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Die Spinne im Netz

Sondereinheit Themis Band 4

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
432 Seiten
Reihe: Sondereinheit Themis, Band 4

Zusammenfassung

"Wie eine Spinne wartet er darauf, dass sich seine Opfer im Netz aus digitalen Fäden verfangen." Eine Befreiungsaktion in Venezuela endet für das Alpha-Team der Sondereinheit Themis in einem Desaster. Natasha hat eine Geisel mit der Waffe bedroht, und Chris wird schwer verletzt. Die Führungsebene muss sich vor einem politischen Ausschuss für den Einsatz rechtfertigen. Derweil schlägt sich Paul, der IT-Spezialist der Einheit, mit der Zunahme an digitalen Angriffen auf deutsche Webserver herum. Um das Problem einzuschätzen und einen Überblick auf den privaten Sektor zu erhalten, zieht er die externe IT-Sicherheitsexpertin Tamara ins Vertrauen. Rasch wird den beiden klar, dass sie es nicht mit mehreren, sondern mit nur einem Angreifer zu tun haben. Wer steckt dahinter und welchen Zweck verfolgt der Angreifer?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Ben sah, wie Kehlmann den linken Arm nach oben streckte, weiter dehnte und reckte, bevor sie ihn langsam wieder nach unten nahm. Als Nächstes schob sie die Schulter leicht nach vorn und wieder zurück. Ein kurzer Blick nach rechts zu ihrem Partner, der auf die Gruppe im Parcours fixiert war, den die beiden bereits in Bestzeit bewältigt hatten. Ganz leicht beugte sie sich vor, um sich Erleichterung zu verschaffen.

Ben trat zu ihr. »Es reicht, Kehlmann.«

Sofort straffte sie ihre Haltung und presste die Lippen zusammen. »Es steht nur noch das Schwimmen an.«

»Ich sagte, es reicht, Kehlmann. Seit wann sind Sie wieder im Training?«

Sie schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust. Abel wurde aufmerksam und wandte sich zu seiner Partnerin. »Hast du Schmerzen?«

»Es ist nur noch das Schwimmen.«

Sie schlug Abels Hand weg, bevor er damit die verletzte Stelle erreichen konnte.

»Jeder weiß, dass Sie schwimmen können. Duschen Sie und ziehen Sie sich um«, sagte Ben in einem Ton, der deutlich machte, dass er keinen Widerspruch duldete.

Sie schob angriffslustig das Kinn vor. »Es ist mir scheißegal, welchen Grund Sie dafür angeben. Egal, ob Sie Ihre Periode haben oder eine verdammte Erkältung.«

Verwirrt musterte er sie.

»Ihre eigenen Worte damals.«

Diese Frau war einfach ein verdammter Sturkopf und hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Er sah hinüber zu Abel, der rasch versuchte, sein breites Grinsen zu verbergen.

»Also gut. Ihre Entscheidung, Abel, es ist ihr Team. Schafft Sie es nicht in ihrer Zeit vom letzten Leistungstest, sind Sie das bis zum nächsten Quartalstest Epsilonteam.«

Zufrieden mit dem erstarrten Ausdruck in Abels Gesicht zog er sich wieder auf seine Beobachterposition zurück. Sollte sich doch Abel mit seiner halsstarrigen Partnerin herumschlagen.


Hanna dehnte sich und klappte ihren Laptop zu. Ein vom Sturm umgekippter Baum, bemoost in der nebligen Waldlichtung – perfekt als Einstiegsbild für den Bildband über den Zustand der deutschen Wälder. Sie stand auf, ging in die Küche, setzte Wasser auf und machte sich einen Tee. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Bild. Sie hatte schon einmal ein Bild mit einem Baumstamm gemacht … Heute war sein Geburtstag. Sie versuchte, dem Impuls zu widerstehen, schaffte es aber nicht. Mit einem Seufzen nahm sie den Becher mit dem Tee, ging zurück an ihren Arbeitsplatz, öffnete den Laptop und meldete sich an. Sie gab die Adresse des Chatraums ein und loggte sich ein.

Die Community hatte den Wandel überstanden. Die Seite war moderner, die Chatfunktionen intuitiver und simpler als früher. Auch die Gespräche hatten sich verändert wie auch der Altersdurchschnitt der Mitglieder. Sie klickte von einem Diskussionsthema zum nächsten, ohne länger zu verweilen oder einen Beitrag zu dem Thema zu schreiben. Das Icon für eine private Nachricht leuchtete auf. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Albern. Es gab noch andere Mitglieder, die sie von früher her kannten. Sie klickte auf das Symbol.

Hi

Da war sein Name.

Hi

Immer noch so gesprächig wie früher. Wie geht es dir?

Gut. Wie geht es dir?

Einsam.

Sie starrte auf das Wort, und alles zog sich in ihr zusammen. Sie beide auf dem Baumstamm im Wald der Klinik. Nur Haut und Knochen und ein Haufen seelischer Splitter, die sie wieder zusammenzufügen versuchten.

Ich vermisse dich.

Ihre Finger schwebten kurz über der Tastatur. Sie dachte an Ben und was er denken würde, wenn er wüsste, mit wem sie sprach.

Ich dich auch, tippte sie.

Hast du ihn geheiratet?

Erneut starrte sie auf die Worte und verharrte. Zwischen ihnen hatte es nie Lügen gegeben. Jedenfalls hatte sie das immer gedacht, bis die Wahrheit herauskam. Doch was war die Wahrheit?

Nein. Wir leben zusammen. Für Ben ist es, als wären wir verheiratet, und wo liegt der Unterschied? Am Ende macht es nur ein Stück Papier aus.

Sie wartete. Es kam keine Antwort. Sie starrte auf ihre Worte. Es war gelogen. Für sie machte es einen Riesenunterschied. Sie hatte gedacht, dass er eines Tages den Schritt wagen würde, doch Ben fühlte sich pudelwohl in seiner Situation. Alles war so, wie er es sich wünschte. Eine Partnerin, Frau, Geliebte, und er konnte jederzeit gehen, wenn es ihm nicht mehr gefiel. Nach außen tat er, als wären sie verheiratet. Innerlich hielt er misstrauisch diese letzte Distanz zu ihr.

Hanna presste verärgert die Fäuste auf die Augen. Keine Ahnung, was in letzter Zeit mit ihr los war. Gerade als sie den Rechner schließen wollte, erschienen die Punkte, die anzeigten, dass er eine Nachricht schrieb.

Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein. Ich wünschte, ich könnte mit dir reden, so wie früher, als es nur uns gab.

Ich auch. Du bist mein bester Freund.

Ein trauriger Smiley kam zurück.


Ben schloss die Tür zu seiner Wohnung auf. Alles war dunkel und still.

»Hanna?«

Nichts. Reflexartig drückte er sich an die Wand. Er lauschte, schob sich vorwärts. Albern. Er benahm sich absolut albern. Vermutlich war Hanna unten bei seiner Schwester Lisa oder sie hatte sich mit Marie verabredet oder mit ihrer Mutter. Er richtete sich wieder auf, schob das ungute Gefühl in seiner Magengegend beiseite. Da, ein Flackern aus dem Wohnzimmer. Die Kerze stand auf dem Tisch. Hanna saß auf dem Boden, den Rücken zu ihm. Mit den Armen umschlang sie die Beine, und ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Ihr Blick war auf die Kerze gerichtet.

»Hi.«

Keine Antwort. Er ging zu ihr, ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. Sie drehte den Kopf und legte die Wange so auf ihre Knie, dass sie ihn ansehen konnte.

»Was ist passiert?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Wer ist das neue Alphateam?«

Trotz seiner Sorgen um sie musste er grinsen. »Abel und sein Team.« Er schüttelte den Kopf. »Immer wenn ich glaube zu verstehen, wie Kehlmann tickt, belehrt sie mich eines Besseren. Sie war beim Schwimmen so schnell wie noch nie. Sogar besser als damals, als wir das Navy-Seals-Team geschlagen haben.«

»Ja.« Sie pustete die Kerze aus. Ihre Hand wanderte an seinen Nacken, und als sie ihn küsste, schmeckte er das Salz auf ihren Lippen.

1

Irgendwo im Dschungel

Natasha verscheuchte energisch jede Vorstellung davon, was in diesem sumpfigen Wasser alles herumschwimmen mochte. Ihr Kinn berührte die Oberfläche, die tagsüber giftgrün gewesen war. Der Gestank ließ sie nur flach atmen. Die Geräusche des nächtlichen Dschungels waren laut genug, dass ihr Vormarsch unbemerkt vonstattenging.

Kevin tippte ihr von hinten auf die Schulter. Das Zeichen zum Angriff. Kevin und Bodo, die besten Schwimmer im Team, übernahmen mit ihr zusammen den Angriff vom Fluss aus. Chris, Gabriella und Pit deckten zusammen mit Smart den rechten Bereich des Abschnitts mit der breiten Straße ab. Carolina, Mark, Zoe und Ulf näherten sich der Hüttensiedlung von der linken, höher gelegenen Seite aus. So hatte Caro als Scharfschützin die beste Position, um in Deckung zu liegen und die Situation optimal im Auge zu behalten.

Auf den Satellitenbildern hatten sie sehen können, dass die winzige Siedlung aus nur vier Hütten bestand. Zwei davon waren größer, lang gezogen, und eine der kleineren, die direkt am Fluss lag, wurde streng bewacht.

Laut der Aufklärungstruppe befanden sich zwanzig Mann im Dorf. Um das Gebäude, in dem sie aufgrund der Bewachung die Geiseln vermuteten, waren sechs Männer verteilt. Zwei davon drehten Natashas Gruppe den Rücken zu. Sie plauderten miteinander. Ein roter Punkt glühte in regelmäßigen Abständen auf, wenn einer der beiden an seiner Zigarette zog.

Natasha machte das Zeichen für »Abwarten«. Dem Gespräch der Bewacher hatte sie entnommen, dass sich gerade einer von den Wächtern bei den Geiseln aufhielt. Sie wusste, dass Gerling bei der Entführung eine Kugel abbekommen hatte, und die Wunde wurde offensichtlich behandelt. Das war der Vorteil, wenn es in diesen Ländern um Lösegelderpressung ging. Man musste die Geiseln am Leben erhalten, denn sie sollten nicht an einer Infektion sterben.

Major Wagner, der Einsatzleiter, hatte sich eindeutig geäußert: Keine Befreiungsaktion, wenn sich bewaffnete Wachleute bei den Geiseln aufhielten.

Es plätscherte leise, und der eine Wachmann drehte sich um. Natasha hielt die Luft an und tauchte lautlos unter. Durch die Wasseroberfläche sah sie ein Licht mehrmals über den Sumpf streifen, dann wurde es wieder dunkel. Sie wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Am schwierigsten war es, beim ersten Atemzug kein Geräusch zu machen. Ihre Lungen brannten, und sie spürte ein leichtes Schwindelgefühl. Sie blickte kurz auf die Uhr, eine Spezialanfertigung, an der sich die Uhrzeit ablesen ließ, ohne dass man ein Signalfeuer erzeugte. Es war lächerlich, sie war gerade mal knapp fünfzig Sekunden unter Wasser gewesen. Normalerweise bereitete ihr das keine Probleme. Sie konnte locker die doppelte Zeit ohne Sauerstoff auskommen.

Wieder tippte Kevin sie an. Sie musste erklären, warum sie zögerte. Alle anderen lagen in ihren Stellungen und warteten auf das Zeichen zum Start. Die Situation war schließlich perfekt – zwei Wachen außer Sichtweite der anderen Hütten direkt am Ufer, dahinter die Rückwand der Hütte, in der sich die Geiseln befanden. Es war geplant, dass Bodo und Kevin in die Rollen der Wachleute schlüpfen sollten, um ihr einen Zeitpuffer zu verschaffen, damit sie die Familie Gerling unbemerkt befreien konnte. Dabei war klar, dass eine solche Charade nicht lange vorhalten würde.

In ihrer teameigenen Zeichensprache verdeutlichte sie Kevin, was sie gehört hatte. Dann erstarrte sie, als sie mitbekam, worüber die beiden Wachen jetzt sprachen. Das Plätschern hatte nicht etwa jemand vom Team verursacht, sondern ein auf der Lauer liegender Alligator, der sich einen Fisch einverleibt hatte. Selbstverständlich waren sie gebrieft worden, mit welchen Wildtieren sie möglicherweise in Kontakt geraten würden. Immerhin bewegten sie sich lautlos durch den Dschungel. Sie wusste, dass Alligatoren keine Menschen verschlingen, schon weil sie ihr Maul gar nicht weit genug aufsperren können. Abgesehen davon war es bekannt, dass diese menschenscheuen Tiere nur angreifen, wenn sie sich selbst angegriffen fühlen. Dumm nur, dass sie ausgerechnet nachts durch einen Fluss mit diesen nachtaktiven Reptilien schwammen. Sie hoffte, dass das Ultraschallsignal, das die Sensoren ihrer Anzüge abgaben, die Räuber von ihnen fernhielte. Sollte sie Kevin und Bodo signalisieren, dass sich in ihrer Nähe gerade ein Alligator seine Mahlzeit jagte? Besser nicht.

»Zwei Wachmänner kommen aus der Hütte mit den Geiseln«, hörte sie Mark über ihr Headset sagen. Da er und Caro die größte Distanz zum Angriffsziel hielten, übernahmen sie auch die Kommunikation mit der Basis.

»Dann wissen wir jetzt auch, weshalb unsere Schwimmer nicht aus dem Wasser kommen«, bemerkte Wagner, der im Ausgangslager die Satellitenbilder im Auge behielt.

»Hey, Natasha, ich will später alle dreckigen Witze erzählt kriegen, mit denen sich die Wachleute die Zeit vertreiben. Muss ja irgendeinen Vorteil haben, wenn man ein Sprachgenie in der Truppe hat.«

Echt witzig. Natasha spürte, wie leichte Übelkeit in ihr aufstieg. In letzter Zeit hatte sie oft Probleme damit. Ihr Magen war überempfindlich geworden, und ihr Geruchssinn ebenso.

Sie fokussierte ihre Gedanken wieder auf den Einsatz und näherte sich langsam – gefolgt von ihren zwei Teamkameraden – dem Ufer mit den zwei Wachmännern, die ihnen erneut den Rücken zukehrten. Der eine steckte sich eine neue Zigarette am Stummel der alten an. Natasha schwamm, bis ihr Bauch den Boden berührte. Sie vertraute darauf, dass auch Kevin und Bodo hinter ihr in Startposition gingen. Mit den Armen stemmte sie den Oberkörper hoch, sprang auf die Füße und rannte los. Während sie den direkten Weg zur Rückwand der Hütte nahm, teilten sich ihre Begleiter auf und übernahmen die Wachen zu beiden Seiten.

Sie wandte sich um, hockte sich hin. Bevor Ramirez’ Männer wussten, wie ihnen geschah, hatten Kevin und Bodo die beiden mit einem gezielten Schlag ausgeknockt. Binnen Sekunden waren sie von ihrer Oberbekleidung befreit, gefesselt und geknebelt. Natasha zog rasch die Hand aus etwas Weichem neben ihr. Der Geruch von menschlichem Kot stieg ihr unangenehm in die Nase. Sie würgte, beugte sich vor und war froh, als ihr Magen den Powerriegel von zuvor wieder herausgegeben hatte.

Bodo tippte sie an. Er reichte ihr ein Desinfektionstuch, mit dem sie sich die Hand säuberte. Es roch nach Zitrone. Mit ihrem eigenen wischte sie sich den Mund sauber, trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und gab das Alles-okay-Zeichen.

»Zwei down, bleiben achtzehn«, kam es von Wagner aus dem Headset. »Auf jetzt Tempo, Kehlmann, ab in die Hütte zu den Geiseln. Römer und Steuber, Sie sichern den Eingang. Sobald wir zuverlässig wissen, dass die Familie Gerling sich dort befindet, schlagen wir zu.« Wagner trieb sie zur Eile an, aber der hatte gut reden, er saß ja in sicherer Entfernung in einem Zelt.

Bodo und Kevin zogen rasch die paar Sachen von den Wachmännern über, sodass ihre speziellen Tarn-Neoprenanzüge verdeckt wurden. Natasha verstaute derweil ihre sichtbaren Ausrüstungsgegenstände im Rucksack. Lediglich ihr Kampfmesser und die Glock, die sie statt ihrer üblichen Heckler & Koch P30 mitführte, behielt sie bei sich. Die Glock war bei den deutschen Kampfschwimmern erprobt, und sie hatte damit die letzten Tage im Lager trainiert. Zuletzt schob sie das speziell für ihre Einheit angefertigte Multifunktionstaschenmesser in ihre Hosentasche.

Ein Ersatzmagazin mitzunehmen, konnte sie sich in ihrer Rolle als gefangene Geisel nicht leisten. Ihre zwei Teamkameraden führten dafür umso mehr Munition mit sich. Den Rucksack versteckte sie an der Hüttenrückwand unter einem Busch. Entweder bliebe die Zeit, ihn wieder mitzunehmen, oder sie musste ihn als Verlust abschreiben. Im Vorfeld hatten sie zwei mögliche Fluchtvarianten festgelegt, in jedem Fall mit Fahrzeugen der Entführer, also entweder mit den Jeeps oder den am Steg liegenden Luftkissenbooten. Und wenn alles schieflief, stand noch ein Hubschrauber des venezolanischen Militärs auf Abruf. Die Zeitverzögerung, bis der einträfe, wollte jedoch keiner von ihnen riskieren.

Kevin packte sie am Oberarm und zerrte sie mit sich in Richtung Hüttentür. Dabei stieß er alle spanischen Flüche aus, die sie ihm beigebracht hatte. Er hatte im Vergleich zu Bodo die weitaus bessere Aussprache. Natasha ließ sich mitschleifen und versuchte den Eindruck zu erwecken, geschlagen worden zu sein.

Sie waren fast bis zum Eingang gekommen, als eine der Wachen vor dem Gebäude sie aufhielt.

»He, wo habt ihr die aufgegabelt?«

Der Dialekt und das Sprechtempo brachten Kevin sichtlich an die Grenzen seines Sprachtalents, doch aus der Haltung des anderen verstand er auch so, was gemeint war.

»Draußen am Fluss, sie wollte uns ausspionieren.«

»Eine Spionin? Scheiße, ihr seid doch total bescheuert. In der Einheit sind auch Frauen, ihr Idioten!«

Der Mann griff zu seinem Funkgerät. Kevin packte fester zu, und sie spannte den Körper an. Als er ihr einen Schubs in Richtung auf den Wachposten zu versetzte, war der Mann völlig perplex. Er ließ das Funkgerät fallen. Doch bevor er reagieren und seine Waffen ziehen konnte, versetzte sie ihm einen heftigen Handkantenschlag gegen die Halsschlagader. Er kippte auf sie zu, und statt zurückzuspringen, fing sie ihn auf. Bevor Bodo sich den zweiten Mann vorknöpfen konnte, hatte der bereits seine Waffe gezogen. Der Schuss traf den Mann in Natashas Armen, drang durch dessen Körper und prallte an ihrer Schutzweste ab. Sie verlor das Gleichgewicht und landete rückwärts auf dem Boden, hörte einen weiteren dumpfen Ton und drehte den Kopf. Der Wachmann lag mit einem glatten Kopfschuss neben ihr.

