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In den Sturm

von Jan von der Bank (Autor:in)
524 Seiten

Zusammenfassung

EINE FAHRT IN DEN STURM – Dass die Offiziersausbildung auf der Gorch Fock hart würde, hatte Thies Hansen erwartet, nicht aber einen solchen Horrortrip! Nach einer Kutterregatta der „Kieler Woche“ wird ein Mädchen ermordet. Thies und die anderen Kuttersegler der Gorch Fock werden verdächtigt und tagelang von Polizei und den eigenen Offizieren verhört; die unmittelbar bevorstehende nächste Fahrt der Gorch Fock steht auf der Kippe. Schließlich darf das Schulschiff doch auslaufen. Aber der Fluch des toten Mädchens segelt mit. Im Nordatlantik kommt es zu mehreren unheimlichen Todesfällen. Thies weiß, dass es auf See kein Davonlaufen gibt. Doch erst als der aufziehende Sturm seine volle Stärke erreicht hat, erkennt er, worum es dem Mörder wirklich geht ... Die mitsegelnde Stabsärztin Vivian Berg wird zu seiner Verbündeten. Die Kapitel folgen den Windstärken – von Kapitel 1 Windstärke 1 Leiser Zug, ruhige See bis Windstärke 12 Voller Orkan, außergewöhnlich schwere See. Nach der FARBE DER SEE gelingt Jan von der Bank ein zweiter atemberaubender Thriller. Der Autor ist selbst auf der Gorch Fock gefahren und war Segelweltmeister. Als TV-Autor schreibt er für Küstenwache, Tatort und Der Alte. IN DEN STURM ist zuerst unter dem Titel HUNDEWACHE erschienen und wurde für diese Neuausgabe überarbeitet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Jan von der Bank

In den Sturm

Roman

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist
urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne
Zustimmung der Urheber unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.

Neuausgabe, März 2018

3.Auflage Oktober 2019

Copyright © 2018 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG

Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg

www.kjm-buchverlag.de

ebook ISBN 978-3-96194-153-7

(Zuerst erschienen 2011 unter dem Titel »Hundewache« bei Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin)

Herstellung, Satz und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Cover unter Verwendung einer Seefotografie

von Getty Images (200564492-001)

Die Aufnahme der Gorch Fock wurde einem Foto von Ulf Neesen entnommen.

Die Kapitelfotos entstammen dem Archiv des Autors:

© Jan von der Bank, Kapitel 5, 9, 11 Presseportal der Marine,

Kapitel 7 Yvonne Knoll, Kapitel 8 P. Rücker, Kapitel 10 historisches Foto

der Bark Garthsnaid, Kapitel 12 historisches Foto der Bark Europa

Alle Rechte vorbehalten

Mehr dazu und zu den Büchern des KJM Buchverlags

www.kjm-buchverlag.de

WINDSTÄRKE 1

Kleine, schuppenförmig aussehende Kräuselwellen ohne Schaumkämme.

Leiser Zug – ruhige See

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Die Welle war etwa einen Meter hoch und von einem kleinen, weiß schäumenden Kamm gekrönt. Als einzelner, dunkler Rücken lief sie quer über die ansonsten spiegelglatte, gleißend helle Oberfläche der Kieler Innenförde auf sie zu. Sie war absolut perfekt und ebenmäßig, fast als wäre sie das in einem Schlepptank erzeugte Idealbild einer Welle und nicht vom unförmigen Bug eines schnöden Hochseeschleppers aufgeworfen worden.

»Augen zu, und wer zuerst die Beine wegzieht, hat verloren!«

»Du spinnst!«

Thies schüttelte grinsend den Kopf. Solche Ideen waren absolut typisch für seinen Freund Peer.

»Was ist jetzt? Sie ist gleich da!«, drängelte er.

Thies sah hinaus aufs Wasser. Die Welle würde genau im rechten Winkel auf die Spundwand des kleinen Yachthafens treffen. Wenn sie so sitzen blieben, mit nach außen baumelnden Beinen, würden sie zumindest nasse Füße bekommen, wahrscheinlich sogar einen nassen Hosenboden.

Thies’ helle blaue Augen blitzten amüsiert. »Na schön, wenn du unbedingt willst!«, sagte er und schob sich mit einer schwungvollen Geste die strubbeligen, blonden Haare aus der Stirn – oder besser das, was die militärische Ordnung und der Standortfriseur davon übriggelassen hatte.

Peer Rademacher griente zurück. Er war groß, schlaksig und hatte kurze, dunkle Haare, die er in der Kopfmitte zu einem frechen Kamm hochgebürstet trug, was ihm bereits diverse Rüffel ihrer Ausbilder eingebracht hatte. »Okay!«, sagte er. »Die hübsche Frau hier passt auf, dass du nicht bescheißt und die Augen aufmachst!«

Die »hübsche Frau«, die zwischen ihnen auf dem Steg stand, hieß Tanja Behnke. Sie war schlank, und ihr brauner Pagenkopf passte gut zu ihrer zierlichen Erscheinung. Auf den Mund gefallen war sie allerdings nicht. »Vor allem passe ich auf, dass du nicht bescheißt!«, sagte sie lachend und knuffte Peer freundschaftlich in den Rücken. »Los, rutscht zusammen und Augen zu!«

Thies und Peer gehorchten, und Tanja legte jedem von ihnen von hinten eine Hand über die Augen.

Sie waren erst vor eineinhalb Wochen als Offiziersanwärter auf das Segelschulschiff Gorch Fock versetzt worden, das dort drüben, etwa einhundert Meter entfernt, an der Außenmole des Kieler Tirpitzhafens lag. Eigentlich waren sie an diesem späten Nachmittag hierher auf die Steganlage der Seglervereinigung Kiel gekommen, um ein paar Erinnerungsfotos zu machen: Sie selber in Uniform, allein, zu zweit oder alle drei, und immer der schneeweiße, stolze Windjammer im Hintergrund.

Thies Hansen hatte Peer und Tanja bereits in der Grundausbildung kennengelernt und danach gemeinsam mit ihnen die Marineschule in Mürwik besucht. Die beiden waren ein Paar, was innerhalb einer Lehrgangscrew eher verpönt war und nur deswegen von ihren Vorgesetzten geduldet wurde, weil sie schon vor ihrer Zeit bei der Marine liiert und nach eigener Aussage »so gut wie verlobt« waren. Außerdem hatten sie der Auflage zugestimmt, sich für die Dauer ihres Aufenthalts an Bord des Schulschiffes mit offenen Zärtlichkeiten zurückzuhalten und es zu keiner Art von »körperlichen Übergriffen« kommen zu lassen.

Auf diesem Gebiet schien Peer überraschend konsequent zu sein, wohingegen er sonst kaum einen Spaß ausließ.

Thies musste nur an die Sache mit dem toten, aufgedunsenen Dorsch denken, den sie in Mürwik aus dem Hafenbecken gefischt und danach im Zierfischaquarium des Standortkommandanten zu Wasser gelassen hatten, oder an den mitternächtlichen Scheinalarm, der ihnen ein ganzes Wochenende Extra-Wachdienst eingebracht hatte, weil sie damit nicht nur ihre Kameraden, sondern auch ihre Ausbilder aus den Betten geholt hatten.

»Wie weit ist sie noch weg?«, fragte Peer hibbelig.

»Von mir erfährst du kein Wort«, antwortete Tanja lachend. »Und hör auf, durch meine Finger zu glotzen!«

Thies schmunzelte. Er selber wusste ziemlich genau, dass die Welle jetzt nur noch dreißig Meter entfernt war – ohne dass er es sehen musste.

Er konzentrierte sich. Wenige Augenblicke später setzte der minimale, von unten nach oben gerichtete Luftzug ein, den jede halbwegs steile Welle wie eine unsichtbare, gegenläufig rotierende Windwalze vor sich herschob. Als er ihn an den ausgestreckten Händen und Unterarmen spürte, riss er sofort die Beine zur Seite und sprang nach hinten zu Tanja auf den Steg.

»Verdammter Mist!«, fluchte Peer beinahe in der gleichen Sekunde.

Er war sitzen geblieben – natürlich! Er hätte sich eher den Arm amputieren lassen, bevor er eine Wette verloren gab, und sei sie auch noch so unsinnig. Jetzt hockte er mit pitschnasser Uniformhose auf der Betonbrüstung, und Thies und Tanja konnten sich nicht mehr halten vor Lachen.

»Na und?«, knurrte er und grinste schief. »Wenigstens hab ich gewonnen!«

»Ja!«, antwortet Tanja. »Und siehst dabei aus, als hättest du dir in die Hosen gepinkelt! Los, ich mach ein Foto!«

Thies und Peer stellten sich Arm in Arm nebeneinander, Letzterer mit nasser Hose und abgewinkeltem Daumen, und ließen den denkwürdigen Augenblick – denn das sollte es tatsächlich sein! – von Tanja verewigen.

Der entfernte, helle Klang der Schiffsglocke der Gorch Fock rief sie zurück an Bord.

Sie hatten den Nachmittag über freigehabt. Für diesen Abend stand die traditionelle Nachtsegelübung auf dem Ausbildungsplan.

»Wie hast du das hinbekommen?«, fragte Tanja, als sie zurück zum Stützpunkt liefen. »Du hast die Beine wirklich genau in dem Augenblick zurückgezogen, als das Ding da war!«

»Tja, weißt du«, antwortete er und gab sich Mühe, es möglichst lapidar klingen zu lassen, »die Wellen und ich, wir sind eben Freunde! Ich ... verstehe ihre Sprache!«

Tanja sah ihn überrascht an. Dann begann sie zu lachen. »So ein Quatsch! Du hast geschummelt, gib’s zu!«

Thies zuckte die Achseln. Im Grunde genommen hatte er die Wahrheit gesagt. Allerdings war diese tatsächlich reichlich bizarr.

Er hatte die Welle kommen gehört.

Nicht so wie Peer, der natürlich auch das Rauschen im Ohr gehabt hatte, sondern anders. Viel präziser. Er hatte die minimale Steigerung in der Lautstärke heraushören können, als die Welle näher und näher kam, und sogar bemerkt, wie sich der Klang der anderen Geräusche veränderte, das Plätschern des Wassers vor der Spundwand etwa oder das Rauschen des Verkehrs hinter ihnen auf dem Hindenburgufer, als sie von der herankommenden Welle reflektiert wurden.

Und dann hatte er den charakteristischen Luftzug gespürt, den sie vor sich herschob.

Thies wusste, dass er oft Dinge hören und fühlen konnte, die für andere, »normale« Menschen weit jenseits ihrer Wahrnehmungsgrenze lagen. Es war seine besondere Gabe und gleichzeitig eine unglaubliche Belastung. Manchmal nannte er es auch seine Behinderung.

Auf jeden Fall durfte niemand davon erfahren. Es war sein streng gehütetes Geheimnis.

Eine Stunde später hing Thies unterhalb der verdammten Bramsaling. Diese Stelle trieb ihm jedes Mal den blanken Schweiß aus den Poren. Mit der Höhe an sich, immerhin gute dreißig Meter über Deck, hatte er weniger Schwierigkeiten, aber dort, wo die kaum noch fußbreite Strickleiter schräg nach außen um die zweite Mastplattform herumführte, baumelte man beim Klettern zwangsläufig mit dem ganzen Körper weit nach hinten überhängend über dem Abgrund. Und beim Umgreifen zum nächsten Tritt das Ganze dann auch nur noch an einer Hand!

Jetzt bloß keinen dieser fiesen Krämpfe im Unterarm kriegen, schoss es ihm durch den Kopf. Es war schon schlimm genug, dass er offene Blasen an den Fingern hatte, die bei jedem Greifen höllisch brannten. Zudem sorgte seit zwei Tagen ein ausgewachsener Muskelkater in den Unterarmen auch noch dafür, dass er die Hände kaum noch zusammenbekam – was beim Festhalten in schwindelerregender Höhe ein ziemlich unangenehmes Gefühl in der Magengegend verursachte. Der schöne Klettergurt, den jeder von ihnen zur Sicherheit bekommen hatte, war da auch keine große Beruhigung, denn mit ihm konnte man sich ja erst einpicken, wenn man oben auf der Rah angekommen war.

Schweiß rann ihm in die Augen. Er versuchte, ihn wegzublinzeln. Abwischen ging nicht. Im Moment wagte er einfach nicht, eine Hand zu lösen, blieb einfach hängen, wo er war, und konzentrierte sich auf seine Atmung und das pulsierende Rauschen seines Blutes auf dem Trommelfell. So wie er es sich für Stresssituationen antrainiert hatte.

»Ey, du Rotarsch, penn nicht ein!«

Rotarsch war im Marineslang die allgemein übliche spöttische Titulierung eines unerfahrenen Neulings. Der Kamerad, der hinter ihm in die Wanten aufgeentert war, fuhr schon länger an Bord des Schulschiffes und wurde langsam ungeduldig.

Thies Hansen biss die Zähne zusammen und löste die rechte Hand. Sofort fühlte er sein ganzes Körpergewicht am linken Arm hängen, und die Sehnen am Gelenk waren bis zum Bersten gespannt. Hastig stieß er die Rechte nach oben und bekam das schwarz geteerte Want zu packen. Dann noch zwei weitere Kraftanstrengungen, zwei weitere Tritte in die Webleinen, wie die waagerechten Tauwerkssprossen hießen, und er hatte es endlich über die Kante der Saling geschafft. Der Rest von dort bis ganz nach oben war dagegen fast schon ein Klacks.

Kurz darauf lehnte Thies mit dem Oberkörper über der Royal, die Absätze ins unter der Rah gespannte Fußpferd gestemmt und mit den Karabinern des Klettergurtes gesichert, und begann die Befestigungslaschen des Segels zu lösen. Gleichzeitig löste sich auch seine Anspannung, und der schlimme Moment von eben war vergessen.

Hier oben hatte er seltsamerweise überhaupt keine Angst mehr. Im Gegenteil. Die Aussicht war einfach phantastisch! Ringsum glitzerte und schimmerte hell das Wasser der Kieler Förde, in dem sich der klare, rotgoldene Abendhimmel spiegelte. Weit, weit unter ihm lagen spielzeugklein das Deck der Gorch Fock, immerhin fast achtzig Meter lang und zwölf Meter breit, und daneben die breite Betonpier des Marinestützpunktes. An diesem Abend war sie für Zuschauer und Angehörige geöffnet worden. Aus dieser Höhe waren sie nichts weiter als hin und her wuselnde Ameisen, und die Befehle, die die Maate und Segeloffiziere von Deck durch ihre Flüstertüten in die Takelage hinaufbellten, kamen hier oben nur noch als ein gedämpfter, wohltuend distanzierter Singsang an.

Wenn man den Kopf nach Backbord drehte, konnte man im Süden, wo der Horizont bereits nachtblau war, die beleuchteten Türme der Stadt und die großen Portalkräne der Werft sehen. Irgendwo dort hinter dem Düsternbrooker Gehölz lagen die Kiellinie und die Hörn, an deren Uferpromenaden ab übermorgen das bunte, laute Treiben der Kieler Woche losbrechen würde. Im Norden war der Mittsommerhimmel noch taghell, und jenseits des Friedrichsorter Leuchtturmes und der Innenförde öffnete sich das Meer in seiner ganzen Weite bis zum Horizont.

Die Einzigen, die sich noch über Thies’ luftigem Standort befanden, waren ein paar Möwen, die mit gedämpftem Kreischen in der warmen Abendbrise segelten.

Thies holte tief Luft. Am liebsten hätte er die Arme ausgebreitet und wäre mit den Möwen um die Wette gesegelt.

In dieser Höhe zu stehen, die Brise im Gesicht und den Blick in die Weite gerichtet, zu wissen, dass man seine Angst überwunden und es bis hier herauf geschafft hatte, das war fast so schön wie fliegen – und im wahrsten Sinne des Wortes ein Hochgefühl!

Und dann war da noch etwas anderes, völlig Neues. Es schmeckte irgendwie berauschend und verheißungsvoll nach Ferne, Abenteuer, Freiheit. Nach etwas wirklich Großem. Ein Gefühl, das man so vielleicht nur einmal im Leben verspüren konnte, wenn man zwanzig war und den Kopf voller Träume hatte, wenn die eigene Zukunft noch hell und weit erschien wie der Horizont und einem die ganze Welt – in diesem Moment sogar buchstäblich! – zu Füßen lag.

»Na, eben noch Schiss gehabt und jetzt schon wieder abheben wollen?«, unkte einer seiner Kameraden.

Er hieß Martin Kaminski und war derjenige, der an der Bramsaling von ihm aufgehalten worden war.

