahr einschläfern lassen.«

Smart hatte sich aufgesetzt und ließ sich von dem Mädchen streicheln. Sie ging vorsichtig mit ihm um, ließ ihn erst schnuppern, bevor sie mit der Hand über das weiche Fell an seinem Kopf fuhr.

»Ich habe auch vor drei Monaten meinen Hund einschläfern lassen müssen.«

»Und dann haben Sie schon einen neuen?«

»Nein. Smart und Akiro lebten beide bei uns im Haus. Was ist mit dir, möchtest du keinen neuen Hund?«

»Mama arbeitet wieder und sie sagt, sie hat keine Lust, sich wieder um einen Hund zu kümmern.«

»Was ist mit dir? Du könntest dich doch um ihn kümmern.«

»Ja, aber ich bin ja morgens in der Schule.«

»Dann gehst du vor der Schule mit ihm eine Runde, und wenn du aus der Schule nach Hause kommst, wartet er auf dich.«

»Das wäre schön.« Sie wandte sich zu Carina um. »Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben, Frau Dr. Abel.«

»Denk über das nach, worüber wir gesprochen haben.«

»Werde ich.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Und weißt du was – wenn wir uns das nächste Mal sehen und du ein Kilo zugenommen hast, spreche ich mit deiner Mutter wegen dem Hund. Ihr braucht ja keinen Welpen zu kaufen.«

Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf. »Das würden Sie machen?«

»Ein Kilo – ohne Mogeln!«


»Ich hasse das Internet und Social Media«, stieß Carina aus tiefster Inbrunst aus, als sie die Tür hinter ihnen schloss. »Wusstest du, dass es Challenges gibt, wo du zeigen musst, dass du mit den Händen deine komplette Taille umfassen kannst?«

»Nein. Mir reicht es, wenn ich mich mit der kriminellen Seite beschäftigen muss.«

Carina schlug mit der flachen Hand auf eine altmodische Klingel, wie sie in Hotels beim Empfang üblich war. Natasha zuckte zusammen, Smart bellte zweimal mit gesträubtem Fell.

»Spinnst du? Was ist in dich gefahren?«

»Ich wollte nur sehen, ob du wirklich die Tablette genommen hast.« Carina grinste sie fröhlich an.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine sadistische Ader hast?«

»Das höre ich ständig. Okay, kommen wir zur Sache. Marla hat mir von dem Tod des Mädchens erzählt, konnte aber meine Fragen nicht alle beantworten, weil sie erst dazukam, als du bereits die Herz-Lungen-Massage begonnen hattest. Hatte die Kleine Schaum vor dem Mund? War er weiß oder rosa?«

Natasha schloss die Augen und versetzte sich in den gestrigen Tag zurück. Präzise stellte sie den Ablauf des Todeskampfes dar, angefangen von dem Moment, als sie sich zu dem Mädchen umgedreht hatte. Gefühlt stellte ihr Carina einhundert Fragen. Manche davon kamen ihr seltsam vor. Ob die Fingerspitzen des Mädchens eine Färbung aufgewiesen hätten. Ob sich ihre Haut warm oder kalt angefühlt hatte, trocken oder feucht.

Nachdenklich besah sich Carina ihre Notizen. »Bist du dir sicher mit deinen Antworten?«

»Ja.«

»Du warst in einer Stresssituation.«

»Das ist in meinem Job normal. Mein Unterbewusstsein ist darauf trainiert, alles wahrzunehmen. Manchmal ist mir das auch nicht bewusst, doch wenn ich dann die Informationen abfrage, habe ich es genau vor Augen. Meinst du, es war Gift?«

»Wenn, dann eines, das mir so nicht bekannt ist. Die Symptome widersprechen sich teilweise.«

»Plötzliches Herzversagen?«

Sie wiegte den Kopf hin und her. »Möglich, wenn ein Herzfehler vorgelegen hätte, allerdings warst du sofort zur Stelle und hast Erste Hilfe geleistet. Das Mädchen war sechzehn Jahre alt. Zeigte es während der Befragung eine außergewöhnliche Erschöpfung?«

»Nein. Nur nackte Angst.«

»Weißt du, wenn es nicht ein absurder Gedanke wäre, würde ich auf ein komplettes Versagen des gesamten vegetativen Nervensystems einschließlich Herzstillstand tippen, wie nach einer Sepsis, oder ein Multiorganversagen.«

