Nach dem Duschen fühlte sich Natasha wieder fast wie ein normaler Mensch. Smart, den sie gleich mitgeduscht hatte, schüttelte sich und schaute sie vorwurfsvoll an. Obwohl der Schäferhund sich nicht scheute, ins Wasser zu springen und mit ihr zu schwimmen, egal ob es sich um einen Sumpf, einen Fluss oder das Meer handelte, konnte er es nicht leiden, geduscht zu werden. Dabei verwendete sie für ihn nicht einmal ihr Duschgel mit dem frischen Minzduft, sondern Schafmilchseife ohne Duftstoffe. Schließlich wollte sie seine empfindliche Nase, auf die sie im Einsatz oft genug angewiesen waren, nicht irritieren.
Smart kroch unter das Feldbett, auf dem Pits Sachen lagen, legte den Kopf auf die Pfoten und machte die Augen zu.
Außer Ulf, Kevin, Chris und Pit lag der ganze Rest der Mannschaft in den Feldbetten und ruhte sich aus. Manche von ihnen schliefen bereits tief und fest. Die deutsche Botschaft hatte ihnen im Erdgeschoss einen großen Raum bei den Sicherheitskräften zugeteilt, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Mark lag auf der Seite und hatte sein Kissen über den Kopf gestülpt, unter dem nur sein blonder Lockenschopf hervorlugte. Caro und Zoe hatten ihre Feldbetten zusammengeschoben und flüsterten miteinander. Bodo schlief rücklings lang auf der Pritsche ausgestreckt, die Fußknöchel überkreuzt, den einen Arm angewinkelt unter dem Kopf. Gabriella lag ihm zugewandt auf der Seite, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt.
Seit einiger Zeit fiel es Natasha häufiger auf, dass Gabriella heimlich Bodo betrachtete, wenn sie glaubte, niemand würde es bemerken. Kaum spürte sie ihren Blick, schloss sie rasch die Augen. Natasha unterdrückte ein Schmunzeln. Sie fragte sich, wie lange Gabriella ihre Gefühle für Bodo geheim halten zu können glaubte. Dann schüttelte sie den Kopf, amüsiert über sich selbst. Pit und sie hatten sich fast vier Jahre lang etwas vorgemacht.
Sie seufzte. Er würde sich nicht leicht dazu bewegen lassen, ihre Sperre für den nächsten Einsatz wieder aufzuheben. Schon gar nicht, wenn Oberst Wahlstrom die Sache mitbekam. Er reagierte noch empfindlicher auf solche Dinge als Pit. Major Wagner hingegen hatte ihr beim Debriefing lediglich eine Kopfnuss verpasst.
Sie legte sich auf ihr Feldbett, kramte ihr Smartphone hervor und schrieb an Malte:
Wie geht es meiner Süßen?
Sie verschickte die Kurznachricht, und die Antwort kam prompt – zusammen mit einem Bild von Freya, die in mühevoller Kleinarbeit einen Tennisschuh auseinandergenommen hatte.
Für diesen Hund bin ich definitiv zu alt!
Sie lachte leise in sich hinein.
In Wahrheit liebst du sie.
Kannst du schon sagen, wann du zurück bist?
Morgen.
Gott sei’s gelobt, meine Qual hat ein absehbares Ende. Vergesst nicht, sie zuerst abzuholen.
Keine Sorge, ich vermisse sie schon jetzt.
Es stimmte, wie Natasha überrascht feststellte. Sie hatte geglaubt, nach Akiro nie wieder einen Hund so sehr lieben zu können, wie sie ihn geliebt hatte. Doch wie eine kleine Diebin hatte sich die Hündin, die gerade mal fünf Monate alt war, in ihr Herz geschlichen. Und nicht nur in ihres. Es galt auch für den Rest der Mannschaft. Die Hündin hatte vor allem Chris um ihre kleine Pfote gewickelt. Wenn Natasha nicht aufpasste, würde er ihre ganze Erziehung verderben. Ihr Lächeln verflüchtigte sich. Chris … Hoffentlich durfte sie sich über dieses Problem weiterhin ärgern. Wenn er nur wieder in Ordnung kam. Gähnend legte sie sich auf die Seite, umarmte ihr Kissen und zog die Beine an.