»Aber mach dir nix draus, Hansen!«, fuhr er mit leicht überheblichem Tonfall fort. »Wir alle haben uns am Anfang in die Hosen gemacht, als wir neu waren!«

»Ja, und du von allen am meisten, Kaminski!«, warf ein anderer spöttisch dazwischen. »Sagt mir lieber, wie weit ihr seid! Die Bram hat längst klar gemeldet!«

Der Hauptgefreite Achim Weber war mit 26 Jahren einer der ältesten in der Segelcrew, was ihm den Posten des Vertrauensmannes der Mannschaftsdienstgrade eingebracht hatte. Hier oben auf der Rah war er außerdem die sogenannte Nummer eins, also derjenige, der den Maaten unten an Deck melden musste, wann die sechs Matrosen auf der Royal ihr Segel gelöst hatten.

Alle fünf murmelten sie ihr »Klar!«, und Weber streckte die geballte Faust nach vorne als Zeichen dafür, dass nun auch die Royal zum Setzen bereit war.

Weber, Kaminski und die anderen drei »Royalfahrer« waren aus der Segelcrew und fuhren bereits seit mehreren Monaten auf der Gorch Fock. Logisch, dass sie die Arbeitsabläufe in der Takelage und die komplexen Manöver an Deck bereits im Schlaf kannten. Für Thies Hansen hingegen, Peer, Tanja und die 76 anderen Offiziersanwärter war das alles noch ganz neu.

Gerade mal eine gute Woche waren sie jetzt an Bord. Und die war verdammt hart gewesen.

»Reise, Reise, aufstehn!« um sechs, Hängemattenmusterung – ja, sie schliefen tatsächlich in Hängematten! – kurzes Frühstück und danach den ganzen lieben langen Tag handfester Segeldrill. Unter dem schmerzhaft lauten Schrillen der Bootsmannspfeifen und den erbarmungslosen Kommentaren des Decksmeisters mühten sie sich mit dem Auf- und Abentern, wie das Klettern in den Wanten genannt wurde, mit dem Loswerfen und wieder Zusammenlegen der Segel auf den Rahen, und vor allem mit dem »Holen« der zahllosen Tampen, die es auf dem Segelschulschiff gab. Schoten, Brassen, Fallen, Geitaue, Strecker, Auf- und Niederholer und was nicht noch alles mussten wieder und wieder gezogen, gefiert, wieder geholt, belegt und in großen Buchten an Deck aufgeschossen werden. 186 verschiedene laufende Taue zur Bedienung der Segel gab es insgesamt, deren mitunter recht seltsame Namen ebenso auswendig gelernt werden mussten wie die dazugehörigen Belegnägel, auf denen sie zu finden waren. Großstengestagsegelpreventerschot – Nagelbank Steuerbord mittschiffs; Besanstengestagsegelniederholer – achtere Großtopp-Nagelbank; oberer Ausholer, unterer Besan – Nagelbank vor dem Besanmast ... oder doch dahinter, verdammt?

»In zwei Wochen haben Sie das intus!«, hatte der Decksmeister bestimmt, als er die »Flunder« verteilte, jenen berüchtigten Zettel, auf dem alle Tampen und Belegnägel verzeichnet waren. »Wenn nicht, mache ich Ihnen persönlich Feuer unterm Hintern, verlassen Sie sich darauf!«

Der Grund für diese Eile war ihnen ebenfalls bereits am ersten Tag bei der Begrüßung durch Kapitän zur See Stoppenkamp, dem Kommandanten des Schulschiffes, mitgeteilt worden. In wenigen Tagen, genauer gesagt am kommenden Samstag, sollte die Gorch Fock wieder in See gehen, und zwar als anführendes Schiff der großen Windjammerparade der Kieler Woche. Und als einer der prominentesten Teilnehmer der diesjährigen International Tall Ships Challenge, deren Start im Anschluss an die Parade draußen vor der Kieler Förde stattfinden sollte.

Es war die fünfzigste Auflage dieser traditionsreichen Regatta, und die Meldeliste, die Thies in den Kieler Nachrichten gesehen hatte, las sich wie ein »Who’s who« der Großseglerszene. Zu den Startern gehörten unter anderem die Chersones aus der Ukraine, die norwegische Statsraad Lehmkuhl und sogar die beiden russischen Schiffe Sedow und Krusenstern, die wohl größten noch segelnden Windjammer. Insgesamt waren es fünfundzwanzig größere und kleinere Traditionssegler, und natürlich wollte es sich die Bundesmarine nicht nehmen lassen, mit der Gorch Fock ihr unbestrittenes Paradepferd ins Rennen zu schicken.

Der Termin der Regatta lag nicht gerade günstig für den Geschmack der deutschen Marine, aber da es sich um das prestigeträchtige Jubiläum der Regatta handelte, hatte das Marinekommando die ansonsten so heilige Quartalseinteilung der Personalplanung gelockert. Anstatt wie sonst üblich zum ersten Juli, waren Thies und die übrigen Kadetten bereits zwei Wochen früher an Bord des Schulschiffes versetzt worden, damit sie noch rechtzeitig vor der Regatta besagte seglerische Vorausbildung absolvieren konnten. Die überwiegend aus Wehrdienstleistenden und Zeitsoldaten zusammengesetzte Segelcrew hingegen, die der Stammbesatzung zugerechnet wurde und zu der Weber und Kaminski gehörten, sollte erst zwei Wochen später im Zielhafen der Regatta auf den Azoren von Bord gehen. Zumindest soweit es ihre restliche Dienstzeit erlaubte. Damit, so das Kalkül der Schiffsführung, würden sich die unerfahrenen Lehrgangsteilnehmer nahtlos in die erfahrenere Segelcrew »einspleißen«, und die Gorch Fock müsste bei der Regatta nicht mit einer völlig unerfahrenen Mannschaft an den Start gehen.

An diesem Abend nun sollte mit dem Nachtsegelexerzieren die Segelvorausbildung der Neulinge abgeschlossen werden, und der IO, der Erste Offizier, würde dem Kommandanten Besatzung und Schiff einsatzfähig melden.

Thies blickte von oben auf die gekrümmten Rücken der anderen Rahbesatzungen unter sich. Bram, Obermars, Untermars und Fock; mittlerweile hatte der ganze Vormast, ebenso wie der Großmast hinter ihnen »klar« gemeldet, und ein langgezogenes »Rahsegel, lass fallen!« erscholl vom Achterdeck aus.

Überall, mit Ausnahme der beiden Obermarsen, wurden die eben noch aufgetuchten Segel nach vorne von den Rahen geschoben und begannen sich träge in der leichten Abendbrise zu bauschen.

»Leg ein! Enter ab! An die Schoten, Losen und Fallen!«

Dieses Kommando hieß soviel wie: runter von den Rahen, zurück an Deck klettern und dort anhand der unzähligen Taue das Trimmen der Segel in Angriff nehmen!

Befehle gellten über Deck, die Unteroffiziere scheuchten ihre Gruppen an ihre Plätze, und wer in all dem Hin-und-her-Gerenne und -Geschreie überhaupt noch den Überblick behalten sollte, war Thies auch nach mehreren Tagen Manöverdrill immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.

Wie beim Tauziehen hatte sich die Segelcrew, auch die 21 weiblichen Offiziersanwärterinnen, in die Tampen zu werfen. Zunächst mussten die drei obersten Rahen von Groß- und Vormast an ihren Fallen nach oben gezogen werden. Denn Royal, Bram und Obermars, so hatte man ihnen er klärt, wurden aus Stabilitätsgründen nur zum Segeln in ihre jeweiligen Positionen gebracht. Was durchaus nachvollziehbar war, wog doch alleine die Obermarsrah am Großmast bereits stattliche 1,6 Tonnen.

Das war die erste Lektion, die sie hier an Bord lernten, und zugleich die wichtigste von allen: Alleine hätte keiner von ihnen das Fall auch nur einen einzigen Millimeter bewegen können. Das ging nur im Team, und auch nur, wenn alle zusammen den Rhythmus einhielten, der durch das allgegenwärtige »Hol weg!« der Maaten und das für Thies’ empfindliche Ohren fast schon schmerzhafte Schrillen ihrer Pfeifen vorgegeben wurde.

Mit einem eigentümlichen Knirschen und Klicken stiegen die Rahen in ihren Führungen am Mast empor, bis endlich das »Hol steif!« den letzten, schweißtreibenden Meter ankündigte. Nachdem die Fallen belegt waren, ging es ohne Pause an die Brassen und Schoten. Mit ihnen konnten die Rahsegel um die Achse der Masten gedreht und in die richtige Stellung zum Wind gezogen werden. Auch diese Prozedur dauerte mehrere Minuten. Zum Schluss kamen die sogenannten Schratsegel an die Reihe, also alle Tücher, die nicht an den Rahen gesetzt wurden, sondern vorne am Bugspriet, zwischen den Masten oder an den Gaffeln des Besans, wie der hinterste der drei Masten der Gorch Fock hieß.

Erst als alle 23 Segel mit ihren über zweitausend Quadratmetern Fläche gesetzt und in die richtige Position getrimmt waren, war der Tanz vorbei – und die Crew schweißgebadet!

Offenbar war die Schiffsführung mit der dargebotenen Manöverleistung zufrieden, denn man gewährte ihnen großzügig eine halbe Stunde Pause. Wer Angehörige oder Freunde unten auf der Pier entdeckt hatte, durfte nun zu ihnen hinunter, und rasch bildete sich eine Schlange an der Stelling.

Dort stand auch Peer Rademacher und winkte ihm zu. »Was ist, Hansi, gehst du mit runter?«

In diesem Moment piepste Peers Handy. Er nahm es aus der Tasche und las kopfschüttelnd die eingegangene Textnachricht.

»Typisch Weiber!«, meinte er. »Madame steht unten auf der Pier und schreibt mir eine SMS, wo ich denn bleibe!«

»Na dann mal hopp!«, sagte Thies. Er hatte nicht vor, mitzukommen.

»Wahrscheinlich langweilt sie die Konversation meiner Eltern zu Tode«, setzte Peer grinsend hinzu. »Willst du nicht doch mitkommen? Ich stell dich meinem Alten vor!

Du brennst doch bestimmt darauf, den Herrn Minister in spe kennenzulernen, oder?«

Thies verzog das Gesicht und peilte über das Schanzkleid auf die Pier. Peer entstammte, soviel er wusste, einer alten Hamburger Familie, die Anteile an einem großen Pharmakonzern hielt und reich war. Stinkreich, wie Peer selber höchst salopp zu sagen pflegte. Sein »Alter« hatte, wenn nichts dazwischenkam, gute Chancen auf ein Ministeramt in Berlin. Wirtschaft oder Gesundheit, wie es hieß.

»Ich ... wollte eigentlich grade unter Deck gehen«, murmelte Thies ausweichend.

»Schon kapiert!«, sagte Rademacher lachend. »Also, bis später!« Er hob lässig die Hand und verschwand über die Stelling.

Thies atmete einmal tief durch. Tatsächlich hatte er gerade jetzt herzlich wenig Lust verspürt, sich ins Gedränge an Land zu werfen. Und das lag nur zum Teil an Rademachers Familie. Oder daran, dass von seinen eigenen Leuten niemand erschienen war.

Thies’ Familie kam zwar aus Kiel, aber seine Eltern traten zur Kieler Woche traditionell die Flucht in den Urlaub an. Sie würden erst am kommenden Samstag zum Auslaufen zurück sein. Die alten Freunde aus der Abi-Clique oder aus dem Yachtclub, die sich das Schauspiel der abendlichen Segelübung vielleicht noch hätten ansehen wollen, waren entweder studienbedingt in alle Winde verstreut oder zu irgendwelchen Partys verabredet, von denen es in Kiel im Vorfeld der Kieler Woche einige gab. Und Verena ... Nun ja, warum sie nicht hatte herkommen wollen, obwohl er sie mehrfach dazu eingeladen hatte, lag wohl auf der Hand.

Seit sechs Wochen war nun endgültig Schluss zwischen ihnen, und sie war einfach nicht der Typ, der auf das übliche Wir-können-ja-Freunde-Bleiben stand. Seltsamerweise war Thies’ anfänglicher Trennungsschmerz – immerhin waren sie über zwei Jahre zusammen gewesen – einer gewissen Erleichterung gewichen, und nüchtern betrachtet, musste er sich eingestehen, dass sie eigentlich nie so recht zusammengepasst hatten. Sie, die pragmatische, ehrgeizige und stets ein wenig spitzfindige Jurastudentin, die bei Diskussionen ständig versuchte, einem das eigene Argument im Mund umzudrehen, und er, der eher stille, auf Distanz bedachte Romantiker, der »verträumte Chaot«, wie sie ihn anfangs noch liebevoll, zuletzt aber eher abfällig genannt hatte. Wie ausgerechnet er mit seinem Problem auf die Idee hatte kommen können, eine Uniform anzuziehen, war ihr einfach unbegreiflich gewesen.

Er schauderte, wenn er an die finale Szene zurückdachte, die Verena ihm in dem schicken Kieler Restaurant an ihrem letzten gemeinsamen Abend gemacht hatte. Ihre wütenden Tränen, die bitteren Vorwürfe, der anklagende, verletzende Tonfall ... Er hatte ihr einfach nicht begreiflich machen können, wie viel ihm der Wunsch bedeutete, einmal im Leben an Bord eines Rahseglers über die Meere zu fahren.

Seine Eltern hatten das zwar auch nicht kapiert, aber die hatten wenigstens nicht mit einem halbvollen Glas Rotwein und einem Teller Tagliatelle al Salmone nach ihm geworfen. Verdammt noch mal, wieso musste er überhaupt noch so oft an sie denken? Die Sache war doch längst abgehakt!

In diesem Moment wurde die Segelbeleuchtung eingeschaltet, die von unten herauf in die Takelage strahlte. Obwohl es immer noch nicht richtig dunkel geworden war, gaben die beleuchteten Segelpyramiden vor dem blauen Abendhimmel ein beeindruckendes Bild ab, das von den Zuschauern auf der Pier mit lauten Ahs und Ohs und vereinzeltem Applaus begrüßt wurde.

Auch Thies legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf. Wie gerne wäre er jetzt noch einmal da oben, alleine für sich. In Ruhe!

Er rieb sich den Schweiß aus den Augen, der langsam kalt wurde, streckte den verspannten Rücken und stieg den steilen Niedergang zum Vordeck empor. Hier würde er am ehesten ein stilles Eckchen finden. Auf eine gewisse Art war das Segelmanöver für ihn weitaus anstrengender gewesen als für jeden anderen an Bord, und es war allerhöchste Zeit, ein paar Atemübungen zu machen!

Auch das war ein Teil seines geheimen Problems.

Es klang ein bisschen paradox. Körperlich war Thies Hansen alles andere als schwächlich. Er war 1,80 groß und sportlich durchtrainiert. Den größten Teil seiner Freizeit verbrachte er auf der clubeigenen Regattayacht seines Segelvereins, auf der er als Vorschiffsschiffsmann fungierte. Ein echter Knochenjob, zu dem das anstrengende Hantieren mit dem sperrigen Spinnakerbaum ebenso gehörte wie das Setzen, Bergen und Zusammenpacken der großen, schweren Vorsegel.

Seine Gabe, die Wellen in seinem Rücken kommen zu hören, wenn er dort vorn mit dem Gesicht nach hinten gewandt arbeitete, hatte ihm bereits gute Dienste geleistet. Vor allem im letzten Jahr, als sie bei stürmischen Bedingungen die berüchtigte Skagen-Rund-Regatta gewonnen hatten, hatte das Vorschiff quasi permanent unter Wasser gestanden. Um so etwas durchzustehen, musste man einfach fit sein!

Natürlich ging es auch hier an Bord körperlich ganz schön zur Sache. Die Schmerzen in den Armen und dem Rücken kamen nicht von ungefähr, ebenso wenig wie die Blasen an den Händen, die heute Morgen noch zaghafte Heilungsansätze gezeigt hatten, inzwischen aber längst wieder offen waren.

Nein, es war etwas ganz anderes, das Thies auf der Gorch Fock buchstäblich an die Grenzen seiner Kräfte brachte.

Es war das allgegenwärtige Gedränge, vor dem es kein Entrinnen gab, dazu die Enge und die schlechte Luft unter Deck sowie die permanente Geräuschkulisse. Ja, der Lärm war eigentlich das Schlimmste. Besonders während der Segelmanöver, bei denen die Bootsmannspfeifen schrillten und die Crew vom hektischen Stakkato der Befehle über Deck gehetzt wurde. »Tempo Tempo!«, hieß es. Alles musste im Laufschritt erledigt werden, begleitet vom unvermeidlichen Geschiebe beim Auflaufen der Taue, dem permanenten Körperkontakt mit den verschwitzten Hinter- oder Nebenmännern. Purer Stress für Thies’ Sinnesorgane, und speziell in diesen ersten Tagen, als alles noch so neu und ungewohnt war, musste er sich mit aller Kraft zusammennehmen, um halbwegs unauffällig zu bleiben.