Caro. Der erste Schuss – der von dem Wachmann – war laut gewesen, der aus Caros Scharfschützengewehr hingegen hatte dumpf verzerrt geklungen, denn ein Schalldämpfer nimmt einem Schuss nicht jegliches Geräusch, sondern verändert es nur, sodass er nicht mehr wie ein Schuss klingt und anders interpretiert werden kann. Bodo fluchte leise vor sich hin. Weitere Wachen kamen angerannt.

Bodo hob den Mann, der auf ihr lag an, prüfte seinen Puls und schüttelte den Kopf. »Los, beeil dich. Plan B.«, zischte er ihr zu.

»Nimm am besten gleich Plan C«, brummte Kevin, der die Hände defensiv hob und einen Schwall spanischer Flüche losließ.

Natasha ignorierte die Männer, die auf sie zugelaufen kamen, vertraute auf ihre Kameraden – sie würden ihr den Rücken freihalten – und lief in die Hütte.

Sie blieb stehen. Shit! Das war ja klar. Sie hatten verschiedene Szenarien dessen, was sie vorfinden würden, durchgespielt. Nun bot sich ihr das Bild des Worst-Case-Szenarios. Die Geiseln waren in der Hütte in eine Zelle gesperrt.

»Schlüssel?«, bellte Natasha ins Headset.

»Mist!«, fluchte Bodo.

Draußen wurden die Stimmen lauter. Es war abwegig zu glauben, sie könnten das Ruder noch herumreißen.

»Wer sind Sie?«, kam es stöhnend von Diedrich Gerling.

Sie schenkte ihm ein verzerrtes Grinsen. »Das Befreiungskommando.«

»Na super. Da können wir uns ja gleich die Kugel geben.«

Natasha ließ den Blick rasch über die beiden anderen Geiseln schweifen. Die Frau, Helga Gerling, wirkte erstaunlich wach, ja beinah erregt. Der achtjährige Sohn, David, hockte neben ihr, die Arme um die Knie geschlungen. Mit geweiteten Pupillen sah er sie ohne ein Zeichen von Unruhe oder gar Panik an. Sie hatte es offenbar nicht nur mit einer verschlossenen Zelle zu tun, sondern auch noch mit Geiseln, die unter Drogen gesetzt waren. Und dann war da ja noch die Schussverletzung an der linken Wade des Mannes.

Natasha wandte sich an Diedrich Gerling. »Können Sie laufen?«

»Sieht es so aus? Verflucht noch mal, wofür zahle ich so viel an Steuern? Für eine Bundeswehr, die mir die letzten Idioten schickt?«

»Diedrich«, mahnte seine Frau.

Gefesselt waren sie nicht. Immerhin ein Pluspunkt. Natasha sah sich das Schloss an der Zellentür an.

»Ist das da Blut?« Der Junge starrte auf ihre Hand.

Natasha warf einen raschen Blick darauf. Der vom Eisengehalt durchdringende Geruch des Bluts von dem Wachmann machte sich in ihrer Nase breit, und Gallenflüssigkeit brannte in ihrem Hals. Sie entschied, die Frage zu ignorieren. Sie musste das Problem mit dem Schloss lösen, und zwar schnell. Darauf zu schießen, kam nicht infrage, denn eine abprallende Kugel war unberechenbar.

»Negativ«, kam es von Bodo. Also kein Schlüssel bei den zwei toten Wachen. Klar, was sonst?

»Tempo, Kehlmann!«, bellte Wagner. »Lös das Problem.«

Na super, dachte sie erbost, setzt mich noch mehr unter Druck. Draußen brach der Krieg aus.

»Verflucht, tun Sie endlich was!« Gerling flippte in der Zelle aus.

Seine Panik übertrug sich auf David. Seine Frau hingegen reagierte direkt und verkroch sich in die entfernteste Ecke. Für einen Moment blickte Natasha sie irritiert an. Als würde die Frau begreifen, was sie verwunderte, packte sie ihren Sohn grob am Arm und zog ihn zu sich.

»Ich schwöre Ihnen, das wird Konsequenzen haben«, drohte Diedrich Gerling.

Natasha konzentrierte sich auf das Schloss, blendete alles andere aus. Selbst als der erste Querschläger über ihrem Kopf in die Wand einschlug, blieb sie ruhig. »Gehen Sie zu Ihrer Frau und Ihrem Sohn, dort sind Sie vor Kugeln sicher.« Wenigstens, solange keiner der Entführer in die Hütte kommt, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Einen Scheißdreck werde ich!«, brüllte Gerling und erhob sich mühsam, indem er sein Gewicht auf das gesunde Bein verlagerte.

Natasha zückte ihre Waffe und richtete sie auf den Unternehmer. »Ab in die Ecke.« Sie verwendete denselben Ton wie bei ihrem Hundewelpen, der kleinen Freya, wenn die es mal wieder zu doll trieb und damit durchzukommen glaubte.

Die Sekunden verstrichen, aber es funktionierte. Widerwillig folgte der Mann ihrem Befehl und gesellte sich zu Frau und Sohn. Verflucht, das alles kostete wertvolle Zeit.

»Natasha?« Es war die ruhige Stimme von Pit, der normalerweise ihr Partner im Einsatz war.

Sofort legte sich ihr Zorn. »Verschafft mir eine halbe Minute Luft«, murmelte sie ins Headset.

»Du hast eine Minute.«

Ungewollt huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. Das war typisch für ihren Teamführer, der eigentlich Peter Abel hieß. Er gab ihnen selbst in brenzligen Situationen das Gefühl, dass sie alle Zeit der Welt hatten, weil er wusste, dass Druck zu Stress und Stress zu Fehlern führt.

Natasha zückte ihr Taschenmesser. »Mark, kannst du dir was anschauen?«

»Versuchs«, hörte sie Mark mit angestrengtem Atem zwischen den Schüssen sagen. Sie nahm ihre Spezialuhr vom Handgelenk, stellte eine Verbindung zu Marks Uhr her und hielt den Knopf gedrückt, während sie mit der längeren Seite der Uhr, in die eine winzige Kamera eingebaut war, das Schloss von beiden Seiten filmte.

»Nimm C3 und F4 von deinem Multitool. Mit dem C3 musst du einen Hebel schieben, während du den F4 benutzt, um den Mechanismus zu drehen.«

Natasha schloss die Augen, um ihre Sinne auf ihre Finger zu fokussieren. Mark hatte recht, oben gab es einen Hebel.

Exakt siebenundzwanzig Sekunden später hatte sie das Schloss geknackt. Gerling drängte sofort seine Frau zurück und humpelte, so rasch er konnte, direkt zur Tür in die Schusslinie. Natasha rammte ihn und warf ihn zu Boden. An ihrem linken Arm spürte sie ein scharfes Brennen. Sie war nicht zimperlich mit Gerling, als sie ihn am Fuß packte und wieder zurück in den Raum schleifte. Am Hemdkragen zerrte sie ihn hoch und funkelte ihn böse an.

»Widersetzen Sie sich noch ein einziges Mal meinem Befehl und gefährden Ihre Frau, Ihren Sohn und mich, dann jage ich Ihnen persönlich eine Kugel durch den Kopf und behaupte, es wäre ein Terrorist gewesen. Das schwöre ich Ihnen. Verstanden?«

»Kehlmann, reißen Sie sich am Riemen«, wies Wagner sie über das Headset zurecht.

»Drück ihm kurz die Blutzufuhr ab, bis er ohnmächtig ist«, schlug Zoe vor.

»Und was dann? Soll ich ihn schleppen?«, murrte Ulf.

Der knappe Wortwechsel löste Gelächter beim Rest der Truppe aus. Das half Natasha, sich wieder abzukühlen. Auch das war untypisch für sie, dass sie sich derartig leicht aus der Fassung bringen ließ. Doch darüber konnte sie sich nach dem Einsatz ärgern. Sie schenkte Helga und David ein warmes Lächeln. Beide waren erschrocken vor ihr zurückgewichen.

»Keine Sorge, wir bekommen Sie heil hier raus. Bleiben Sie dicht hinter mir immer an der Wand, und folgen Sie meinen Anweisungen.«

Noch dämpfte das Adrenalin in ihrem Körper den Schmerz von dem Streifschuss an ihrem Arm. Sie fluchte, weil sie die Medizintasche, die sie wie alle anderen immer bei sich trug, im Rucksack zurückgelassen hatte.

»Bereit«, gab sie Kevin und Bodo durch. »Denkt daran, dass Gerlings Bein verletzt ist.«

»Standby. Team Wolf, wie sieht es bei euch aus?«, fragte Bodo. Team Wolf, das waren Smart, Pit, Chris und Gabriella.

»Wir haben die Fahrzeuge unbrauchbar gemacht. Wir nehmen die Boote, das ist näher für euch.«

»Und Nummer sechs down«, kam es knapp von Caro.

Natasha lief ein kalter Schauer über den Rücken. Caro sprach von Menschen, als würde sie im Training die Treffer zählen. Aber zwei von den Männern lebten immerhin noch.

»Leute, pronto, Tempo. Keine Verzögerungen mehr. Jemand hat Verstärkung angefordert. Die braucht maximal zehn Minuten, um Sie zu erreichen. Team Eagle, vorstoßen zu Team Snake. Sie sichern den Fluchtweg zum Fluss. Team Wolf, Sie verschaffen Ihren Kameraden Zeit.«

»Roger«, kam es von Caro, die mit Mark das Team Eagle bildete.

»Roger«, hörte Natasha Ulf sagen, der mit Zoe zum Team Snake gehörte.

Sie drehte sich zu Gerling um, der hinter ihr kauerte, so weit es sein verletztes Bein zuließ. »Sobald meine Kollegen den Befehl geben, müssen wir zur Tür raus Richtung Fluss. Sie können nicht laufen, also werde ich Sie tragen.«

»Auf keinen Fall.«

Natasha zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen, dann humpeln Sie hinter uns her und riskieren, eine Kugel abzubekommen.«

»Besser, als wenn Sie unter meinem Gewicht zusammenbrechen.«

Diesmal grinste sie ihn an. »Was wiegen Sie? Achtzig Kilo?«

Er reckte gekränkt den Kopf ein Stück höher. »Vierundsiebzig – seit ich zwanzig war.«

»Geben Sie mir Ihre Hand. Nein, legen Sie sie über meine Schulter. Sobald das Zeichen kommt, werde ich Ihr verletztes Bein packen und es mir ebenfalls über die Schulter ziehen. Das wird weh tun, aber ich kann es nicht ändern. Je mehr Sie mir helfen, indem Sie Ihr Gewicht verlagern, desto leichter wird es für uns beide. Wenn ich Sie absetze, nutzen Sie Ihr gesundes Bein und stützen sich mit dem Arm auf mich.«

Sie hatte es oft genug mit den Teammitgliedern – vor allem mit Pit – geübt, da man ja nicht wusste, ob Gerling mit seiner Verletzung laufen konnte.

»Hey, David, weißt du, wo es zum Flussufer geht?«, fragte sie und lächelte dem Jungen aufmunternd zu. Er nickte. »Wenn ich es dir sage, dann läufst du, so schnell du kannst, zu den Booten, die dort liegen. Geh zum ersten ganz vorn am Steg. Du schaust dich nicht um, sondern rennst, als wäre der Teufel hinter dir her. Deine Sportlehrerin sagt, du bist der Schnellste in deiner Klasse.«

»Das bin ich«, bestätigte er, furchte die Stirn vor lauter Konzentration und nahm eine Starthaltung ein.

Sie sah zu Frau Gerling hinüber, die die Lippen fest zusammengepresst hatte und ihr zunickte.

»Los!«, bellte Kevin.

2

Flucht

Natasha ignorierte Gerlings Schrei, als sie sein verletztes Bein über ihre Schulter zog, stemmte sich hoch und lief mit ihrer Last durch die Tür. David stürmte an ihr vorbei. Bodo und Kevin hielten ihnen den Rücken frei und nahmen die letzten von Ramirez’ Männern, die sich verschanzt hatten, unter Dauerbeschuss. Sie blieb auf ihr Ziel fokussiert. Ihre Lungen brannten, ebenso ihre Beine.

Schweißgebadet und keuchend erreichte sie den Steg mit den vertäuten Luftkissenbooten. Sie setzte ihre Last beim vordersten Boot ab und verbiss sich den Schmerzlaut, als Gerling die Finger in ihren verletzten Arm krallte. Er ließ sich auf den Rücken fallen, leichenblass.

»Steig in das zweite Boot und leg dich so flach wie möglich hin«, wies sie David an und sah sich suchend nach Frau Gerling um. Da kam sie gelaufen, angetrieben von Ulf, der Chris auf dem Rücken trug. Blut tropfte auf den Boden, als Ulf bei den Booten zum Stehen kam.

David fing an zu weinen. »Reiß dich zusammen«, schimpfte seine Mutter. Der Junge schluckte.

»Steigen Sie zu ihrem Sohn ins Boot«, herrschte Natasha sie an. Mit seiner Last stieg Ulf in das vorderste Boot, das gefährlich ins Schwanken geriet, und für einen Moment erfasste sie Panik, es könne umkippen, doch er schaffte es, die Kippbewegungen auszugleichen. Nur kurz regte sich ihr schlechtes Gewissen wegen ihrer Erleichterung, dass nicht Pit der Verletzte war.

»Ich brauche deine Hilfe!«, bellte Ulf.

Sie blickte auf Gerling, der noch immer blass und erschöpft auf dem Rücken lag. »Kommen Sie.« Sie zog ihn auf die Beine, umschlang seine Taille und stützte ihn ab, stieg dann zuerst selbst vom Steg in das Boot, in dem Ulf wartete, bevor sie Gerling hinein half. Das Boot neigte sich gefährlich zur Seite, als der Verletzte ungelenk hineinhüpfte. Diesmal war es ihrer eigenen schnellen Reaktion zu verdanken, dass sie nicht ins Wasser stürzten.

»Hol das Verbandspaket aus Chris’ Medizintasche«, kommandierte Ulf.

Der Schuss war durch Chris’ Oberschenkel gegangen, aus dem es langsam und gleichmäßig blutete, was bedeutete, dass keine Arterie verletzt war. Ulf legte schon den Druckverband mit der orangefarbenen Abbindevorrichtung an, dem Combat Application Tourniquet. Natasha holte außer dem Verbandsmaterial gleich die mit Alginat getränkten Wundauflagen hervor.

Die Blutung stoppte.

»Merde, merde, merde«, schimpfte Chris vor sich hin und sog scharf die Luft ein. Natasha nahm ihr Messer und entfernte den Stoff seiner Hose von der Wunde. »Die war nagelneu«, jammerte er.

Natasha warf Ulf einen Blick zu, doch der blieb voll auf seine Arbeit konzentriert. Sein angespannter Gesichtsausdruck sagte alles.

»Verflucht, kann mir mal jemand helfen?«, tönte Gerling. »Was für ein Befreiungskommando sind Sie eigentlich? Kümmern sich zuerst um ihre eigenen Leute, statt um mich? Geisel befreit, aber an Infektion krepiert, oder wie?«, wetterte er vor sich hin.

Sowohl Natasha als auch Ulf ignorierten den Mann. Inzwischen war der Rest der Mannschaft nachgerückt. Kevin sprang zu ihnen auf das Boot, brach das Schloss auf und schaltete den Motor kurz. Ein sattes Geräusch ertönte und der Rotor verwirbelte die Luft.

»Dein Rucksack!«, bellte Ulf, während er rasch mit geübtem Blick Chris nach weiteren Schussverletzungen absuchte. Erst danach wendete er sich Gerling zu.

Natasha sprang vom Boot, um zurückzulaufen. Mark hatte inzwischen die beiden anderen Boote kurzgeschlossen und saß im ersten Boot.

»Tempo, Tempo, Tempo!«, trieb Wagner sie alle über das Headset zur Eile an. Im Augenwinkel sah Natasha, wie Smart einen Satz aus der Deckung machte und sich in das Handgelenk eines Angreifers verbiss, der mit der Waffe direkt auf sie gezielt hatte. Verdammt, sie hatte nicht mal auf ihre Umgebung geachtet, geschweige denn ihre Waffe gezogen.

Pit, Caro und Gabriella kamen um die Ecke geflitzt. »Lauf!«, befahl Pit.

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie rannte weiter, hatte den Rucksack noch nicht ganz auf den Rücken geschoben, als sie schon wieder den Steg entlanglief. Kevin hatte das Boot bereits vom Steg weg manövriert. Mit einem Satz landete sie darauf. Ulf, der sich Gerlings Wunde ansah, hielt nur die Hand auf, und sie reichte ihm ihr Medizinpaket.

Dann nahm sie Kevin das Sturmgewehr – die HK 416 – ab, brachte sich in Stellung und konzentrierte ihre Schüsse auf die leeren Boote, die noch am Steg lagen. Mark fuhr mit David und Helga Gerling los. Bei ihnen auf dem Boden des Luftkissenboots hockten Bodo und Gabriella und nahmen das Ufer unter Beschuss. Pit wendete in einer scharfen Kehre das letzte Boot, in dem Zoe und Carolina Stellung bezogen hatten. Smart bewahrte Zoe davor, aus dem Boot zu fallen, indem er in ihr Hosenbein biss und sein Gewicht gegen die Fliehkraft stemmte.

Kaum hatte Kevin mit einem kurzen Blick nach hinten festgestellt, dass der Rest des Teams ihm nachkam, gab er Gas. Natasha hatte wegen der beiden nachfolgenden Boote keine Möglichkeit mehr, einen sicheren Schuss abzugeben.

Ein Jeep kam schlingernd in einer gekonnten Fishtailwendung direkt vor dem Steg zum Halten. Bewaffnete Männer sprangen heraus und eröffneten das Feuer. Schüsse peitschten über den Fluss. Caro, Zoe, Bodo und Gabriella erwiderten das Feuer, während weitere Verfolger hinzukamen. Natasha konnte sehen, wie sich die Reihen ihrer Angreifer lichteten – was beim Beschuss von einem schwankenden Boot aus keine Selbstverständlichkeit war, sondern das Ergebnis ihres harten Trainings. Die Flussbiegung nahm ihr die Sicht auf das Geschehen. Kevin schaffte eine perfekt geschwungene Linie, ohne dass das Luftkissenboot unnötig weit hinaustrieb oder an Fahrt verlor. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis die beiden anderen Boote hinter ihnen auftauchten. Im Gegensatz zu Kevin steuerte Mark weit hinaus und verlor an Fahrt. Pit machte einen Schlenker, um hinter seinem Boot zu bleiben. Er übernahm die Rückendeckung.

Natasha wandte sich Gerling zu. Ulf hatte seine Wunde frisch verarztet und gab ihm gerade eine Spritze gegen die Schmerzen. Sie rutschte zu Chris.

»Kannst du mir auch so einen netten Cocktail verpassen?«, versuchte er zu scherzen.

»Dir ist klar, dass du davon süchtig werden kannst?«, foppte sie ihn.

Chris stand der kalte Schweiß auf der Stirn, aber das war es nicht, was ihr Sorgen bereitete, sondern der Ausdruck in seinen grünen Augen. Die hellen Töne darin, die ihn für viele Frauen so unwiderstehlich machten, wenn er es darauf anlegte, waren verschwunden. Stattdessen wirkte die Iris beinahe schwarz.