Den Mund leicht geöffnet, schlief Natasha tief und fest. Peter hockte auf seinem Bett und besah sich den Verband, der unter ihrem T-Shirt hervorschaute. Ulf hatte wie immer gute Arbeit geleistet. Die Stelle war nicht einmal leicht gerötet. Er hatte mit seiner Sperre überreagiert, das wusste er, bevor Wagner es ihm auf dem Flur unter die Nase gerieben hatte. Es lag nicht daran, dass sie ein Paar waren. Von Anfang an hatte er Natasha bei Einsätzen besonders im Auge behalten, weil sie dazu neigte, ein zu hohes Risiko einzugehen – nicht für das Team, sondern für ihre eigene Sicherheit. Er musste sich jedoch eingestehen, dass ihm der Schreck von ihrer Entführung vor nicht allzu langer Zeit, bei der sie nur knapp dem Tod entronnen war, noch immer in den Knochen saß.
Auch wenn Natasha sich nach außen hin den Anschein gab, den Fall verarbeitet zu haben – er kannte sie besser. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich manchmal nachts im Schlaf herumwälzte und mit einem Schrei erwachte. Er wusste nicht, was die bessere Methode war – ihr eine erzwungene Auszeit zu verpassen, um alles zu verarbeiten, oder ihr zuzugestehen, dass sie sich in die Arbeit vergrub. Immerhin hatte ihr Dr. Franziska Naumann, die Psychologin des Teams, uneingeschränkte Einsatzfähigkeit bescheinigt.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, öffnete sie die Augen mit flatternden Lidern. Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Die anderen, einschließlich Ulf, schliefen tief und fest. Kevin war an Chris’ Seite geblieben.
Er verzog die Lippen zu einem Lächeln und nickte als Antwort auf Natashas unausgesprochene Frage, wie es um Chris’ Bein stand. Erleichtert atmete sie aus. Er zog fragend die Augenbrauen hoch. Sie grinste und deutete unter sein Bett.
Er beugte sich hinunter. Smart lag auf der Seite, klopfte kurz mit dem Schwanz auf den Boden und blieb liegen. Nach vier Jahren wusste der Hund, dass er jede Gelegenheit zum Ausruhen nutzen musste. Pit ging auf die Knie und kraulte ihm die Ohren. Ohne Smart wäre der Schuss auf Chris tödlich gewesen, und die Situation mit Natashas Angreifer wäre auch brenzlig geworden. Smart hatte ihm mit dem Biss in dessen Handgelenk die Zeit verschafft, ihn kampfunfähig zu machen. Manchmal fragte er sich, wie sie im Einsatz jemals ohne ihren tierischen Teamkameraden zurechtgekommen waren.
Apropos Hund … Er sah zu Natasha, die ihm bereits mit einem schelmischen Grinsen ihr Handy mit dem Foto zeigte. Der neue Zuwachs in ihrer Wohngemeinschaft. Freya. Er hatte geglaubt, dass es leicht wäre, diese Hündin zu erziehen, nach Smart und Akiro. Doch sie stellte sie vor eine echte Herausforderung. Vor allem mit ihrem treuen Hundeblick, der jedes Herz zum Schmelzen brachte. Dieses manipulative Weibsstück von Hund nutzte das gnadenlos aus – ganz wie ihre neue Besitzerin. Er wunderte sich nicht mehr, dass sein Freund Malte, Hundezüchter und Trainer, diesen Welpen unbedingt schnell hatte abgeben wollen.
Er ließ sich auf das freie Feldbett neben Natasha fallen. Lieber hätte er sich zu ihr gelegt, nur um ihren Geruch einzuatmen, ihren warmen Körper neben sich zu spüren und sie in den Armen zu halten. Er hätte nie gedacht, dass er einmal eine Frau so sehr lieben könnte. Es jagte ihm eine Heidenangst ein.
Natasha strich ihm mit einer Hand liebevoll übers Gesicht. Er hielt die Hand fest, als sie sie wegziehen wollte, und drückte ihr einen Kuss auf die raue Innenfläche. Sie war nicht nachtragend, und obwohl sie garantiert wütend über seine Entscheidung war, trennte sie das berufliche Leben vom privaten. Darum beneidete er sie, denn er war sich nicht sicher, ob er, wenn es jemand anderes aus dem Team gewesen wäre, genauso reagiert hätte. Ihr zugewandt schloss er die Augen.
Neidisch betrachtete Natasha Pit, der nach vier tiefen Atemzügen schlief. Sie hingegen wusste, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen konnte, egal wie sehr sie es versuchen mochte. Ihr Kopf hatte zu arbeiten begonnen. Sie dachte an Frau Gerling, die mehr an ihre eigene Sicherheit gedacht hatte als an die ihres Sohnes. Selbst Natashas Mutter, die eher eine kühle Natur war, hätte sich in dieser Lage schützend vor sie gestellt.