Thies Hansen war das, was die Fachwelt eine »Highly Sensitive Person«, kurz »HSP«, nannte.

Zu Deutsch: hochsensibel.

Das jedenfalls hatte Dr. Perlmann gesagt, die Schulpsychologin, die nach einer quälend langen Reihe von Therapiesitzungen und Tests endlich dahintergekommen war, warum der ansonsten so stille, in sich gekehrte Junge auf der Klassenfahrt des neunten Jahrgangs plötzlich ausgeflippt und aus der Jugendherberge getürmt war. Warum er als Kind so oft ängstlich, überfordert und erschöpft gewirkt hatte oder einfach nur geistesabwesend und weltfremd. Warum er sich als Heranwachsender zurückzog, wenn es für seine Altersgenossen gerade erst anfing, richtig Spaß zu machen, in der Disco, auf Partys oder auch bloß beim normalen alltäglichen Herumalbern, Raufen und Lärmen auf dem Schulhof. Kurz: Warum er dieses dünnhäutige Sensibelchen war, wie sein Vater ihn so oft mit enttäuschtem Unterton genannt hatte.

»Dabei ist es eigentlich ganz simpel!«, hatte Dr. Perlmann ihm erklärt. »Dein Nervensystem ist feiner justiert als das von anderen Leuten. Deine Sinne nehmen mehr Eindrücke auf. Du hörst mehr, siehst und fühlst mehr. Und machst dir deswegen vermutlich auch mehr Gedanken über die Dinge um dich herum. Das strengt natürlich an. Es stresst dich. Verstehst du?«

Zunächst hatte Thies den Kopf geschüttelt, doch die Psychologin hatte ein simples Beispiel parat.

»Eine Schulstunde dauert fünfundvierzig Minuten, richtig? Das ist so, weil die allermeisten Menschen, egal ob Schüler oder Lehrer, nach einer gewissen Zeitspanne eine Pause brauchen, weil sie dann mit Eindrücken gesättigt sind und vorübergehend nichts mehr in den Kopf passt. Der Speicher ist voll, und der Akku ist leer.«

Dergleichen hatte Thies in der Tat schon oft gehört.

»Bei dir wird dieser Zustand aber schon nach einer halben Stunde erreicht, eventuell sogar noch früher. Das liegt daran, dass du in dem gleichen Zeitraum einfach viel mehr verarbeiten musst. Du hast mir selber erzählt, dass du nicht nur den Lehrer reden hörst, sondern auch das Tuscheln in der letzten Reihe, das Kratzen des Bleistiftes links von dir und den Streit auf dem Schulhof drei Stockwerke tiefer, richtig? Da ist es doch nur normal, dass dein Speicher schneller voll und dein Akku entsprechend leer ist. Oder, anders ausgedrückt: Fünfundvierzig Minuten durchzuhalten, kostet dich viel mehr Kraft als andere!«

Das hatte Thies irgendwie eingeleuchtet.

»Aber tröste dich, damit bist du nicht allein. Schätzungsweise zehn Prozent deiner Mitmenschen haben das gleiche Problem, und bei vielen der anderen HSPs sind die Symptome noch wesentlich stärker ausgeprägt als bei dir.«

Thies erinnerte sich noch genau, wie erleichtert er darüber gewesen war, dass es für jemanden wie ihn einen medizinischen Begriff gab und er beileibe kein Einzelfall war. Und »mehr« zu können als neunzig Prozent der restlichen Bevölkerung, mehr mitzubekommen, einfühlsamer zu sein und deswegen vielleicht sogar analytischer oder kreativer denken zu können, war ja eigentlich so schlecht nun auch wieder nicht. Mit geschlossenen Augen den Klang von heranrollenden Wellen unterscheiden zu können, das war wohl ein echtes Luxusproblem! Nur abschalten konnte man es dummerweise nicht, und manchmal waren es einfach zu viele Sinneseindrücke, die da permanent und ungefiltert auf ihn einprasselten.

Aber auch in diesem Punkt hatte Dr. Perlmann ihm mit ein paar verblüffend einfachen Tipps helfen können. Atemübungen oder, wie sie es nannte, autogenes Training zur Beruhigung gehörten dazu, die Empfehlung einer CD mit ruhiger, meditativer Musik zur Regeneration sowie der Hinweis auf simple Ohrstöpsel als Schutz gegen akute Lärmsituationen im Alltag.

Selbst bei der Marine hatte er sich mit dem autogenen Training und der Musikentspannung ganz gut behelfen können. Keiner seiner Kameraden oder Vorgesetzten ahnte, dass dahinter mehr steckte als ein simpler Meditationsspleen, wenn er seine Atemübungen machte oder sich den Kopfhörer seines Walkmans aufsetzte. Nur die Verwendung von Ohropax war ihm verboten worden, nicht nur während des Dienstes, sondern sogar auch beim Schlafen. Ein Soldat, so hatte man ihm erklärt, müsse jederzeit und unverzüglich auf die Befehle seiner Vorgesetzten oder einen etwaigen Alarm reagieren können. Seitdem benutzte Thies die Stöpsel nur noch heimlich oder in den zum Glück sehr selten gewordenen akuten Notfällen, wenn er vor lauter Lärm und Anspannung doch noch einmal die Nerven zu verlieren drohte.

Die ruhigste Stelle, die Thies an diesem Abend auf der Back der Gorch Fock finden konnte, war das Klüvernetz, das ganz vorne unter dem Bugspriet gespannt war. Als er sicher war, dass niemand, der ihm etwas anderes befehlen konnte, ihn beobachtete, schwang er die Beine über das Schanzkleid und ließ sich neben dem Bugspriet in die Maschen des dreieckigen, seitlich von zwei Stahlseilen gehaltenen Netzes hinab – auf der Wasserseite wohlgemerkt, damit ihn niemand von der Pier aus sehen konnte, aber auch um zu vermeiden, dass das Stimmengewirr von dort ihn direkt erreichte.

Genau über dem goldenen Albatros, der die Galionsfigur der Gorch Fock war, lehnte er den Rücken in das Netz, verschränkte die Beine im Yogasitz und schloss die Augen. Dann führte er beide Hände zu den Wangen hinauf, wie er es immer bei seinem autogenen Training tat, tastete mit den Fingerspitzen der Mittelfinger nach den Öffnungen des Gehörkanals und verschloss diese mit sanftem Druck. Sofort ebbten die Geräusche der Umwelt ab, und das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren trat in den Vordergrund. Dann begann er mit den Übungen, und schon nach wenigen tiefen Atemzügen registrierte er, wie sich sein Puls auf dem Trommelfell in wohltuender Weise verlangsamte.

Nach wenigen Zügen konzentrierte er sich auf nichts anderes mehr als auf dieses pulsierende Rauschen und auf die zutiefst beruhigende und entspannende Wirkung von dessen gleichmäßiger Wiederkehr.

Anfänglich hatte er sehr lange gebraucht, um diesen Effekt herbeizuführen, und fast wäre er an der Aufgabe verzweifelt, »etwas in sich selbst« zu finden, das ihn beruhigen sollte. Aber inzwischen hatte er Routine, und es gelang ihm nunmehr verblüffend schnell. Ein paar Minuten Zeit und eine ungestörte Ecke genügten, um die Verspannung seiner Muskeln, hervorgerufen durch den Lärm und die Hektik des Tages, zu lösen. Das Wissen, sein körperliches Defizit durch eigene Kraft beherrschen zu können, gab ihm Selbstbewusstsein, und im selben Maß, in dem seine Angst und seine Beklemmungen sich lösten, gewann auch sein Verstand an Kontrolle zurück.

Oft war dies ein Moment, der Thies zu besonders klaren Gedanken verhalf, zu einem Blick auf die Dinge, der detailliert und distanziert zugleich war. Und manchmal traten an dieser Stelle wie von selber Antworten auf Fragen hervor, die er sich zuvor vergeblich gestellt hatte.

Heute, nach dem für ihn in zweifacher Hinsicht so anstrengenden Manövertraining, lauteten diese Fragen einmal mehr: Warum tat er sich das alles an? Wie konnte ein Sensibelchen wie er nur auf die Idee kommen, sich dem rauen, lautstarken Kommandoton der Marine auszusetzen?

Beim Regattasegeln ging es bisweilen zwar auch recht laut und hektisch zu, vor allem wenn der Wind auffrischte und die Segel schlugen, aber eine Yacht blieb immer eine überschaubare, kompakte Umgebung, in der Thies’ Wahrnehmungsstress ausschließlich auf seinen kleinen Arbeitsbereich auf dem Vorschiff reduziert blieb. In der qualvollen, lärmgeschwängerten Enge eines Schiffes wie der Gorch Fock, auf deren gerade einmal achtzig Meter langem Rumpf nicht weniger als zweihundertzwanzig Menschen zusammengepfercht waren, sah das natürlich ganz anders aus!

Warum also? Jetzt, in der Tiefe seiner Entspannung, lag die Antwort klar und deutlich vor ihm: Natürlich tat er es primär, um sich selbst zu beweisen, dass er es tun konnte!

Aber auch, um es seinem Vater zu zeigen, der immer noch glaubte, sein Sohn sei ein verweichlichter, überempfindlicher Sonderling, ein ewiges Problemkind, nicht geeignet und fähig, es mit der harten, lauten Realität des Erwachsenenlebens aufzunehmen.

Und dann gab es da noch einen weiteren Grund, der erheblich romantischer war: seine Liebe zum Meer! Zu dessen Weite und Stille, zur ruhigen, gleichmäßigen Kraft seiner Bewegungen. Zum Klang und zur Sprache seiner Wellen, die er mit seiner Gabe tatsächlich zu verstehen glaubte.

Teil dieser Anziehungskraft, die die See auf ihn ausübte, waren von jeher auch die Segelschiffe gewesen, die elegant über deren Oberfläche glitten und dabei meist so wohltuend leise waren, dass kaum mehr als das flüsternde Schäumen ihrer Bugwelle, das geheimnisvolle Knacken ihrer Spanten und Planken und das gelegentliche Knattern eines Segels zu hören waren – allesamt Geräusche, die ihn stimulierten, und nicht zu vergleichen mit dem entnervenden Lärm an Land.

Sein Vater besaß eine kleine Segelyacht, Thies war quasi darauf groß geworden. Warme Erinnerungen an friedliche, stille Momente hingen daran, bei leichter Brise unter Segeln auf der diesigen Ostsee oder vor Anker in einer kleinen Bucht irgendwo in Dänemark, in denen selbst sein dominanter, sonst oft so polteriger alter Herr zur Ruhe hatte kommen können.

Aber was waren diese kurzen Törns gegen eine richtige Seereise, was war ein Dreißig-Fuß-Schiffchen, oder auch die größere Vereinsyacht gegen die Windjammer, die Königinnen der Meere, von denen die Gorch Fock schon immer die Schönste für ihn gewesen war? Als kleiner Junge hatte er oft auf der Blücherbrücke in Kiel gestanden, damals, als sich ihr Liegeplatz noch in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Segelvereins befand, und hatte auf die hohen, elegant nach hinten gepfeilten Masten des großen weißen Segelschiffes geblickt, hatte der Besatzung beim Segelexerzieren zugesehen oder beim Auslaufen zu einer ihrer großen Reisen zu fernen, unbekannten Ländern mit geheimnisvollen Namen. Zu Orten, an die er sich selbst so oft geträumt hatte, wenn er still in der Ecke saß, während die »normalen« Kinder lärmend auf der Straße spielten.

Nein, auf diesem Schiff zur See zu fahren war alles andere als ein Widerspruch zu seinem Problem, es war eine mögliche Lösung! Das wurde ihm in diesem Augenblick, als er seine Atemübungen beendet und sein inneres Gleichgewicht wiederhergestellt hatte, einmal mehr bewusst. Es war die richtige Entscheidung, trotz der Enge und des Lärms. Sie würde vielleicht verdammt viel Kraft kosten, aber er würde stärker sein, wenn er zurückkam. Davon war er überzeugt.

Thies öffnete die Augen und nahm behutsam die Fingerspitzen von den Ohren. Die Umwelt kehrte zu ihm zurück, aber anders als zuvor strengten ihn ihre Eindrücke nicht mehr an. Im Gegenteil. In Momenten wie diesen konnte er seine Fähigkeit sogar genießen. Die Decksplanken hinter ihm auf der Back verströmten den angenehmen Duft von warmem Teakholz, in den sich dezent das eigentliche Parfum der weißen Lady mischte, jener so unverwechselbar schiffige Geruch nach Tauwerk, Teer und frischer Farbe. Bisweilen konnte er zu intensiv und aufdringlich sein, aber hier vorne, verdünnt mit der milden, leicht salzigen Abendluft, umschmeichelte er geradezu Thies’ empfindsame Nase.

Unter ihm war das wohltuende Plätschern und Glucksen des Wassers zu hören, das sich um den Bug der Gorch Fock hob und senkte, im langsamen Rhythmus eines weit entfernten Schwells dort draußen auf der Förde. Irgendwo über ihm in der Takelage knarrten ein paar Taue, eines der zur Übung gesetzten Segel am Großmast flappte träge in der leichten Nachtbrise, und das Stimmengewirr auf der Pier schien angenehm weit entfernt.

Das Einzige, das aus diesem Klangteppich hervorstach, waren zwei Stimmen auf dem Vorschiff, die langsam näher kamen, so dass Thies sie einfach nicht ignorieren konnte. Für normale Ohren wäre die gedämpft-vertrauliche Unterhaltung vermutlich gar nicht von den Hintergrundgeräuschen auf der Pier zu unterscheiden gewesen. Für Thies indessen hob sich das eine klar und deutlich von dem anderen ab, und er verstand jedes einzelne Wort.

Auf Höhe des Ankerspills blieben die beiden Männer an der Reling stehen. Auch das bekam Thies mit, ohne dass er über den Süllrand hinwegspähen musste. Ebenso sicher war er sich, um wen es sich handelte.

»Tut mir leid, aber diesmal krieg ich beim besten Willen keine Leute zusammen.«

Das war unverkennbar der leicht näselnde, badische Akzent des Decksmeisters, Hauptbootsmann Gierke, der ungeachtet seiner jovialen, irgendwie betulich wirkenden Rundlichkeit jederzeit so laut und ungemütlich werden konnte, dass er alleine in Sekunden problemlos eine ganze Besatzung auf Trab bringen konnte.

»Hmm. Das wird dem Kommandanten nicht gefallen.«

Diese zweite, immer ein wenig schnarrende Stimme war die von Fregattenkapitän von Doberan, dem Ersten Offizier der Gorch Fock. Er war ein großer, hagerer Mann mit tiefliegenden Raubvogelaugen, dessen disziplinarische Strenge und Humorlosigkeit ihm den bissigen und natürlich nur hinter vorgehaltener Hand gebrauchten Spitznamen »der Dobermann« eingebracht hatte.

Ausgerechnet der IO also! Von dem wollte Thies nun wahrlich nicht beim Lauschen erwischt werden. Natürlich hätte er jetzt noch schnell aus dem Netz klettern und einfach an den beiden vorbeimarschieren können, aber das würde ihm definitiv Ärger einbringen. So viel hatte er aus früheren Vorfällen gelernt, bei denen ihn seine »Gabe« in vergleichbare Situationen gebracht hatte. Nein, er würde den Kopf unten halten und hoffen, dass von Doberan und Gierke nicht noch näher kamen und über das Schanzkleid ins Bugnetz hinabblickten.

Doch auch so schon klang der Erste Offizier alles andere als begeistert. »Der Kutter der Gorch Fock hat bisher immer an dieser Regatta teilgenommen, wenn wir zur Kieler Woche hier waren. Das ist Tradition. Außerdem schicken die anderen Tallships garantiert auch ihre Boote ins Rennen.«

Darum ging es also: die Regatta der Marine- und Jugendkutter, die alljährlich am ersten Wochenende der Kieler Woche auf der Innenförde ausgetragen wurde.

Obwohl bei dieser Veranstaltung nicht mehr mit eigenen Kuttern der Gorch Fock gesegelt wurde – diese waren längst abgeschafft und durch zwei sehr viel leichtere und schnellere Motorschlauchboote ersetzt worden –, fiel das Segeln mit einem Kutter traditionell in den »seemännischen Abschnitt«, also den Aufgabenbereich des Decksmeisters.

