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Der magische Adventskalender

Die Reise ins Unmögliche

von Ben Bertram (Autor:in)
172 Seiten

Zusammenfassung

Für Ben rückt das erste Weihnachtsfest ohne seinen geliebten Vater immer näher, und er weiß, dass ihm eine schwere Vorweihnachtszeit bevorsteht. Als seine Tochter Lina auf dem Weihnachtsmarkt eine alte Holzeisenbahn entdeckt, erinnern sich die beiden daran, dass auch Ben einmal eine solche von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Doch wohin war sie verschwunden? Der Morgen des ersten Dezembers begann mit einer riesigen Schrecksekunde. Tatsächlich hatte Linas Vater vergessen, den alljährlichen Adventskalender aufzuhängen. Doch nicht nur das. Er hatte nicht mal kleine Geschenke besorgt und fühlte sich miserabel. Doch was war das? Plötzlich konnte er die Stimme seiner Tochter vernehmen. „Papi, wach auf! Was hast du nur gemacht?“ Die Worte kamen aus der Richtung, in der sonst immer der Kalender über dem Kamin gehangen hatte. Da Ben vor Staunen nicht in der Lage war zu sprechen, übernahm erneut Lina das Wort. „Für Lina und Ben, viel Spaß im Tal des Unmöglichen.“ Nachdem sie den Satz vorgelesen hatte, sprang sie auf den Schoß ihres Vaters und sah ihn an. Lina war bereit, und wenn ihr es auch seid, lassen wir die Reise nun beginnen. Und denkt daran: Weihnachten ist die Zeit der Wunder!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Vorweihnachtszeit

Die Regale der Einkaufsläden waren längst mit Weihnachtssachen vollgestellt, und langsam begannen auch die ersten Geschäfte damit, auf den Wegen kleine Buden aufzubauen. Überall stieg mir der Duft von Punsch und gebrannten Mandeln in die Nase.

Auch in Hamburgs City waren fleißige Menschen damit beschäftigt, die Weihnachtszeit vorzubereiten. Die ersten Lichter hingen an Häuserwänden, und sogar die traditionellen Plätze der Weihnachtsmärke wurden für die alljährliche Weihnachtszeit hergerichtet.

Als ich über den Rathausmarkt schlenderte, erkannte ich sofort das kleine Häuschen, in dem schon bald tolle geschnitzte Holzspielzeuge verkauft werden würden. Natürlich musste ich sofort an meine bunte Holzeisenbahn denken, die mir mein Vater damals genau hier gekauft hatte.

Nein, sie war nicht nur einfach ein Spielzeug für mich. Dieser Zug war zur Hauptfigur meiner Einschlafgeschichten geworden und hatte mich so durch meine Kindheit begleitet. Leider war er irgendwann verschwunden.

Er war weg, kurz nachdem meine Tochter Lina ihn hatte fallenlassen und ich den Zug anschließend, ohne ihn zu reparieren, in eine Tüte gesteckt und im Keller verstaut hatte.

Warum habe ich die Holzeisenbahn bloß nicht weiter in Ehren gehalten? In Gedanken stellte ich mir die Frage und spürte, wie sich eine Träne den Weg über meine Wange suchte. Weit kam sie nicht, da es eisig kalt war und sie sich direkt zu einem Eiskristall verwandelte.

Ja, mir lief eine Träne über das Gesicht. Eine Träne, die für die schönste Zeit und doch auch zugleich für den schwierigsten Moment meines Lebens stand. Ich hatte zwei Menschen in meinem Kopf. Falsch, ich hatte beide im Kopf und zusätzlich auch tief in meinem Herzen verankert. Leider konnte ich nur noch einen von ihnen in die Arme schließen.

Mein Vater war vor einem halben Jahr von mir gegangen. Er war jetzt dort, wo die Engelein Kekse backen. Dort, wo uns der Regenbogen seine Farben präsentiert und auch an dem Ort, wo Frau Holle ihre Betten ausschüttelt. Auch wenn ich noch heute täglich mit ihm spreche, ist es ganz anders. Allerdings nicht nur für mich. Ach meine kleine Lina weint noch immer fast täglich um ihren Opili. Häufig hielten wir uns dabei in den Armen und fragten uns nach dem Warum.