Sie strich ihm das feuchte dunkelblonde Haar aus dem Gesicht, beugte sich vor und deckte mit der Hand das Mikro des Headsets ab. »Das wird schon wieder. Du lässt dich einfach für ein paar Wochen von …« Sie runzelte die Stirn. Verflucht, wie war der Name seiner aktuellen Freundin? »… Ulrike pflegen, und ehe du dich versiehst, kannst du wieder mit dem Training anfangen.«

Er schloss die Augen, und sein Mund bildete eine gerade Linie. Für sie alle stand der Job an erster Stelle. Der Gedanke, ihn nicht mehr ausüben zu können … Nein, besser gar nicht darüber nachdenken. Ungewollt lief ihr ein Schauer über den Rücken, aber sie weigerte sich, bereits jetzt die Flinte ins Korn zu werfen.

»Weißt du, ich bin jedenfalls froh, dass mal nicht ich diejenige bin, die ein Sondertraining von Pit verpasst bekommt.«

Diesmal verzogen sich seine Mundwinkel kurz nach oben.

»Fahren Sie den Fluss weiter hoch bis nach Canaima«, wies Wagner sie an. »Am Flughafen wartet ein Black Hawk auf Sie, der bringt Sie auf dem schnellsten Weg nach Caracas.«

»Wir brauchen einen fahrbaren Untersatz. Weder Gerling noch Chris schaffen die Strecke von der Anlegestelle bis zum Flughafen«, erwiderte Ulf.

»Ich kümmere mich darum.«

»Was ist mit Ramirez’ Männern?«, wollte Pit wissen.

»Hoffen wir, dass es ihnen reicht. Er hat einige Männer verloren. Sie haben ihre Boote und Fahrzeuge unbrauchbar gemacht, also stehen ihnen nur die Jeeps des Verstärkungstrupps zur Verfügung. Sie müssen entscheiden, wen sie mitnehmen, und auch Leute bei den Verletzten zurücklassen. Dieser Entscheidungsprozess kostet Zeit. Die Straße durch den Dschungel erlaubt nur eine begrenzte Geschwindigkeit, und erschwerend kommt hinzu, dass sie auf der falschen Seite des Flusses sind. Mit anderen Worten – bis Ramirez mit seinen Männern bei Ihnen wäre, sind Sie längst über alle Berge, und ich denke, das weiß er genauso gut wie wir.«

Chris atmete tief durch. Natasha hob den Kopf und schaute Ulf an, dessen Blick auf Chris ruhte. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Ihre stumme Frage beantwortete er mit einem Achselzucken. Er konnte ihr nicht sagen, ob ihr Kamerad wieder mit ihnen zusammen in einen Einsatz würde gehen können.

Seit Natasha in die Sondereinheit aufgenommen geworden war, hatten drei Männer und eine Frau aufgrund von Verletzungen die Einheit verlassen müssen. Da Generalmajor Hartmann, ihr oberster Chef, die Mitglieder aus den Bundesbehörden und dem Militär rekrutierte, wurden sie in so einem Fall wieder in die ursprünglichen Behörden zurückgeführt. Dort bekam man entsprechend seiner Diensttauglichkeit einen Job zugeteilt, der im optimalen Fall in gegenseitigem Einvernehmen ausgesucht wurde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wieder zum BKA in den reinen Polizeidienst zurückzugehen. Es wollte ihr nicht gelingen. Sie liebte die Vielfältigkeit der Einsätze in der Sondereinheit. Alles andere kam ihr mittlerweile langweilig vor. Chris kam vom Militär. Wo würde er landen, wenn er nicht mehr diensttauglich für die Sondereinheit war?

Auf ein Zeichen von Ulf wechselten sie die Plätze. Kurz bevor sie zu der Truppe gestoßen war, hatte diese schon einmal ein Teammitglied durch eine Verletzung im Einsatz verloren. Sie hatte den Nachklang noch zu spüren bekommen und verstand Ulfs Bedürfnis, für Chris da zu sein.

Sie gesellte sich zu Gerling. »Sind die Schmerzen erträglicher?«

»Was ist mit meiner Frau und meinem Sohn?«

»Gabriella?«, sprach sie über das Headset ihre Teamkameradin im anderen Boot an. »Herr Gerling möchte wissen, wie es seiner Familie geht.«

»Bei uns ist alles klar. David steht gerade bei Mark und darf das Boot lenken.«

Sie musste schmunzeln. Das war typisch für Mark, der selbst im Herzen ein großer Junge war. »Ihrer Familie geht es gut, Herr Gerling. Beide sind wohlauf und haben keine Kratzer abbekommen.«

»Sie meinen außer den seelischen?« Gerling bedeckte mit einer Hand die Augen, und sein Körper begann zu beben.

Sie legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. »Glauben Sie mir, mit viel Liebe und Geduld lässt sich auch ein so traumatisches Erlebnis verarbeiten. Das Wichtigste ist, dass Sie jetzt für Ihre Familie da sind und Sie alle darüber reden.«

»Es war ein Fehler, mit diesem Land Geschäfte machen zu wollen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ich hätte wissen müssen, dass sich diese Verbrecher nicht an Vereinbarungen halten. Ein Menschenleben hat für die keinen Wert.«

»Sie sollten ein Land nicht nach seinen Kriminellen beurteilen. Die Kultur und die Bevölkerung sind es, die es prägen und zu dem machen, was es ist. Jedenfalls auf lange Sicht.«

Gerling schnaubte. »Sie haben auch noch nie versucht, Wirtschaftsbeziehungen zu Venezuela aufzubauen.«

»Es stimmt, Korruption ist gang und gäbe in der Führungselite des Landes – egal ob politisch oder wirtschaftlich. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen. Auch da gibt es Ausnahmen, und das Land verändert sich. Ich bin sechs Wochen durch Venezuela gewandert. Man hat Sie übrigens im sechstgrößten Nationalpark der Welt gefangen gehalten, der von der UNESCO nicht umsonst zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Schade, dass ich Ihnen den höchsten Wasserfall der Welt nicht zeigen kann, den Salto Angel.«

»Sie scherzen.« Gerling musterte sie mit verengten Augen.

»Nein, es ist ein Anblick, den man niemals vergisst.«

»Meine Frau, mein Sohn und ich, wir wurden entführt. Ich wurde angeschossen, und Sie erzählen mir etwas von der Schönheit der Natur?«

»Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille.«

»Gott bewahre mich vor Idealistinnen. Und vor Frauen, die meinen, den Job eines Mannes machen zu können.«

»Keine Sorge, Herr Gerling, Sie müssen meine Gesellschaft nicht mehr lange ertragen, und ich bezweifle, dass sich unsere Wege je wieder kreuzen werden. Sie sind mich bald los.«

»Ich kann es kaum erwarten.«


Zoe schob ihr unsanft den Ärmel bis zur Schulter hoch. »Verdammt noch mal, Natasha, musst du immer die Heldin spielen?«, schimpfte sie vor sich hin, während sie die Schusswunde desinfizierte, kein leichtes Unterfangen in einem Black Hawk, der mit irrsinniger Geschwindigkeit durch die Luft jagte.

»Ist nur eine Fleischwunde durch einen Streifschuss«, kam Ulf ihr unerwartet zu Hilfe. Sie saßen in zwei Reihen in dem Black Hawk, der verletzte Gerling sowie Smart auf dem Boden zwischen ihnen.

»… die sich infizieren und zu ernsthaften Problemen führen kann, wenn man sie nicht behandelt!«, fauchte Zoe. »Seit wann bist du derart nachlässig in deinem Job?«.

»Ich hatte zwei Schwerverletzte, falls es dir entgangen sein sollte, Miss Oberschlau.«

»Hey, könnt ihr euch bitte wieder abregen?«, fuhr Natasha in den Schlagabtausch zwischen Ulf und Zoe, die in ihrer Einheit ein Zweierteam bildeten. Ihr war klar, dass alle durch die Ungewissheit wegen Chris angespannt waren.

»Hast du Ulf gesagt, dass du gekotzt hast?«, goss Bodo noch Öl ins Feuer.

»Nein, hat sie nicht«, erwiderte Ulf und fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen.

Rasch schaute sie zu Pit hinüber, der mit Kevin zusammen bei Chris am unteren Ende der Reihe saß. Smart hatte den Kopf auf Chris’ unverletzten Oberschenkel gelegt und ließ sich von Chris kraulen, in dessen Gesicht die Farbe ein Stück weit zurückgekehrt war.

Gerling lag auf einer Trage zwischen ihnen am Boden. David, der neben Kevin saß, ließ den Blick unablässig über die gesamte Gruppe streifen. Klar – Tarnfarbe, Schweiß, die verschlammten, verdreckten Klamotten, die Waffen – das alles roch für einen Jungen nach Abenteuer und Heldentum. Frau Gerling hatte den Kopf abgewandt und starrte nach draußen in die Nacht.

Ulf gab Caro ein Zeichen und tauschte den Platz mit ihr, um sich Natasha gegenüber niederzulassen. Sie verdrehte die Augen. »Nun übertreib mal nicht.« Dann versetzte sie Bodo rechts neben ihr mit dem gesunden Arm einen Rippenstoß. »Mit mir ist alles in Ordnung. Wenn man in Menschenkacke fasst, muss man schon mal kotzen. Es sei denn, man ist ein Mann. Männer können so was halt besser ab und leben dafür kürzer.«

»Da muss ich ihr ausnahmsweise recht geben«, sagte Zoe. »Frauen ekeln sich schneller, weil es sie vor Infektionen schützt, vor allem wenn sie schwanger sind. Aber genau deshalb, du Oberschlauberger«, fügte sie hinzu und klopfte unsanft mit den Fingerknöcheln auf Natashas Stirn, »solltest du wissen, dass sich eine Wunde infizieren kann, wenn sie nicht behandelt wird.«

»Zoe, seit wann bist du so eine Glucke?«, maulte Natasha genervt.

»Seit sie darüber nachdenkt, ob wir ein Kind adoptieren sollen«, kam es von Caro.

»Ihr wollt was?«, rutschte es ihr, Ulf und Gabriella gleichzeitig heraus.

»Behaltet eure Gedanken bloß für euch. Keine schlauen Sprüche, das geht nur uns beide etwas an«, erwiderte Caro knapp.

»Wir sind davon genauso betroffen«, widersprach Mark mit düsterer Miene.

Ulf wandte sich Natasha zu.

»Keine Sorge, du musst nicht auf Caro verzichten«, entgegnete Zoe, die verfolgte, wie Ulf Natasha untersuchte, als würde sie es ihm nicht zutrauen, sie zu behandeln.

»Soll das heißen, dass du in Mutterschutz gehst? Gibt es so etwas bei uns überhaupt? Und was, bitteschön, mache ich dann?«, beschwerte er sich. »Soll ich diese sturköpfigen Möchtegernhelden, die jede Verletzung herunterspielen, allein behandeln?«

»Oh Mann, Caro, du hast genau gewusst, was du mit dem Spruch anrichtest«, stöhnte Zoe. »Im Moment ist es lediglich eine Idee, also regt euch mal alle ab.«

»Wer soll sich abregen?«, fragte Pit und ließ sich neben seiner ehemaligen Partnerin Caro gegenüber von ihnen nieder. Er furchte die Stirn, als er bemerkte, dass Ulfs Zeigefinger an Natashas Hals lag. »Was machst du da?«

Das war das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, dass ihr Partner sich Sorgen um sie machte.

»Wehe, du sagst was«, wisperte sie, während sie gleichzeitig das Mikro des Headsets abdeckte. »Dann war es das letzte Mal, dass ich ihn davon abgehalten habe, dir wegen Carina den Hals umzudrehen.«

Sofort nahm Ulf die Hand weg. »Ich wollte nur sicherstellen, dass Natasha sich durch den Streifschuss keine Infektion zugezogen hat«, erwiderte er laut.

»Streifschuss?« Eine herrische Handbewegung reichte, damit Zoe wortlos den Platz mit ihm tauschte.

»Na, super gemacht, Verräter«, zischte sie Ulf an und wandte sich zu Pit. »Alles halb so schlimm, es ist wirklich nur ein harmloser Kratzer.«

Doch damit gab Pit sich nicht zufrieden. Er nahm ihren Arm und tastete ihn ab. Zum Glück war sie noch nie übermäßig schmerzempfindlich gewesen.

»Wann hat die Kugel dich getroffen? Auf der Flucht?«

Kurz erwog sie zu lügen, wusste jedoch, dass er sie durchschauen würde. Er kannte sie einfach zu gut.

»Vorher. Während der Befreiungsaktion.«

»Du bist für den nächsten Einsatz gesperrt.«

»Bitte? Spinnst du?«

»Das ist nun doch ein wenig übertrieben«, mischte sich Caro ein, die Einzige, die kein Problem damit hatte, sich mit Pit anzulegen.

»Sie hat das Leben der Geiseln gefährdet.«

»Habe ich nicht«, protestierte sie.

Er funkelte sie an. »Durch deine Verletzung bestand das Risiko, dass du Gerling nicht zum Steg hättest tragen können. Ich – und übrigens auch die Einsatzleitung – muss eure Leistungsfähigkeit zu jedem Zeitpunkt während eines Einsatzes beurteilen können.«

Caro verdrehte die Augen. »Es ist ein Streifschuss am Oberarm, Pit, mehr nicht.«

»Ich kann das Verbot gern auf dich ausdehnen.«

Zum Glück erreichten sie in diesem Moment das Lager.

3

Deutsche Botschaft Venezuela

Nach dem Duschen fühlte sich Natasha wieder fast wie ein normaler Mensch. Smart, den sie gleich mitgeduscht hatte, schüttelte sich und schaute sie vorwurfsvoll an. Obwohl der Schäferhund sich nicht scheute, ins Wasser zu springen und mit ihr zu schwimmen, egal ob es sich um einen Sumpf, einen Fluss oder das Meer handelte, konnte er es nicht leiden, geduscht zu werden. Dabei verwendete sie für ihn nicht einmal ihr Duschgel mit dem frischen Minzduft, sondern Schafmilchseife ohne Duftstoffe. Schließlich wollte sie seine empfindliche Nase, auf die sie im Einsatz oft genug angewiesen waren, nicht irritieren.

Smart kroch unter das Feldbett, auf dem Pits Sachen lagen, legte den Kopf auf die Pfoten und machte die Augen zu.

Außer Ulf, Kevin, Chris und Pit lag der ganze Rest der Mannschaft in den Feldbetten und ruhte sich aus. Manche von ihnen schliefen bereits tief und fest. Die deutsche Botschaft hatte ihnen im Erdgeschoss einen großen Raum bei den Sicherheitskräften zugeteilt, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Mark lag auf der Seite und hatte sein Kissen über den Kopf gestülpt, unter dem nur sein blonder Lockenschopf hervorlugte. Caro und Zoe hatten ihre Feldbetten zusammengeschoben und flüsterten miteinander. Bodo schlief rücklings lang auf der Pritsche ausgestreckt, die Fußknöchel überkreuzt, den einen Arm angewinkelt unter dem Kopf. Gabriella lag ihm zugewandt auf der Seite, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt.

Seit einiger Zeit fiel es Natasha häufiger auf, dass Gabriella heimlich Bodo betrachtete, wenn sie glaubte, niemand würde es bemerken. Kaum spürte sie ihren Blick, schloss sie rasch die Augen. Natasha unterdrückte ein Schmunzeln. Sie fragte sich, wie lange Gabriella ihre Gefühle für Bodo geheim halten zu können glaubte. Dann schüttelte sie den Kopf, amüsiert über sich selbst. Pit und sie hatten sich fast vier Jahre lang etwas vorgemacht.

Sie seufzte. Er würde sich nicht leicht dazu bewegen lassen, ihre Sperre für den nächsten Einsatz wieder aufzuheben. Schon gar nicht, wenn Oberst Wahlstrom die Sache mitbekam. Er reagierte noch empfindlicher auf solche Dinge als Pit. Major Wagner hingegen hatte ihr beim Debriefing lediglich eine Kopfnuss verpasst.

Sie legte sich auf ihr Feldbett, kramte ihr Smartphone hervor und schrieb an Malte:

Wie geht es meiner Süßen?

Sie verschickte die Kurznachricht, und die Antwort kam prompt – zusammen mit einem Bild von Freya, die in mühevoller Kleinarbeit einen Tennisschuh auseinandergenommen hatte.

Für diesen Hund bin ich definitiv zu alt!

Sie lachte leise in sich hinein.

In Wahrheit liebst du sie.

Kannst du schon sagen, wann du zurück bist?

Morgen.

Gott sei’s gelobt, meine Qual hat ein absehbares Ende. Vergesst nicht, sie zuerst abzuholen.

Keine Sorge, ich vermisse sie schon jetzt.

Es stimmte, wie Natasha überrascht feststellte. Sie hatte geglaubt, nach Akiro nie wieder einen Hund so sehr lieben zu können, wie sie ihn geliebt hatte. Doch wie eine kleine Diebin hatte sich die Hündin, die gerade mal fünf Monate alt war, in ihr Herz geschlichen. Und nicht nur in ihres. Es galt auch für den Rest der Mannschaft. Die Hündin hatte vor allem Chris um ihre kleine Pfote gewickelt. Wenn Natasha nicht aufpasste, würde er ihre ganze Erziehung verderben. Ihr Lächeln verflüchtigte sich. Chris … Hoffentlich durfte sie sich über dieses Problem weiterhin ärgern. Wenn er nur wieder in Ordnung kam. Gähnend legte sie sich auf die Seite, umarmte ihr Kissen und zog die Beine an.


Den Mund leicht geöffnet, schlief Natasha tief und fest. Peter hockte auf seinem Bett und besah sich den Verband, der unter ihrem T-Shirt hervorschaute. Ulf hatte wie immer gute Arbeit geleistet. Die Stelle war nicht einmal leicht gerötet. Er hatte mit seiner Sperre überreagiert, das wusste er, bevor Wagner es ihm auf dem Flur unter die Nase gerieben hatte. Es lag nicht daran, dass sie ein Paar waren. Von Anfang an hatte er Natasha bei Einsätzen besonders im Auge behalten, weil sie dazu neigte, ein zu hohes Risiko einzugehen – nicht für das Team, sondern für ihre eigene Sicherheit. Er musste sich jedoch eingestehen, dass ihm der Schreck von ihrer Entführung vor nicht allzu langer Zeit, bei der sie nur knapp dem Tod entronnen war, noch immer in den Knochen saß.

Auch wenn Natasha sich nach außen hin den Anschein gab, den Fall verarbeitet zu haben – er kannte sie besser. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich manchmal nachts im Schlaf herumwälzte und mit einem Schrei erwachte. Er wusste nicht, was die bessere Methode war – ihr eine erzwungene Auszeit zu verpassen, um alles zu verarbeiten, oder ihr zuzugestehen, dass sie sich in die Arbeit vergrub. Immerhin hatte ihr Dr. Franziska Naumann, die Psychologin des Teams, uneingeschränkte Einsatzfähigkeit bescheinigt.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, öffnete sie die Augen mit flatternden Lidern. Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Die anderen, einschließlich Ulf, schliefen tief und fest. Kevin war an Chris’ Seite geblieben.

Er verzog die Lippen zu einem Lächeln und nickte als Antwort auf Natashas unausgesprochene Frage, wie es um Chris’ Bein stand. Erleichtert atmete sie aus. Er zog fragend die Augenbrauen hoch. Sie grinste und deutete unter sein Bett.