»Außer Ihnen und dem Kommandanten habe ich alle Offiziere und Unteroffiziere gefragt. Die meisten wollen das freie Wochenende vor der Reise natürlich bei ihrer Familie verbringen statt auf einem Kutter.«

»Natürlich, das war abzusehen«, brummte der IO missmutig.

»Wenn Sie mich fragen, ist diese bekloppte Reiseplanung schuld. In einem normalen Jahr hab ich nie Schwierigkeiten, eine Crew zusammenzubekommen!«

»Hmm. Und wenn Sie ausnahmsweise ein paar Mann aus der Crew oder dem Lehrgang nehmen? Die wollen doch bestimmt!«

»Aber Herr Kap’tän!« Der Decksmeister klang ehrlich empört, als habe von Doberan ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. »Der Kutter der Gorch Fock war immer ein reiner Offizierskutter! Außerdem, die OAs lernen das heute doch gar nicht mehr richtig. Die können vielleicht noch einen Kutter pullen, aber nicht segeln! Und bei den Mannschaften sieht’s noch schlechter aus. Mit denen würden wir uns glattweg blamieren!«

»Vielleicht haben sie recht, Decksmeister. Dann muss die Regatta übermorgen wohl ohne uns stattfinden ... Schade, aber nicht zu ändern! Pfeifen Sie die Besatzung zurück an Deck und lassen Sie die Segel wegnehmen! Und vergessen Sie nicht, die verdammte Christbaumbeleuchtung auszuschalten! Das soll schließlich eine Nachtübung werden!«

Eine knappe Stunde später, als alle Segel im Dunkeln geborgen und verzurrt worden waren, ließ der Kommandant, Kapitän zur See Stoppenkamp, die gesamte Crew noch einmal antreten, was bei knapp zweihundert Mann für reichlich Gedränge unter dem Großtopp sorgte.

Stoppenkamp, ein durchtrainierter Mittfünfziger mit kurzem grauem Haar und sorgsam getrimmtem Vollbart, hielt eine kurze Ansprache, die sich erwartungsgemäß um die erfolgreich beendete Segelvorausbildung, die bevorstehende Reise und das Tallships-Race drehte. Das kleine Problem mit der Kutterregatta erwähnte er natürlich nicht, was Thies auch nicht weiter verwunderte. Schließlich betraf diese Angelegenheit nur die Offiziere und Unteroffiziere.

Dann hieß es »Wegtreten!«, »Hängematten zurren!«, »Pfeifen und Lunten aus!« und schließlich »Ruhe im Schiff!«.

Die räumliche Aufteilung der Gorch Fock war einfach. Es gab vier Decks, die das Schiff in der Horizontalen teilten wie Geschosse eines Hauses. Ganz oben lag, daher der Name, das Oberdeck, dessen Mittelteil rund um den Großmast nach oben hin offen war und dessen vorne und hinten erhöhte Bereiche Vorschiff und Achterdeck hießen. Unter dem Oberdeck befand sich das Zwischendeck, das den größten Teil der Besatzung beherbergte. Noch eine Etage tiefer lag das Plattformdeck, in dem sich die meisten der Last genannten Lager- und Vorratsräume des Schiffes befanden. Ganz zuunterst befand sich die sogenannte Stauung, die mit dem Maschinenraum, den Wassertanks und einigen weiteren technischen Aggregaten bestückt war und quasi den Keller des Schiffes darstellte. In der Vertikalen war das Schiff von hinten nach vorne in sieben Abteilungen unterteilt. Diese orientierten sich an den aus der Schiffskonstruktion resultierenden durchgehenden Querschotten, die den Rumpf des Schiffes aussteiften und in wasserdicht verschließbare Sektionen trennten, so dass bei einer Leckage nicht das ganze Schiff voll Wasser laufen konnte, sondern eben nur eine Sektion.

Was nun die Unterbringung der Besatzung anging, so gab es an Bord der Gorch Fock ebenfalls eine klare Trennung.

Im überdachten hinteren Teil des Oberdecks in Abteilung 1 und 2 hatten der Kommandant und seine Offiziere ihre in Anbetracht der allgemeinen Platzverhältnisse recht komfortablen Kabinen. Es gab eine gediegene holzgetäfelte Messe, und die Kommandantenkammer ganz im Heck war beinahe so etwas wie eine kleine Suite mit einem eigenen Salon, einem Büro und einer Schlafkammer, deren Bad sogar mit einer Badewanne ausgestattet war.

Auch die Portepee-Unteroffiziere, Feldwebeldienstgrade, die bei der Marine Bootsleute hießen, bewohnten den traditionell als nobler geltenden hinteren Teil des Schiffes, allerdings eine Etage tiefer im Zwischendeck, wo sie sich jeweils zu zweit eine Kammer teilen mussten. Die übrigen Unteroffiziere, also Maate und Obermaate, sowie ein Teil der Stammbesatzung hatten ihre Unterkünfte und ihre eigene Messe in den Abteilungen 5 und 6 im Bug.

Dazwischen waren die Offiziersanwärter und die Segelcrew untergebracht. Der Mannschaftsbereich im Zwischendeck war unterteilt in eine relativ geräumige Messe mit fest am Boden verschraubten Tischen und Bänken, die gleichzeitig Lehrsaal, Aufenthaltsraum und Kantine war, sowie in sechs kleinere, durch massive Schotten voneinander getrennte Wohndecks, drei an Backbord und drei an Steuerbord. Wobei das Wort »wohnen« eigentlich nicht wirklich zutreffend war, denn tagsüber waren die etwa fünf mal fünf Meter großen Räume unpersönlich und leer. Eine Wohneinrichtung im eigentlichen Sinne gab es nicht. Wer sitzen wollte, fand lediglich eine schmale Bank unter den nach außen zeigenden Bullaugen vor oder musste gleich mit den nackten Holzplanken des Bodens vorliebnehmen. Die Wände waren größtenteils mit eckigen Edelstahlspinden verbaut, die gerade eben groß genug waren, um den Inhalt des bei der Marine üblichen Seesacks hineinquetschen zu können.

Abends wurden horizontale Ketten durch den Raum gespannt, an denen die Hängematten zum Schlafen festgezurrt werden konnten. Und damit wurde es dann ganz schnell richtig eng!

Da sich bis zu fünfundzwanzig Mann ein Deck teilten, war nicht einmal genug Platz, um alle Hängematten nebeneinander unterzubekommen. Diese mussten in zwei »Etagen« übereinandergezurrt werden, wobei es meist zu einem heillosen Gedränge kam.

Überflüssig zu erwähnen, dass frische Luft hier unten ebenso Mangelware war wie Privatsphäre.

Die einzige Konzession, die man in Bezug auf Letzteres gemacht hatte, war die Trennung der Geschlechter. Tanja und die anderen weiblichen OAs schliefen in zwei »Mädchendecks«, die sich in den hinteren beiden Räumen befanden. Sie verfügten über eigene Sanitärräume und waren durch einen Vorhang abgegrenzt, der spöttisch »Spannersegel« genannt wurde.

Aus dem gleichen schweren, rostroten Segeltuch, aus dem dieser Sichtschutz geschneidert war, bestanden auch die Hängematten. Sie mussten jeden Morgen nach dem Wecken abgetakelt und mit den aufgenähten Bändseln zu einer runden Wurst zusammengeschnürt werden, was bei der anschließenden Hängemattenmusterung an Oberdeck von den Maaten peinlich genau überprüft wurde. Erst dann durften sie über Tag in einer unter den Wohndecks liegenden Last, der »Matratzengruft«, verstaut werden.

Die Tatsache, dass zwischen Wecken und Hängemattenmusterung meist keine fünfzehn Minuten vergingen, sorgte dafür, dass die maritime Bettstatt nebst den dazugehörigen Laken weitestgehend ungelüftet und mitsamt aller ihnen anhaftenden nächtlichen Körperausdünstungen verschnürt und verstaut wurde.

So stellte das abendliche Öffnen und Aufzurren der Hängematten für Thies’ überempfindliche Nase eine wahre Tortur dar, weswegen er es sich schon in den ersten Tagen auf der Gorch Fock zur Angewohnheit gemacht hatte, so lange wie möglich an Deck herumzutrödeln. Erst wenn er den zweiten oder dritten »Anpfiff« des Wachhabenden kassiert hatte, endlich unter Deck zu verschwinden, ging er hinunter.

Dies ersparte ihm außer dem allerschlimmsten Teil der Gerüche auch die lästige Suche nach der richtigen Hängematte, die mit einer aufgemalten Nummer ihrem jeweiligen Nutzer zugeordnet war. Meistens lag, wenn Thies eintraf, nur noch seine eigene am Boden.

Allerdings war dann, um sie aufzuspannen, nur noch ein Platz am Gang zu bekommen, wo einem die nie erlöschende Notbeleuchtung ins Gesicht schien und beim Wachwechsel reger Durchgangsverkehr herrschte. Immerhin war hier, zumindest theoretisch, auch etwas bessere Luft zu erwarten als hinten in der Ecke, weil die Bullaugen nur im Hafen geöffnet werden durften.

Thies Hansen und Peer Rademacher waren zu Beginn ihres Lehrganges auf dem Schulschiff in die Backbord-Wachhälfte der 1. Division und in die Untergruppe der 6. Korporalschaft eingeteilt worden. Das bedeutete, dass sie ebenfalls gemeinsam im mittleren der drei Backborddecks untergebracht waren.

Als Thies an diesem Abend dort ankam, turnte Peer gerade in seine Hängematte. Auch er schien einen Platz am Gang zu bevorzugen, obwohl er immer einer der Ersten war, die ihre Matten aufspannten, vielleicht weil er aus alter Gewohnheit die Nachbarschaft seines Freundes suchte.

»Sag mal, was treibst du abends eigentlich immer noch so lange?«, fragte er auch prompt.

»Hab noch ein bisschen frische Luft geschnappt«, antwortete Thies und war froh, damit halbwegs bei der Wahrheit bleiben zu können.

Rasch kniete er sich auf den Boden und rollte seine Matte auseinander, darauf bedacht, nicht allzu viel von dem beißenden Schweißgeruch einzuatmen, der ihm aus seinem eigenen Bettzeug entgegenschlug. Trotzdem bekam er einen halben Hustenanfall. Verdammtes Weichei, schalt er sich selber, reiß dich gefälligst zusammen!

»Jedenfalls schade, dass du vorhin nicht auf der Pier warst«, fuhr Rademacher fort und gähnte herzhaft. »Tanja war ganz heiß drauf, dich meinem Vater vorzustellen!«

Thies zuckte die Achseln und wollte gerade etwas antworten, als von weiter hinten im Deck die genervte Stimme eines ihrer Kameraden zu hören war. »Ey, ihr Penner!«, grummelte er. »Da war Ruhe im Schiff!«

»Genau!«, schaltete sich nun auch Martin Kaminski ein, der ebenfalls in ihre Korporalschaft eingeteilt war. »Es sei denn natürlich, wir kriegen zu hören, was die OA Behnke sonst noch so heiß macht.« Sein grinsendes Gesicht tauchte über der Kante seiner Hängematte auf. »Jetzt sag schon, Rademacher? Will sie’s mehr auf die Harte, oder steht sie bloß auf Blümchensex?«

Kaminski stammte aus dem tiefsten St. Pauli, was man nicht nur an seiner Art zu sprechen merkte, sondern auch ein wenig an seinem Aussehen. Seine linke Schulter und der linke Arm waren mit einem flächendeckenden Tribal tätowiert, und die schwarzen Haare hatte er in bester Kiez-Manier nach hinten gegelt. Das sollte eigentlich cool wirken, sah aber auch ein wenig schmierig aus, vor allem dann, wenn er wie in diesem Moment seine erschreckend schlechten Zähne entblößte.

»Pass gut auf, was du sagst, Meister!«, knurrte Peer und richtete sich bedrohlich in der Hängematte auf. »Sonst komm ich rüber!«

Rademacher und Kaminski, das passte überhaupt nicht! Kiez und Elbchaussee prallten da aufeinander, und es war nicht das erste Mal, dass Kaminski eine anzügliche Bemerkung über Peer und Tanja vom Stapel gelassen hatte.

Auch was die Stimmungslagen seiner Mitmenschen anging, hatte Thies hierfür feinere Antennen. Manchmal war das recht aufschlussreich, meistens jedoch hätte er herzlich gerne auf dieses Extra verzichtet. Die Emotionen und Konflikte anderer so klar und deutlich mitzuempfinden machte es verdammt schwer, sich nicht mit reinziehen zu lassen. Sich davon abzugrenzen kostete noch einmal zusätzlich Kraft.

»Ach Jungs, jetzt kommt mal wieder runter!«, seufzte er daher müde und hängte, ohne großartig darüber nachzudenken, an: »Oder hat der Decksmeister recht, dass man sich mit euch nur blamieren kann?«

»Wieso blamieren?«, fragte Kaminski.

»Hat er gesagt.« Thies zuckte die Achseln und begann, den Fußgurt seiner Hängematte strammzuzurren. »Allerdings hat er das wohl mehr in Bezug auf die Kutterregatta an diesem Wochenende gemeint.«

»Hä? Wieso? Die Kieler-Woche-Regatta ist doch eh nur ein Spaß für Römer? Was genau hat der Schmadding gesagt?«

Im Seemannsjargon war Schmadding die inoffizielle Bezeichnung für einen Decksmeister, und als Römer wurden im Mannschaftsslang die Offiziere tituliert.

»Scheiße! Könnt ihr das nicht morgen bequatschen?«, quengelte der Kamerad von weiter hinten.

»Piss dich nicht an, Alter!«, knurrte Kaminski. »Ich will das jetzt wissen! Schieß los, Hansen!«

Thies zuckte die Achseln. Eigentlich hatte er die Sache nicht für weiter erwähnenswert gehalten, aber jetzt konnte er genauso gut auch noch den Rest erzählen. »Also, wenn ich das richtig verstanden habe, hat bisher immer ein Gorch-Fock-Kutter an der Regatta teilgenommen, wenn dieser Dampfer zur Kieler Woche hier war. Aber dieses Jahr kriegt der Decksmeister nicht genug Offiziere und Portepees zusammen, weil die meisten von denen vor der Reise noch mal ein freies Wochenende haben wollen.«

Mehrere andere neugierige Gesichter tauchten nun aus der Horizontalen auf, darunter auch das von Achim Weber, dem Vertrauensmann.

»Also hat ihm der IO vorgeschlagen, doch ein paar Mannschaften oder OAs dazuzunehmen ... Und da hat er gesagt, dass er das nicht macht, weil er sich mit uns blamieren würde.«

»Was für ein Arschloch!«, entfuhr es Kaminski. »Da lassen wir uns monatelang von ihm übers Deck hetzen, und dann sind wir ihm nicht mal gut genug, um einen Scheißkutter zu segeln! Hast du das gehört, Opa?«

»Opa« war Webers Spitzname, was wohl damit zusammenhing, dass er der Decksälteste war, vielleicht aber auch mit seiner veritablen Stirnglatze, von der er durch eine millimeterkurze Rasur des verbliebenen Haarkranzes abzulenken versuchte.

»Nun mach mal halblang«, brummte Weber missmutig. »Jeder weiß doch, wie der Schmadding tickt. Was willst du dagegen tun?«

»Ihm das verdammte Gegenteil beweisen!«, fauchte Kaminski zurück, der nun richtig in Rage zu kommen schien. »Indem wir bei der Kutterregatta mitmachen und gewinnen!«

»Superidee, Kaminski. Hat bloß zwei klitzekleine Schönheitsfehler«, stichelte Peer. »Erstens ist die Regatta schon morgen, und zweitens ... Wenn Gierke derjenige ist, der die Kuttercrew auswählt und er dich nicht haben will, hast du dummerweise schon verschissen!«

»Und du Heißdüse hast dummerweise null Ahnung, wie’s hier an Bord abläuft!«, fauchte Kaminski zurück. »Ich wette mit dir um deine verdammte Bordzulage, dass ich den Schmadding rumkriege.«

Diese Behauptung löste ein erstauntes Murmeln im Deck aus. Die monatliche Bordzulage betrug immerhin knapp zweihundert Euro. Kaminski musste sich seiner Sache also ziemlich sicher sein.

»Das ist ’ne Menge Holz«, gab Peer zu bedenken. »Ich meine eher für dich und weniger für mich!«

»Scheiß drauf, ich verliere eh nicht!«, entgegnete Kaminski, und setzte cool hinzu: »Sonst würde ich ja wohl kaum wetten wollen, oder? Also, was ist jetzt?«

Peer überlegte. Dann begann er zu grinsen und streckte die Hand aus. »Na schön, gemacht! Aber wenn ich blechen muss, will ich mit in dem ollen Kutter sitzen, kapiert? Und mein Kumpel Hansen auch!«

»Hör mal, Peer ...«, sagte Thies. Er war weder scharf darauf, in die Sache hineingezogen zu werden, noch in einem für seinen Geschmack kreuzlangsamen, völlig antiquierten Boot wie einem Marinekutter eine Regatta segeln zu müssen.