Ja, warum nur musste Linas Opili viel zu früh von uns gehen? Da ich es selbst nicht begriff, hatte ich natürlich auch keine tolle Idee, was ich meinem kleinen Butsche sagen sollte. Wie ich ihr vernünftig erklären konnte, warum wir bei unseren Gesprächen mit meinem Vater hinauf in den Himmel schauen mussten.

„Warum bist du einfach abgehauen? Wir hätten dich noch gebraucht, und wir lieben dich so sehr. DU FEHLST!“ Die letzten beiden Worte hatte ich sehr laut ausgesprochen, und es war mir vollkommen egal, dass ich von anderen Passanten komisch angesehen wurde.

Ich wollte und konnte einfach nicht einsehen, dass Lina, die mein Vater und ich immer Butsche nannten, dieses Weihnachtsfest alleine verbringen sollte. Also, alleine mit mir ohne ihren Opi.

„Hey Papa, ich will mein einundvierzigstes Weihnachtsfest nicht ohne dich erleben. Butsche ihr Elftes übrigens auch nicht.“ Erneut erwischte ich mich dabei, wie ich Sätze in den Himmel rief.

Ich hatte meinen Blick längst wieder auf die geschlossene Schnitzwerkstatt gerichtet, als ich etwas Kaltes an meiner Hand spürte. Zunächst erschrak ich, dann regestierte ich jedoch schnell, dass meine Tochter zu mir zurückgekommen war und mit ihren kleinen kalten Kinderfingern nach meiner Hand gegriffen hatte.

„Hallo Papi, warum guckst du dir die geschlossene Holzbude an?“ Lina sah neugierig an mir hoch.

„Weil … Also …“ Mir versagte die Stimme, und selbst nach einem weiteren Versuch blieben meine Worte im Hals stecken.

„Also? Ist die besonders? Wohnt dort der Weihnachtsmann? Oder leben dort die Engel?“ Linas Augen waren groß, und ihr Blick forderte eine Antwort.

„Nein, der Weihnachtsmann lebt am Nordpol und die Englein auf den Wolken. Aber hier …“ Weiter kam ich nicht.

„Auf den Wolken? Wie cool, dann treffen sie sich bestimmt oft mit Opili.“ Ein Strahlen lag auf Linas Gesicht.

„Das kann sein.“ Es fiel mir nicht schwer, mein Lachen zu verkneifen. Es wäre nicht passend gewesen, auch wenn ich die Idee meiner Tochter nicht nur toll, sondern auch lustig fand.

„In dieser Bude hat mir mein Vater die Holzeisenbahn gekauft. Erinnerst du dich noch an sie?“ Eigentlich kannte ich die Antwort und ärgerte mich darüber, überhaupt gefragt zu haben.

„Logisch. Zu der Eisenbahn hat dir Opi immer Geschichten erzählt. Genau wie du mir immer welche erzählt hast. Ach Papi, die Traumzuggeschichten waren immer sooooo toll.“

„Fand ich auch.“ Darauf einzugehen, dass der Zug inzwischen verlorengegangen war, verkniff ich mir lieber.

Plötzlich wurde aus Linas freudigem Gesichtsausdruck eine enttäuschte Maske. Noch bevor ich etwas sagen konnte, liefen dicke Tränen aus ihren Augen, und ihre Arme umklammerten mich.

„Ich bin schuld daran, dass der Zug kaputt ist. Es tut mir so leid …“ Lautes Schluchzen untermalte ihre Worte. Gerade als ich etwas sagen wollte, sprach sie weiter. „Lass uns im Keller nach dem Zug suchen. Vielleicht können wir ihn reparieren. Okay?“

„Das machen wir.“ Während meiner Antwort strich ich über Linas Kopf und spürte ihr weiches Haar.

„Gleich heute?“ Lina befreite ihre Nase aus meiner Jacke und sah mich an.