Alle drei Geiseln waren in gutem körperlichen Zustand. Gerlings Verletzung war versorgt worden. Grundsätzlich achteten Entführer darauf, dass ihre Geiseln keinen körperlichen Schaden nahmen, weil das im Hinblick auf die Lösegeldforderung an ein Unternehmen schlecht fürs Geschäft wäre. Viele Firmen schlossen eine Versicherung ab, wenn sie Mitarbeiter in Länder entsandten, in denen unter Umständen eine Entführung zu befürchten war. Das war den Verbrechern natürlich bekannt. Oft liefen Deals unter der Hand ab, was voraussetzte, dass die Geiseln von der Gegenseite gut behandelt wurden. Es kam aber auch vor, dass ein Unternehmen die Polizei hinzuzog wie in diesem Fall, die dann wiederum Spezialkräfte einsetzte. Ob die GSG 9, das KSK oder die Sondereinheit Themis zum Einsatz kam, hing von der Situation ab. Im Lauf der letzten vier Jahre hatte Natasha mit allen deutschen, aber auch mit internationalen Spezialkräften zusammengearbeitet. Etwas an dem Fall Gerling beschäftigte sie, ohne dass sie den Finger auf etwas Konkretes hätte legen können. Vielleicht hatte Pit aber auch recht und sie brauchte eine Auszeit. Nach ihrem letzten Fall hatte sie sich, kaum dass sie die ärztliche Freigabe erhalten hatte, wieder voller Eifer in die Arbeit gestürzt. Das war besser, als über das nachzugrübeln, was passiert war. Ihr stand noch der Prozess bevor, in dem sie als Zeugin der Staatsanwaltschaft würde aussagen müssen.
Sie dachte an Cecilia, Pits Schwester, die sie um Hilfe gebeten hatte. Cecilia war Psychotherapeutin und kümmerte sich aktuell um die rumänischen Mädchen, die Opfer eines Menschenhändlerrings, die das Themis-Team kürzlich befreit hatte. Die Mädchen der letzten Lieferung waren inzwischen von der Stiftung der Familie Abel in Arbeit vermittelt oder in das deutsche Schulsystem eingegliedert worden. Angela, Pits jüngste Schwester, die die Stiftung leitete, war ein Phänomen, wenn es darum ging, Menschen in Lohn und Brot zurückzuführen. Schwieriger war die Situation der drei Mädchen, die jahrelang als Prostituierte missbraucht worden waren. Da auch Natasha in gewisser Hinsicht ein Opfer von Alexander Egbert gewesen war, hatte Cecilia sie gefragt, ob sie ihr helfen würde. Sie hatte es zunächst spontan abgelehnt. Zu tief waren ihre eigenen seelischen Wunden. Jahrelang hatte sie das, was damals passiert war, aus ihrem Leben verdrängt. Andererseits war es gerade dieses Erlebnis gewesen, das sie angetrieben hatte, Polizistin zu werden – und nicht nur irgendeine, sondern die beste. Dazu gehörte es für sie auch, Opfern zu helfen, einen Neuanfang zu wagen, mit dem sicheren Wissen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.
Freya hatte sie bei jeder Sitzung mitgenommen, manchmal auch Smart. Seit sie mit Pit in einem Team arbeitete, hatte sie oft genug erlebt, wie die Hunde es schafften, Menschen in emotional schwierigen Situationen zu beruhigen. Mit einem wehmütigen Lächeln dachte sie an Akiro, ihren Seelenhund, der ihr mehr als Malte oder auch Pit gezeigt hatte, was es bedeutete, sich auf einen Hund in seinem Leben einzulassen. Niemand konnte diesen Verlust aufwiegen. Akiro würde für immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen.
Freya war anders. Die Hündin zeigte bereits eine außergewöhnliche Intelligenz, jedoch fehlte es ihr an der notwendigen Härte für den Polizeidienst. Das befürchtete jedenfalls Malte, und auch Pit glaubte, dass sie nicht zum Polizeidienst taugte. Natasha hingegen war sich da nicht so sicher. Klar war, dass der Welpe es mit seiner niedlichen, verspielten Art schaffte, die geschundenen Seelen der Mädchen zu erreichen. Dabei zeigte Freya eine ungewöhnliche Sensibilität und ein Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse der Patientinnen. Cecilia war begeistert und hatte sich inzwischen mit der Therapiehundeausbildung befasst.