Er beugte sich hinunter. Smart lag auf der Seite, klopfte kurz mit dem Schwanz auf den Boden und blieb liegen. Nach vier Jahren wusste der Hund, dass er jede Gelegenheit zum Ausruhen nutzen musste. Pit ging auf die Knie und kraulte ihm die Ohren. Ohne Smart wäre der Schuss auf Chris tödlich gewesen, und die Situation mit Natashas Angreifer wäre auch brenzlig geworden. Smart hatte ihm mit dem Biss in dessen Handgelenk die Zeit verschafft, ihn kampfunfähig zu machen. Manchmal fragte er sich, wie sie im Einsatz jemals ohne ihren tierischen Teamkameraden zurechtgekommen waren.

Apropos Hund … Er sah zu Natasha, die ihm bereits mit einem schelmischen Grinsen ihr Handy mit dem Foto zeigte. Der neue Zuwachs in ihrer Wohngemeinschaft. Freya. Er hatte geglaubt, dass es leicht wäre, diese Hündin zu erziehen, nach Smart und Akiro. Doch sie stellte sie vor eine echte Herausforderung. Vor allem mit ihrem treuen Hundeblick, der jedes Herz zum Schmelzen brachte. Dieses manipulative Weibsstück von Hund nutzte das gnadenlos aus – ganz wie ihre neue Besitzerin. Er wunderte sich nicht mehr, dass sein Freund Malte, Hundezüchter und Trainer, diesen Welpen unbedingt schnell hatte abgeben wollen.

Er ließ sich auf das freie Feldbett neben Natasha fallen. Lieber hätte er sich zu ihr gelegt, nur um ihren Geruch einzuatmen, ihren warmen Körper neben sich zu spüren und sie in den Armen zu halten. Er hätte nie gedacht, dass er einmal eine Frau so sehr lieben könnte. Es jagte ihm eine Heidenangst ein.

Natasha strich ihm mit einer Hand liebevoll übers Gesicht. Er hielt die Hand fest, als sie sie wegziehen wollte, und drückte ihr einen Kuss auf die raue Innenfläche. Sie war nicht nachtragend, und obwohl sie garantiert wütend über seine Entscheidung war, trennte sie das berufliche Leben vom privaten. Darum beneidete er sie, denn er war sich nicht sicher, ob er, wenn es jemand anderes aus dem Team gewesen wäre, genauso reagiert hätte. Ihr zugewandt schloss er die Augen.


Neidisch betrachtete Natasha Pit, der nach vier tiefen Atemzügen schlief. Sie hingegen wusste, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen konnte, egal wie sehr sie es versuchen mochte. Ihr Kopf hatte zu arbeiten begonnen. Sie dachte an Frau Gerling, die mehr an ihre eigene Sicherheit gedacht hatte als an die ihres Sohnes. Selbst Natashas Mutter, die eher eine kühle Natur war, hätte sich in dieser Lage schützend vor sie gestellt.

Alle drei Geiseln waren in gutem körperlichen Zustand. Gerlings Verletzung war versorgt worden. Grundsätzlich achteten Entführer darauf, dass ihre Geiseln keinen körperlichen Schaden nahmen, weil das im Hinblick auf die Lösegeldforderung an ein Unternehmen schlecht fürs Geschäft wäre. Viele Firmen schlossen eine Versicherung ab, wenn sie Mitarbeiter in Länder entsandten, in denen unter Umständen eine Entführung zu befürchten war. Das war den Verbrechern natürlich bekannt. Oft liefen Deals unter der Hand ab, was voraussetzte, dass die Geiseln von der Gegenseite gut behandelt wurden. Es kam aber auch vor, dass ein Unternehmen die Polizei hinzuzog wie in diesem Fall, die dann wiederum Spezialkräfte einsetzte. Ob die GSG 9, das KSK oder die Sondereinheit Themis zum Einsatz kam, hing von der Situation ab. Im Lauf der letzten vier Jahre hatte Natasha mit allen deutschen, aber auch mit internationalen Spezialkräften zusammengearbeitet. Etwas an dem Fall Gerling beschäftigte sie, ohne dass sie den Finger auf etwas Konkretes hätte legen können. Vielleicht hatte Pit aber auch recht und sie brauchte eine Auszeit. Nach ihrem letzten Fall hatte sie sich, kaum dass sie die ärztliche Freigabe erhalten hatte, wieder voller Eifer in die Arbeit gestürzt. Das war besser, als über das nachzugrübeln, was passiert war. Ihr stand noch der Prozess bevor, in dem sie als Zeugin der Staatsanwaltschaft würde aussagen müssen.

Sie dachte an Cecilia, Pits Schwester, die sie um Hilfe gebeten hatte. Cecilia war Psychotherapeutin und kümmerte sich aktuell um die rumänischen Mädchen, die Opfer eines Menschenhändlerrings, die das Themis-Team kürzlich befreit hatte. Die Mädchen der letzten Lieferung waren inzwischen von der Stiftung der Familie Abel in Arbeit vermittelt oder in das deutsche Schulsystem eingegliedert worden. Angela, Pits jüngste Schwester, die die Stiftung leitete, war ein Phänomen, wenn es darum ging, Menschen in Lohn und Brot zurückzuführen. Schwieriger war die Situation der drei Mädchen, die jahrelang als Prostituierte missbraucht worden waren. Da auch Natasha in gewisser Hinsicht ein Opfer von Alexander Egbert gewesen war, hatte Cecilia sie gefragt, ob sie ihr helfen würde. Sie hatte es zunächst spontan abgelehnt. Zu tief waren ihre eigenen seelischen Wunden. Jahrelang hatte sie das, was damals passiert war, aus ihrem Leben verdrängt. Andererseits war es gerade dieses Erlebnis gewesen, das sie angetrieben hatte, Polizistin zu werden – und nicht nur irgendeine, sondern die beste. Dazu gehörte es für sie auch, Opfern zu helfen, einen Neuanfang zu wagen, mit dem sicheren Wissen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.

Freya hatte sie bei jeder Sitzung mitgenommen, manchmal auch Smart. Seit sie mit Pit in einem Team arbeitete, hatte sie oft genug erlebt, wie die Hunde es schafften, Menschen in emotional schwierigen Situationen zu beruhigen. Mit einem wehmütigen Lächeln dachte sie an Akiro, ihren Seelenhund, der ihr mehr als Malte oder auch Pit gezeigt hatte, was es bedeutete, sich auf einen Hund in seinem Leben einzulassen. Niemand konnte diesen Verlust aufwiegen. Akiro würde für immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen.

Freya war anders. Die Hündin zeigte bereits eine außergewöhnliche Intelligenz, jedoch fehlte es ihr an der notwendigen Härte für den Polizeidienst. Das befürchtete jedenfalls Malte, und auch Pit glaubte, dass sie nicht zum Polizeidienst taugte. Natasha hingegen war sich da nicht so sicher. Klar war, dass der Welpe es mit seiner niedlichen, verspielten Art schaffte, die geschundenen Seelen der Mädchen zu erreichen. Dabei zeigte Freya eine ungewöhnliche Sensibilität und ein Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse der Patientinnen. Cecilia war begeistert und hatte sich inzwischen mit der Therapiehundeausbildung befasst.

Sie beschloss, eine Runde joggen zu gehen, und schlüpfte leise aus dem Schlafsack. Immerhin hatten sie einen halben Tag für die Rückreise im Flugzeug vor sich. Sie gab Smart ein knappes Handzeichen, und er folgte ihr auf leisen Pfoten. Statt sich im Zimmer fertig zu machen, nahm sie ihre Tasche mit und zog sich im Duschraum um.

Eine der Sicherheitskräfte hielt sie auf, als sie die Botschaft verlassen wollte. »Sind Sie nicht erst vor ein paar Stunden vom Einsatz zurückgekehrt?«, fragte der Mann.

»Bewegung kann man nie genug bekommen.«

»Was macht Ihr Arm?«

Sie runzelte die Stirn, folgte seinem Blick auf den Verband, der ein Stück unter ihrem T-Shirt hervorlugte. Den Gedanken an die Verletzung hatte sie völlig verdrängt. »Fast wie neu«, sagte sie und grinste ihn an.

»Sie sollten aufpassen, wo Sie laufen. Die Situation mit der neuen Regierung ist weiterhin kritisch. Es gibt immer wieder Unruhen und Straßenkämpfe.«

»Danke, dass Sie nicht sagen, es wäre zu gefährlich für mich.«

Er schmunzelte. »Der Ruf Ihrer Einheit eilt Ihnen voraus. Bestimmt können Sie verdammt gut auf sich aufpassen.« Er warf einen Blick auf Smart. »Ganz abgesehen von Ihrem vierbeinigen Begleiter. Ein schönes Tier. Dennoch – seien Sie vorsichtig.«

»Bin ich. Können Sie mir eine Fünf-Kilometer-Runde empfehlen?«

Er zückte sein Smartphone und zeigte ihr auf der Kartenanwendung eine Route. Sie bedankte sich und startete in einer Geschwindigkeit, die Smarts Trabtempo entsprach. Schließlich wollte sie keine Trainingseinheit absolvieren, sondern sich Bewegung gönnen, um ihre Gedanken loszuwerden.


Als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, öffnete er abrupt die Augen und war gleich hellwach. Das Erste, was er sah, war das leere Feldbett ihm gegenüber. Sofort setzte er sich auf.

Major Wagner legte den Zeigefinger an die Lippen und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.

Sobald sie im Flur standen, drehte sich der Major zu ihm um. »Also, Abel, wo ist Kehlmann?«

Pit fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Vorhin lag sie noch im Bett. Vielleicht ist sie zur Toilette gegangen?«

»Mit Smart?«

Er blinzelte. Dass der Schäferhund nicht mehr unter seinem Bett lag, hatte er gar nicht wahrgenommen. Andererseits – er hatte zuvor unter seinem Bett gelegen, woher also wusste Major Wagner, dass Smart nicht mehr da war?

Wagner schien ihm die Frage vom Gesicht abzulesen. »Er beobachtet jeden, der sich Ihnen nähert, und glauben Sie mir, man spürt, wenn Smarts Blick einem folgt. Also, wohin ist Kehlmann mit ihm hin?«

»Keine Ahnung.« Pit spürte, wie Ärger und Sorgen in ihm aufstiegen. Das war wieder typisch für sie, und niemand schaffte es, ihr dieses Verhalten auszutreiben, selbst Oberst Wahlstrom nicht.

»Ich wecke Chris. Ach Mist, der ist ja außer Gefecht.«

»Darauf bin ich schon selbst gekommen. Ihre Uhr ist aus, und sie hat auch kein Smartphone dabei.«

»Na super. Haben Sie es über Smarts Sender probiert?«

Wagner schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Langsam werde ich alt. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Legen Sie sich wieder hin.«

Pit warf ihm lediglich einen Blick zu, und Wagner zuckte mit den Achseln. »Also gut, dann kommen Sie mit.«

Sie machten sich auf den Weg zum Eingang der Botschaft, wo sich die Treppe und der Fahrstuhl zu den oberen Etagen befanden.

»Warum suchen Sie Natasha überhaupt?«

»Gerling verlangt eine Entschuldigung von ihr, weil sie ihn mit der Waffe bedroht hat. Außerdem hat er sich über ihr angeblich unprofessionelles Verhalten beschwert. Oder mit anderen Worten – er will Beschwerde einlegen.«

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«

»Mein voller.«

»Sie wollen, dass Natasha sich bei dem Arsch entschuldigt, der seine Familie in ein derartiges Land mitgenommen und damit überhaupt erst in diese Lage gebracht hat?«

»Na, was erwarten Sie von so jemandem?«

»Nicht viel, aber von Ihnen erwarte ich, dass Sie sich verdammt noch mal hinter uns stellen.«

»Vorsicht, Abel. Sie haben bei diesem Einsatz zwei Verletzte mit nach Hause gebracht, einer davon schwer verletzt, und wenn Smart nicht so schnell gewesen wäre, hätte die Sache auch schlimmer ausgehen können.«

»Was daran lag, dass man uns falsche Informationen gegeben hat. Die Männer waren besser bewaffnet, waren trainiert und reagierten auf uns rasch und vor allem professionell. Wenn das ein zusammengewürfelter Haufen von einer Bande war, fresse ich einen Besen. Abgesehen davon – woher kam die Verstärkung? Es hieß, nur diese Gruppe sei für die Entführung verantwortlich. Hätten wir korrekte Informationen bekommen, wären wir mit mindestens drei Einheiten angetreten.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Es ändert aber nichts an der derzeitigen Situation. Wenn Gerling offiziell Beschwerde einlegt, wissen Sie selbst, was passiert. Es gibt mehrere Stimmen in der Politik und aus einigen Behörden, die die Berechtigung dieser Sondereinheit hinterfragen.«

»Weil wir anders gestrickt sind als die anderen, schon klar, die Teams, die aus polizeilichen und militärischen Mitgliedern bestehen. Aber es ist ja gerade der Mix aus Erfahrung und Wissen, was uns so besonders macht, und das wiederum ist anderen Behörden ein Dorn im Auge. Ganz abgesehen von Hartmanns langjähriger Auslandserfahrung und dem Netzwerk internationaler Sonderkommandos, das er mitbringt.«

»Sie brauchen mich nicht zu überzeugen, Abel. Ich hoffe nur, dass Kehlmann die Kuh vom Eis schafft und nicht noch ein Loch in Letzteres hackt.«

»Da habe ich im Moment meine Zweifel«, brummte er. »Aalglatte Typen sind ihr derzeit ein besonderer Dorn im Auge.«

»Oh, da kenne ich noch jemanden«, konterte Wagner und schwieg dann, als sie die Eingangshalle durchquerten.

Der Sicherheitsbeamte ließ seinen Blick über sie gleiten. »Sie wollen auch eine Runde joggen gehen?«

Pit war verwirrt, und auch Wagner blieb stehen. »Auch?«

»Ja, Ihre Teamkollegin – die mit dem verletzten Arm – ist vor etwa dreißig Minuten mit dem Schäferhund los, um eine Runde zu joggen.«

»Sie wissen nicht zufällig, in welche Richtung sie gelaufen ist?«, hakte Wagner hoffnungsvoll ein.

Der Sicherheitsbeamte grinste. »Ich weiß sogar die exakte Strecke.«

Gut. Das würde ihnen den Gang in die Technikzentrale ersparen.


Überrascht blieb Natasha stehen, als sie David sah, der draußen auf dem winzigen Stück Rasen im Sicherheitsbereich der Botschaft gekonnt einen Fußball auf dem Fuß balancierte. Er trug eine kurze Sporthose und ein Trikot der deutschen Nationalmannschaft und war völlig auf sein kunstvolles Ballspiel konzentriert.

»Du hast es echt drauf. Spielst du im Verein?«

David kickte den Ball hoch, fing ihn mit den Händen auf und klemmte ihn sich unter den Arm. »Ich spiele beim 1. FC Wilmersdorf und darf mit der U8 trainieren.« Er wuchs in die Höhe und schob die Brust ein Stück nach vorn.

»U8? Ist das die Juniorenfördergruppe der Achtjährigen?«

Seine Augen strahlten. »Ja. Bist du ein Fußball-Fan?«

Lachend schüttelte sie den Kopf. »Nein, aber wenn man ständig mit Männern zusammen ist, bleibt es nicht aus, dass man das ein oder andere aufschnappt.«

»Ich fand dich ziemlich cool, egal was Papa sagt. Du bist noch nicht mal zusammengezuckt, als dich die Kugel getroffen hat. Als Paps getroffen wurde, hat er vor Schmerzen gebrüllt und sich auf dem Boden gewälzt. Danach hat er dann geschimpft, dass sie besser aufpassen sollten.«

»Hat er das?«

Davids Blick fiel auf Smart, der mit heraushängender Zunge neben ihr saß. »Ist das dein Hund?«

»Nein, er gehört meinem Partner, aber wir sind ein Team. Möchtest du ihn streicheln?«

»Darf ich?«

Sie wandte sich an den Hund. »Smart, be friendly. – Jetzt kannst du ihn streicheln.«

David kniete sich vor Smart, vergrub beide Hände in seinen Fellkragen und massierte den Hund eher, als dass er ihn streichelte. Smart liebte es, auf diese Art gekrault zu werden.

»Magst du Hunde?«

»Ja, aber meine Eltern möchten keinen haben. Der Opa von meinem besten Freund hat einen Labrador, der heißt Doc, weil er meint, er hält ihn gesund.«

»Da kann ich ihm nur beipflichten.«

»Wie heißt der hier?«

»Offiziell Odin von Lichtenfels, aber wir nennen ihn alle nur Smart, weil er so klug ist.«

»Das kann man an seinen Augen sehen. Ist er von Adel?«

»Du meinst wegen dem ›von‹?«

David nickte eifrig.

»Nein, das bezeichnet den Züchter. Alle Hunde von Malte bekommen sozusagen als Nachnamen den Zusatz ›von Lichtenfels‹. Jeder weiß dann, von welchem Züchter sie stammen.«

Natasha ging ebenfalls in die Hocke und streichelte Smart über den Kopf. Er hob die Nasenspitze und gab ihr einen feuchten Kuss. »Du bist ganz schön mutig«, tastete sie sich vorsichtig bei dem Jungen vor.

»Ich?« Er schaute sie verblüfft an.

»Du bist nicht der erste Junge, den wir befreien. Du bist ruhig geblieben und meinen Anweisungen gefolgt.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich wusste ja, dass die mir nichts tun würden.«

»Das waren Entführer, David, Verbrecher. Und du warst in einer Zelle gefangen.«

»Aber Papa hat gesagt, wir müssten uns keine Sorgen machen. Die Firma würde das Lösegeld zahlen und wir wären in Nullkommanichts frei.«

»Du hast vorhin erzählt, dass er bei dem Schuss sagte, sie hätten besser aufpassen sollen. Wen meinte er damit?«

»Die Männer von diesem Miguel. Der war auch echt sauer und hat dem eine Abreibung verpasst, der geschossen hat. Da hatte ich schon ein bisschen Angst.«

»Kann ich mir vorstellen. Meinst du Miguel Ramirez?«

David zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur Miguel. Auf jeden Fall fahren wir jetzt wieder nach Hause, und ich kann wieder zum Fußballtraining.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Hoffentlich hab ich nicht zu viel verpasst.«

Natasha fuhr David mit der Hand durch die Haare. »Ich bin mir sicher, du schaffst das, so wie du rennen kannst.«

David legte den Kopf schief und fixierte sie. »Du hast gar nicht mit meiner Sportlehrerin gesprochen, oder?«

Natasha zog die Nase kraus und grinste. »Ertappt, aber es hat gewirkt.«

Smarts Haltung veränderte sich. Es sah aus, als würde er seine Lefzenwinkel zu einem Lächeln hochziehen, und wedelte mit dem Schwanz.

Natasha hob den Kopf. Pit und Major Wagner kamen auf sie zu, Pit in seiner abgewetzten Jogginghose und T-Shirt, so wie er sich zuvor aufs Ohr gelegt hatte, Wagner in seiner militärischen Uniform.