„Ja, gleich heute. Der Plan hört sich gut an.“ Erst jetzt erkannte ich den nassen Flack auf meiner Jacke. Dann beugte ich mich etwas nach unten und gab meinem Butsche einen Kuss auf ihre kalte Nasenspitze.

„Opi wird immer bei uns sein.“ Sanfte Worte verließen meine Lippen, während ich mit meinem Zeigefinger auf den Teil von Linas Winterjacke klopfte, unter dem sich ihr kleines Herz befand.

„Ich weiß. Aber es tut so weh.“

Schweigend saßen wir nebeneinander in der U-Bahn, die uns zurück nach Hause brachte. Erst, als wir uns bereits am Alsterwanderweg befanden und nur noch ein kurzes Wegstück vor uns hatten, durchbrach ich unser Schweigen.

„Was hältst du davon, wenn wir ein verlängertes Wochenende nach Sylt fahren?“

„Oh ja! Dann fahren wir zum Morsumer Kliff und machen Fotos. Du musst aber auch mit mir bei Gosch Fisch essen, und ins Pfannenkuchenhaus gehen wir auch.“ Lina strahlte, und ich war glücklich darüber, gemeinsam mit ihr für ein paar Tage dem Alltag entfliehen zu können. Die Vorweihnachtszeit nahm mich doch mehr mit, als ich es geahnt hatte. Am liebsten wäre ich mit Lina auf eine längere Reise gegangen, doch das ging leider nicht.

„Klar. Wir machen alles, wozu wir Lust haben.“ Nach meinem Satz griff ich nach ihrer Hand und sah meine Tochter erleichtert an.

„Und wir machen Bilder vom Meer. Vom Glitzerwasser, das Opili so geliebt hat.“ Erwartungsvolle Augen waren auf mich gerichtet.

„Das verspreche ich dir.“

Zuhause

Als wir unser Zuhause erreicht hatten, blieben wir vor der kleinen Garteneingangspforte stehen. Unsere Augen fanden nicht das, was zu dieser Jahreszeit hierhergehörte. Nein, es war anders! Irgendwie hatten wir es verpasst, unseren Garten weihnachtlich zu gestalten. Vom Haus ganz zu schweigen. Mir war einfach nicht nach dem schönsten Fest des Jahres. Ich hatte es bisher erfolgreich verdrängt, da ich den Garten und auch das Haus immer gemeinsam mit meinem alten Herrn geschmückt hatte. Natürlich wurden wir dabei tatkräftig von Lina unterstützt. Bei heißem Kakao und selbstgebackenen Keksen hatten wir dabei immer Freude und genossen unsere Dreisamkeit.

Dieses alte verschnörkelte Häuschen war das Geburtshaus meines Vaters. Ich war hier aufgewachsen, und auch Lina hatte ihr gesamtes Leben hier verbracht. Tatsächlich hatte keiner von uns jemals in anderen vier Wänden gelebt, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es sich bei mir irgendwann änderte.

Dieses Haus war nicht einfach nur ein Wohnort. Nein, es war meine Heimat und Herzensangelegenheit zugleich. Selbst, als mein Vater zu den Engeln aufgestiegen war, hatte ich nicht einen Moment den Gedanken, diesen Ort zu verlassen. Klar war es nicht immer leicht für mich, und ich wusste, dass es sich bei Lina ebenso verhielt.

Das Zimmer meines Vaters war noch immer so, wie er es verlassen hatte. Sein letztes Buch lag aufgeschlagen auf dem Nachtschrank unter der Lampe, seine Brille war darauf platziert, und eine lange grüne Schwanzfeder von unserem verstorbenen Wellensittich Charlie diente als Lesezeichen. Sein leerer Kaffeebecher stand daneben. Daddy Cool stand in blauer Schrift auf dem weißen Gefäß, und ich musste jedes mal lächeln, wenn ich ihn dort stehen sah. Ja, mein Papa war cool. Sehr cool sogar, und genau aus diesem Grund hatte ich ihm diesen Becher vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt.