»Doch, doch!«, antwortete Peer bestimmt. »Du hast die Sache schließlich aufgerissen! Außerdem bist du vermutlich der Einzige auf diesem Kahn, der halbwegs Ahnung vom Wettsegeln hat.«

Dem konnte Thies allerdings schlecht widersprechen. Na schön, dachte er und zuckte die Achseln. Fragend sah er zu Kaminski hinüber.

»Von mir aus, wenn ich gewinne, seid ihr dabei!«, erklärte der und schlug ein. »Hast du gehört, Opa? Eine Monatszulage vom Millionärssöhnchen ... Du bist mein Zeuge!«

»Schon klar!«, sagte Weber und nickte. »Aber jetzt verrat mal, wie du den alten Gierke rumkriegen willst?«

Zufrieden kämmte Kaminski sich mit der Hand das Haar nach hinten. »Das werdet ihr sehen! Gleich morgen früh!«

*

Wenn um sechs Uhr früh das Locken der Bootsmannspfeifen die Mannschaft der Gorch Fock aus den Kojen rief, war es beinahe so, als erwachte ein eigenes, kleines Dorf zum Leben, mit Bewohnern, die unterschiedlichen Gewerken und Berufen nachgingen.

Da waren zum Beispiel die Handwerker wie der Schiffszimmermann und seine Gehilfen, der Segelmacher, ein Friseur, der Bäcker, der um diese Zeit bereits sein Tagewerk erledigt hatte, und natürlich die sechs Köche, die in der winzigen Kombüse mehrmals täglich Essen für zweihundertzwanzig hungrige Mäuler zuzubereiten hatten.

Es gab die Mechaniker und Elektroniker, die unter der Leitung des Schiffstechnischen Offiziers, kurz StO, die Maschine, die Generatoren, die Pumpen, Wasserbereiter und die sonstigen mechanischen und elektrischen Anlagen der Gorch Fock warteten, und natürlich die seemännischen Gewerke, zu denen die Decksmeisterei von Hauptbootsmann Gierke gehörte, aber auch die Navigation oder die Funkerei.

Es gab den Schiffsarzt im Rang eines Oberstabsarztes, der in seiner kleinen Praxis mit der angeschlossenen Krankenstation alle Arten von Krankheiten und Verletzungen behandelte. Bei Bedarf waren er und seine beiden Sanitätsgehilfen sogar in der Lage, kleinere Operationen an Bord durchzuführen.

Dann war da natürlich die »Schule«, der das Schiff seinen Namenszusatz verdankte, deren Lehrer aus den Reihen der Offiziere und Unteroffiziere stammten, und ihre Schüler, die Kadetten, die hier in einem Dutzend unterschiedlicher Fächer unterwiesen wurden.

Wie anderswo an Land musste es auch an Bord der Gorch Fock Buchhalter und Kaufleute geben. Der Zahlmeister war zuständig für sämtliche finanziellen Belange des Schiffes. Der Proviantmeister, dem auch die Kombüse unterstand, hatte durch umsichtige Vorratshaltung und unter Berücksichtigung der Speisepläne dafür zu sorgen, dass stets alle Lebensmittellasten gefüllt waren und die Besatzung auch auf der längsten Seereise genug zu essen und zu trinken bekam. Und dem Schiffsversorgungsmeister oblag die Beschaffung sämtlicher nicht essbarer Nachschubwaren, also alles von der Büroklammer bis zur Seenotfackel, was vor allem im Ausland oft eine nicht zu unterschätzende logistische Herausforderung darstellte. Es gab sogar einen richtigen kleinen Dorfladen, die sogenannte Kantine, an deren Verkaufstresen die Besatzung sich mit all den kleinen Annehmlichkeiten eindecken konnte, die das Seemannsherz begehrte: Süßigkeiten, Getränke und Kartoffelchips, DVD-Filme, Batterien, Zahnpasta, Shampoo und andere Hygieneartikel, bis hin zu den allseits beliebten Gorch-Fock-Souvenirs. Postkarten, Aufkleber, Mützenbänder oder die mit der Silhouette des Schulschiffs gravierten Zippo-Feuerzeuge waren die heimlichen Renner in einem erstaunlich vielfältigen Sortiment.

Schlussendlich gab es noch den unvermeidlichen Verwaltungsapparat, ohne den kein Gemeinwesen existieren kann und der dafür sorgte, dass alles in geordneten Bahnen funktionierte.

Im Sinne dieser Ordnung hatte man die Besatzung nach einem nicht ganz unkomplizierten System in Divisionen, Wachhälften und Korporalschaften aufgeteilt.

Die vier Wachhälften, Steuerbord I und II sowie Backbord I und II, hatten im steten Wechsel den Wachdienst zu versehen. Auf See gehörte dazu die Bemannung des Ruders, der Position des Läufers und der beiden Ausguckposten im Bug und im Heck, ferner die sogenannte stehende Segelwache, die bei Bedarf einzelne Segel zu setzen, zu trimmen oder zu bergen hatte.

Große, personalaufwendige Manöver wie das An- und Ablegen, das Setzen und Bergen aller Segel, Wenden und Halsen oder auch die immer wieder durchexerzierten Mann-über-Bord-Übungen wurden ausschließlich mit »allen Mann an Deck« gefahren, also mit allen vier Wachhälften gemeinsam.

Ein ausgefeilter Wachplan, die sogenannte Wachroutine, regelte, welcher Offizier, welche Unteroffiziere, welche Wachhälfte und welche Korporalschaft für die jeweiligen Aufgaben zum Einsatz kam. Mit der Aufstellung dieser Pläne war die Wachtmeisterei betraut, die sich auch um sämtliche anderen Personalangelegenheiten wie zum Beispiel Urlaube oder Krankschreibungen zu kümmern hatte. Der Wachtmeister war in der Regel der dienstälteste Unteroffizier und direkt dem Ersten Offizier unterstellt. Dieser wiederum war gleichzeitig oberster Disziplinarvorgesetzter der Besatzung und damit auch der Chef der gesamten Bordverwaltung.

Der Kommandant, der als Kapitän zur See den höchsten militärischen Rang an Bord bekleidete, hatte mit alledem nur wenig zu tun. Er sollte seine volle Aufmerksamkeit den nautischen Belangen der Schiffsführung widmen können, dem Kurs des Schiffes und der Sicherheit der ihm anvertrauten Besatzung.

Inzwischen zeigte die Uhr kurz vor sieben, und das Leben an Bord war bereits in vollem Gange.

Thies saß in einer Ecke der Messe und versuchte zu frühstücken, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. Um diese Uhrzeit verspürte er meist noch keinen Appetit. Außerdem war er besonders dünnhäutig.

Das allmorgendliche Geschiebe an der Essensausgabe oder das Geruchsgemisch aus aufdringlichen Aftershaves, bitterem Kaffee und angebranntem Toast wären vielleicht noch zu verschmerzen gewesen. Was ihm jedoch besonders zu schaffen machte, war der hohe Geräuschpegel, eine Kakophonie aus dem Klappern der Pickblech genannten Metalltabletts, die gleichzeitig Unterlage und Teller waren, aus dem Schaben und Quietschen der Bestecke darauf, dem Geplapper und Geschmatze der Kameraden beim Frühstück sowie dem stetigen Husten der auffällig vielen Raucher, die meist schon auf nüchternen Magen ihre ersten »Lunten« an Oberdeck durchgezogen hatten.

Das einzige Mittel, das Thies dem entgegenzusetzen hatte, waren die wattierten Ohrknöpfe seines Walkmans, die er sich tief in dieÖffnung der Gehörgänge gestopft hatte. Nicht, um damit tatsächlich Musik zu hören – bei dieser Hintergrundlautstärke hätte das die Sache nur noch schlimmer gemacht – sondern lediglich als Schallschutz. Zusätzlich hatte er sich mit dem Rücken zum Raum in die hinterste Ecke gesetzt.

So bemerkte er allerdings auch nicht, dass die Messe an diesem Tag seltsamerweise weit weniger frequentiert war als sonst um diese Zeit.

»Moin, Thies!« Er hob den Kopf. Es war Tanja, die plötzlich mit ihrem Tablett vor ihm stand. Ihr Haar war noch nass vom Duschen, und ihr Lächeln war frisch und ausgeschlafen. »Was hörst’n da Schönes?«, erkundigte sie sich, als sie ihm gegenüber am Tisch Platz nahm.

»Ach, nix!« Rasch ließ Thies die Ohrstöpsel in der Tasche verschwinden, bevor Tanja bemerken konnte, dass an den Zuführkabeln gar kein Gerät hing.

»Hast du’s nicht mitbekommen? Der bekloppte Kaminski hat den Gierke zu einem Duell herausgefordert! Deswegen sind die meisten von uns auch schon oben an Deck.«

»Ein ... Duell?« Thies hätte sich beinahe verschluckt. Er sah sich um und bemerkte erst jetzt, wie leer die Messe war.

»Offenbar irgendeine Art von Wette. Peer muss sich das natürlich auch unbedingt ansehen!«

»Ich muss los!«, entfuhr es Thies. Hastig stopfte er sich den Rest seines Brötchens in den Mund und spülte mit einem halben Becher lauwarmen Kaffees nach. »Sorry, dass ich dich so sitzen lasse, aber ...«

Tanja schüttelte nachsichtig den Kopf. »Ist schon okay. Lass dein Tablett ruhig stehen, ich räum’s nachher mit weg!«

»Danke!«

Drei Stufen auf einmal nehmend hastete Thies den Niedergang hinauf, sprang nach Steuerbord aus dem Mittelgang heraus an Deck und lief zum Großtopp.

Dort hatte sich trotz der frühen Stunde tatsächlich bereits eine kleine Zuschauermenge eingefunden, darunter auch einige Maate und der Unteroffizier vom Dienst. Kaminski und der Decksmeister standen in der Mitte der Versammlung am Großmast. Beide trugen einen Klettergurt, wie er zur Arbeit in der Takelage vorgeschriebenen war.

Vom Steuerstand in der Backbordnock aus beobachteten auch der Kommandant, der IO und einer der Divisionsoffiziere das Geschehen, womit das »Duell« – um was immer es dabei gehen mochte – anscheinend von höherer Stelle sanktioniert worden war. Zwar galten an Bord der Gorch Fock sehr strikte Regeln, die potentiell gefährliche Spielereien aller Art untersagten, aber in diesem Fall schien man eine einmalige Ausnahme zu machen.

Das stellte in diesem Augenblick Kapitän Stoppenkamp auch noch einmal unmissverständlich klar: »Was Hauptbootsmann Gierke und der Obergefreite Kaminski jetzt zeigen«, rief er durch eine der Flüstertüten, die normalerweise bei den Segelmanövern zum Einsatz kamen, »dient für Sie alle ausschließlich zu Anschauungszwecken – und ist ausdrücklich NICHT zur Nachahmung freigegeben! Verstanden?«

Ein halblautes »Jawoll, Herr Kap’tän!« hallte über Deck.

Trotz des strengen Hinweises schien der Kommandant doch einen gewissen Spaß an der Sache zu haben. Selbst aus der Distanz konnte Thies die vergnügten Lachfältchen um seine Augen und das Schmunzeln unter dem grauen Bart erkennen.

»Also gut, der Decksmeister fängt an!«, rief Stoppenkamp und hob demonstrativ seine Stoppuhr. »Auf mein Kommando ...«

Ehrfürchtig wich die Menge auf dem Mitteldeck auseinander und öffnete eine Gasse, die vom Großmast bis zu den Steuerbordwanten reichte.

»Drei, zwei, eins ... los!«

Wie ein geölter Blitz sauste Gierke los, sprang auf die Steuerbordnagelbank und schwang sich in die Webleinen. Gejohle und anfeuernde Rufe wurden laut, aber die brauchte es eigentlich nicht. Es war kaum zu glauben, wie behände der rundliche, ansonsten oft so jovial und gemütlich wirkende Endvierziger war. Und mit welchem Tempo er kletterte! Die Bewegungen seiner Arme, mit denen er nach den senkrecht laufenden Wanten griff, ähnelten denen eines Sprinters, und das Stakkato seiner Füße schien die waagerecht gespannten Tauwerkstritte kaum zu berühren. Alleine vom Zusehen konnte einem da schwindelig werden!

»Was soll das werden?«, fragte Thies, als er sich an Peer herangearbeitet hatte.

»Kaminski hat behauptet, er könnte schneller zum Kommandantenstander klettern und wieder zurück als der Gierke«, antwortete Rademacher, ohne den Kopf aus dem Genick zu nehmen.

Der Kommandantenstander war der Wimpel, der an der Spitze des Großmastes wehte. Thies schüttelte ungläubig den Kopf. Natürlich war ihm klar, worum es bei dieser Wette ging. Die Kutterregatta! Kaminski hatte ja angekündigt, dass er den Decksmeister »überzeugen« wollte.

»Wenn Kaminski gewinnt, gibt es einen Kutter aus der Mannschaft?«, fragte er.

»Hmm«, machte Rademacher und nickte.

»Und wenn nicht?«

»Darf Gierke sich was Fieses für ihn ausdenken. Was, das hat der noch nicht gesagt, aber Kaminski wird garantiert wenig Freude daran haben.«

»Was für eine schwachsinnige Idee!«, entfuhr es Thies.

»Das kannst du laut sagen, Hansen!«, stimmte Achim Weber zu, der in ihrer Nähe stand. »Martin hat null Chance. Der Schmadding selber hält nämlich den Rekord! Zwei Minuten, zweiunddreißig Sekunden! Und das schon seit über zwölf Jahren. Da war er noch Obermaat. Seitdem hat das niemand anders geschafft!«

Tatsächlich war das Tempo, mit dem Gierke aufenterte, atemberaubend. Er hatte bereits die Bramsaling erreicht, jene fiese, überhängende Stelle, die Thies noch jedes Mal zu schaffen gemacht hatte.

Aber im Gegensatz zu ihm wurde der Decksmeister nicht einmal hier langsamer. Wie ein Affe schwang er sich um die auskragende Kante der Plattform herum und nahm den letzten, gefährlich schmalen Teil der Strickleiter in Angriff. Dass diese unter seinen Fäusten und Füßen bedrohlich zitterte und sich seitlich verdrehte, schien ihn dabei nicht im Geringsten zu stören. Stur behielt er seinen Rhythmus bei.

»Wahnsinn!«, entfuhr es einem der Offiziersanwärter, der neben ihnen stand.

»Eine Minute zehn!«, rief Obermaat Baumjohann aus. Der schwergewichtige Mann war einer der Smutjes der Gorch Fock und stand unverkennbar auf Seiten des Decksmeisters. »Gib Gas, Nobby!«, schrie er durch die hohle Hand nach oben.

Gierke hatte in diesem Moment das Ende der Strickleiter erreicht und streckte die Hand nach dem schmalen, träge in der Morgenflaute hängenden Wimpel aus. Eine kurze Berührung, und schon war er wieder auf dem Weg nach unten. Ein paar der Unteroffiziere, die natürlich ebenfalls zu ihrem älteren Kollegen hielten, applaudierten und johlten euphorisch.

Thies riskierte einen Blick zu Kaminski hinüber, der inzwischen seinen Standort gewechselt hatte, um seinen Kontrahenten von unten besser sehen zu können. Sein Gesicht war blass, aber konzentriert.

Kaminski war Toppsgast, was bedeutete, dass er regelmäßig für Arbeiten in der Takelage eingesetzt wurde und nicht nur zum Segelsetzen oder Bergen hinaufklettern musste. Aber ob er der überragenden Leistung des Decksmeisters wirklich etwas entgegenzusetzen hatte, bezweifelte Thies dennoch stark.

»Zwei Minuten!«, rief der Smut begeistert. »Das gibt einen neuen Rekord!« Das runde Gesicht des Hundertzwanzig-Kilo-Küchenbullen leuchtete knallrot unter dem kurzen blonden Stoppelhaarschnitt und war mindestens so verschwitzt wie das des Decksmeisters, der dort oben in schwindelerregender Höhe tatsächlich eine sportliche Höchstleistung vollbrachte.

Als Gierke auf dem Abstieg die Marssaling passierte, ging ein Aufschrei des Entsetzens über Deck. Für einen Moment hatte der Hauptbootsmann den Tritt verloren und baumelte nur noch an einer Hand in den Wanten. Doch dann fanden seine Füße die nächste Webleine, und die Schrecksekunde war genauso schnell wieder ausgestanden. Lediglich ein paar Sekunden Zeit hatte Gierke eingebüßt.