Sie beschloss, eine Runde joggen zu gehen, und schlüpfte leise aus dem Schlafsack. Immerhin hatten sie einen halben Tag für die Rückreise im Flugzeug vor sich. Sie gab Smart ein knappes Handzeichen, und er folgte ihr auf leisen Pfoten. Statt sich im Zimmer fertig zu machen, nahm sie ihre Tasche mit und zog sich im Duschraum um.
Eine der Sicherheitskräfte hielt sie auf, als sie die Botschaft verlassen wollte. »Sind Sie nicht erst vor ein paar Stunden vom Einsatz zurückgekehrt?«, fragte der Mann.
»Bewegung kann man nie genug bekommen.«
»Was macht Ihr Arm?«
Sie runzelte die Stirn, folgte seinem Blick auf den Verband, der ein Stück unter ihrem T-Shirt hervorlugte. Den Gedanken an die Verletzung hatte sie völlig verdrängt. »Fast wie neu«, sagte sie und grinste ihn an.
»Sie sollten aufpassen, wo Sie laufen. Die Situation mit der neuen Regierung ist weiterhin kritisch. Es gibt immer wieder Unruhen und Straßenkämpfe.«
»Danke, dass Sie nicht sagen, es wäre zu gefährlich für mich.«
Er schmunzelte. »Der Ruf Ihrer Einheit eilt Ihnen voraus. Bestimmt können Sie verdammt gut auf sich aufpassen.« Er warf einen Blick auf Smart. »Ganz abgesehen von Ihrem vierbeinigen Begleiter. Ein schönes Tier. Dennoch – seien Sie vorsichtig.«
»Bin ich. Können Sie mir eine Fünf-Kilometer-Runde empfehlen?«
Er zückte sein Smartphone und zeigte ihr auf der Kartenanwendung eine Route. Sie bedankte sich und startete in einer Geschwindigkeit, die Smarts Trabtempo entsprach. Schließlich wollte sie keine Trainingseinheit absolvieren, sondern sich Bewegung gönnen, um ihre Gedanken loszuwerden.
Als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, öffnete er abrupt die Augen und war gleich hellwach. Das Erste, was er sah, war das leere Feldbett ihm gegenüber. Sofort setzte er sich auf.
Major Wagner legte den Zeigefinger an die Lippen und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.
Sobald sie im Flur standen, drehte sich der Major zu ihm um. »Also, Abel, wo ist Kehlmann?«
Pit fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Vorhin lag sie noch im Bett. Vielleicht ist sie zur Toilette gegangen?«
»Mit Smart?«
Er blinzelte. Dass der Schäferhund nicht mehr unter seinem Bett lag, hatte er gar nicht wahrgenommen. Andererseits – er hatte zuvor unter seinem Bett gelegen, woher also wusste Major Wagner, dass Smart nicht mehr da war?
Wagner schien ihm die Frage vom Gesicht abzulesen. »Er beobachtet jeden, der sich Ihnen nähert, und glauben Sie mir, man spürt, wenn Smarts Blick einem folgt. Also, wohin ist Kehlmann mit ihm hin?«
»Keine Ahnung.« Pit spürte, wie Ärger und Sorgen in ihm aufstiegen. Das war wieder typisch für sie, und niemand schaffte es, ihr dieses Verhalten auszutreiben, selbst Oberst Wahlstrom nicht.
»Ich wecke Chris. Ach Mist, der ist ja außer Gefecht.«
»Darauf bin ich schon selbst gekommen. Ihre Uhr ist aus, und sie hat auch kein Smartphone dabei.«
»Na super. Haben Sie es über Smarts Sender probiert?«
Wagner schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Langsam werde ich alt. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Legen Sie sich wieder hin.«
Pit warf ihm lediglich einen Blick zu, und Wagner zuckte mit den Achseln. »Also gut, dann kommen Sie mit.«
Sie machten sich auf den Weg zum Eingang der Botschaft, wo sich die Treppe und der Fahrstuhl zu den oberen Etagen befanden.