„Zu Weihnachten …“ Ich nuschelte die beiden Worte in meinen Dreitagebart und war erstaunt, dass Lina es mitbekam.

„Was ist zu Weihnachten?“ Neugierig sah sie mich an.

„Wir müssen zu Weihnachten noch alles schmücken.“ Mir war nicht danach, in diesem Moment über meinen Vater zu reden.

„Ja. Ich freue mich darauf. Aber es wird nicht so wie sonst. Ohne Opi wird das Schmücken bestimmt ganz anders sein.“ Enttäuscht zog Lina ihre Schultern nach oben.

„Wollen wir rein? Mir ist echt kalt.“ Ich fand, dass wir unseren Platz vor der Gartenpforte endlich verlassen sollten.

„Ja. Aber ich möchte nicht schmücken. Noch nicht heute. Okay?“ Ich wurde mit großen Kinderaugen angesehen.

„Nein, wir schmücken nicht. Was möchtest du denn gerne machen?“

„In den Keller.“ Lina griff nach meiner Hand, und wir machten uns auf den Weg. Warum sie ausgerechnet jetzt in den Keller wollte? Ich wusste es nicht. Eigentlich war ich sogar erstaunt darüber, da sie das Kellergeschoss normalerweise mied. Sie hatte dort unten Angst, und Spinnen fand sie auch total blöd.

Zwanzig Minuten später befanden wir uns tatsächlich im Keller. Während Lina eifrig die Regale des ersten Raumes durchforstete, hatte ich noch immer keinen Schimmer, wonach ich suchen sollte.

„Die Weihnachtssachen sind im Nebenraum. Weißt du das nicht mehr?“ Ich sah zu meiner Tochter, doch sie ignorierte meine Worte und drehte mir weiterhin den Rücken zu. „Auch ein schöner Rücken kann entzücken.“ Ich lachte über meine Worte und bekam tatsächlich eine Antwort.

„Anstatt einen solchen Quatsch zu sabbeln, könntest du mir lieber helfen.“ Noch immer hatte Lina sich nicht umgedreht.

„Du kleiner Witzvogel. Ich würde gerne helfen, weiß aber nicht, wonach wir überhaupt suchen.“ Erst jetzt drehte sich meine Tochter zu mir um.

„Ach, Papi, darüber haben wir doch vorhin in der Stadt gesprochen.“ Nach einem kurzen verständnislosen Kopfschütteln, drehte sich Lina wieder um und widmete sich dem nächsten Regal. Ihr Kopf verschwand zwischen Kartons, und ihre kleinen Hände begannen damit, herumstehende Sachen zur Seite zu schieben.

Ich hingegen stand ahnungslos hinter ihr, und mir blieb nichts übrig, als ihrem Tun zuzusehen. Trotzdem ging ich jetzt auch zum Regal und begann zu suchen. Vielleicht fiel es mir ja ein, wenn ich das Teil zufällig entdeckte.

„Hast du schon in dieser Schachtel nachgesehen?“ Ich hielt Lina einen kleinen roten Karton hin und wartete auf ihre Reaktion.

„Die ist viel zu klein. Sag mal, weißt du nicht mehr, wie groß die Holzeisenbahn ist?“

„Äh … Doch … Klar … Mein Fehler.“ Okay, ich hatte einen kleinen Einlauf bekommen. Dafür wusste ich aber endlich, wonach ich suchen musste.

Zwei Stunden später saßen wir enttäuscht auf dem Sofa. In eine Decke eingekuschelt ließen wir uns von der Flimmerkiste berieseln, und ich war mir sicher, dass Lina eben so wenig vom Fernsehprogramm mitbekam wie ich.