»David Gerling? Was machst du hier draußen?«

Der Junge lief bei Wagners Worten knallrot an. »Papa hat gesagt, ich soll mit dem Ball nach draußen gehen. Er kann es nicht leiden, wenn ich damit in der Wohnung spiele.«

»Abmarsch ins Gebäude. In Deutschland kannst du von mir aus draußen spielen, so viel du willst, aber hier gilt für dich, keine Alleingänge nach draußen. Keine. Bis du wieder im Flugzeug sitzt. Verstanden, junger Mann?«

David spannte den Körper an und salutierte. »Aye, aye, Sir.«

Wagner schmunzelte. »Mach, dass du reinkommst, und sei leise. Deine Mutter schläft sicher noch.«

David rannte zur Botschaft, drehte sich noch mal um und winkte ihnen. Nachdenklich sah Natasha ihm nach. Es faszinierte sie, wie leicht es ihrem Vorgesetzten fiel, mit Kindern umzugehen. Er hatte selbst vier Kinder, und das eine Mal, als sie bei ihm zu Hause gewesen war, hatte das Chaos aus Stimmen und Musik sie schier überwältigt. Doch wie ein Admiral auf einem Schiff hatte Wagner ein paar Anweisungen erteilt, woraufhin sich das Chaos direkt lichtete. Es gab allenfalls leises Murren und Protest, doch am Ende hatten die Erwachsenen es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht und waren nicht mehr gestört worden. Wagners Frau Tamara war die Einzige in der Familie, die nicht nach seiner Pfeife tanzte. Sie arbeitete als freie IT-Security-Beraterin. Ab und an half sie bei speziellen Fällen im Themis-Team aus, weigerte sich jedoch strikt, ins Team einzutreten, egal wie oft Hartmann sie umschmeichelte.

Pit schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie kann ein Vater seinen Sohn allein nach draußen schicken, wenn es nicht mal einen Tag her ist, dass er von einer bewaffneten Einheit aus der Geiselhaft befreit wurde?« Er ging in die Hocke und begrüßte Smart. Man hätte glauben können, die beiden wären zwei Wochen getrennt gewesen und nicht nur eine knappe Dreiviertelstunde.

»Das ist nicht das einzig Seltsame«, rutschte es Natasha heraus.

»Was meinst du?«

Sie blinzelte und kehrte aus ihren Gedanken wieder in die reale Welt zurück. »Ramirez hat dem Mann, der Gerling angeschossen hat, eine Abreibung verpasst.«

»Na ja, die Bandenchefs sind nicht zimperlich im Umgang mit ihren Leuten, und Gerling war nur lebend und unversehrt etwas wert«, kommentierte Wagner.

»Mag sein, doch würden Sie als Geisel Ihren Entführer beschimpfen, dass er besser hätte aufpassen müssen?«

»Sie sollten den Worten eines Achtjährigen nicht zu viel Bedeutung beimessen. David liebt und bewundert seinen Vater. Er möchte ihm gefallen.«

»Nur dass sich Gerling einen Scheißdreck für seinen Sohn interessiert.«

»Also ehrlich, Kehlmann, was ist mit Ihnen los? Sie verlieren die Beherrschung mit einer Geisel und bedrohen den Mann mit der Waffe. Was ist mit Ihrer Coolness passiert? Wo ist Ihr Geschick in der Gesprächsführung geblieben? Sie sind unsere Verhörspezialistin. Muss ich mir Sorgen um Sie machen?«

»Nein. Der Mann ist mir einfach auf die Nerven gegangen.«

»Inakzeptabel.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen.

Pit legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Geben Sie uns bitte ein paar Minuten, Major Wagner?«

»Ich warte in der Eingangshalle auf Sie.«


»Weißt du, was ich jetzt gerne machen würde?«, murmelte Pit leise ganz dicht an ihrem Ohr.

Es ärgerte sie maßlos, als sich auf ihrem Arm eine Gänsehaut bildete. Hätte sie gewusst, was es bedeutete, sich körperlich auf einen Mann einzulassen, sie hätte es nie getan. Knapp vierundzwanzig Jahre war sie ohne Sex ausgekommen, und nun schien ihr Körper in kürzester Zeit aufholen zu wollen, worauf sie die ganze Zeit verzichtet hatte. Allein mit seiner Stimme konnte er sie in Erregung versetzen.

»Wenn du glaubst, du könntest mich weichkochen, indem du …«

Er biss sie sanft in den Nacken. Ihre Reaktion kam reflexartig, und sie verpasste ihm mit dem Ellenbogen einen gezielten Stoß in den Bauch, bereute es aber im selben Moment, als ein scharfer Stich durch ihren verletzten Arm zog. »Ach verflucht, Pit, du weißt genau, dass ich das nicht leiden kann.«

Japsend hielt er eine Hand auf seine Magengegend. »Das letzte Mal, als ich dich zu Hause gebissen habe, hatte das aber einen ganz anderen Effekt.«

Natasha konnte spüren, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. Sie wollte auf keinen Fall daran denken, was es mit ihr anstellte, wenn er sich beim Sex ihrem Nacken widmete. Würdevoll straffte sie sich. »Vergessen? Wir sind im Einsatz, bei der Arbeit, und nicht zu Hause in unserer Wohnung.«

»Okay, können wir uns ins Gras setzen?«

Statt zu antworten, ließ sie sich auf den Rasen fallen.

Stöhnend folgte er ihrem Beispiel. »Natasha, weißt du, was ich an dir liebe?« Er hob rasch die Hände. »Das meine ich diesmal rein professionell.«

»Dass ich so viele Sprachen beherrsche?«

Er grinste. »Das auch. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus. Du verfügst über ein unglaubliches Einfühlungsvermögen, spürst, was in anderen Menschen vorgeht. Das macht dich zu unserer besten Verhörspezialistin, weil du deinen Gesprächspartnern immer das Gefühl gibst, dass sie dir alles anvertrauen können, ohne dass du sie verurteilst.«

Sie streckte ihren Zeigefinger in die Höhe. »Erst sperrst du mich für den nächsten Einsatz, weil ich nicht gesagt habe, dass ich verletzt wurde.« Sie hob den zweiten Finger in die Höhe. »Dann beißt du mich in den Nacken, damit ich meine Wut an dir abreagieren kann.« Ihr Ringfinger ging hoch. »Jetzt schmierst du mir Honig um den Mund? Was will Wagner von mir?«

»Wagner will gar nichts von dir. Er ist selbst stinksauer, kann aber nichts daran ändern.«

»Woran kann er nichts ändern?« Sie verengte die Augen.

»Gerling will Beschwerde gegen dich einlegen, weil du ihn mit der Waffe bedroht hast, und Wagner hofft, dass du mit einer Entschuldigung die Wogen glätten kannst. Allerdings scheint er sich nicht sicher zu sein, dass du das hinbekommst, und ehrlich gesagt bin ich mir da im Moment ebenfalls unsicher.« Er holte nicht einmal Luft, während er die Sätze rasch auf sie abfeuerte.

Sie schwieg, musste das Gehörte erst mal verdauen und unterdrückte ihre spontane Reaktion – nämlich aufzuspringen, ins Gebäude zu stürmen und sich Gerling vorzuknöpfen. Sie atmete bewusst mehrmals tief ein, bis sich der rote Nebel in ihrem Kopf lichtete.

»Ich bin mir selbst nicht sicher, ob das funktioniert«, formulierte sie es vorsichtig.

»Wagner sagt, dass einige Kandidaten in der Politik und den Behörden der Meinung sind, dass man die Einheit einstampfen sollte. Gerling ist nicht nur Geschäftsführer von Medicare – du weißt, sie haben vor ein paar Jahren das Heilmittel für HIV auf den Markt gebracht –, er hat auch Kontakte im politischen Bereich. Sein Bruder sitzt im Bundestag und ist Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums.«

»Ist schon seltsam, dass wir mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Militärischen Abschirmdienst und dem Bundesamt für Verfassungsschutz in einen Topf geworfen werden, dabei sind wir doch keine Geheim- oder Spionageorganisation«, murrte Natasha.

»Nein, aber wegen der Mischung sind wir auch keine normale Sondereinheit. Was glaubst du, weshalb Hartmann und auch Wahlstrom ständig vor das Gremium zitiert werden?«

Natasha zog die Knie an, legte den Kopf darauf und verschränkte die Hände im Nacken. Sie ließ den ganzen Einsatz Stück für Stück vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Es fiel ihr verdammt schwer, es zuzugeben, doch sowohl Pit als auch Wagner hatten recht. Sie hatte anders reagiert, als es für sie üblich war. Sie wusste auch weshalb. Etwas an Gerling erinnerte sie an Alexander Egbert. Nicht dass er auch ein Soziopath wäre. Es war eher die Arroganz, die er ausstrahlte, und dass er meinte, die Welt hätte nach seiner Pfeife zu tanzen. Er war verärgert gewesen, dass eine Frau ihn befreite, die seiner Ansicht nach nichts in dem Job zu suchen hatte. Jedenfalls hatte sie seine Haltung und seine Kommentare in dieser Weise interpretiert. Vielleicht lag der Fehler genau dort. Was hatte ihre Großmutter mütterlicherseits immer zu ihr gesagt? Worte sind immer nur Worte. Du entscheidest, was sie mit dir machen.

Sie erhob sich. »Also gut. Am besten bringe ich es direkt hinter mich.«

Pit musterte sie. »Bist du dir sicher?«

»Nein. Kommst du mit?«

»Nichts lieber als das.«

4

Fragen über Fragen

Gemeinsam betraten sie die Eingangshalle.

Major Wagner hatte dem Eingang den Rücken halb zugekehrt. Er hielt das Smartphone ans Ohr gepresst. »Du hast dir den denkbar schlechtesten Zeitpunkt für diese Diskussion ausgesucht.« Eine Weile lauschte er der Stimme am anderen Ende. »Das Sorgerecht liegt bei mir. Du bist keine sechzehn. – Es reicht, Sarah, gib mir deine Mutter.«

Sie hatten ihn halb umrundet, und Natasha beobachtete, wie sich eine steile Falte auf der Stirn ihres Vorgesetzten bildete. Das passierte selten.

Er entfernte sich noch ein Stück weiter von ihnen. Seine Stimme wurde leiser, dafür bekam sie einen schärferen Ton. »Laura, du weißt genau, dass ich mich im Moment im Einsatz befinde und diese Entscheidung auf keinen Fall übers Knie brechen werde.« Während er zuhörte, spannten sich seine Rückenmuskeln an und seine freie Hand ballte sich zur Faust, öffnete sich wieder und bildete erneut eine Faust. »Und ich möchte nicht, dass meine Tochter allein mit ihren Freundinnen auf ein Konzert in Berlin geht. Du weißt, was vor drei Jahren auf dem Minou-Konzert passiert ist. Eine Bombe ging hoch.«

Die nächsten Gesprächsfetzen bekam Natasha nicht mehr mit, da sich Wagner zu weit von ihnen entfernt hatte. Erst nach und nach entspannte sich seine Haltung wieder und er kehrte zu ihnen zurück. »Einverstanden. Du und Tami, ihr setzt euch mit Sarah zusammen, doch das letzte Wort in der Angelegenheit spreche ich.« Wagner beendete das Gespräch und funkelte sein Smartphone an, als wäre es an allem schuld.

Natasha wusste, dass er drei Kinder aus seiner ersten Ehe mitgebracht hatte. Zuerst hatte Laura, seine erste Frau, kein großes Interesse an den gemeinsamen Kindern gezeigt, was sich schlagartig geändert hatte, als Sarah, die Älteste, zwölf geworden war. Inzwischen war Laura wieder verheiratet, allerdings ohne Kinder, und schien sich auf einmal wieder auf ihre Mutterrolle zurückzubesinnen. Alle drei Kinder aus Wagners erster Ehe lebten bei ihm, und er hatte sich aus dem aktiven Einsatz beim Militär zurückgezogen, um für sie da zu sein. Mit nur wenigen Ausnahmen verbrachte er seine Arbeitszeit im Hauptquartier der Einheit. Dass er mit dieser Entscheidung ein Opfer gebracht hatte, erkannte Natasha daran, dass Wagner sich weiterhin topfit hielt und beim Training problemlos mit ihnen mithalten konnte, wenn er daran teilnahm. Und das tat er, so oft er die Zeit dazu fand.

Als er sich ihr zuwandte, konnte sie die Herausforderung an seiner Haltung ablesen. Na los, widersprich mir, damit ich meinen Zorn wenigstens an irgendeiner Frau auslassen kann, schien er damit auszudrücken.

»Es tut mir leid, dass ich mich beim Einsatz unprofessionell verhalten habe«, sagte sie.

»Entschuldigen Sie sich nicht bei mir, sondern bei Gerling.«

»Ist es okay, wenn meine Partner mitkommen?«

»Solange ich mich darauf verlassen kann, dass Sie es ernst meinen und nicht aus einer Laune heraus den Hund auf Gerling hetzen.«

»Keine Sorge, darauf passe ich auf«, mischte sich Pit ein. »Ich denke, wir sollten es hinter uns bringen. Wenn ich es noch richtig im Kopf habe, bringt der Sicherheitsdienst die Gerlings in einer Stunde zum Flughafen.«

Kurz ließ Wagner den Blick über sie schweifen. Mehr brauchte es nicht, damit sie seine nonverbale Frage verstand. Sie sah an ihren Joggingklamotten hinab. »Tut mir leid, aber viel mehr gibt meine Tasche nicht her.«

»Kleidung für offizielle Treffen sollten in Zukunft mit in die Packliste aufgenommen werden«, brummte Wagner.

»Sie meinen das kleine Schwarze?«, konnte Natasha sich nicht verkneifen zu fragen.

»Jetzt, wo du es erwähnst – wir könnten bei Caro nachschauen«, fügte Pit hinzu.

»Wollen Sie beide mich verarschen?«, fuhr Wagner ihn an.

»Nur die Atmosphäre ein wenig auflockern«, konterte Pit.

Am Zucken von Wagners Mundwinkeln erkannte Natasha, dass ihnen das gelungen war. Sie hatte Wagner wirklich noch nie derart angepisst erlebt.

Jetzt atmete er tief durch. »Also gut, lassen Sie uns die ganze Sache hinter uns bringen. Ihnen ist klar, dass Ihre Karriere davon abhängen kann?«

Natasha warf einen verstohlenen Blick zu Pit hinüber. Meinte Wagner das ernst? Pit verdrehte weder beruhigend die Augen, noch zwinkerte er oder zuckte mit den Achseln. Stattdessen sah sie Besorgnis in seinem Blick.


Sie stiegen gemeinsam in den Aufzug, fuhren in die dritte Etage – nicht in die vierte, in der die Gästequartiere lagen. Auf den Fluren begegneten ihnen mehrere Angestellte der Botschaft, und aus den Büros drangen Stimmen – ganz ähnlich wie in ihrer Zentrale. Ein paar Blicke streiften sie und Pit. Irritation war die häufigste Reaktion angesichts ihrer Kleidung. Einige wichen wegen Smart zur Seite aus, obwohl der Hund brav zwischen ihnen trabte. Wagner nickte grüßend. Ihn kannte man offensichtlich hier. Bevor er an die Tür eines Büros auf der rechten Seite klopfen konnte, wurde diese aufgerissen und eine Frau flüchtete förmlich aus dem Raum, rote hektische Flecken auf den Wangen und am Hals.

Gerlings Stimme folgte ihr. »Dann sorgen Sie gefälligst dafür, dass es erledigt wird!«, schnauzte er. »Der Termin ist wichtig für unser Unternehmen, und ich habe nicht vor, abzureisen, ohne mit dem Minister für Wirtschaft und Finanzen gesprochen zu haben!«

Im letzten Moment sprang Wagner zur Seite, um nicht mit der Frau zu kollidieren.

»Tut mir leid«, stieß sie aus, Tränen in den Augen, und rannte an ihnen vorbei.

»Na wunderbar, der Mann strotzt nur so vor Charme«, murmelte Pit.

Wagner straffte sich und klopfte an die offene Tür.

Gerling hob den Kopf. »Was wollen Sie? Ich dachte, ich hätte Ihnen deutlich gemacht, was ich von Ihrem missglückten Einsatz halte.«

»Sie sitzen hinter Ihrem Schreibtisch, Ihre Frau packt die Koffer, und ihr Sohn spielt draußen mit seinem Fußball. Das ist das Ergebnis, das ich sehe«, erwiderte Major Wagner gelassen.

Überrascht sah Natasha ihn an. Der freundliche Ton und das Lächeln nahmen Wagners Antwort zwar die Spitze, wiesen Gerling jedoch klar darauf hin, dass am Gelingen des Einsatzes nicht zu rütteln war. Allerdings bezweifelte sie, dass sich Gerling davon beeindrucken ließ.

»Eine andere Antwort habe ich von Ihnen auch nicht erwartet. Sie haben eine Frau geschickt, uns zu befreien, dabei ist eine Frau einer solchen Aufgabe von Natur aus schon psychisch nicht gewachsen. Allein das zeigt Ihre Inkompetenz als Führungsperson.«

Rasch schob sich Natasha an Major Wagner vorbei in den Raum. Sie schenkte Gerling ein freundliches Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Guten Tag, Herr Gerling, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann.« Sie deutete auf Pit. »Kriminalhauptkommissar Peter Abel und Odin von Lichtenfels.« Bewusst setzte sie Stimme und Körpersprache ein, um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen.

Gerling ergriff ihre Hand und schüttelte sie reflexartig, bedingt durch die Offenheit, mit der sie ihm begegnete.

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich kurz setze?« Er nickte und versuchte gleichzeitig, seine feindselige Haltung von zuvor wiederzufinden. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich Sie zuerst mit der Waffe bedroht habe und später körperlich attackierte.«

»Dafür gibt es keine Entschuldigung.«

»Da haben Sie vollkommen recht. Mein Einsatzleiter …« Sie sah zu Pit hinüber, der in den Raum getreten war, während sich Wagner dezent verdünnisiert hatte. »… hat die Konsequenz aus meinem Fehlverhalten bereits gezogen und mich für die nächsten Einsätze gesperrt.«

Smart, der Gerlings Aggression roch, setzte sich mit gesträubtem Nackenfell neben sie. Natasha legte eine Hand auf seinen Kopf, aber er blieb angespannt, was ungewöhnlich für ihn war.

Auch Pit hatte Smarts Anspannung bemerkt. »Smart, come«, befahl er.

Zögernd verließ Smart seinen Platz und ging zu ihm.

»Er hat Hunger nach dem Joggen«, sagte Natasha, um Pit zu verstehen zu geben, dass er besser mit dem Hund das Zimmer verlassen sollte. Sie spürte, dass es ihm missfiel.

Er sah zu Gerling. »Wenn jemand aus meinem Team einen Fehler macht, liegt das in meiner Verantwortung.«

»Na wunderbar, noch eine inkompetente Führungskraft. Dann können Sie sich ja gleich Ihrem Vorgesetzten anschließen, wenn ich dafür sorge, dass er seinen Job verliert.«

Pit versteifte sich, und Smart zog die Lefzen hoch, was Gerling zum Glück nicht zu bemerken schien.