»Wieso absurd?«

»So was kommt bei Intensivpatienten vor oder bei Vergiftungen, und es passiert nicht von einer Sekunde auf die andere. Es gibt einen Krankheitsverlauf im Vorfeld.«

»Du und Cecilia habt bei unserem letzten Treffen von einem Vortrag erzählt, auf den ihr gehen wolltet. Es sollte um das Thema Voodoo-Tod gehen. Was ist damit? Könnte es das gewesen sein?«

»Der Vortrag war ziemlich faszinierend, und es gab viele Beispiele und auch Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungsreihen.« Carina lehnte sich in dem Bürostuhl zurück und seufzte. Ihre Augen starrten in den Raum. »Doch um ehrlich zu sein, bin ich skeptisch geblieben. Abgesehen davon geht es hier um Glauben. Die Opfer sind davon überzeugt, dass der Zauberer durch die Voodoo-Puppe ihr Leben in der Hand hält. Sie spüren den Schmerz von den Nadeln und reagieren bei den Gehirnmessungen mit körperlichen Reaktionen, als wären sie tatsächlich dort verletzt worden.«

»Aber?«

»Schmerzsymptome zu zeigen oder sich selbst durch Gedankenkraft zu töten, ist schon ein Riesenunterschied. Du darfst nicht vergessen, dass wir Menschen einen natürlichen Selbsterhaltungstrieb besitzen.«

»Dennoch begehen Menschen Selbstmord.«

Schlagartig richtete sich Carina auf und fokussierte sich auf Natasha. »Warum hast du dich gestern betrunken? Du trinkst nie Alkohol.«

Natasha verdrehte die Augen. »Ihr trinkt ständig Alkohol. Wieso denkst du, wenn ich mich einmal im Leben betrinke, dass ich Selbstmord begehen will? Ich habe einfach Mist gebaut.«

»Du baust jede Menge Mist, wenn du nüchtern bist, dafür brauchst du keinen Alkohol zu trinken.«

»Danke, ich merke es mir für die Zukunft. Glaube. Wie tief muss dieser Glaube sein?«

»Wegen dem Alkohol?«

»Ich bin wieder bei dem Mädchen.«

»Ach so. Nun ja, es gibt ja Sekten, die Massenselbstmord begehen, aber dafür nehmen sie Substanzen, verbrennen sich oder veranstalten sonst irgendeinen Irrsinn.«

»Kannst du jemanden dahingehend hypnotisieren, dass ein Wort eine solche Tat auslösen würde?«

»Das ist eine der vielen Fehlannahmen bezüglich Hypnose. Du kannst grundsätzlich niemanden durch Hypnotisieren zwingen, etwas zu tun, was seinen inneren Werten widerspricht. Niemand könnte mich dazu zwingen, jemanden bewusst zu töten. Dich vielleicht schon, weil du es schon getan hast. Es muss also eine gewisse Prädisposition vorhanden sein.«

»Ich habe erlebt, wie jemand seinen eigenen Namen nicht mehr aussprechen konnte. Und wie meine Hand herunterging, obwohl ich es nicht bewusst gesteuert habe.«

»Ja, aber das war nichts Lebensbedrohliches und du hast dich nicht innerlich dagegen gesperrt. Hättest du dich bewusst dagegen entschieden, hätte es nicht funktioniert.«

»Mag sein, aber manchmal lernen wir unbewusst durch Erfahrungen etwas, und unser Unterbewusstsein reagiert, bevor die Entscheidung getroffen ist. Denk ans Autofahren.«

»Da stimme ich dir zu, doch wie will man das Töten von einem selbst als unbewusste Handlung verankern, wenn man es nur einmal durchführen kann? Jede Erfahrung durch Wiederholung ist unmöglich, denn dann ist man schließlich tot? Eine Verankerung ist also unmöglich«

»Also gut, nehmen wir mal an, dass das Mädchen tief gläubig wäre. Wenn jemand sagt ›Der Teufel wird dich und diese Frau holen‹, könnte der Satz eine derartige körperliche Reaktion auslösen?«