Warum habe ich die Holzeisenbahn damals nicht sofort repariert? Oder sie zumindest in eine Holzwerkstadt gebracht? Ich bin echt ein Riesenrindvieh. Immer wieder schossen mir diese oder ähnliche Gedanken durch den Kopf

„Hätte ich den Zug nicht fallenlassen, wäre es wie immer.“ Lina sah mich traurig an. „Nur durch diesen Zug war es möglich, Traumzuggeschichten zu erzählen. Opili hat mir dieses Geheimnis verraten, und ich bin so unendlich wütend auf mich. Ja, ich bin total sauer, dass ich den Zug kaputt gemacht habe.“ Ich erkannte Linas feuchte Augen und wusste, dass sie sich gerade ziemlich zusammenriss, um nicht zu weinen.

„Sowas kann passieren. Aber ich Trottel hätte den Zug sofort reparieren müssen.“ Ob ich wirklich tröstende Worte gefunden hatte, wusste ich nicht.

„Du kannst Holzzüge reparieren?“ Meine Tochter sah mich an.

„Also … Nun … Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Aber …“ Weiter kam ich nicht, da Lina laut lachte.

„Mal ehrlich, Papi, du kannst ja schon relativ viel. Aber handwerklich bist du doch echt ‘ne Niete.“

„Okay, wahrscheinlich hätte ich es nicht gekonnt. Aber in eine Werkstatt hätte ich die Holzeisenbahn bringen können.“ Wir lachten zusammen und nahmen uns die Arme.

Ich war stolz auf meine Tochter und wusste ganz genau, dass sie das größte Geschenk war, das ich jemals bekommen hatte.

„Du Papi, vielleicht gibt es auf dem Weihnachtsmarkt ja eine Holzeisenbahn, die genau so ist, wie unsere war. Klar ist sie dann nicht dieselbe, aber wir könnten ja so tun.“ Lina strahlte, und ich drückte sie ganz fest an mich.

„Ja, vielleicht gibt dort eine. Wir werden nachsehen.“

Das Zimmer

Heute war Mittwoch.

Um etwas genauer zu sein, war heute der 27. November, und da wir morgen nach Sylt wollten, mussten wir noch fleißig sein und unsere Taschen packen. Klar war es nicht viel. Aber wenn wir Pech mit dem Wetter hatten, benötigten wir etwas mehr Wechselklamotten.

Nicht, dass ihr euch wundert. Selbstverständlich habe ich meine Tochter nicht einfach aus der Schule genommen. Am Donnerstag und Freitag fanden in der Schule Lernentwicklungsgespräche statt, und da wir unseren Termin gleich am Donnerstag um 10 Uhr hatten, konnten wir anschließend gen Norden aufbrechen.

„Lina, wann kommst du endlich? Wir müssen packen, damit wir morgen nicht zu viel Zeit verplempern.“ Ich glaube, dass diese Aufforderung bereits die vierte war und sie daher etwas schärfer klang. Doch auch jetzt kam Lina nicht um die Ecke geflitzt. Leider bekam ich auch keine Antwort, und so machte ich mich auf die Suche nach meinem Kind. Im Haus war sie, da war ich mir sicher. Niemals wäre sie irgendwohin gegangen, ohne mir vorher Bescheid zu geben.

In ihrem Zimmer war sie nicht, und nachdem ich sie auch nicht im Wohnzimmer entdeckte, machte ich mich auf den Weg in die Küche. Immerhin war es bereits 18 Uhr, und somit konnte sie der Hunger dorthin verschlagen haben.

Trotzdem fand ich, dass dies kein Grund war, nicht auf mein Rufen zu antworten. Leider fand ich sie auch hier nicht und bekam es mit der Angst zu tun. Aber nur kurz, da mir plötzlich eine Idee kam.

Sie wird bestimmt im Keller sein und nach der Holzeisenbahn suchen. Klar war es so, wo sonst sollte sie sein?! Immerhin war unsere letzte Suche erfolglos. Während meiner Gedanken befand ich mich bereits auf der Kellertreppe und wunderte mich darüber, dass mir von unten kein Lichtstrahl entgegenkam.

Anstatt direkt eine Kehrtwendung zu machen, ging ich weiter und betätigte den Lichtschalter.