»Warum suchen Sie Natasha überhaupt?«
»Gerling verlangt eine Entschuldigung von ihr, weil sie ihn mit der Waffe bedroht hat. Außerdem hat er sich über ihr angeblich unprofessionelles Verhalten beschwert. Oder mit anderen Worten – er will Beschwerde einlegen.«
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«
»Mein voller.«
»Sie wollen, dass Natasha sich bei dem Arsch entschuldigt, der seine Familie in ein derartiges Land mitgenommen und damit überhaupt erst in diese Lage gebracht hat?«
»Na, was erwarten Sie von so jemandem?«
»Nicht viel, aber von Ihnen erwarte ich, dass Sie sich verdammt noch mal hinter uns stellen.«
»Vorsicht, Abel. Sie haben bei diesem Einsatz zwei Verletzte mit nach Hause gebracht, einer davon schwer verletzt, und wenn Smart nicht so schnell gewesen wäre, hätte die Sache auch schlimmer ausgehen können.«
»Was daran lag, dass man uns falsche Informationen gegeben hat. Die Männer waren besser bewaffnet, waren trainiert und reagierten auf uns rasch und vor allem professionell. Wenn das ein zusammengewürfelter Haufen von einer Bande war, fresse ich einen Besen. Abgesehen davon – woher kam die Verstärkung? Es hieß, nur diese Gruppe sei für die Entführung verantwortlich. Hätten wir korrekte Informationen bekommen, wären wir mit mindestens drei Einheiten angetreten.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Es ändert aber nichts an der derzeitigen Situation. Wenn Gerling offiziell Beschwerde einlegt, wissen Sie selbst, was passiert. Es gibt mehrere Stimmen in der Politik und aus einigen Behörden, die die Berechtigung dieser Sondereinheit hinterfragen.«
»Weil wir anders gestrickt sind als die anderen, schon klar, die Teams, die aus polizeilichen und militärischen Mitgliedern bestehen. Aber es ist ja gerade der Mix aus Erfahrung und Wissen, was uns so besonders macht, und das wiederum ist anderen Behörden ein Dorn im Auge. Ganz abgesehen von Hartmanns langjähriger Auslandserfahrung und dem Netzwerk internationaler Sonderkommandos, das er mitbringt.«
»Sie brauchen mich nicht zu überzeugen, Abel. Ich hoffe nur, dass Kehlmann die Kuh vom Eis schafft und nicht noch ein Loch in Letzteres hackt.«
»Da habe ich im Moment meine Zweifel«, brummte er. »Aalglatte Typen sind ihr derzeit ein besonderer Dorn im Auge.«
»Oh, da kenne ich noch jemanden«, konterte Wagner und schwieg dann, als sie die Eingangshalle durchquerten.
Der Sicherheitsbeamte ließ seinen Blick über sie gleiten. »Sie wollen auch eine Runde joggen gehen?«
Pit war verwirrt, und auch Wagner blieb stehen. »Auch?«
»Ja, Ihre Teamkollegin – die mit dem verletzten Arm – ist vor etwa dreißig Minuten mit dem Schäferhund los, um eine Runde zu joggen.«
»Sie wissen nicht zufällig, in welche Richtung sie gelaufen ist?«, hakte Wagner hoffnungsvoll ein.
Der Sicherheitsbeamte grinste. »Ich weiß sogar die exakte Strecke.«
Gut. Das würde ihnen den Gang in die Technikzentrale ersparen.
Überrascht blieb Natasha stehen, als sie David sah, der draußen auf dem winzigen Stück Rasen im Sicherheitsbereich der Botschaft gekonnt einen Fußball auf dem Fuß balancierte. Er trug eine kurze Sporthose und ein Trikot der deutschen Nationalmannschaft und war völlig auf sein kunstvolles Ballspiel konzentriert.
»Du hast es echt drauf. Spielst du im Verein?«
David kickte den Ball hoch, fing ihn mit den Händen auf und klemmte ihn sich unter den Arm. »Ich spiele beim 1. FC Wilmersdorf und darf mit der U8 trainieren.« Er wuchs in die Höhe und schob die Brust ein Stück nach vorn.