»Ich allein trage die Verantwortung für mein Fehlverhalten«, entgegnete Natasha, »und dafür, dass ich der Situation nicht gewachsen war. Deshalb bin ich hier und entschuldige mich persönlich bei Ihnen.«

»Wenn Sie glauben, mich mit Ihrem weiblichen Charme einlullen zu können, haben Sie sich geschnitten, Frau Kehlmann. Ich verachte Frauen wie Sie, die sich in ihrem Job nach oben schlafen.«

Diesmal beherrschte sie sich, auch wenn ihr Pulsschlag in die Höhe schnellte. Das Lächeln blieb auf ihren Lippen. Gerlings Annahme über Frauen hatte nichts mit ihrer Arbeit und Leistung zu tun. Vielleicht erfüllte dieser Mann nicht die Erwartungen seiner Eltern, die beide in ihrem Job erfolgreiche Persönlichkeiten waren. Das alles spielte eine Rolle, das wusste sie aus ihrer Ausbildung bei den Verhörspezialisten der CIA, zu der sie zu Beginn ihrer Karriere im BKA eingeladen worden war. Nur fiel es ihr normalerweise leichter, eine Wand zwischen ihr und ihrem Gegenüber aufzubauen, an der dessen Vorurteile abprallen konnten.

Ein dumpfes Knurren erklang, und Gerling schaute auf Smart. »Sollte Ihr Hund mir zu nahe kommen, werde ich dafür sorgen, dass er eingeschläfert wird.«

Sie wandte sich zu Pit um. »Wärst du so nett, ihm sein Futter zu geben?«

»Bist du sicher?«

Die Kälte in seiner Stimme überraschte sie. Seine Iris hatte sich bis zur Farbe einer Gewitterwolke verdunkelt.

»Ja, natürlich. Absolut.« Sie hielt seinen Blick. Es dauerte, bis er knapp nickte und aus dem Raum ging, ohne sich von Gerling zu verabschieden. Na toll. Auf diese Weise würde die Situation eskalieren, statt zu deeskalieren. Aber interessant, schoss es ihr durch den Kopf. Gerling hatte es geschafft, dass sowohl Wagner als auch Pit, die sich beide selten aus der Ruhe bringen ließen, angepisst waren. Der Mann hatte echt Talent.

Als sie sich ihm wieder zudrehte, betrachtete sie ihn mit echter Neugierde. Sein lang gezogenes, schmales Gesicht, der rasierte Kopf – Eitelkeit, damit man nicht direkt sah, dass sich sein Haaransatz lichtete und die Geheimratsecken bis hinauf zur Kopfmitte reichten. Da waren ausgeprägte Falten unterhalb der Wangenknochen sichtbar, eine Kerbe im Kinn. Die Augen lagen tief in den Augenhöhlen und die Brauen waren dicht und buschig. Seine schmalen Lippen bildeten eine gerade Linie. Das männliche Gesicht strahlte Autorität aus.

»Wie geht es Ihrem Bein?«

Irritiert von dem abrupten Themenwechsel schaute Gerling sie wieder direkt an. »Dieser Sanitäter in Ihrem Team hat seinen Job drauf.«

»Danke, ich werde es Oberleutnant Clemens ausrichten.«

Er schwieg, beobachtete sie und schien nicht zu wissen, was er mit ihr anfangen sollte. Bevor er auf die Idee kommen konnte, sie rauszuschmeißen oder ihr Gemeinheiten an den Kopf zu werfen, ergriff sie die Initiative. »Die meisten Geiseln schaffen es nicht, bei ihrer Gefangennahme und der Befreiung die Fassung zu bewahren. Ich habe Ihren Sohn gerade dafür gelobt, als ich ihn draußen beim Trainieren traf. Er scheint ein echtes Fußballtalent zu sein.«

»Ich habe keine Zeit für Smalltalk. Meine Zeit ist knapp.«

Sie schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. »Nicht nur knapp, sondern bestimmt wertvoll. Deshalb fasse ich mich kurz. Sowohl Ihre Frau als auch Ihr Sohn sind zwar gut mit der Stresssituation umgegangen, dennoch sollten Sie in Erwägung ziehen, einen Therapeuten zu konsultieren. Manchmal führen extreme Erfahrungen zu posttraumatischen Störungen, die sich erst im Laufe der Zeit im Alltag äußern.«

»Ich brauche keinen Rat, wie ich mit meiner Familie umgehen soll, und schon gar nicht von Ihnen.«

»Natürlich nicht.« Diesmal hielt sie seinen Blick fest. »Sie hatten Glück, dass es Miguel Ramirez wichtig war, Sie in gutem Zustand zu übergeben. Ihre Wunden sind behandelt worden. Im Dschungel kann es leicht zu Infektionen kommen.«

»Nur für unversehrte Geiseln gibt es die volle Lösegeldsumme.«

»Steht das im Versicherungsvertrag?«

»Auch das geht Sie nicht das Geringste an. Meine Zeit ist kostbar, wenn Sie also entschuldigen. Ich habe zu tun.«

Natasha erhob sich. »Selbstverständlich. Ist es in Ordnung, wenn ich mich noch kurz bei Ihrer Frau entschuldige? Mir ist es wirklich überaus peinlich, dass ich so unprofessionell reagiert habe. Bestimmt habe ich Ihre Frau damit verängstigt, und ich möchte ihr versichern, dass es nicht meine Absicht war.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Es wird nichts an meiner Entscheidung ändern, mich über Sie und Ihren Verein zu beschweren.«

»Danke«, antwortete sie auf seinen ersten Satz und ließ den zweiten unkommentiert.

Kaum hatte sie die Tür geöffnet, blickten sie drei Paar Augen hoffnungsvoll an. Sie schüttelte leicht den Kopf.

»Wenigstens haben Sie es versucht«, sagte Wagner.

Schweigend gingen sie zusammen zum Aufzug. Natasha blieb davor stehen. »Ich möchte mich noch bei Frau Gerling entschuldigen, wenn es für Sie in Ordnung ist.«

»Halten Sie das für eine gute Idee? Ich glaube nicht, dass sie in dieser Ehe viel zu sagen hat.«

»Keine Ahnung, aber einen Versuch ist es wert.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Pit.

»Nein, ich denke, es war auch keine gute Idee, dass du zu Gerling mitgekommen bist. Es hat ihm das Gefühl gegeben, dass wir ihn unter Druck setzen.«

»Wir setzen ihn unter Druck? Der Mann ist ein echtes Arschloch.«

»Abel.«

»Die Frau, die aus seinem Büro gestürmt ist, war den Tränen nah. Ganz abgesehen davon haben Sie auch nicht gerade mit Diplomatie geglänzt.«

»Denken Sie, mir macht es Spaß, mir von solchen Anzugträgern vorwerfen zu lassen, ich hätte Bockmist gebaut? Ich habe das Leben von Männern und Frauen aufs Spiel gesetzt, weil sich dieser Typ nicht an die Sicherheitsvorschriften gehalten hat. Er glaubt, dass es für ihn keine Regeln gibt. Ich sollte gegen ihn Beschwerde einlegen.«

»Was meinen Sie damit, er hätte sich nicht an die Sicherheitsvorschriften gehalten?«, hakte Natasha nach.

Wagner zuckte mit den Achseln. »Der deutsche Botschafter hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, welche Gebiete er bei seiner Geschäftsreise in Venezuela meiden soll. Selbst die venezolanischen Polizeikräfte haben die Region als gefährlich eingestuft. Viele Anhänger des vorangegangenen Präsidenten leben dort und sorgen für Unruhe. Ganz abgesehen davon gilt das Gebiet als einer der Stützpunkte der Drogenkartelle. Nicht nur, dass der Idiot ohne seine Sicherheitskräfte zu dem Geschäftstermin gefahren ist, nein, er nimmt auch noch gleich Frau und Sohn mit.«

Die Tür des Aufzugs öffnete sich und Wagner, Pit und Smart stiegen hinein.


Peter kannte diesen entrückten Gesichtsausdruck an Natasha nur allzu gut. »Interessant«, das war ihre letzte Bemerkung gewesen, bevor sich die Aufzugtür zwischen ihnen geschlossen hatte.

»Was meint Sie?«, wollte Wagner wissen.

»Keine Ahnung. Im Gegensatz zu dem, was alle immer glauben, kann ich nicht Kehlmanns Gedanken lesen. Dafür ist ihr Gehirn viel zu komplex.«

»Und sie ist eine Frau«, fügte Wagner missmutig hinzu. Pit konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ärger an der Heimatfront?«

»Sie haben ja keine Vorstellung. Heiraten Sie bloß nicht und kriegen Sie niemals Kinder. Wenn sie klein sind, sind sie noch süß, aber wehe, sie kommen in die Pubertät.«

»Der Loslösungsprozess gehört nun mal zum Erwachsenwerden dazu.«

»Klugscheißer. Vor Ihrer Haustür stehen keine pickeligen Jungs Schlange, die mit Ihrer Tochter ausgehen möchten, und in deren Augen Sie genau sehen, worauf diese Burschen in Wahrheit aus sind.«

»Mein Vater hat meine drei älteren Schwestern mal von der Disco abgeholt und die älteste draußen beim Rumknutschen erwischt. Puh, die Standpauke, die sie zu Hause bekam, werde ich nie vergessen. Mein Vater ist normalerweise der gutmütigste Mensch auf der Welt.«

»Danke für das Bild, das Sie in meinen Kopf projiziert haben. Ich rufe besser direkt Tami an und sage ihr, dass sie Sarah ins Gewissen reden soll. Auf sie hört sie eher als auf mich.« Ein diabolisches Grinsen erschien auf Wagners Gesicht. »Oder ich gebe Sam Bescheid, dass er die Mädels auf das Konzert begleiten soll. Immerhin steht er manchmal selbst mit seiner Frau und seiner Tante auf der Bühne.«

»Kriminalhauptkommissar Samuel Baumann von der GSG 9, Ihr Schwager?«

»Genau der. Sarah vergöttert ihn, und im Gegensatz zu mir ist er bisher nicht von seinem Podest gestoßen worden.«

»Ehrlich, Sie kennen auch kein Erbarmen mit Ihrer Tochter.«


Natasha klopfte an die Zimmertür. Sie nahm das leise »Ja« als Aufforderung und öffnete die Tür. Kurz ließ sie den Blick über die gepackten Koffer, das ordentlich gemachte Bett und das aufgeräumte Zimmer wandern. Frau Gerling, die Arme vor der Brust gekreuzt, drehte ihr den Kopf vom Fenster her zu. Kurz glaubte Natasha, einen Schock in ihren Augen zu erkennen, dann erschien ein erzwungenes Lächeln auf ihren Lippen, sie ließ die Arme fallen und sagte: »Sie sind das. Ich dachte, es wäre jemand vom Botschaftspersonal, der unsere Koffer abholt.«

»Darf ich reinkommen?«

»Ich weiß nicht.« Sie stockte. Dann war da erneut dieses künstliche Lächeln. »Bitte.« Sie ging vom Fenster zu einer kleinen Sitzgruppe, bestehend aus zwei gepolsterten Stühlen und einem Bistrotisch, auf dem ein Korb mit Obst, eine Flasche Wasser und Gläser standen. »Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen nicht anbieten.«

»Ein Glas Wasser würde ich nehmen, und wenn es Sie nicht stört, auch eine Banane.«

»Greifen Sie zu. Meine Männer essen nur Obst, wenn ich es in einem Nachtisch verstecke oder ihnen geschnitten vorsetze. Wie geht es Ihrem Arm?«

»Ein paar Tage, und er ist so gut wie neu.«

»Und Ihrem angeschossenen Kameraden?«

»Er muss eine längere Pause einlegen, wird aber wieder in den Dienst zurückkehren können. Wir sind alle sehr erleichtert.«

»Sie lieben Ihren Job.«

»Ja, keiner von uns möchte darüber nachdenken, was passiert, wenn wir ihn mal nicht mehr ausüben können.«

»Man kann spüren, wie fest Sie alle zusammenhalten. Danke, dass Sie uns gerettet haben.«

Nur wenn man genau hinsah, konnte man die dunklen Ringe unter Frau Gerlings Augen wahrnehmen, verborgen unter jeder Menge Concealer. Die Frau wirkte anders, als es Natasha aufgrund des patriarchalischen Verhaltens ihres Mannes erwartet hätte. Sie hielt sich aufrecht und hatte einen wachen Blick, mit dem sie Natasha eingehend musterte. Sie legte Wert auf ihr Äußeres, und die Wahl ihrer Kleidung zeugte von Eleganz. Sie fragte sich, wie die Frau es mit diesem Mann aushielt.

»Ihr Mann denkt anders über unseren Einsatz.«

»Ich weiß, und es tut mir leid. Wenn Sie gekommen sind, damit ich ihn davon abhalte, Beschwerde einzureichen, muss ich Sie enttäuschen. Ich habe es bereits versucht. Ohne Erfolg.«

»Deshalb bin ich nicht gekommen. Ich wollte mich auch bei Ihnen entschuldigen.«

»Wofür?«

»Dafür, dass ich Ihren Mann mit der Waffe bedroht habe. Das war für Sie bestimmt ein beängstigender Augenblick.«

»In der Tat. Andererseits – hätten Sie es nicht getan, dann hätte er sich selbst und uns weiter in Gefahr gebracht. Mein Mann ist nur deshalb so wütend auf Sie, weil er sehr wohl weiß, dass Sie richtig gehandelt haben und er falsch. Er mag es nicht, Fehler zu machen.«

»Wissen Sie, dass er David zum Spielen nach draußen geschickt hat?«

Frau Gerling zuckte mit den Schultern. »David hat die lästige Angewohnheit, überall mit dem Fußball herumzuspielen, und es ist ihm völlig egal, ob dabei etwas zu Bruch geht.«

»Es war für sie also in Ordnung, dass er draußen war?«

»Wir befinden uns doch auf dem Gelände der deutschen Botschaft, und Ihre Einheit ist auch im Gebäude. Was sollte ihm passieren?«

Natasha schwieg.

»Sie denken, ich wäre herzlos, aber ich liebe David und weiß, dass das Fußballspielen ihm hilft, mit allem fertigzuwerden.«

»In dem Fall sollten Sie wissen, dass Major Wagner ihn bis zum Abflug ins Gebäude verbannt hat.«

»Nun, dann werden wir wohl bis dahin sein Indoor-Training ertragen müssen.«

»David freut sich, dass es wieder nach Hause geht. Er macht sich Sorgen, dass er zu viel vom Training verpasst haben könnte.«

»Scheint, als hätten Sie sich gut mit meinem Sohn unterhalten.«

»Er ist ein aufgeschlossener Junge, und ich habe als Kind mal Hochleistungssport getrieben.«

»Haben Sie das?« Frau Gerling schüttete sich ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck. Nachdenklich runzelte sie die Stirn und ließ das Wasser im Glas kreisen. »Ich hätte mich durchsetzen und mit ihm zu Hause bleiben müssen.«

»Ihr Mann bestand darauf?«

»Er dachte, es würde uns allen guttun. Seit er den Geschäftsführerposten bei Medicare angenommen hat, bleibt ihm nur wenig Zeit für David. Er ist viel auf Geschäftsreisen.«

»Das ist bestimmt nicht leicht für eine Ehe.«

»Wir machen das seit drei Jahren und es hinterlässt Spuren. Das Angebot, Geschäftsführer von Medicare zu werden, bedeutete für meinen Mann einen riesigen Karriereschritt. Doch es fordert auch Opfer.«

»Die Reise nach Venezuela sollte also gewissermaßen ein kleiner Familienurlaub werden?«

»So war es gedacht, und es war durchaus schön – bis zu dem Moment …«

»Ihr Mann wollte, dass Sie und David ihn zu dem Geschäftstermin begleiten.«

»Ja, wir wollten anschließend zum Nationalpark fahren und uns die Angel Falls ansehen.«

Natasha nickte. »Der Wasserfall ist wirklich beeindruckend.«

»Sie waren schon mal in Venezuela?«

»Ja, als Rucksacktouristin. Venezuela hat viel zu bieten. Vor allem die Natur. Es ist schade, dass wir aufgrund der Aktivitäten der Drogenkartelle nur noch die schlechten Seiten eines Landes sehen und vergessen, dass es so viel Schönes gibt.«

»Das hat mein Mann auch gesagt. Ich bin eher der konservative Typ, was das Reisen betrifft. Nach diesem Erlebnis werde ich ganz sicher nie wieder südamerikanischen Boden betreten.«

»Frau Gerling, Sie sollten nicht unterschätzen, was Sie erlebt haben. Es ist nach so einem Erlebnis normal, mit Ängsten zu kämpfen, und auch wenn David auf mich den Eindruck macht, dass es ihm gut geht, kann sich das später noch ändern.«

»Madlein hat mir eine Liste von Therapeuten zusammengestellt, die sich damit auskennen.«

»Madlein?«

»Die Sekretärin meines Mannes. Eine Seele von Mensch. Manchmal frage ich mich, wie sie es mit ihm aushält.« Sie beendete den Satz mit einem Lächeln, doch Natasha spürte die Spitze dahinter. »Er hat tatsächlich von ihr verlangt, dass sie den Flug storniert, damit er noch einen Termin mit irgendeinem Minister wahrnehmen kann.« Sie senkte den Kopf. »Ich bin froh, wenn ich im Flugzeug zurück nach Deutschland sitze«, fügte sie leise hinzu. Ihre Schultern begannen zu beben.

Natasha beobachtete die Frau. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass sich nach einem Trauma Phasen der Stärke mit Phasen der Schwäche abwechseln können. Vor allem, wenn einen ein Gefühl der Hilflosigkeit erfasst.

Langsam fing sich die Frau wieder. Sie langte in die Tasche ihrer Kostümjacke und holte ein Spitzentaschentuch heraus. Natasha fragte sich unwillkürlich, wann sie so etwas zuletzt gesehen hatte. Vorsichtig tupfte sie sich die Tränen vom Gesicht und schnäuzte sich. Ihre Augen waren geschwollen und die Schminke verlaufen.

»Es tut mir leid, dass ich derart aus der Fassung geraten bin.«

»Das braucht es nicht. Sie waren mutig, tapfer und stark. Sie waren in der Gewalt von Entführern. Ihr Leben und das Ihres Kindes wurde bedroht. Es ist in Ordnung, diese Emotionen zuzulassen. Wenn Sie sie nicht rauslassen, suchen sie sich einen anderen Weg. Manche Menschen werden davon krank.«

Zitternd holte Frau Gerling Luft. »Mein Mann sagt, ich solle nicht derart übertreiben. Immerhin wurden wir gut behandelt. Wir bekamen zu essen und zu trinken. Wir konnten uns jeden Morgen und Abend waschen und regelmäßig zur Toilette gehen.«

»Er wurde verletzt und die Kugeln waren echt, das können mein Kollege und ich bezeugen. Lassen Sie sich von niemandem einreden, was Sie fühlen dürfen. Gehen Sie bitte zu einer Therapeutin. In unserer Einheit muss man nach jedem Einsatz zu einer Therapeutin gehen, ohne Ausnahme. Ich fand das am Anfang nur lästig, aber heute bin ich froh darüber. Es hilft, wenn einem jemand zuhört, ohne dass man das Gefühl hat, er würde über einen urteilen oder man müsste stark für ihn sein.«

»Ich werde es mir überlegen.«

Frau Gerling erhob sich von ihrem Stuhl, ging zum Fenster und drehte ihr den Rücken zu. Natasha nahm den Block und den Stift, die neben dem Obstkorb lagen.

»Ich schreibe Ihnen den Namen und die Adresse einer Therapeutin auf, die ich sehr gut kenne. Sie ist auf Frauen und Jugendliche spezialisiert, die Opfer einer Gewalttat geworden sind.«

Als sie aufstand, fiel ihr Blick auf das Spitzentaschentuch, das Frau Gerling auf ihrem Weg zum Fenster offensichtlich verloren hatte. Sie hob es auf, wollte es ihr geben, überlegte es sich dann anders und steckte es ein.