Augenblicke später hatte er auch das unterste Stück der Wanten absolviert, sprang mit einem gewaltigen Satz von der Nagelbank an Deck und rannte die letzten Meter zum Großtopp. Als er dort mit der flachen Hand auf den runden Stahl des Mastes schlug, brandeten ringsum Jubel, Pfiffe und Applaus auf. Einige der Maaten ließen es sich nicht nehmen, »ihrem Mann«, der vornübergebeugt und keuchend neben dem Mast stand, begeistert auf den Rücken zu klopfen. Selbst Thies, der normalerweise bei diesem Lärm das Gesicht verzogen hätte, ließ sich von der allgemeinen Euphorie anstecken und klatschte mit Beifall.

»Die Zeit ...«, verkündete Stoppenkamp von der Nock aus, »... die Zeit von Hauptbootsmann Gierke beträgt zwei Minuten vierundvierzig!«

Ein anerkennendes Raunen ging durch die Menge. Der Decksmeister hatte zwar seinen alten Rekord verfehlt, aber dennoch eine Zeit vorgelegt, die wohl niemand mehr dem rundlichen, leicht übergewichtigen Endvierziger zugetraut hätte. Der ballte nun triumphierend die Faust, und die Blicke, die er in die Runde warf, sprachen Bände.

Er hatte es allen gezeigt, Vorgesetzten wie Untergebenen! Er war nach wie vor der unumstrittene Chef an Deck und in der Takelage!

»Und jetzt der Obergefreite Kaminski!«, ließ der Kommandant sich vernehmen.

Es wurde wieder leiser, und Kaminski ging zum Startpunkt am Großtopp. Noch einmal strich er sich mit beiden Händen die gegelten Haare nach achtern, dann beugte er sich nach vorne in Starthaltung.

»Auf mein Kommando ... Drei, zwei, eins, los!«

Auch Kaminski sauste mächtig los und wurde noch deutlich lauter angefeuert als der Decksmeister vor ihm, aber schon nach einer Minute war klar, dass er dessen unglaubliches Tempo nicht wiederholen konnte.

Auf Höhe der Bramsaling waren es bereits fünf Sekunden, die ihm fehlten, und beim Anschlagen oben am Kommandantenwimpel mehr als zehn.

»Scheiße! Was hab ich gesagt!«, entfuhr es Weber. »Der Idiot hat keine Chance!«

Gleichzeitig wurden die Anfeuerungsrufe aus der Segelcrew und von den OAs lauter und drängender.

»Komm schon, Kaminski, du schaffst das!«, schrie Peer direkt neben Thies, so dass dieser nicht nur die Finger ins Ohr stecken musste, sondern sich auch wunderte, dass sein Freund auf einmal so lautstark zu seinem Intimfeind hielt.

»Zwei Minuten!«, konstatierte Weber. »Zu dem Zeitpunkt war Gierke schon zehn Meter weiter unten!«

Auch Kaminski schien zu wissen, dass er auf der Verliererstraße war, denn als er die Marssaling erreichte, hielt er unvermittelt inne. Doch wie sich bereits in den nächsten Sekunden zeigen sollte, dachte er keinesfalls daran, sich geschlagen zu geben!

Er hatte sich lediglich nach der richtigen Pardune umgesehen, wie die seitlichen nach hinten führenden Abspannungen des Mastes genannt wurden. Sie waren nicht wie die Wanten mit Webleinen verknüpft, sondern liefen frei nach unten. Kaminski zögerte noch einen winzigen Augenblick, in dem er zu ihnen nach unten an Deck starrte, dann trat ein wildes Grinsen in sein Gesicht, und er klickte sich mit dem Karabinerhaken seines Klettergurtes in die innerste Pardune ein. Ein nervöser Aufschrei ging über Deck, als die Zuschauer erkannten, was er vorhatte.

Dann sprang er!

Oder besser gesagt: Er rutschte.

Die Pardune führte nicht senkrecht, sondern in einem Winkel von fünfundzwanzig Grad nach unten. Sonst hätte es Kaminski kaum geschafft, die rasende Geschwindigkeit, mit der er abwärts sauste, durch das Verkanten des Karabinerhakens und seinen um das geteerte Tau geschlungenen Takelschuhen einigermaßen abzubremsen. Aber auch so war sein Aufschlag auf der Nagelbank, nur Sekunden, nachdem er oben vom Rand der Saling aus den »Ritt« in die Tiefe angetreten hatte, noch von brutaler Härte. Mit einem lauten »Uff« entwich die vor Anspannung in seine Lungen gepresste Luft.

Doch zur allgemeinen Erleichterung kam Kaminski sofort nach der Landung wieder auf die Beine, löste den Karabinerhaken und legte scheinbar unbeeindruckt die letzten Meter an Deck zurück. Sein unbändiger Siegesschrei, den er beim Anschlagen mit der Hand am Großmast ausstieß, ging fast unter im allgemeinen Freudentaumel der Mannschaften und OAs, denn einer von ihnen hatte es doch tatsächlich geschafft, den Decksmeister auszustechen.

»Das hätte ich auch hingekriegt!«, entfuhr es Peer.

»Was? So zu klettern?«

»Nein, die Nummer mit dem Runterrutschen!«

Thies hatte gesehen, dass Peer ein Ass an der Kletterwand war, als sie in Flensburg nach Dienstschluss einmal gemeinsam in einem Freizeitpark gewesen waren. Trotzdem musste er lachen.

»Na klar, Herr Großmaul!«

»Pssst!«, machte Weber, der bemerkt hatte, dass der Kommandant Schweigen gebietend die Hand gehoben hatte.

»Die Zeit des Obergefreiten Kaminski lautet ...«, Stoppenkamp vergewisserte sich nochmals rasch bei von Doberan an seiner Seite, dass er sich auch nicht geirrt hatte, »... zwei Minuten und neununddreißig Sekunden!«

WINDSTÄRKE 2

Kleine Wellen, noch kurz aber ausgeprägter. Kämme glasig, aber brechen nicht.

Leichte Brise – schwach gekräuselte See

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Ein Marinekutter war ein ziemlich altmodisches, offenes Boot von gut acht Metern Länge und zweieinhalb Metern Breite, das wahlweise gerudert oder gesegelt werden konnte. Mit seinem rundlichen Bug, dem platten Heck und dem achtern angehängten Steuerruder kam es nicht gerade schnittig daher und war mit annähernd zwei Tonnen Gewicht zudem auch noch ziemlich schwer. Immerhin war es erstaunlich seetüchtig, was wohl darauf zurückzuführen war, dass diese Bootsgattung ursprünglich als Rettungsboot und Verbindungsmittel von Schiff zu Schiff oder zum Land gedient hatte. Inzwischen aber waren die Kutter auf der Gorch Fock und den meisten anderen Marineschiffen durch leichtere oder zumindest ausreichend motorisierte Beiboote ersetzt worden. Ihr einzig verbliebener Nutzen lag in der Ausbildung des seemännischen Nachwuchses, was natürlich die gelegentliche Teilnahme an Segeloder Ruderwett-kämpfen einschloss.

Zum Rudern oder »Pullen«, wie man in der Marine sagte, wurden ein Mann am Steuer benötigt und zehn an den Riemen, die paarweise auf den fünf Sitzduchten saßen. Zum Segeln konnten zwei gaffelgetakelte Masten aufgeriggt werden, an denen knapp 25 Quadratmeter Tuch gesetzt wurden. Das war eher wenig für ein Boot dieser Größe, und so segelte man aus Gewichtsgründen meist mit einer kleineren Crew. Damit sich bei der Kutterregatta der Kieler Woche diesbezüglich niemand einen Vorteil verschaffte, indem er bei dem vorhergesagten leichten Wind nur mit drei oder vier Mann an Bord ging, hatten die Organisatoren eine Mindest-Crewstärke von neun Mann festgelegt.

Gemeldet hatten sowohl Marineeinheiten als auch Zivilisten aus diversen Segelvereinen und Marinekameradschaften. Auch ein paar befreundete ausländische Mannschaften von den russischen oder ukrainischen Großseglern zählten zum Starterfeld ebenso wie ein gutes halbes Dutzend Jugendmannschaften, die mit eigenen, ihren Vereinen gehörenden Jugendwanderkuttern angereist waren. Von diesen abgesehen wurden alle anderen teilnehmenden Boote von der Marine gestellt und vor den Wettfahrten durch Losentscheid den Mannschaften zugeteilt.

Der Begriff »Mannschaft« gefiel Thies. Irgendwie war er im Fall des Gorch-Fock-Kutters besonders zutreffend.

Kaminski, Weber und vier weitere Jungs waren allesamt Mannschaftsdienstgrade, genau wie Rademacher und er selber, nur dass bei ihnen noch der Zusatz OA für Offiziersanwärter hinzukam. Von den höheren Diensträngen war nur ein einziger auf dem Kutter vertreten – und das war nicht Hauptbootsmann Gierke!

Nach Kaminskis Coup, sich an der Pardune abzuseilen, hatten der Decksmeister und einige andere Unteroffiziere lautstark Protest eingelegt und gefordert, der Obergefreite müsse wegen »unsportlichen Verhaltens« disqualifiziert werden.

Aber der Entscheid des Kommandanten war ebenso klar wie salomonisch: Der alte Rekord des Decksmeisters würde selbstverständlich auch weiterhin gelten, da dieser ja auch nicht von Kaminski unterboten worden war. Falls es jedoch in Zukunft jemals wieder zu einem ähnlichen Vergleich käme, sollte allerdings nur noch geklettert und nicht mehr gerutscht oder gesprungen werden dürfen. Den aktuellen Wettbewerb aber hatte, da keine anderslautenden vorherigen Absprachen getroffen worden waren, der Obergefreite Kaminski gewonnen.

Somit konnte der Regattakutter der Gorch Fock zum ersten Mal mit Mannschaften und Offiziersanwärtern bestückt werden. Es gab lediglich zwei Auflagen. Zum einen musste auf dem Kutter Uniform getragen werden – schließlich handelte es sich um eine dienstliche Veranstaltung! –, und zum anderen hatte aus formellen Gründen ein höherer Dienstgrad als Kutterführer und Steuermann zu fungieren.

Ein wenig verschnupft über diese Entscheidung, hatte Gierke erklärt, für einen »Matrosenkutter« stünde er nicht zur Verfügung, und der Kommandant war weise genug, ihn nicht per Befehl dazu zu verdonnern. Alles Weitere überließ Stoppenkamp seinem Ersten Offizier, der kurzerhand Kaminskis Korporalschaftsführer zum Kuttersteuermann bestimmte.

Obermaat Krichlin, ein muskelbepackter Mann mit vierschrötigem Gesicht und dichtem Schnauzbart, war nicht unbedingt das, was man einen erfahrenen Regattasegler nennen konnte. Seinen letzten Segelschlag in einem Marinekutter hatte er während seines Unteroffizierslehrganges auf dem Plöner See absolviert. Was ihn in den Augen des IO weit mehr dafür prädestinierte war die Tatsache, dass Krichlin, obwohl er keinen Wachdienst hatte, das Wochenende ohnehin an Bord verbringen würde.

Über die restlichen sieben Kutterfahrer durfte der Klettersieger bestimmen. Und wer Kaminski kannte, der wusste, dass auch dabei die Auswahl nicht auf Grund seglerischer Qualifikation getroffen wurde, sondern ausschließlich danach, wer sein Spezi war.

Thies sah sich in ihrem Kutter um.

Weber gehörte natürlich zu diesem erlauchten Kreis, obwohl der ruhige, allseits beliebte Vertrauensmann vom Typ her gänzlich anders gestrickt war als sein Freund Kaminski. Dafür passten Lutz Teichmann und Marcel Frentzen, zwei Gefreite aus ihrer 6. Korporalschaft, umso mehr ins Bild. Teichmann stammte ebenfalls aus Hamburg-St. Pauli, und sprach im selben Altonaer Slang wie Kaminski, der eine krude Mischung aus dem hanseatisch feinen »Über’n-spitzen-Stein-Stolpern« und der weitaus derberen Sprache der Reeperbahngegend war. Und Frentzen, ein untersetzter, pausbäckiger Bursche aus dem Sauerland, stand Kaminski in puncto Sprüche klopfen und Kameradenlästerei in nichts nach. Bisher hatte Thies wenig Anlass gesehen, einen von ihnen besonders sympathisch zu finden.

Die letzten beiden Crewmitglieder kannte Thies noch nicht näher. Der Hauptgefreite Sebastian Lechner stammte aus dem tiefsten Bayern und war ursprünglich nur für ein kurzes Segelmacherpraktikum in den hohen Norden gekommen. Dann aber war er gleich für seine gesamte Lehrzeit dort geblieben und anschließend zur Marine gegangen. Er war ein stämmig gebauter, zumeist wortkarger Typ mit kurzem Stoppelhaarschnitt, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Ein typisch bayrisches Gemüt eben, dessen stark ausgeprägter Dialekt bisher kaum unter seinem Aufenthalt im Norden gelitten hatte. An Bord des Schulschiffes »fuhr« er die Segelmacherei.

Und dann war da noch der Obergefreite Marco DiSturini, der kleine, spindeldürre Hilfskoch. Dessen italienische Wurzeln hatten den leitenden Smut, Obermaat Baumjohann, dazu verleitet, ihm den Spitznamen »Pizzarini« zu verpassen. Inzwischen hatte sich eine verkürzte Variante hiervon durchgesetzt, und DiSturini wurde allgemein nur noch »Pizza« oder »Pizzi« gerufen. Auch er hatte sich als Mannschaftsdienstgrad für zwei Jahre verpflichtet.

Dass Kaminski und seine Kumpels sich schon länger kannten und tatsächlich ziemlich dick miteinander waren, war auch an der flapsigen Art zu erkennen, mit der sie sich gegenseitig aufzogen und aufgekratzt ihre Begeisterung über den Kutterausflug zum Ausdruck brachten.

Selbst Obermaat Krichlin, sonst eher einer von der militärischzackigen Sorte, schien die »Klassenfahrtstimmung«, wie er sie selbst nannte, zu genießen und bei der ausgelassenen Kumpelei der sechs mithalten zu wollen, zumindest soweit ihm dies seine Rolle als Vorgesetzter gestattete.

Einzig Thies und Peer waren vorläufig noch ein wenig außen vor, zumal Kaminski vor den anderen noch einmal darauf hingewiesen hatte, dass er sie nur deswegen mit an Bord nahm, weil dies Bestandteil seiner Wette mit Rademacher gewesen war.

Thies hatte kein Problem damit. Er saß im Bug und genoss mit hinter dem Kopf verschränkten Armen das Schaukeln des Kutters und das Glitzern der Sonne auf dem Wasser. Dass es in der nächsten Zeit etwas zu tun geben würde, stand nicht zu befürchten, denn mit dem Wind war es bislang nicht allzu weit her.

Pünktlich zum offiziellen Beginn der Kieler Woche war in diesem Jahr der Sommer ausgebrochen. Das war ungewöhnlich und hatte unter alteingesessenen Kielern eine gewisse Irritation ausgelöst. Normalerweise verschlechterte sich das Wetter zu diesem Anlass mit schönster Regelmäßigkeit, und seit Jahren hatte es keine Eröffnungsfeier mehr ohne Regenschirm und Gummistiefel gegeben. Und dieses Mal sollten tatsächlich Sonnenbrille und Lichtschutzfaktor zwanzig benötigt werden? Ungeheuerlich!

Was die vielen tausend feierwütigen Landratten auf der Kiellinie, rund um die Hörn oder auf dem internationalen Markt in der Kieler Innenstadt erfreute, machte den Seglern draußen auf der Förde das Leben umso schwerer.

Am gestrigen Samstag war bei absoluter Totenflaute keine der zwei geplanten Wettfahrten zustande gekommen. Und auch am heutigen Vormittag sah es noch immer nicht viel besser aus. Hie und da ging zwar ein lauer Windstrich über die Förde, aber es war immer noch nicht genug, als dass die Wettfahrtleitung das Feld der fünfunddreißig Kutter auf den Kurs hätte schicken können.

So dümpelten sie nun schon seit über einer Stunde tatenlos nahe dem Startschiff auf und ab und ließen sich die Sonne auf den Pelz brennen. Immerhin hatten sie die leichte, khakifarbene Tropenuniform mit Shorts und kurzen Hemden anziehen dürfen, was bei der warmen Witterung einfach angenehmer war als das lange Dunkelblau der sonst üblichen Alltagsuniform.