»U8? Ist das die Juniorenfördergruppe der Achtjährigen?«
Seine Augen strahlten. »Ja. Bist du ein Fußball-Fan?«
Lachend schüttelte sie den Kopf. »Nein, aber wenn man ständig mit Männern zusammen ist, bleibt es nicht aus, dass man das ein oder andere aufschnappt.«
»Ich fand dich ziemlich cool, egal was Papa sagt. Du bist noch nicht mal zusammengezuckt, als dich die Kugel getroffen hat. Als Paps getroffen wurde, hat er vor Schmerzen gebrüllt und sich auf dem Boden gewälzt. Danach hat er dann geschimpft, dass sie besser aufpassen sollten.«
»Hat er das?«
Davids Blick fiel auf Smart, der mit heraushängender Zunge neben ihr saß. »Ist das dein Hund?«
»Nein, er gehört meinem Partner, aber wir sind ein Team. Möchtest du ihn streicheln?«
»Darf ich?«
Sie wandte sich an den Hund. »Smart, be friendly. – Jetzt kannst du ihn streicheln.«
David kniete sich vor Smart, vergrub beide Hände in seinen Fellkragen und massierte den Hund eher, als dass er ihn streichelte. Smart liebte es, auf diese Art gekrault zu werden.
»Magst du Hunde?«
»Ja, aber meine Eltern möchten keinen haben. Der Opa von meinem besten Freund hat einen Labrador, der heißt Doc, weil er meint, er hält ihn gesund.«
»Da kann ich ihm nur beipflichten.«
»Wie heißt der hier?«
»Offiziell Odin von Lichtenfels, aber wir nennen ihn alle nur Smart, weil er so klug ist.«
»Das kann man an seinen Augen sehen. Ist er von Adel?«
»Du meinst wegen dem ›von‹?«
David nickte eifrig.
»Nein, das bezeichnet den Züchter. Alle Hunde von Malte bekommen sozusagen als Nachnamen den Zusatz ›von Lichtenfels‹. Jeder weiß dann, von welchem Züchter sie stammen.«
Natasha ging ebenfalls in die Hocke und streichelte Smart über den Kopf. Er hob die Nasenspitze und gab ihr einen feuchten Kuss. »Du bist ganz schön mutig«, tastete sie sich vorsichtig bei dem Jungen vor.
»Ich?« Er schaute sie verblüfft an.
»Du bist nicht der erste Junge, den wir befreien. Du bist ruhig geblieben und meinen Anweisungen gefolgt.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich wusste ja, dass die mir nichts tun würden.«
»Das waren Entführer, David, Verbrecher. Und du warst in einer Zelle gefangen.«
»Aber Papa hat gesagt, wir müssten uns keine Sorgen machen. Die Firma würde das Lösegeld zahlen und wir wären in Nullkommanichts frei.«
»Du hast vorhin erzählt, dass er bei dem Schuss sagte, sie hätten besser aufpassen sollen. Wen meinte er damit?«
»Die Männer von diesem Miguel. Der war auch echt sauer und hat dem eine Abreibung verpasst, der geschossen hat. Da hatte ich schon ein bisschen Angst.«
»Kann ich mir vorstellen. Meinst du Miguel Ramirez?«
David zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur Miguel. Auf jeden Fall fahren wir jetzt wieder nach Hause, und ich kann wieder zum Fußballtraining.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Hoffentlich hab ich nicht zu viel verpasst.«
Natasha fuhr David mit der Hand durch die Haare. »Ich bin mir sicher, du schaffst das, so wie du rennen kannst.«
David legte den Kopf schief und fixierte sie. »Du hast gar nicht mit meiner Sportlehrerin gesprochen, oder?«
Natasha zog die Nase kraus und grinste. »Ertappt, aber es hat gewirkt.«
Smarts Haltung veränderte sich. Es sah aus, als würde er seine Lefzenwinkel zu einem Lächeln hochziehen, und wedelte mit dem Schwanz.
Natasha hob den Kopf. Pit und Major Wagner kamen auf sie zu, Pit in seiner abgewetzten Jogginghose und T-Shirt, so wie er sich zuvor aufs Ohr gelegt hatte, Wagner in seiner militärischen Uniform.