5

Zurück in Berlin

Natasha verbarg sich in einer der Nischen des Umkleideraums. Wie immer kam Ulf als Erster aus der Dusche. Er hatte ein Handtuch um die Hüften geschlungen und rubbelte sich mit dem anderen die nassen Haare trocken. Sie versicherte sich, dass sie allein waren, und trat hinter ihn.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr sie ihn an.

»Herrgott, Maria!«, stieß Ulf aus und fuhr herum. Das nasse Handtuch hatte er blitzschnell zu einem Strang gedreht. »Musst du mich so erschrecken?«

»Lenk nicht ab. Rede. Jeden Augenblick kann einer von den anderen kommen, und dann stecken wir beide bis zum Hals in der Scheiße.«

»Ich wüsste nicht, weshalb.«

»Ach nein? Dein Streit mit Carina?«

Hastig blickte Ulf sich zu den Duschen um. »Wehe, du sagst was zu Pit. Ich habe dir das unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, und das auch nur, um rauszukriegen, wie ich das wieder geradebiegen kann. Du weißt genau, was los ist, wenn er glaubt, ich hätte seine Schwester verletzt.«

»Ich schweige wie ein Grab, wenn du den Vermerk aus meiner Akte nimmst.«

Erbost funkelte er sie an. »Dir ist auch klar, dass ich das nicht kann.«

»Natürlich kannst du es. Sag, es wäre übertrieben.«

»Wenn Kevin sagt, dass du dir die Seele aus dem Leib gekotzt hast, ist das eine Sache, wenn Bodo sich deshalb Sorgen macht, eine völlig andere.«

»Verdammt, ihr seid solche Glucken. Wenn bei euch mal was quer hängt, decken wir euch immer, aber wenn wir Frauen mal bei einem Einsatz kotzen, schlagt ihr gleich eine Riesenwelle. Schon mal daran gedacht, dass ich vielleicht ein Virus hatte?«

»Hattest du?«

Natasha presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kevin hat gesagt, du hättest dich am nächsten Morgen in der Botschaft noch mal übergeben.«

»Kevin ist ein Klatschweib.«

»Nein, er ist nur der sensibelste von uns Männern. Hey, jetzt mal ernsthaft. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Lass dich einfach von Dr. Hofmeister durchchecken und es ist erledigt.«

»Das ist ein zusätzlicher Termin außerhalb der üblichen Routineüberprüfung, und bei deinem Vermerk wird er mich so lange durchchecken, bis er was findet.«

Ulf schüttelte den Kopf. »Ehrlich, ich dachte, du bist über deine Aversion gegenüber Ärzten hinweg.«

Gleichzeitig hörten sie die Stimmen von Pit und Mark, die aus der Dusche kamen.

Mark schenkte Natasha ein anzügliches Grinsen. »Ich hätte gedacht, dass euch vier Tage und vier Nächte zum Aufholen reichen würden.«

Mühsam hob Natasha die Mundwinkel an, obwohl sie innerlich vor Zorn kochte. In Ulfs Miene spiegelte sich leichte Panik wider, als Pit im Zeitlupentempo den Blick von ihr zu ihm wandern ließ. Das hob ihre Laune auf der Stelle und verwandelte das künstliche Lächeln in eine echtes. Oh ja, mein Lieber, dachte sie, fang du nur an zu schwitzen.

»Wir sehen uns später bei der Besprechung«, sagte sie nur, machte sie auf dem Absatz kehrt und verzog sich aus dem Umkleideraum der Männer, gespannt, ob Ulf mit einem blauen Auge davonkäme.


Peter sah Natasha nach. Er wusste, dass sie nicht in die Umkleide gekommen war, um sich einen Kuss von ihm zu stehlen, geschweige denn mehr. Ihr Verhältnis zu Sex und ihre Bereitschaft, Gefühle zu zeigen, waren ambivalent. Angesichts ihrer Vorgeschichte und dessen, was sie erlebt hatte, war das absolut nachvollziehbar. Er hatte geglaubt, ihr mehr Zeit geben zu müssen, bis sie diese Hürde überwinden würden. Stattdessen hatte sie ihn mit ihrer Leidenschaft im Bett vollkommen überrascht. Sie schenkte ihm ihr volles Vertrauen – in seinen Augen ein absolutes Wunder. Sobald sie jedoch die Wohnung verließen, wahrte sie professionelle Distanz zu ihm. Keine Umarmung, kein Kuss und auch kein Händchenhalten, was in ihrem Job zugegebenermaßen auch seltsam gewesen wäre. Dennoch juckte es ihn oft genug in den Fingern, ihr einfach über die Wange zu streicheln, ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu schieben oder sie zu küssen.

Er beschwerte sich nicht. Er wusste, es würde seine Zeit dauern, und er brauchte Geduld mit ihr. Manchmal wünschte er sich, er wäre einer der Hunde. Bei ihnen hatte sie nie Probleme, Gefühle zu zeigen, egal ob zu Hause oder vor der gesamten Mannschaft.

Er überlegte, ob es sinnvoll wäre, sich vor Ulf aufzubauen, um ihn einzuschüchtern. Nein, das hatte keinen Sinn. Dafür kannten sie sich alle zu gut. Aber er hatte andere Methoden, seine Teamkameraden zum Reden zu bringen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte seinen Kollegen. Die Tatsache, dass der sich mit dem Handtuch die Haare trocken zu rubbeln begann und sich gleichzeitig zu seinem Spind wandte, bestätigte ihm, dass er die richtige Taktik gewählt hatte.

Er ließ sein Handtuch um den Nacken hängen, damit ihm das Wasser von den Haaren nicht den Rücken hinunterlief. »Also? Worum ging es?«

»Ich war einfach nur eher aus der Dusche raus als du.«

»Lahmer Versuch, Clemens.«

»Hey, fangt bloß keinen Streit an«, warnte Mark. »Wir sind bereits um einen Mann unterbesetzt, und wenn ihr weitermacht, können wir uns gleich auf die Reservebank setzen.«

Ulf atmete tief durch und drehte sich zu Pit um. »Frag Natasha, wenn du wissen willst, warum sie hier war«, sagte er, verschränkte die Arme vor der Brust und spiegelte damit seine Haltung.

»Ich möchte es aber von dir wissen.«

»Sehe ich aus wie ein Paartherapeut?«

»Verdammt, Clemens, was hast du angestellt? Ich schwöre dir, wenn Carina deinetwegen auch nur eine Träne vergießt, dreh ich dir den Hals um.«

»Ehrlich, ihr zwei«, mischte Mark sich ein, verstummte aber jäh, als er Pit ansah. Dann atmete er durch und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Augen. »Wie machst du das, Pit? Das ist echt beängstigend, weißt du. Im ersten Moment sind deine Augen noch grau, und Sekunden später sehen sie aus wie eine dunkle Gewitterfront. Gruselig, ehrlich.«

Mark bewies mit seiner Anmerkung Mut, das hätte ihm Pit nicht zugetraut. Er wich einen Schritt von Ulf zurück. Ihm war klar, dass er seiner vierunddreißigjährigen Schwester nicht vorschreiben konnte, mit wem sie eine Beziehung anfing. Er wusste auch, dass sie ihm den Marsch blasen würde, wenn sie mitbekam, dass er sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Trotzdem musste es ihm nicht gefallen, dass Ulf und sie ein Paar waren. Ja, Yvonne, seine älteste Schwester, die einzige von seinen Schwestern, die verheiratet und Mutter zweier Kinder war, hatte recht. Carina, die sich für gewöhnlich als zynisches Biest gab, lachte so viel wie nie zuvor. Statt sich in ihrer Arbeit zu vergraben, wie sie es sonst immer getan hatte, war sie mit Ulf vor Kurzem sogar eine Woche zum Tauchen auf den Malediven gewesen. Er wusste nicht, wann sie in den letzten Jahren jemals Urlaub gemacht hätte. Sie hatte derart davon geschwärmt, dass er Natasha vorzuschlagen wollte, es ihnen nachzutun. Immerhin liebte sie es, zu schwimmen und zu tauchen. Er war sich nur nicht sicher, ob der Schritt nicht ein wenig verfrüht war. Er wollte, dass sie sich mit ihm wohlfühlte. Sie brauchte ihre Freiräume, die Einsamkeit. Sie war ein Einzelkind, und selbst im Team hielt sie sich am Rand auf, nie mitten im Geschehen.

Ulf fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich sitze hier echt in einer Zwickmühle, Pit. Da bist du auf der einen Seite, der eifersüchtig über Natasha und seine Schwestern wacht, und auf der anderen Seite ist da Natasha, die ich verdammt gern habe.« Rasch hob er beide Hände. »Natürlich rein platonisch. Du weißt, wie sie ist. Abgesehen davon denke ich, dass ihr beide zusammenpasst wie die Faust aufs Auge, also rede mit ihr.«

»Willst du damit andeuten, dass es gar nicht um Carina geht, sondern um Natasha?«

Mit Daumen und Zeigefinger zog Ulf einen imaginären Reißverschluss über seinen Lippen zu.

»Also gut, ich lass dich vom Haken.« Er nahm das Handtuch von seinem Nacken und rubbelte sich die Haare trocken. »Vorerst.«


Er fand Natasha mit den Hunden draußen, in dem abgezäunten Bereich für das Training mit den Diensthunden der Einheit. Smart lag am Rand der Fläche und beobachtete, wie Natasha mit Freya die Grundlagen im Gehorsam übte. Die Augen der Hündin waren beständig auf sie fixiert. Solange man den Welpen beschäftige, war alles in Ordnung. Doch wehe, man überließ Freya sich selbst.

Direkt nachdem ihr Flugzeug gelandet war, waren sie zu Malte gefahren. Mit grimmiger Miene  hatte er dagestanden – den Hund unter den Arm geklemmt, ihr Freya übergeben und gesagt: »Da hast du dein Schlitzohr wieder. Wenn ich sie das nächste Mal übernehme, erwarte ich, dass sie erzogen ist.«

Natasha hatte sich das wirklich zu Herzen genommen. Freya bekam nicht mehr den winzigsten Brocken Futter, ohne dafür zu arbeiten. Die Hündin hatte damit kein Problem. Für ihre kleine Bürogemeinschaft stellte es aber eine echte Herausforderung dar. Vor allem für Chris. Nach nur zwei Tagen im Krankenbett hatte er sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen, hatte das Wochenende zu Hause verbracht und war heute wieder im Büro erschienen, mit Krücken und einem Hocker, den ihm Kevin organisiert hatte, damit er bei Bedarf das Bein hochlagern konnte.

Freya wusste genau, wie er weichzukochen war, damit er sie auf den Schoß nahm oder ihr ein Leckerchen zuschusterte. Auch wenn sie nur eine Karotte oder ein Stück Apfel oder Banane bekam, unterminierte er damit Natashas Bemühungen, sie zu erziehen. Bisher ging Natasha mit Chris nachsichtig um. Fraglich war nur, für wie lange.

Pit betrat die Fläche und ließ sich neben Smart nieder. »Sie lernt schnell«, sagte er laut zu Natasha.

Sie kam näher heran. »Das, was sie will, ja. Bei allem, was sie nicht mag, stellt sie sich stur.«

»Wie der Herr, so’s Gescherr.«

»Ich bin nicht stur.«

Er grinste, als er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Sie wusste, dass sie in eine Falle getappt war. Das schaffte er selten.

»Dann verrat mir, weshalb du Ulf in der Umkleidekabine gestellt hast.«

»Wieso sollte ich Ulf stellen?«

»Du weißt genau, dass er immer als Erster mit dem Duschen fertig ist. Also?«

»Ich finde, du solltest aufhören, ihn ständig unter Druck zu setzen. Er hatte echt Panik, du könntest es als Anmache auffassen, als er mir beim Einsatz den Puls gemessen hat.«

»Blödsinn, er sollte nur aufpassen, wo er seine Finger hinlegt, und es war nicht wegen dir.«

»Nein, du glaubst ständig, dass er Carina untreu ist.«

»Aus gutem Grund. Du kennst ihn nicht so lange wie ich.«

»Du kennst ihn lediglich ein Jahr länger.«

»Ein wichtiges Jahr. Schließlich waren wir die Ersten.«

»Ich glaube, dass er sie ernsthaft liebt.«

»Und wie kommst du darauf?«

Sie schenkte ihm ein besonders süßes Lächeln und klimperte mit den langen Wimpern. »Wir können gern eine Wette darauf abschließen.«

»Nein danke, ich wette nicht auf das Glück meiner Schwester«, grummelte er. Seine Stimmung verdüsterte sich. Das Schlimme an der Sache war, dass Carina nicht die Spur besser als Ulf gewesen war. Bisher hatte die Arbeit für sie an oberster Stelle gestanden. Sie war eine brillante Ärztin, menschlich gesehen jedoch eine kompromisslose und kaltschnäuzige Chefin, die auf Gefühle keine Rücksicht nahm. Sie hatte Karrieren zerstört und ermöglicht. Nicht, dass sie dabei unfair gewesen wäre, dennoch kannte sie kein Erbarmen bei Fehlern. Ihr liebster Spruch lautete, dass ein Fehler in ihrem Job über Menschenleben entscheiden konnte, womit sie recht hatte. Dennoch fand Pit es genauso menschlich, Fehler zu begehen. Und so, wie sie mit ihren Kollegen und Untergebenen umging, hatte sie auch ihre männlichen Affären gehandhabt. Wie hatte es Angela, das Küken in der Familie, mal ausgedrückt? Aufreißen, vernaschen und wegwerfen. Wenigstens lässt sie sie am Leben und bringt sie nicht um wie die Schwarze Witwe.

Mit anderen Worten – egal wie die Beziehung zwischen Ulf und Carina enden würde, einer von beiden würde Narben davontragen, das stand für ihn fest.

Natasha ließ sich neben ihm auf dem Rasen nieder. Sie gab ihm einen Schubs. »Mach dich nicht verrückt. Sie sind beide erwachsene Menschen, und wenn es so weit ist, sammeln wir die Scherben halt wieder ein und kleben sie zusammen. Worauf hast du heute Lust?«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe und er warf ihr ein anzügliches Grinsen zu. Prompt stieg ihr die Röte ins Gesicht. »Ich meinte, was wir essen. Soll ich eine italienische Gemüsepfanne mit Reis machen oder ein Blumenkohl-Kokos-Curry?«

»Was hältst du davon, wenn ich koche und du dafür die Wäsche übernimmst?«

»Deal, dabei kann ich wenigstens mein neues Hörbuch hören.«

»Japanisch?«

»Koreanisch.«


Erst als Natasha am Abend zu Hause in seinen Armen schlief, wurde ihm klar, dass er noch immer nicht wusste, weshalb sie Ulf in der Umkleidekabine aufgelauert hatte. Sie hatte ihn mal wieder geschickt ausmanövriert.


Pit betrat das Büro von Oberst Wahlstrom, der ihm – mit dem Telefonhörer am Ohr – andeutete, dass er sich setzen sollte.

»So etwas passiert, wenn man in einen Einsatz geht. Menschen werden verletzt und können sterben.« Er hörte zu und sein Blick verdüsterte sich. »Ich weiß. – Ja. Ich kümmere mich darum.« Er knallte den Telefonhörer auf die Station.

Obwohl ihre Kommunikation grundsätzlich digitalisiert war, gab es immer wieder Anrufe, die über den normalen Telefondraht liefen.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Pit.

Wahlstrom seufzte. »Schwer zu sagen. Dieser Diedrich Gerling ist nicht zu unterschätzen. Es war ein Fehler, Kehlmann nach dem Vorfall mit Egbert so schnell wieder in den Einsatz zu lassen.«

»Sowohl Dr. Hofmeister als auch Dr. Naumann haben ihre Freigabe erteilt. Sie ist topfit. Ehrlich gesagt kann ich verstehen, weshalb sie Gerling mit der Waffe bedroht hat. Ich hätte in ihrer Situation nicht anders gehandelt.«

»Nur, dass es zu dieser Situation nicht gekommen wäre, weil Sie ein Mann sind.«

»Erstens ist das eine Vermutung, und zweitens zeigt es nur, wie Diedrich Gerling tickt. Er ist einer von der ganz alten Sorte.«

»Wie alt?«

Pit rutschte einmal in seinem Stuhl hoch, dann wieder zurück. »Ich bin nicht der Spezialist, was solche Dinge betrifft«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Kommen Sie, Abel, wir sind unter uns. Denken Sie, dass Gerlings Denkweise rechte Tendenzen aufweist oder nicht?«

»Ich glaube, dass Natasha instinktiv korrekt gehandelt hat, ohne dass es ihr bewusst war. Es war für sie die einzige Möglichkeit, sicherzustellen, dass den Geiseln nichts passiert.«

»Sind Sie sicher, dass Sie das objektiv beurteilen?«

»Welche Alternative hatte sie? Wir standen unter Zeitdruck. Mit dem Eintreffen der Verstärkung wären wir zahlenmäßig noch mehr im Nachteil gewesen.«

»Warum haben Sie sie für den nächsten Einsatz gesperrt?«

»Weil Sie ihre Verletzung verschwiegen hat.«

Wahlstrom nickte. »Typisch für die Frau. Ich befürchte, ich habe Kehlmann in den letzten Jahren zu viele Freiheiten eingeräumt. Es ist gut, dass Sie eine klare Linie ziehen. Vergessen Sie aber nicht, dass sie einen guten Instinkt besitzt und oft genug mit ihrer Einschätzung recht hat.«

Pit betrachtete Wahlstrom, dessen Gesicht verkniffen wirkte. »Wieso haben Sie die Leitung des Einsatzes abgelehnt?«

Statt ihm zu antworten, stellte sein Chef eine Gegenfrage. »Was ist Ihrer Meinung nach bei dem Einsatz schiefgelaufen?«

Darüber hatten sie bereits an den freien Tagen vor und während des Wochenendes mehr als einmal diskutiert.

»Die Vorbereitung lief absolut korrekt. Wagner hat nach unserer Überzeugung keinen Fehler gemacht, sondern rasch reagiert, als die Situation für uns kritisch wurde. Seltsam ist nur … wo kam die Verstärkung her? Als hätten sie gewusst, dass wir in der Nacht zuschlagen würden.«

»Mich interessiert, mit wem Gerling sich ausgerechnet in dieser Region treffen wollte.«

Pit runzelte nachdenklich die Stirn. »Sie meinen, es ging nicht darum, die Geschäftsbeziehungen zu Venezuela zu stärken und neue Absatzmärkte für das Unternehmen zu erschließen?«

»Medicare war schon einmal in eine Affäre verstrickt, bei der es um paramilitärische Aktionen ging. Sagt Ihnen die Abkürzung FoEI etwas?«

Er schüttelte den Kopf. »Noch nie davon gehört.«

»Federation of Economic Interests. Das ist ein Verein, der internationale wirtschaftliche Interessen vertritt. Sie wissen schon, einer dieser Lobbyistenverbände, die sich für Freihandelsabkommen, freie Marktwirtschaft und solche Dinge einsetzt.«

»Das klingt nicht illegal.«

»Auf den ersten Blick nicht. Doch es gab einen radikalen Flügel in dem Verein, der nicht davor zurückschreckte, wirtschaftliche Interessen auch mit militärischen Aktionen durchzusetzen. Ein Putschversuch hier, ein anderer dort, und schon hat man einen Bürgerkrieg in einem Land mit Rohstoffen. Dann kann man diese nicht nur billiger einkaufen, man bekommt das Geld sogar wieder zurück, indem man Waffen verkauft – im optimalen Fall sogar an beide Seiten.«

»Das machen Russland, Amerika und China nicht anders.«

»China hat, glaube ich, eine elegantere Methode gewählt. Sie kaufen die Schulden auf und bieten dafür Fortschritt. Wenn man einer Bevölkerung Arbeit und etwas zu essen gibt, gilt man als Retter.«

»Was hat das mit Medicare und Gerlings Entführung zu tun? Ist er ein Mitglied des Verbands?«

»Er, sein Bruder und seine Eltern. Sein Bruder ist noch dazu in der Partei für die Zukunft Deutschlands.«

»Sie meinen die Partei, die vor Kurzem wie aus dem Nichts als zweitstärkste Partei in den Bundestag gewählt wurde?«

»Exakt, und sein Onkel, Armin Ziegler, der Bruder seiner Mutter, gehörte zu dem radikalen Flügel.«

»Gehörte?«

»Er kam bei der Verhaftung durch die Amerikaner ums Leben.«

»Interessant. Das erklärt aber nicht, wo die Verstärkung herkam.«

»Nein, es verkompliziert eher die Situation«, sagte Wahlstrom und seufzte wieder.