Die Startlinie war etwa zweihundert Meter vor dem dicht an dicht mit Festzelten, Imbissbuden und Musikbühnen bepackten Hindenburgufer ausgelegt worden. Für Thies, der dem Schatten des Vorsegels hinterherrutschte, war dies genau die richtige Distanz, um die vielen unterschiedlichen Sinneseindrücke, die aus dem bunten Treiben an Land resultierten, genießen zu können. Fetzen von Musik und Stimmengewirr wehten in einer Stärke herüber, die leise genug war, um ihn nicht zu schmerzen, der Kirmesgeruch aus Grillwürstchen, gebrannten Mandeln und verschüttetem Bier war ebenfalls angenehm fern, und die Menschenmenge, die sich von einer Attraktion zur nächsten schob, konnte ihm hier draußen auch nichts anhaben. Jetzt an Land zu sein und dort mitten im Getümmel zu stecken, das wäre für ihn der blanke Stress gewesen. Alleine die Vorstellung ließ ihn erschaudern.

Seine Mitsegler empfanden natürlich genau das Gegenteil. »Wenn wir wenigstens an Land warten könnten«, maulte DiSturini, »dann könnte ich auch endlich mal wieder einen Backfisch verdrücken!«

»Pizza hat recht! Wozu sollen wir hier draußen rumhängen?«, pflichtete Frentzen bei und wandte sich an Obermaat Krichlin. »Können wir nicht einfach da drüben festmachen, solange Startverschiebung ist?«

Der Obermaat an der Pinne schüttelte energisch den Kopf. »Kommt nicht in Frage! Nachher kann ich Sie alle einzeln suchen gehen!«

»Ach was, wir bleiben einfach zusammen!«, schlug Kaminski vor. »Da drüben am Caipi-Stand liegen doch auch schon zwei Kutter!«

Jetzt meldete sich auch Rademacher zu Wort: »Coole Idee! Ich spendier auch ’ne Runde von der Bordzulage, die ich Kaminski schulde!«

Dieser Vorschlag wurde allgemein begeistert aufgenommen, und selbst Kaminski grinste schief zurück. »Okay, wenn du danach noch eine aus deiner eigenen Tasche bezahlst«, raunzte er.

Krichlins Blicke wanderten unschlüssig zum Ufer. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich mich bestechen lasse!«, erklärte er.

Bei näherem Hinsehen war ihm jedoch deutlich anzumerken, dass er hin- und hergerissen war. Einerseits hätte er selber sicher nichts gegen den einen oder anderen kühlen Drink einzuwenden gehabt, andererseits wusste er aber nicht genau, wie locker er es mit seiner Aufsichtspflicht nehmen durfte, ohne seiner Autorität als Vorgesetzter zu schaden. »Außerdem ist es noch viel zu früh, und wir sind immer noch im Dienst«, fügte er halbherzig hinzu. »Da wird nichts getrunken.«

»Na ja, bei den Bordfesten und Empfängen wird doch sonst auch ganz ordentlich was gebechert«, warf Weber ein, der bisher noch gar nichts gesagt hatte.

Frentzen nahm die Vorlage dankbar auf. »Genau! Und die Bordfeste sind doch auch immer dienstlich, oder?«

Dieses Argument gab Krichlin tatsächlich zu denken.

In diesem Augenblick ruderte mit langsamer Fahrt einer der Jugendwanderkutter an ihnen vorüber. Dessen Segel waren aufgegeit, und von den acht Riemen wurden die Hälfte von Mädchen gezogen. Auch an der Pinne stand kein Steuermann, sondern ein Steuermädchen, ein rothaariges und ausnehmend hübsches zudem.

»Die Aaaaugen ... links!«, kommandierte der Gefreite Teichmann zackig und imitierte dabei gekonnt den Tonfall von Obermaat Krichlin.

Aber auch so gab es niemanden, der im Moment in eine andere Richtung hätte sehen wollen, was von der Kutterführerin bemerkt und unter ihrer coolen Sonnenbrille mit einem breiten Grinsen quittiert wurde.

»Ey, wo wollt ihr hin?«, rief Kaminski ihr hinterher. »Der Start geht in die Richtung!«

»Aber nur für die, die keine Flaggensignale lesen können!«, parierte sie.

Kaminski drehte sich irritiert zu seinen Kameraden um.

»Wahrscheinlich meint sie die zweite Flagge unter dem Wimpel für die Startverschiebung.« Weber deutete zum Startschiff hinüber.

»Das ist H wie Hotel«, sagte Lechner und wandte sich mit fragendem Gesicht an Obermaat Krichlin. »Was heißt’n das?«

Der zuckte nur die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Ich bin Ziege und kein Feudelfunker!«

Decksziegen waren im Marineslang Soldaten der Verwendungsreihe 11, die den Decksdienst versahen, also alles vom Segeltrimmen bis zum Rostklopfen. Feudelfunker oder 27er hingegen betreuten das sogenannte Signalwesen, das alle Arten von Blink- und Schallsignalen beinhaltete, aber eben auch jene, die mit »Feudeln«, also Flaggen, übermittelt wurden.

Vom Jugendwanderkutter, der inzwischen bereits ein paar Bootslängen entfernt war, schallte deutlich vernehmbares Lachen herüber.

»Mann, ist das peinlich!«, murmelte Lechner. »Wieso hat von uns eigentlich keiner eine Peilung von so was?«

Thies, der natürlich auf Grund seiner Regattaerfahrung darüber Bescheid wusste, wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sich Kaminski bereits neben dem vorderen Mast aufbaute und lauthals dem Jugendkutter hinterher rief: »Hey, wartet mal! Wenn ihr uns sagt, was das heißt, geben wir ’ne Runde Caipis aus!«

Das Mädchen am Steuer des Jugendkutters drehte sich um und lachte hell auf. Dann beugte sie sich zu ihren Mitseglern hinunter, um den Vorschlag zu erörtern.

Als sie sich wieder aufrichtete, zeigte sie den ausgestreckten Daumen und verkündete: »Antwortwimpel über Hotel heißt: Startverschiebung, an Land auf weitere Signale warten! Die Jungs wollen übrigens lieber Bier, und ich steh auf Frozen Margarita!«

»Da haben Sie’s, Herr Obermaat!«, rief Kaminski wie aus der Pistole geschossen. »Wir sollen an Land warten! Und wenn die Braut das sagt, dann stimmt das. Die kennt sich aus!«

Krichlin konnte sich nunmehr ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich hab schon verstanden, auf was Sie scharf sind, Kaminski!«

Dann wandte er sich an die Übrigen. »Also gut, Leute, aber nur ein alkoholisches Getränk pro Mann und Nase, verstanden? Klar bei Riemen!«

Thies hatte Glück.

Aus der Nähe betrachtet war der Betrieb auf der Kiellinie zwischen Landeshaus und meereswissenschaftlichem Institut doch noch nicht ganz so dicht, wie es vom Wasser aus den Anschein gehabt hatte, und der Caipirinha-Stand, den nun auch ihr Kutter unter Rademachers und Kaminskis Führung auf kürzestem Wege ansteuerte, war um diese Uhrzeit noch fast leer.

Gestern Abend, berichteten zwei der Jungs aus dem Jugendkutter, hätte hier noch »der Papst gesteppt«, was Thies mit Blick auf die beängstigend großen Lautsprecher sofort zu glauben bereit war. Doch statt des Wummerns überlauter Sambarhythmen plätscherten an diesem Vormittag nur angenehm dezente Jazzklänge aus den Boxen.

Thies horchte in sich hinein und spürte keinerlei Alarmsignale dafür, dass ihn hier als HSP irgendetwas überstrapazierte. Folglich saß er relativ entspannt zwischen Weber und Rademacher auf dem Geländer, das die Caipi-Bar zum Wasser hin begrenzte, und war froh, nicht feige auf dem Kutter hocken geblieben zu sein. Das hätte ihn nicht nur um das Vergnügen gebracht, das ihm der Landgang ja auch tatsächlich bereitete, es hätte ihm mit Sicherheit auch den einen oder anderen schrägen Blick seiner Kameraden beschert.

Wie nicht anders zu erwarten gewesen, war es nicht bei dem von Krichlin geforderten »einen Getränk« geblieben. Allerdings hatte der Obermaat selber tatkräftig mitgeholfen, sein Gebot auszuhebeln, indem er nach Kaminskis und Rademachers Runden selbst eine dritte Lage auf die Back gestellt hatte.

»Erzählen Sie das nachher um Himmels willen nicht an Bord herum«, hatte er dazu gesagt, »sonst komm ich in Teufels Küche!«

Thies hatte, wie die Jungs des Jugendkutters, einer herrlich kalten Flasche Corona-Bier den Vorzug gegenüber den Cocktails der anderen gegeben, die ihm bei diesen Temperaturen doch ein wenig zu riskant zu sein schienen. So war er nüchtern genug geblieben, um mit leichtem Schmunzeln seinen Kameraden zuzusehen, wie die sich gegenseitig in der Gunst der fünf Kuttermädchen auszustechen versuchten.

Vor allem die hübsche Steuerfrau mit dem knappen, nabelfreien T-Shirt und dem frechen Mundwerk schien es ihnen angetan zu haben. Kaminski mit seinen beiden Spezis Frentzen und Teichmann kämpften dabei natürlich in vorderster Linie, aber auch der kleine DiSturini warf all seinen italienischen Charme in die Waagschale.

Das war durchaus zu verstehen. Sie hatte warme, hellbraune Augen, ziemlich viele Sommersprossen und die langen, rotblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Im linken Nasenflügel glitzerte ein winziges Piercingsteinchen, ein Schmuck, den Thies normalerweise eher als »daneben« empfunden hätte, doch zu ihr schien er irgendwie zu passen.

Auch Weber beobachtete das Gehabe ihrer Bordkameraden amüsiert. »Sieh dir bloß den Kaminski an! Der hat ja wieder mal mächtig den Klappspaten im Anschlag, was? So, wie der sie anbaggert!«

»Hmm«, machte Thies. »Bin mal gespannt, wie lange die Jungs von deren Crew sich das noch gefallen lassen.«

»Ach was, die sollen sich nicht so anstellen«, warf Rademacher gutgelaunt dazwischen. »Zumindest die kleine Rothaarige legt’s ja auch drauf an. Mann, die ist ganz schön knackig! Die würde ich nicht aus der Hängematte schubsen!«

»Ich dachte, da liegt schon Tanja drin?«, entgegnete Thies trocken und griente.

»Heute ausnahmsweise nicht!«, gab Rademacher augenzwinkernd zurück. »Wochenendurlaub! Cheers!« Er prostete Thies und Weber zu und kippte den Rest seines Cocktails runter. »Was ist, genehmigen wir uns noch ’ne Runde?«

Im selben Moment ertönte jedoch vom Wasser her ein langgezogenes Hornsignal. Offenkundig wollte es die Wettfahrtleitung nun doch mit einem Start versuchen, weil inzwischen anscheinend eine leichte Brise eingesetzt hatte.

Die Ankündigung wurde in ihrer Runde mit Enttäuschung quittiert, hatte man es sich doch gerade erst so richtig schön gemütlich gemacht!

»Hey, was ist los? Habt ihr Schiss, dass wir euch versägen?«, fragte die Kutterskipperin frech und kletterte über die Absperrung hinunter zu ihrem Kutter.

»Jungs, das war ja eine Kampfansage!«, rief Kaminski und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt gilt’s!«

Leider ging bereits ihr Start gründlich in die Hose.

Und zwar hatte sich Obermaat Krichlin, vielleicht ein wenig zu beseelt von den genossenen brasilianischen Cocktails, eine ganz besondere Taktik ausgedacht, die sich im Wesentlichen an der Art und Weise orientierte, mit der ein zweitausend Tonnen schwerer Windjammer starten würde und die Thies in ihrer Einfalt vorübergehend die Sprache verschlug.

»Also, Männers! Ich erkläre Ihnen jetzt, wie wir das machen: Wir segeln erst mal ein ordentliches Stück weg von der Linie«, sagte er, wobei er das O von »ordentlich« ordentlich in die Länge zog, bevor er mit einer enthusiastisch durch die Luft schlenkernden Armbewegung fortfuhr: »Dann wenden wir, nehmen Anlauf, stechen mit Schwung von hinten durch die andern hindurch und gehen bei Null über die Linie!«

Als sie die Startlinie passierten, waren alle anderen Kutter bereits seit guten eineinhalb Minuten unterwegs.

»So was kann nicht klappen«, raunte Thies Peer zu, der neben ihm saß und mit langem Gesicht dem längst enteilten Jugendwanderkutter ihrer Konkurrenten hinterherstarrte. »Wie willst du von Lee durch die Abwinde der anderen durchkommen? Gerade wenn es so flau ist, bleibst du da drin stecken!«

»Jaja, hinterher is’ immer gut klugscheißern!«, brummte Obermaat Krichlin verärgert, der irgendwie Thies’ Worte mitbekommen oder zumindest deren Inhalt erahnt hatte.

»Aber der Hansen kennt sich wirklich aus!«, protestierte Peer. »Der hat schließlich schon jede Menge Regatten gewonnen.«

Das war reichlich übertrieben, und Thies hatte auch nicht vorgehabt, seine Segelerfahrung in irgendeiner Form heraushängen zu lassen. »Lass stecken, Peer!«, sagte er daher schnell.

Aber es war bereits zu spät.

»Na, das ist ja wirklich saugeil!«, meinte Teichmann nun ebenfalls genervt. »Da haben wir einen gottverdammten Segelcrack an Bord, und der Typ macht daraus ein Geheimnis! Ganz großartig!«

»Genau! Warum hat Hansen eigentlich nicht den Start gefahren?«, fragte Lechner ruhig.

Womit die Sache endgültig eine völlig andere Richtung bekam, denn urplötzlich war von mehreren Seiten zustimmendes Gemurmel zu vernehmen.

»Vielleicht haben wir mit ihm am Ruder ja noch eine Chance, den Rückstand aufzuholen«, warf der dünne Hilfssmut ein, der ebenfalls sehnsüchtig hinter den Kuttermädchen herblickte.

Krichlin hatte inzwischen einen roten Kopf bekommen, ob vor Ärger oder weil ihm der vergeigte Start inzwischen peinlich war, konnte Thies nicht sagen.

Jedenfalls klang der Obermaat ziemlich beleidigt, als er verkündete: »Bitte sehr, wenn der Herr Offiziersanwärter meint, dass er es besser kann. Ich hab mich schließlich nicht um diesen Job gerissen!«

»So war das doch gar nicht gemeint ...«, sagte Thies hastig. Natürlich hatte er keinerlei Zweifel, dass er allemal besser sein würde als der angeschickerte Unteroffizier, und ihm war auch bewusst, dass sie nur dann eine Chance haben würden, den Rückstand aufzuholen, wenn sie ab jetzt fehlerfrei segelten. Das stand mit Krichlin eher nicht zu erwarten, was Thies in dieser Deutlichkeit allerdings nicht sagen konnte, es sei denn, er legte es darauf an, den Obermaat für den Rest seiner Tage an Bord der Gorch Fock zum Feind zu haben. »Ich bin eigentlich auch gar kein Steuermann«, wehrte er deswegen noch einmal halbherzig ab, »sondern mach Vorschiff.«

»Ist doch scheißegal, jetzt!«, blaffte Lechner ihn an. »Wenn der Obermaat dich ranlässt, dann steuerst’ gefälligst!«

Erneut setzte zustimmendes Gemurmel ein, und Thies registrierte verwundert, dass Obermaat Krichlin die Pinne bereits losgelassen hatte.

Nicht minder verblüfft war er über die Selbstverständlichkeit, mit der die anderen seine ersten zaghaften Kommandos hinsichtlich der Segelstellung und des Bootstrimms befolgten. Nun denn! Er wollte schließlich Offizier werden, und das Erteilen von klaren und präzisen Befehlen gehörte eben zum Handwerk.

»Klar machen zur Wende!«

»Ist klar!«

»Und ... rum! Vier Mann bleiben in Lee! Wir brauchen Krängung, damit das Boot besser läuft. Pizzi, einen kleinen Schrick in die Schot!«

Nach der Hälfte der Strecke zur ersten Wendetonne hatten sie sich immerhin schon wieder an das Feld herangearbeitet, und als sie den vorletzten Kutter überholt und damit die rote Laterne abgegeben hatten, kam regelrechter Jubel auf. Die anfängliche Missstimmung an Bord war einer völlig irrationalen Zuversicht gewichen, dass der neue Steuermann die Sache in den verbleibenden zwei Runden noch zum Guten wenden und einen vorderen Platz für sie herausholen würde.