»David Gerling? Was machst du hier draußen?«
Der Junge lief bei Wagners Worten knallrot an. »Papa hat gesagt, ich soll mit dem Ball nach draußen gehen. Er kann es nicht leiden, wenn ich damit in der Wohnung spiele.«
»Abmarsch ins Gebäude. In Deutschland kannst du von mir aus draußen spielen, so viel du willst, aber hier gilt für dich, keine Alleingänge nach draußen. Keine. Bis du wieder im Flugzeug sitzt. Verstanden, junger Mann?«
David spannte den Körper an und salutierte. »Aye, aye, Sir.«
Wagner schmunzelte. »Mach, dass du reinkommst, und sei leise. Deine Mutter schläft sicher noch.«
David rannte zur Botschaft, drehte sich noch mal um und winkte ihnen. Nachdenklich sah Natasha ihm nach. Es faszinierte sie, wie leicht es ihrem Vorgesetzten fiel, mit Kindern umzugehen. Er hatte selbst vier Kinder, und das eine Mal, als sie bei ihm zu Hause gewesen war, hatte das Chaos aus Stimmen und Musik sie schier überwältigt. Doch wie ein Admiral auf einem Schiff hatte Wagner ein paar Anweisungen erteilt, woraufhin sich das Chaos direkt lichtete. Es gab allenfalls leises Murren und Protest, doch am Ende hatten die Erwachsenen es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht und waren nicht mehr gestört worden. Wagners Frau Tamara war die Einzige in der Familie, die nicht nach seiner Pfeife tanzte. Sie arbeitete als freie IT-Security-Beraterin. Ab und an half sie bei speziellen Fällen im Themis-Team aus, weigerte sich jedoch strikt, ins Team einzutreten, egal wie oft Hartmann sie umschmeichelte.
Pit schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie kann ein Vater seinen Sohn allein nach draußen schicken, wenn es nicht mal einen Tag her ist, dass er von einer bewaffneten Einheit aus der Geiselhaft befreit wurde?« Er ging in die Hocke und begrüßte Smart. Man hätte glauben können, die beiden wären zwei Wochen getrennt gewesen und nicht nur eine knappe Dreiviertelstunde.
»Das ist nicht das einzig Seltsame«, rutschte es Natasha heraus.
»Was meinst du?«
Sie blinzelte und kehrte aus ihren Gedanken wieder in die reale Welt zurück. »Ramirez hat dem Mann, der Gerling angeschossen hat, eine Abreibung verpasst.«
»Na ja, die Bandenchefs sind nicht zimperlich im Umgang mit ihren Leuten, und Gerling war nur lebend und unversehrt etwas wert«, kommentierte Wagner.
»Mag sein, doch würden Sie als Geisel Ihren Entführer beschimpfen, dass er besser hätte aufpassen müssen?«
»Sie sollten den Worten eines Achtjährigen nicht zu viel Bedeutung beimessen. David liebt und bewundert seinen Vater. Er möchte ihm gefallen.«
»Nur dass sich Gerling einen Scheißdreck für seinen Sohn interessiert.«
»Also ehrlich, Kehlmann, was ist mit Ihnen los? Sie verlieren die Beherrschung mit einer Geisel und bedrohen den Mann mit der Waffe. Was ist mit Ihrer Coolness passiert? Wo ist Ihr Geschick in der Gesprächsführung geblieben? Sie sind unsere Verhörspezialistin. Muss ich mir Sorgen um Sie machen?«
»Nein. Der Mann ist mir einfach auf die Nerven gegangen.«
»Inakzeptabel.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen.
Pit legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Geben Sie uns bitte ein paar Minuten, Major Wagner?«
»Ich warte in der Eingangshalle auf Sie.«
»Weißt du, was ich jetzt gerne machen würde?«, murmelte Pit leise ganz dicht an ihrem Ohr.
Es ärgerte sie maßlos, als sich auf ihrem Arm eine Gänsehaut bildete. Hätte sie gewusst, was es bedeutete, sich körperlich auf einen Mann einzulassen, sie hätte es nie getan. Knapp vierundzwanzig Jahre war sie ohne Sex ausgekommen, und nun schien ihr Körper in kürzester Zeit aufholen zu wollen, worauf sie die ganze Zeit verzichtet hatte. Allein mit seiner Stimme konnte er sie in Erregung versetzen.
»Wenn du glaubst, du könntest mich weichkochen, indem du …«
Er biss sie sanft in den Nacken. Ihre Reaktion kam reflexartig, und sie verpasste ihm mit dem Ellenbogen einen gezielten Stoß in den Bauch, bereute es aber im selben Moment, als ein scharfer Stich durch ihren verletzten Arm zog. »Ach verflucht, Pit, du weißt genau, dass ich das nicht leiden kann.«
Japsend hielt er eine Hand auf seine Magengegend. »Das letzte Mal, als ich dich zu Hause gebissen habe, hatte das aber einen ganz anderen Effekt.«
Natasha konnte spüren, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. Sie wollte auf keinen Fall daran denken, was es mit ihr anstellte, wenn er sich beim Sex ihrem Nacken widmete. Würdevoll straffte sie sich. »Vergessen? Wir sind im Einsatz, bei der Arbeit, und nicht zu Hause in unserer Wohnung.«
»Okay, können wir uns ins Gras setzen?«
Statt zu antworten, ließ sie sich auf den Rasen fallen.