„Lina? Hey, mein Butsche, bist du hier?“ Als es mucksmäuschenstill blieb, bekam ich es erneut mit der Angst. „Sag doch was. Wenn du mit mir spielst, muss ich dir sagen, dass ich das Spiel blöd finde. Los, sag was!“ Nein, meine Stimme war nicht böse. Dafür aber voller Angst. War meiner kleinen Maus etwas zugestoßen?

Einen kurzen Moment später war ich wieder oben. Ich stand im Flur und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Eigentlich hatte ich überall gesucht und kein Zeichen von ihr gefunden.

„Aber auch nur eigentlich!“ Ich sprach meine Gedanken aus und machte mich auf den Weg ins erste Stockwerk. Hier befand sich ein Zimmer, in dem ich nicht nachgesehen hatte. Allerdings war es auch ein Raum, in dem sich Lina normalerweise nicht aufhielt. Zumindest war es mir nicht bekannt.

Meine Hand zitterte, als ich nach der Türklinke griff. Dann hielt ich inne und legte zunächst mein Ohr gegen die alte hölzerne Tür. Ich hörte nichts. Also nichts, außer mein viel zu schnell schlagendes Herz. Schweiß legte sich über meine Hände, und ich fühlte mich irgendwie …

Ja, wie fühlte ich mich überhaupt? Es war ein komisches Gefühl, ein Beschissenes, und am liebsten hätte ich mich von hier verabschiedet. Doch es ging nicht. Ich musste Lina suchen, und da ich sie im gesamten Haus nicht gefunden hatte, war jetzt dieses Zimmer der Ort, den ich betreten musste.

Ich wischte meine schweißnasse Hand an meiner Jeans ab und führte sie anschließend erneut zum Türgriff. Langsam, fast bedächtig, drückte ich zunächst die Klinke und anschließend die Tür auf.

Bereits als die Tür nur einen kleinen Spalt geöffnet war, erkannte ich Papas Nachtischlampe. Ihr Licht erstrahlte das Zimmer, und ich bekam einen Schrecken.

„Papa, bist du es?“ Ich flüsterte meine Worte so leise, wie ich noch nie zuvor geflüstert hatte. Dann schob ich die schwere Tür etwas weiter auf und atmete erleichtert durch. Ich hatte meine Tochter gefunden. Sie saß auf dem Bett meines Vaters und hielt das Buch in der Hand, das immer auf seinem Nachtisch lag.

Wie mutig du bist. Ich hätte es nicht geschafft, mir das Buch zu nehmen, dachte ich und sah Lina stolz an. Leider konnte ich noch nicht alles erkennen. Der Türspalt war zu klein, und da ich meine Neugier befriedigen wollte, schob ich die Tür noch weiter auf. Was ich dabei nicht bedacht hatte, war jedoch, dass die Tür knarrte. Sofort ärgerte ich mich, da sie es bereits seit meiner frühesten Kindheit tat und ich es daher hätte wissen müssen.

Dieses Knarren gehört zum Haus wie … Ich brach meinen Gedanken ab. Ich wollte einfach nicht daran denken, dass dieses Knarren zum Haus gehörte, wie es auch Linas Opa getan hatte.

Butsches Blick wechselte zu mir herüber. Über das Buch hinweg sah sie mich an. Dann klopfte sie mit ihrer rechten Hand auf die Matratze und deutete mir so an, dass ich mich zu ihr setzen sollte.

Wir brauchten keine Worte, und es fielen auch die ersten Minuten keine, nachdem ich auf der Bettkante Platz genommen hatte.

Meine Tochter war es, die das Schweigen durchbrach.

„Du, Papi, glaubst du an Wunder?“ Zwei Kinderaugen sahen mich fragend an.

„Aber natürlich. Wie kommst du auf diese Frage?“ Selbstverständlich war ich neugierig.

„Schau mal.“ Lina deutete zum Buch meines Vaters. Auf die aufgeschlagene Seite, die sie eben noch vor der Nase hatte.

„Das steht in diesem Buch?“ Ich wunderte mich ziemlich, da mein Papa immer nur Piratengeschichten gelesen hatte.

„Ja, so steht es hier. Soll ich es dir vorlesen?“

„Klar. Leg los, ich bin gespannt.“ Erwartungsvoll sah ich meine Tochter an.