Thies selber war sich da allerdings nicht so sicher. Er wusste, dass es relativ einfach war, gegen die hinteren Boote Boden gutzumachen, dies aber umso schwerer wurde, je weiter man nach vorne kam. Um zu dem immer noch weit vor ihnen liegenden Jugendwanderkutter aufzuschließen, der als eines der ersten Boote schon längst um die Wendemarke herumgegangen war, würde es eines mittleren Wunders bedürfen.

Das schien auch dessen Steuerfrau so zu sehen. »Na, da habt ihr ja einen echten Nullstart hingelegt!«, lästerte sie, als sie ihnen auf dem Vorwindkurs entgegenkam. »Habt ihr vergessen, die Schoten dicht zu ziehen? Ich dachte, auf der Gorch Fock lernt man so was?«

Das war hart an der Grenze zur Beleidigung, und niemand von ihnen würdigte den dreisten Spruch einer Antwort.

»Dieses krumme Luder!«, presste Obermaat Krichlin zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Dann beugte er sich vertraulich zu Thies und raunte: »Sehen Sie bloß zu, Hansen! Das können wir unmöglich auf uns sitzenlassen!«

Thies nickte. Er würde sein Bestes geben. Jetzt erst recht. Eine Runde später wiederholte sich die Situation.

Erneut war der Jugendwanderkutter bereits um die Luvtonne gegangen und kam ihnen, nun sogar in Führung liegend, vor dem Wind entgegen, ohne dass es aber von dort markige Sprüche zu hören gab, denn der Vorsprung gegenüber dem Kutter der Gorch Fock war mächtig geschrumpft. Nur noch zehn und nicht mehr dreißig andere Boote lagen zwischen ihnen.

Nach dem nächsten Vorwindkurs hatten sie allerdings wieder drei Plätze verloren, was zu einer angespannten Stille an Bord führte.

Thies stand aufrecht an der Pinne, drehte sich nach hinten um und versuchte, den Grund dafür auszumachen.

Inzwischen hatte es ein wenig mehr aufgefrischt, und einige dunklere Böenstriche gingen über das Wasser. Es hatte den Anschein, als seien diese unterhalb des bewaldeten Ostufers etwas kräftiger, was Thies unter anderem dem lauteren Rauschen in den Uferbäumen zu entnehmen vermochte. Zudem hatte er den Eindruck, dass die Richtung nun eine andere war, so dass sie dort jetzt mit mehr Höhe würden segeln können. Ein rascher Blick hinüber zu den Konkurrenten ergab, dass von denen, die vor ihnen die Leetonne gerundet hatten, keiner die Veränderung bemerkt zu haben schien. Sie alle übten sich in der Verfolgung des führenden Jugendwanderkutters, der, wie auf den beiden Kreuzen zuvor, hinaus auf die offene Förde segelte.

»Sekt oder Selters«, rief Thies. »Wir gehen nach steuerbord und stricken uns unter Land hoch!«

Das war natürlich ziemlich riskant, aber wenn sie hin sichtlich des Ausgangs in diesem Rennen überhaupt noch eine Chance haben wollten, dann blieb ihnen nichts anderes übrig! »Klarmachen zur Wende!«

Tatsächlich fischten sie dicht unter Land nicht nur einige kräftige Böen auf, sondern auch einen prachtvollen Winddreher, der ihnen einen Vorteil von mindestens zwanzig Grad verschaffte. Es war das, was man im Regattajargon einen waschechten »Geierschlag« nannte, und als sie kurz vor dem Ziel mit dem Jugendkutter gleichauf lagen, kannte die Begeisterung an Bord kaum noch Grenzen.

»Wir haben auch noch Vorfahrt!« Frentzen geriet förmlich aus dem Häuschen. »Verdammt, wir gewinnen!«

Aber noch war die Sache nicht in trockenen Tüchern, das wusste Thies. Sie kamen zwar von rechts und lagen gegenüber dem von der linken Seite kommenden Jugendkutter auf dem vorfahrtsberechtigten Backbord-Bug, aber um ins Ziel segeln zu können, mussten sie, im Gegensatz zu ihrem Gegner, noch eine letzte Wende fahren.

»Jetzt haben wir sie!«, triumphierte Obermaat Krichlin. »Wir zwingen sie zum Ausweichen und liegen vorn!«

Thies schüttelte den Kopf. Er wusste genau, was dann passieren würde. »Nein! Sie machen auf, fahren hinter uns durch und verlieren kaum Fahrt dabei. Wir gehen zwar vor ihnen durch, aber wir müssen noch wenden, und das kostet uns so viel Zeit, dass sie letztendlich doch vor uns sind!«

»Und was machen wir stattdessen?«

»Wir unterwenden! Klar zum?«

»Klar!«

»Die Wende muss sitzen, Leute! Sonst fahren sie uns durch!« Thies blickte in die Gesichter der anderen. Sie waren allesamt hochkonzentriert. Er nickte.

»Und ... Wende!«

Das Manöver klappte wie geschmiert. Noch bevor die anderen mit ihrem Kutter die Schoten zum Ausweichen öffnen konnten, lagen sie mit ihrem Schiff knapp voraus in Lee auf dem neuen Bug. Aber es dauerte seine Zeit, bis ihr schweres Schiff wieder an Schwung gewann. Und bis zum Ziel waren es nur noch fünfzig Meter.

»Verdammt, sie sind schneller!«, stöhnte Pizzi. »Tu was, Hansen!«

»Keine Panik!«, murmelte Thies.

Aus den Augenwinkeln sah er den Bug des Jugendwanderkutters knapp in Luv, wie er sich langsam immer näher heranschob.

Komm schon, komm schon!, feuerte er sich innerlich selber an.

Endlich nahm auch sein Boot wieder Fahrt auf, und sofort luvte Thies ein kleines Stückchen an.

»Ey, Meister!«, plärrte prompt einer der Jungs im Bug des Jugendkutters. »Halt gefälligst deinen Kurs!«

»Tu ich doch!«, rief Thies zurück und begann zu grinsen.

»Wenn ihr keinen Druck mehr in den Segeln habt, liegt das vielleicht daran, dass ihr in unseren Abwinden sitzt!«

Und genau das war es, worauf Thies spekuliert hatte, denn der Jugendkutter fuhr nun hinter ihnen in den Luftverwirbelungen, die ihr eigenes Segel sowohl nach Lee als auch nach Luv warf, und musste jeden Augenblick langsamer werden. Es war im Grunde genommen derselbe Effekt, der ihnen den Start vermasselt hatte. »Oder wisst ihr nicht, wie so ein Segel funktioniert?«, setzte er noch genüsslich hinzu. »Auf der Gorch Fock lernt man so was!«

Im Ziel hatten sie zwei Bootslängen Vorsprung, und der Jubel seiner Kameraden kannte keine Grenzen mehr. Alle sprangen auf die Sitzduchten, ballten die Fäuste, klatschten einander ab. Und jeder wollte Thies auf die Schulter klopfen.

»Also ehrlich, dass wir dieses Ding noch gewinnen!« Obermaat Krichlin schüttelte ungläubig den Kopf. »Nach dem vermurksten Start hätte ich keinen Pfifferling mehr auf uns gewettet! Hut ab, Herr Gefreiter, wirklich! Hut ab!«

Beinahe ergriffen drückte er Thies die Hand, der vor lauter Grinsen kaum wusste, was er sagen sollte.

Aber das war auch nicht nötig, denn in diesem Augenblick ging auch der Jugendkutter über die Linie und zog neben ihnen längsseits.

»Herzlichen Glückwunsch!«, kam es von drüben.

»Volle Deckung! Breitseite!«, schrie Frentzen. Aber da ging auch schon, aus mehreren Eimern und sonstigen Schöpfgefäßen abgefeuert, eine eiskalte Siegerdusche auf sie nieder.

Nachdem das erste wütende Protestgeheul an Bord des GorchFock-Kutters in großes Hallo und Gelächter umgeschlagen war, organisierten Kaminski, Teichmann und Rademacher ihren Widerstand.

In null Komma nichts waren beide Kutterbesatzungen in eine lustige kleine Seeschlacht verwickelt, die erst endete, als alle bis auf die Haut durchnässt und Kaminski und Frentzen bei dem Versuch, den Jugendkutter zu entern, in den Bach gegangen waren.

Zum Glück war es heiß genug, und noch vor dem Ende des zweiten Regattalaufes waren ihre leichten Khaki-Uniformen wieder trocken.

Dieses Rennen hatte Thies, wie nicht anders zu erwarten, gleich von Anfang an gesteuert und einen anständigen vierten Platz herausgeholt, was zwar keine Jubelstürme mehr hervorgerufen, aber auch niemandem Grund zur Klage gegeben hatte. Die Hauptsache war, wie Marcel Frentzen genüsslich feststellte, dass »der Lieblingsfeind«, gemeint war der Jugendwanderkutter, abermals hinter ihnen geblieben und nur Sechster geworden war.

Am späteren Nachmittag kehrte die sommerliche Flaute zurück, und der geplante dritte Start wurde endgültig abgesagt. Damit war die Sensation perfekt: Der Mannschaftskutter der Gorch Fock hatte die Gesamtwertung der Regatta gewonnen!

Obermaat Krichlin übernahm wieder den Platz an der Pinne, und ausgelassen herumalbernd wie die Schuljungen machten sie sich an den Rückweg zum Stützpunkt.

»Männer, jetzt ein schöner Shanty!«, rief Peer plötzlich aufgekratzt, und begann das alte Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn anzustimmen.

Schon beim ersten »to my hooday!« sangen alle anderen, einschließlich des Obermaates, lautstark mit. Sogar Thies, der zunächst nicht wusste, ob er rudern oder sich die Ohren zuhalten sollte, entschied sich schließlich fürs Mitsingen.

Danach ging Peer nahtlos zum Drunken Sailor über, der noch besser zu ihrer Stimmung passte. Er kannte eine erstaunliche Menge an Strophen, und ein paar dichtete er wohl auch einfach spontan hinzu, wofür ihm die Achtung und Sympathie aller zu flogen. So pullten sie einmal quer über die windstille, lichtglitzernde Innenförde – als ausgelassen singende, rundum glückliche Kutterbengel. Als echte Mannschaft!

Von Bord des Segelschulschiffes aus hatte man die beiden Rennen mit dem Fernglas verfolgt und war über das Ergebnis im Bild. Entsprechend groß war das Hallo, als Obermaat Krichlin und seine acht Mitsegler ihren Kutter mittschiffs an der Gorch Fock längsseits brachten und einer nach dem anderen das Fallreep aufenterte. Jeder, der nicht ins Wochenende gefahren war oder das Schiff aus einem anderen Grund verlassen hatte, war auf den Beinen. Es gab tatsächlich vereinzelten Applaus und bewundernde Rufe, vor allem als sich herumsprach, dass nicht Krichlin den Kutter gesteuert hatte. Mit einem Mal stand Thies ungewollt im Mittelpunkt des Interesses.

Selbst der Kommandant erschien an Deck, um ihnen persönlich zu ihrem Sieg zu gratulieren. Dafür hatte er sogar eine Besprechung mit dem Standortkommandeur unterbrochen, mit dem er über den Ablauf der am Samstag bevorstehenden Auslaufzeremonie geredet hatte. Als Stoppenkamp Obermaat Krichlin mit Handschlag zu seiner ausgezeichneten Leistung beglückwünschen wollte, hob dieser abwehrend die Hände. Er sei nur der »Kutterälteste« gewesen, nicht aber der Steuermann. Damit zeigte er auf Thies.

»Gefreiter OA Hansen, vortreten!«, rief der Kommandant und schüttelte ihm die Hand. »Gut gemacht. Sie können stolz auf sich sein!«

»Danke, Herr Kap’tän!«, murmelte Thies und merkte, wie ihm zu allem Überfluss auch noch das Blut in die Wangen stieg.

Zum Glück wandte sich Stoppenkamp in diesem Moment weiter an Kaminski und die übrigen Kutterhelden, gratulierte auch ihnen und gewährte ihnen allen als Anerkennung ihrer Leistung »Landgang bis zum Wecken«. Was in Anbetracht der Tatsche, dass am morgigen Montag bereits einige wichtige Reisevorbereitungen auf dem Dienstplan standen und daher alle anderen Mannschaften und Lehrgangsteilnehmer vor Mitternacht an Bord zu sein hatten, tatsächlich eine ganz besondere Auszeichnung war.

Dann hieß es »Wegtreten!«, und Thies beschloss, dass es für ihn dringend erforderlich wurde, ein paar Atemübungen zu machen.

*

Zwei Stunden später stand er frisch geduscht und halbwegs ausgeruht an Deck, um sich mit den anderen acht auf den Weg zur Siegerehrung der Kutterregatta zu machen. Sehr zu ihrem Leidwesen hatte der Kommandant einen »für den Anlass angemessenen Aufzug« gefordert, was bedeutete, dass sie die verschwitzte, salzwasserfleckige Khakikluft gegen die frisch gebügelte erste Geige hatten tauschen müssen, wie die für offizielle Anlässe reservierte Ausgehuniform genannt wurde. Bei Mannschaftsdienstgraden bestand sie aus einer langen dunkelblauen Schlaghose mit seltsamem, quadratischem Hosenlatz und strammer Bügelfalte, einem weißen, langärmeligen Matrosenhemd mit dem signifikanten blauen Exerzierkragen samt schwarzem Knotentuch und der Tellermine, einer runden weißen Kopfbedeckung, deren schwarzes Mützenband mit dem Schiffsnamen in Gold bedruckt war und hinten in zwei losen Schwalbenschwänzen ausflatterte.

Alles in allem mutete dieser wenig beliebte Aufzug reichlich altmodisch an, zumal er sich tatsächlich am sogenannten Kieler Knabenanzug aus der Kaiserzeit orientierte, und Thies kam sich darin immer ein wenig vor wie Popeye, der Zeichentrickmatrose mit seiner Vorliebe für Dosenspinat. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er sie mit der kommenden Beförderung zum Seekadetten wieder an den Nagel hängen durfte. Denn dann würde seine Paradeuniform der von Obermaat Krichlin entsprechen. Und die sah mit ihrem kurzärmeligen weißen Hemd mit Schulterklappen zur schlichten schwarzblauen Hose und der schwarzweißen Schirmmütze schon wesentlich erwachsener aus.

Die Preisverleihung sollte pünktlich um 19 Uhr auf einer der Radio-Bühnen an der Kiellinie stattfinden, bevor es dort mit den abendlichen Liveauftritten losging, und natürlich wollten es sich Obermaat Krichlin und die anderen nicht nehmen lassen, dort standesgemäß mit dem siegreichen Schiff vorzufahren. Gutgelaunt und aufgekratzt, wie sie waren, legten sie sich in die Riemen, und nach nicht einmal zwanzig Minuten hatten sie die Strecke vom Stützpunkt zur Kiellinie absolviert. Unweit der alten Stelle am Caipirinha-Stand brachte Obermaat Krichlin ihr Boot an die Pier.

Dort lag bereits der Jugendwanderkutter ihrer Konkurrenten.

»Verdammt, Jungs, die haben schon wieder Vorsprung!«, stellte Frentzen aufgeräumt fest. »Die haben den ganzen Nachmittag durchgemacht!«

Tatsächlich winkte ihnen die Truppe rund um die rothaarige Steuerfrau ausgelassen zu, als sie sich ihren Weg zum Podest bahnten, und ein paar scherzhafte Bemerkungen über die potentielle Tauglichkeit ihrer Paradeuniformen bei der nächsten Wasserschlacht flogen hin und her.

Inzwischen war es auf der Kiellinie merklich voller geworden, und ein altbekanntes, beklemmendes Gefühl baute sich in Thies auf. Zu viele Menschen bedeuteten zu viel Lärm und damit zu viel Stress. Bisher hatte ihn der Schwung des Segelerfolges durch den Tag getragen, aber unter diesen Voraussetzungen würde er heute Abend bestimmt nicht alt werden. Direkt nach dieser Pflichtveranstaltung würde er sich verkrümeln und zum Stützpunkt zurückmarschieren. Oder besser noch, er nahm sich gleich ein Taxi, um sich das Anschwimmen gegen den Strom der Festbesucher zu ersparen, die um diese Zeit noch samt und sonders in die Gegenrichtung unterwegs sein würden.

Zum Glück ging es in diesem Moment mit der Siegerehrung los.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783961941537
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Maritim Meer Segeln Jan von der Bank Abenteuer Schiff In den Sturm Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Jan von der Bank (Autor:in)

Jan von der Bank ist mehrfacher Deutscher Meister und Weltmeister (2005) in der Einmannjolle Contender. Seine Kinderbücher zum kleinen Klabautermann PIKKOFINTE erscheinen ebenfalls im KJM Buchverlag.
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Titel: In den Sturm