Stöhnend folgte er ihrem Beispiel. »Natasha, weißt du, was ich an dir liebe?« Er hob rasch die Hände. »Das meine ich diesmal rein professionell.«
»Dass ich so viele Sprachen beherrsche?«
Er grinste. »Das auch. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus. Du verfügst über ein unglaubliches Einfühlungsvermögen, spürst, was in anderen Menschen vorgeht. Das macht dich zu unserer besten Verhörspezialistin, weil du deinen Gesprächspartnern immer das Gefühl gibst, dass sie dir alles anvertrauen können, ohne dass du sie verurteilst.«
Sie streckte ihren Zeigefinger in die Höhe. »Erst sperrst du mich für den nächsten Einsatz, weil ich nicht gesagt habe, dass ich verletzt wurde.« Sie hob den zweiten Finger in die Höhe. »Dann beißt du mich in den Nacken, damit ich meine Wut an dir abreagieren kann.« Ihr Ringfinger ging hoch. »Jetzt schmierst du mir Honig um den Mund? Was will Wagner von mir?«
»Wagner will gar nichts von dir. Er ist selbst stinksauer, kann aber nichts daran ändern.«
»Woran kann er nichts ändern?« Sie verengte die Augen.
»Gerling will Beschwerde gegen dich einlegen, weil du ihn mit der Waffe bedroht hast, und Wagner hofft, dass du mit einer Entschuldigung die Wogen glätten kannst. Allerdings scheint er sich nicht sicher zu sein, dass du das hinbekommst, und ehrlich gesagt bin ich mir da im Moment ebenfalls unsicher.« Er holte nicht einmal Luft, während er die Sätze rasch auf sie abfeuerte.
Sie schwieg, musste das Gehörte erst mal verdauen und unterdrückte ihre spontane Reaktion – nämlich aufzuspringen, ins Gebäude zu stürmen und sich Gerling vorzuknöpfen. Sie atmete bewusst mehrmals tief ein, bis sich der rote Nebel in ihrem Kopf lichtete.
»Ich bin mir selbst nicht sicher, ob das funktioniert«, formulierte sie es vorsichtig.
»Wagner sagt, dass einige Kandidaten in der Politik und den Behörden der Meinung sind, dass man die Einheit einstampfen sollte. Gerling ist nicht nur Geschäftsführer von Medicare – du weißt, sie haben vor ein paar Jahren das Heilmittel für HIV auf den Markt gebracht –, er hat auch Kontakte im politischen Bereich. Sein Bruder sitzt im Bundestag und ist Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums.«
»Ist schon seltsam, dass wir mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Militärischen Abschirmdienst und dem Bundesamt für Verfassungsschutz in einen Topf geworfen werden, dabei sind wir doch keine Geheim- oder Spionageorganisation«, murrte Natasha.
»Nein, aber wegen der Mischung sind wir auch keine normale Sondereinheit. Was glaubst du, weshalb Hartmann und auch Wahlstrom ständig vor das Gremium zitiert werden?«
Natasha zog die Knie an, legte den Kopf darauf und verschränkte die Hände im Nacken. Sie ließ den ganzen Einsatz Stück für Stück vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Es fiel ihr verdammt schwer, es zuzugeben, doch sowohl Pit als auch Wagner hatten recht. Sie hatte anders reagiert, als es für sie üblich war. Sie wusste auch weshalb. Etwas an Gerling erinnerte sie an Alexander Egbert. Nicht dass er auch ein Soziopath wäre. Es war eher die Arroganz, die er ausstrahlte, und dass er meinte, die Welt hätte nach seiner Pfeife zu tanzen. Er war verärgert gewesen, dass eine Frau ihn befreite, die seiner Ansicht nach nichts in dem Job zu suchen hatte. Jedenfalls hatte sie seine Haltung und seine Kommentare in dieser Weise interpretiert. Vielleicht lag der Fehler genau dort. Was hatte ihre Großmutter mütterlicherseits immer zu ihr gesagt? Worte sind immer nur Worte. Du entscheidest, was sie mit dir machen.
Sie erhob sich. »Also gut. Am besten bringe ich es direkt hinter mich.«
Pit musterte sie. »Bist du dir sicher?«
»Nein. Kommst du mit?«
»Nichts lieber als das.«