„Okay.“ Lina lächelte, rückte sich in eine andere Sitzposition und begann:

Im Piratenland angekommen, hielten der Vater und seine Tochter nach einem Schiff Ausschau. Leider waren die gut erhaltenen Schiffe alle belegt, und so mussten sie den alten Segler nehmen, der sich am Ende des Hafens befand. Sie mussten das Risiko, eventuell mit dem alten Boot zu sinken, in Kauf nehmen. Immerhin hatten sie einen Traum, und für diesen wollten sie alles tun. Auch das Unmögliche!

Kurz bevor sie das Schiff betraten, fragte die Tochter ihren Vater, ob es nicht zu riskant wäre. Außerdem wollte sie wissen, ob sich die Reise überhaupt lohnte. Immerhin würde es an ein Wunder grenzen, wenn sie mit diesem alten Kahn die Polarlichter erreichten.

Ihr Vater sah sie ernst an. Dann sagte er:

Nichts ist unmöglich. Du musst nur daran glauben, und schon ist alles möglich, was du dir erträumst. Auch Wunder!

Als Lina fertig war, schwieg sie und drehte ihren Kopf zu mir. Unsere Blicke trafen sich, und noch bevor ich etwas sagen konnte, fragte sie mich, ob alle Träume und Wünsche wahr werden.

„Ja. Wenn man etwas wirklich will, dann kann man es auch erreichen.“ Natürlich wusste ich, dass es leider nicht bei allen Wünschen funktionierte. Immerhin war mein Vater tot, und ich konnte es nicht ändern. Aber ich brachte es nicht über mein Herz, es Lina so deutlich zu sagen.

„Das habe ich mir gedacht.“ Mehr sagte Lina nicht.

„Warum?“

„Weil es hier steht und Opili dieses Buch sonst nicht gelesen hätte. Komm Papa, wir müssen packen. Daran hast du doch bestimmt nicht gedacht. Oder?“

„Dann los. Die Taschen stehen schon bereit.“ Lina legte das Buch zurück, löschte das Licht, und wir verließen das Zimmer.

Sylt, wir kommen!

Bereits um 10:45 Uhr saßen wir im Auto und konnten uns auf den Weg machen. Diese Lernentwicklungsgespräche waren wirklich absolut albern. Wahrscheinlich waren sie ausschließlich dafür gedacht, dass die Lehrer zwei weitere freie Tage hatten. Zumindest zwei fast freie Tage, da sie nur bis zum Mittag des jeweiligen Tages in der Schule verweilen mussten.

Erfahren hatten Lina und ich nichts. Zumindest nichts Neues. Es war eine lächerliche Liebesdudelei, auf die ich gut und gerne hätte verzichten können.

„Wie fandest du das Gespräch?“ Lina sah mich vom Beifahrersitz aus an.

„Echt unnötig. Wir hätten es uns wirklich sparen können.“ Meine Antwort war ehrlich.

„So habe ich das auch gesehen.“ Nach Butsches Antwort drehte sie die Musik lauter, und wir sangen zusammen mit Max Giesinger davon, dass wir Legenden sind.

Keine zwei Stunden später standen wir am Autozug. Da bis zur Abfahrt noch etwas Zeit war, nutzen wir diese, um uns mit Leckereien einzudecken. Lina entschied sich für Caprisonne und ein Käsebrötchen, während mir ein Kaffee und eine Laugenstange genügten.

Als die Durchsage kam, dass der Zug in wenigen Minuten abfuhr, sputeten wir uns und saßen einen kurzen Augenblick später voller Vorfreude auf die Insel im Wagen. Die Ampel sprang auf grün, und los ging die Reise.

„Ich hoffe, dass wir nach oben dürfen.“ Ich erkannte, wie meine kleine Tochter bereits fest am Daumendrücken war.

„Drück nicht so fest, sonst sterben die Daumen ab.“

„Echt?“

„Quatsch!“ Wir lachten und wurden von einem freundlichen Mitarbeiter nach oben gewunken.