»Theoretisch ja.«

»Wie kann ich das verhindern?«

»Theoretisch nur, indem das Mädchen glaubt, du wärst ein leibhaftiger Engel, der es vor dem Teufel retten und beschützen kann. Aber ehrlich, da müsstest du schon Einiges an deinem Äußeren und deinem Verhalten verändern.«

»Das ist nicht witzig.«

»Nein, ist es nicht. Tut mir leid. Weißt du was, ich denke, ich kann dir später mehr sagen, wenn ich von der Pathologie zurück bin.«

»Der Pathologie?«

Carina strahlte. »Ja. Ich weiß zwar nicht, wie mein Bruderherz es geschafft hat, aber ich darf bei der Untersuchung der Leiche des Mädchens dabei sein. Und weil du weißt, wie sehr ich diesen Schriftkram hasse, mache ich dir einen Vorschlag. Ich erzähle dir alles, was ich herausgefunden habe, und du schreibst dafür den Bericht für diesen Wahlstrom.«

»Oberst Ben Wahlstrom?«

»Keine Ahnung, euer Chef halt.«

»Wieso will er von dir einen Bericht?«

»Weil das der Deal war, damit ich bei der Untersuchung dabei sein darf.«

»Aha. Interessant.«

»Ja, nicht wahr? Nach dem Gespräch mit dir bin ich jetzt noch neugieriger.«


Kaum hatte Pit die Wohnungstür aufgeschlossen, wurde er von Smart begrüßt. Es roch aromatisch nach Steinpilzrisotto. Im Hintergrund lief leise ein softer Popsong. Die Fenster waren geputzt, ein Job, den sie sich eigentlich für das nächste Wochenende vorgenommen hatten. Der Tisch war gedeckt. Eine große Schüssel Salat stand darauf, und es gab Löffel, was bedeutete, dass sie auch ein Dessert gemacht hatte. Als sie damals bei ihm eingezogen war, hatte sie noch nie zuvor gekocht, sondern sich bis dato ausschließlich von Brot, Müsli, Obst und rohem Gemüse ernährt. Zwar beschränkten sich ihre Kochkünste noch auf eine Handvoll Gerichte, aber immerhin beherrschte sie sie.

»Hey.« Natasha strahlte ihn an. Sie hatte ihre weite Jeans-Bermuda an und trug eines ihrer ausgebleichten weiten T-Shirts. »Du kommst genau richtig. Das Essen ist gerade fertig. Kannst du schon mal den Untersetzer mitnehmen?«

»Hab ich irgendwas vergessen? Was zum Feiern?«

Sie lachte. »Quatsch. Ich hatte den Tag frei und dachte, ich koche mal was. Die Steinpilze sind vom Markt. Da konnte ich einfach nicht widerstehen.«

»Du hast die Fenster geputzt.«

»Stimmt.«

»Du hasst Fensterputzen.«

»Weshalb ich dir noch ein paar übrig gelassen habe.« Sie stellte die Pfanne auf den Tisch und lud eine große Portion auf den Teller.

»Was hast du heute gemacht?« Er setzte sich und überlegte, wie er das Thema Urlaub geschickt verpackt präsentieren konnte. In Anbetracht dessen, was sie mit einem Dreiviertelurlaubstag alles angestellt hatte, wollte er gar nicht wissen, was sie in einer Woche veranstaltete. Ihr Urlaub bestand normalerweise darin, mit dem Rucksack durch die Welt zu reisen und wenn möglich dabei eine neue Sprache zu lernen. Als ob siebenundzwanzig noch nicht genug wären. Eine Woche nur im Loft? Vielleicht sollte er mit Malte reden.

»Du meinst außer mit Smart bei Malte auf dem Platz zu trainieren, Krafttraining zu machen, mit Smart im See zu schwimmen, zu kochen und Fenster zu putzen?«

»Mhm.«

»Nichts. Was hast du mit Kevin und Chris gemacht?«

»Mit Kevin und Chris?«

»Ja, ihr wart alle nicht da, als ich von dem Gespräch mit Wahlstrom zurückkam.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739494715
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Diensthunde K9 Romantischer Thriller starke weibliche Hauptfigur Berlin Ermittlerin Krimi Suspense Sondereinheit Abenteuer Militär Krieg Roman

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Menschenhandel