»Außer …« Pit hielt inne, und sein Vorgesetzter musterte ihn. Er schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre doch sehr weit hergeholt.«

»Was? Spucken Sie’s aus.«

»Dass man uns eine Falle stellen wollte.«

»Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Wir stehen aktuell unter Dauerbeschuss. Allein dass die Bundespräsidentenwahl manipuliert wurde, zeigt, wie weit gewisse Kräfte in unserem Land zu gehen bereit sind, um ihre Interessen durchzusetzen.«

»Nur dass der Schuss nach hinten losging.«

»Sarah Heidkamp hat einen hohen Preis dafür bezahlt. In Anbetracht der politischen Situation wäre ich froh, wenn sie sich zu einer zweiten Amtszeit bereit erklärt.«

Pit dachte an die Tochter der Bundespräsidentin, die sie nicht hatten retten können. »Ich könnte es verstehen, wenn Sie sich von ihrem öffentlichen Amt zurückzieht.«

»Ich auch. Nur, wer kommt nach ihr?«

»Das ist die Frage.«

Eine Weile hingen sie beide ihren Gedanken nach. Schließlich ließ Wahlstrom seine Schultern kreisen. »Na gut, es gibt also nichts, was Sie an dem eingereichten Bericht ergänzen möchten?«

»Nein. Nur dass es mich ankotzt, dass wir uns für die Befreiung von Gerling und seiner Familie rechtfertigen müssen, und das, obwohl Chris nur knapp an einer Amputation vorbeigeschlittert ist.«

»Übertreiben Sie nicht. Immerhin sitzt er bereits wieder im Büro.«

»Ja, weil er es zu Hause nicht aushält. Seine derzeitige Freundin ist ihm mit ihrer Fürsorge derart auf den Keks gegangen, dass er die Beziehung beendet hat.«

Wahlstrom schmunzelte. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Hauptsache, er hat sein Jagdrevier wieder nach außerhalb der Einheit verlegt.«

Pit schwieg. In letzter Zeit hatte es bei der Beendigung von Liebesbeziehungen zwischen den Mitarbeitern der Teams unschöne Szenen gegeben. Eine Kollegin hatte sogar den Job hingeworfen. Natürlich ließ sich so etwas nicht vermeiden. Sie alle waren letztlich nur Menschen, und wie in jedem Unternehmen, in dem die Mitarbeiter viel Zeit miteinander verbrachten, war es ganz normal, dass Beziehungen entstanden und auch Bestand hatten oder eben wieder auseinanderbrachen. Probleme machte das nur, wenn es sich auf einen Einsatz auswirkte.

»Kommen wir zu dem eigentlichen Thema, weshalb ich mit Ihnen reden wollte.«

Unwillkürlich hielt Pit die Luft an. Was, wenn Oberst Wahlstrom entschied, dass ihr Team in Zukunft anders zusammengesetzt werden sollte, um genau solchen zwischenmenschlichen Konflikten bei einem Einsatz vorzugreifen? Er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde. Sie alle waren in den letzten Jahren dermaßen zusammengewachsen, dass sie sich eher wie eine Familie fühlten als wie Kollegen. Die Vorstellung, dass Natasha in Zukunft mit einem anderen Team in den Einsatz gehen würde und er keinen Einfluss mehr darauf ausüben konnte, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

»Hartmann will, dass ich ihn zu der Anhörung begleite. Ich möchte, dass Sie so lange in der Sondereinheit das Ruder übernehmen.«

Pit verzog das Gesicht. »Was ist mit Wagner?«

»Hat Urlaub genommen, weil er private Dinge regeln muss.«

Er nickte. »Seine Tochter wird erwachsen.«

»Wie auch immer. Also, Gratulation zu Ihrer Beförderung. Und – Abel?«

Pit ahnte, dass er ihm noch mehr auf die Schultern laden würde.

»Ich möchte, dass Sie sich die Gerlings genauer ansehen. Marie Ziegler, Hannas Zwillingsschwester, ist entgegen den Pressemitteilungen nicht freiwillig von ihrer Position als CEO zurückgetreten.«

»Sie wollen wissen, ob der Typ Dreck am Stecken hat?«

»Es kann nicht schaden, etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass die Sache heikel ist, verstanden?«

»Verstanden. Sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann?« Pit erhob sich.

»Nein danke, das wärs.«

6

Ein Anruf

Natasha seufzte, als der Termin auf ihrem Laptop aufpoppte. Check-up Dr. Hofmeister. Bei der Gelegenheit würde sie noch schnell das Spitzentaschentuch von Helga Gerling in die Forensikabteilung bringen. Rasch schloss sie das Terminfenster und stand auf.

Chris, der mit ihr im Büro saß, hob den Kopf. »Willst du nicht auf Pit warten?«

»Nein. Wer weiß, wie lange seine Besprechung mit Wahlstrom noch dauert.«

»Meinst du, es ist wegen der Sache mit Gerling?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Die Hunde können hier im Büro bleiben, und wehe, du lässt dich von der Kleinen weichkochen.«

»Auf keinen Fall. Ich bleibe steinhart, versprochen.«

»Chris, kann ich mich auf dich verlassen?«

»Warum nimmst du sie nicht mit, wenn du mir nicht vertraust? Ah, verstehe, du möchtest mit dem Schwimmtraining starten, und dabei kannst du weder Pit noch die Hunde gebrauchen.«

Sie grinste. Mal wieder um eine Lüge herumgekommen. Es musste ja keiner wissen, dass sie einen zusätzlichen Termin beim Doc aufgedrückt bekommen hatte, ganz zu schweigen von ihrem geplanten Abstecher ins Labor.

»Was soll ich Pit sagen, wenn er kommt?«

»Nichts. Ich bin ihm schließlich keine Rechenschaft schuldig.«

Chris legte den Kopf schief. »Stress wegen der Einsatzsperre?«

»Yasmin war vorhin hier und wollte wissen, wie es dir geht. Bahnt sich zwischen euch beiden wieder was an?«

»Touché«, gab sich Chris geschlagen und vertiefte sich wieder in die Vergleiche der aktuellen Funkgeräte.


Natasha wischte die feuchten Handflächen an ihrer Hose ab. Sie hob die Hand und klopfte. Erst als Dr. Hofmeister zum zweiten Mal und dann lauter »herein« gesagt hatte, trat sie ein.

Der Arzt schaute auf die Uhr, forschte dann in ihrem Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. »Ich dachte, dass wir das nach all den Jahren hinter uns gelassen hätten. Setzen Sie sich, Frau Kehlmann.«

Er untersuchte sie und nahm ihr Blut ab. Sie ließ die ganze Prozedur ohne ein Wort über sich ergehen. Ihrer Erfahrung nach war es der beste Weg, um die lästige Angelegenheit rasch hinter sich zu bringen. Schließlich setzte Dr. Hofmeister sich wieder an den Schreibtisch.

»Hatten Sie Fieber?«

»Nein.«

»Kopfschmerzen?«

»Nein.«

»Schweißausbrüche?«

»Nein.«

»Erhöhten Puls?«

»Nein.«

»Gliederschmerzen?«

»Nein.«

»Sagen Sie mir die Wahrheit?«

»Nei…« Sie stockte, blinzelte. »Das war eine Fangfrage. Ja.«

»Ihre Werte sind alle vollkommen normal. Gibt es irgendwelche anderen Symptome neben der Überempfindlichkeit Ihres Magens?«

»Nichts, und mein Magen ist nicht überempfindlich.«

»Das hat Clemens in seinem Bericht geschrieben.«

»Ja, und ich habe versucht, ihm zu erklären, dass es schlicht und ergreifend eine Reaktion auf die Situation war, ausgelöst vom Griff in menschliche Exkremente. Hatten Sie schon mal Scheiße an den Händen? Einfach widerlich.«

Hofmeister lehnte sich zurück. »Nein, aber sie haben in ihrem Job schon weitaus Schlimmeres gesehen und gerochen.«

»Das ist etwas anderes.«

»Ist es das?«

Sie schwieg. Eine Weile schaute er sie stumm an, und Natasha versuchte, seiner Musterung mit ruhigem Blick standzuhalten. Es gelang ihr. Der Arzt schmunzelte und sie atmete erleichtert durch. Alles in allem war es längst nicht so schlimm gewesen, wie sie befürchtet hatte.

»Kann ich gehen?«

»Die Blutergebnisse vom Labor liegen mir morgen vor. Sollte ich etwas Ungewöhnliches feststellen, melde ich mich bei Ihnen.«

»Wunderbar.«

»Frau Kehlmann, wann waren Sie das letzte Mal bei einem Frauenarzt?«

»Keine Ahnung. Als ich hier aufgenommen wurde?«

»Das ist vier Jahre her. Die Pille Nehmen Sie nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Ihre spontane Reaktion unterdrückte sie, nämlich ihm zu sagen, dass es ihn nichts anginge. Stattdessen beschloss sie, sich kooperativ zu verhalten. Sie hatte keine Lust auf einen weiteren Eintrag in ihr ärztliches Führungszeugnis.

»Ich bekomme nur unregelmäßig meine Periode, und dann meistens nur schwach und nicht länger als drei Tage. Bei meiner Mutter und meiner Großmutter war es ähnlich. Es behindert mich nicht bei meinen Einsätzen, und der Leistungsabfall ist unerheblich. Ich wüsste daher nicht, weshalb ich meinen Körper mit künstlichen Hormonen vollpumpen sollte, um sie komplett zu unterdrücken.«

»Ich verstehe.« Er beugte sich vor, legte die Arme auf den Tisch. »Ohne mich in Ihr Privatleben einmischen zu wollen – Ihnen ist sicher bewusst, dass durch regelmäßigen Geschlechtsverkehr die Möglichkeit einer Schwangerschaft steigt. Gerade in Anbetracht Ihres unregelmäßigen Zyklus sollten Sie bei den Schutzmaßnahmen besonders aufpassen. Es sei denn, Sie wünschen sich ein Kind.«

Natasha hatte das Gefühl, dass jemand ihr den Boden unter den Füßen wegzog.

»Geruchsempfindlichkeit, Übelkeit, häufiges Erbrechen, Gefühlsschwankungen, Heißhunger – das können neben Spannungsgefühlen in der Brust und weiteren Symptomen Anzeichen einer Schwangerschaft sein.«

Es rauschte in ihren Ohren. Schwanger echote es in ihrem Kopf.

»Lassen Sie das überprüfen, damit wir es ausschließen können.«

Sie fing sich wieder, zwang ihre Gedanken zurück in die Realität. »Ist so etwas nicht im Blut feststellbar?«

»Möchten Sie, dass in meinem Bericht steht, dass ich eine mögliche Schwangerschaft getestet habe?«

»Nein. Danke.«

Er nickte. »Ich mag Sie, Kehlmann, vielleicht auch gerade weil Sie nie jammern. Dennoch gibt es Vorschriften, an die ich mich halten muss.« Er nahm einen Zettel und schrieb einen Namen und eine Adresse darauf, bevor er ihn ihr zuschob. »Ich werde meiner Kollegin Bescheid geben, damit Sie Ihnen heute oder morgen einen Termin gibt. Sobald mir alle Ergebnisse vorliegen, bekommen Sie von meiner Seite wieder die Freigabe, vorausgesetzt, Sie sind nicht schwanger.«

Sie erhob sich, nahm den Zettel und stopfte ihn sich in die Hosentasche.

»Und – Kehlmann – hören Sie in nächster Zeit auf Ihren Körper. Legen Sie mal eine Pause ein, schlafen Sie möglichst viel und achten Sie auf Ihre Ernährung. Das kann durchaus alles noch eine körperliche Reaktion auf den Stress sein, dem Sie ausgesetzt waren.«


Hastig setzte Chris Freya auf den Boden, als er bemerkte, wie Smart aus dem Schlaf heraus kurz den Kopf hob, die Ohren spitzte und dann wieder auf sein Kissen zurücksank. Er hatte sich gerade wieder aufgerichtet, als die Tür zum Büro aufging und Natasha hereinkam. Rasch tippte er etwas auf seiner Tastatur, fluchte, als er bemerkte, dass er das Prüfprotokoll gelöscht hatte, das er erst vor einer Stunde von dem System erzeugt hatte. Merde! Jetzt konnte er die ganze Prozedur wiederholen.

Ohne ein Wort zu sagen, ließ sich Natasha langsam auf ihrem Stuhl nieder. Den in sich gekehrten Blick kannten sie alle zur Genüge von ihr. Es war ein sicheres Zeichen, dass sie über etwas nachgrübelte. Das blasse Gesicht, die fahrigen Bewegungen und dass sie weder Smart noch Freya, die einen wilden Tanz vor ihr aufführte, Beachtung schenkte, war hingegen völlig untypisch für sie. Keine Rüge, keine Gehorsamsübung und auch kein Ausbremsen. Das Nächste, was ihn irritierte, waren ihre trockenen Haare. Sie föhnte ihre Haare nach dem Schwimmen nie. Er blickte zur Uhr. Eine Stunde. Viel zu kurz für eine Trainingseinheit.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, sprach er sie an. Keine Reaktion. »Natasha, alles okay mit dir?« Sie starrte weiter auf die Wand, als hätte sie ihn nicht gehört. »Hey, Natasha!«

Sie zuckte zusammen, blinzelte, sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt machte er sich ernsthaft Sorgen.

»Was ist passiert? Gibt es Ärger wegen Gerling? Wollen Sie die Einheit auflösen? Hat jemand gekündigt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts. Alles in Ordnung.«

»Wolltest du nicht zum Schwimmtraining?« Verwirrt sah sie ihn. »Okay, hör mal, du jagst mir echt Angst ein.« Er zückte sein Smartphone.

Fast im selben Moment sprang sie auf und schnappte ihm das Handy aus der Hand. »Verdammt! Könnt ihr mir mal sagen, was mit euch los ist?«, schnauzte sie ihn an. »Muss man denn immer super drauf sein, lachen, saufen und Partys feiern? Darf man nicht ein Mal über etwas nachdenken?«

Chris rollte mit seinem Stuhl ein Stück zurück. Vor ihm stand ein Vulkan. Aus jahrelanger leidvoller Erfahrung wusste er, dass er dem nicht gewachsen war. Allerdings hatte er bisher noch nie erlebt, dass ausgerechnet Natasha in dieser Weise hochging.

Er hob die Hände. »Hey, Peace, Baby. Ich weiß ja nicht, was du dachtest, was ich gerade tun wollte …«

Sie hielt ihm das Display des Smartphones unter die Nase. »Da, ›Abel‹, also verarsch mich nicht.«

»Ja, weil er mit A anfängt und unser Teamleiter ist.«

Beides entsprach der Wahrheit.

»Ach ja? Erzähl mir keinen Scheiß. Du wolltest Pit anrufen und petzen, dass ich komisch bin, weil ich die Hunde nicht sofort begrüßt habe und dich nicht zusammengestaucht habe, obwohl du dich nicht an unsere Abmachung gehalten und Freya auf den Schoß genommen hast. Stimmts oder hab ich recht?«

Verblüfft starrte er sie an. »Woher …«

»Oh Mann, ehrlich! Egal wie lange wir zusammenarbeiten, man merkt einfach, wer einen polizeilichen Background hat und wer vom Militär kommt. Da!«

Sie zeigte vorwurfsvoll auf Freya, die an der anderen Seite neben seinem Stuhl stand und ihn hoffnungsvoll mit treuen, bernsteinfarbenen Hundeaugen ansah. Am schlimmsten waren die süßen Ohren, die nicht standen, sondern herunterhingen, und die Speckfalte über ihren Augen. Wie sollte man diesem Gesicht widerstehen können? Merde! Freya erinnerte ihn an seine erste französische Freundin. Wie alt war er gewesen? Sechzehn?

»Hallo! Erde an Chris Neumann? Soll ich Dr. Naumann Bescheid geben, dass du mit einem versonnenen Gesichtsausdruck in Erinnerungen schwelgst?«

»Du bist echt mies drauf, Brain. Von anderen Frauen bin ich ja einiges gewohnt, aber du hattest bisher bei mir einen Stein im Brett. Endlich mal ein weibliches Wesen, das sich nicht von seinen Hormonen steuern lässt.«

»Weißt du was, Chris? Du bist ein machomäßiger Mistkerl der Extraklasse. Mich wundert es, dass es überhaupt noch Frauen gibt, die sich auf dein Niveau herablassen.«

Sie wandte sich um. »Smart, Freya, kommt, wir gehen an die frische Luft.«

»Bevor du abzischst und alle Männer der Welt verdammst – eine Marie Ziegler hat für dich angerufen.«

»Kenn ich nicht.«

»Sie aber dich, denn sie hat auf deiner Durchwahl angerufen. Ich soll dir sagen, dass du sie auf ihrer Handynummer zurückrufen sollst. Was ich hiermit getan habe.«

»Die da wäre?«

»Keine Ahnung, die Rufnummer war unterdrückt, und der Gedanke einer Abfangschaltung kam mir nicht, weil sie ja deine Durchwahl hatte.«

Natasha blieb im Türrahmen stehen und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Marie Ziegler?«

»Exakt.«

Sie ging zurück an ihren Computer, tippte den Namen ein, starrte auf den Bildschirm. »Interessant«, murmelte sie und erhob sich wieder.

Neugierig beobachtete er sie, als sie den Telefonhörer nahm und eine Nummer wählte.

»Hey, ich …« Sie brach ab, lauschte. »Ja klar, kein Problem.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Sofort? – Nein. Ja, wart mal kurz.«

Sie tippte die Stummschaltung auf dem Apparat an. »Chris, kannst du noch mal auf Freya und Smart aufpassen? Ewig kann diese Besprechung bei Pit ja auch nicht mehr dauern.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sie verdrehte die Augen. »Bitte, und es tut mir leid, dass ich vorhin so ausgetickt bin.«

»Also gut.«

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ISBN (ePUB)
9783739498492
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Cybercrime Internetkriminalität Heldin Thriller Computerkriminalität Romantik Krimi Spannung Technologie Zeitgeschehen

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Die Spinne im Netz