„Siehst du, Papi, es hat geklappt.“ Stolz wie Bolle sah Lina mich an und entkrampfte dabei ihre Hände.

„Da hat Opas Piratenbuch wohl recht gehabt.“ Ich grinste und sah zu meinem Tochterkind hinüber.

„Hä?“

„Erinnerst du dich nicht mehr?“ Da wir inzwischen unseren Platz auf dem Autozug erreicht hatten, musste ich mich nicht mehr auf das Fahren konzentrieren und drehte mich zu Lina. Dann gab ich die Worte wieder, die mir meine Tochter gestern aus dem Buch meines Vaters vorgelesen hatte:

„Nichts ist unmöglich. Du musst nur daran glauben, und schon ist alles möglich, was du dir erträumst. Auch Wunder!“

„Ja. Stimmt. Wie geil ist das denn?“

„Geil?“ Ich betonte das Wort und zog es in die Länge.

„Cool … Ich meinte, wie cool ist das denn.“ Natürlich konnte ich Linas schelmisches Grinsen deutlich erkennen.

Nachdem wir unsere Ferienwohnung erreicht hatten, machten wir uns sofort auf den Weg. Wir hatten schließlich nicht so viele Tage auf der Insel und wollten die knappe Zeit daher intensiv nutzen. Als wir uns bei Gosch an der Promenade mit Fischbrötchen eingedeckt hatten, führte uns der Weg direkt hinunter zum Strand.

Herrlich leer war es hier, und da Ebbe war, kraxelten wir direkt auf eine der vielen Buhnen hinauf. Natürlich suchten wir Seesterne und Krebse, fanden aber zunächst kein einziges Lebewesen. Falsch, natürlich entdeckten wir Möwen. Allerdings war es garantiert vielmehr so, dass sie uns beziehungsweise unsere Fischbrötchen entdeckt hatten.

„Komm Lina, lass uns gehen. Die Flut kommt langsam und wird die Buhne bald überfluten. Außerdem ist mir kalt.“

„Gleich. Warte kurz, Papi, ich möchte mir noch was wünschen.“

„Etwas wünschen?“ Ich sah zu meiner Tochter und war gespannt darauf, was passierte.

„Lieber Wassergott, du heißt doch Neptun, oder? Ich würde soooo gerne einen Seestern sehen. Ich wünsche es mir so sehr. Kannst du mir einen zeigen?“ Lina sah mich an und hatte einen erwartungsvollen Blick. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf das Meer.

Was habe ich da nur gesagt. Und überhaupt, Papa, was liest du für Bücher? Wie soll ich deinem Enkelkind erklären, dass sich nicht jeder Wunsch erfüllen kann. Hilf mir! Während meiner Gedanken sah ich hinauf in den Himmel.

„Pass mal auf Lina … Weißt du … Also … Unsere Wünsche können nicht …“ Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Der Text im Buch wird nicht immer …“ Nein, dieses Mal unterbrach ich mich nicht selbst. Lina schoss lautstark in meine Worte hinein.

„Da … Papi … Schau doch!“ Meine Tochter ging vorsichtig an den Rand der Buhne. Dorthin, wo die ersten kleinen Wellen gegen den Buhnenrand schlugen.

„Vorsicht, es könnte glitschig sein. Fall nicht ins Wasser.“ Natürlich machte ich mir Sorgen. Allerdings war ich auch neugierig darauf, was Lina entdeckt hatte und machte mich direkt auf den Weg zu ihr.

„Sieh doch, Papi.“

„Was ist da denn Tolles?“ Ich hatte noch immer nichts entdeckt und entschied mich dafür, mit meinen Augen Linas ausgestreckten Zeigefinger zu folgen. „Das kann doch nicht …“ Ich unterbrach mich selbst.

„Kannst du ihn jetzt sehen? Wie schön er ist.“

„Ja, ich sehe ihn. Er ist wunderschön.“ Ich stand hinter meinem Kind und legte meine Arme um ihre Brust. Ich spürte die Feuchtigkeit in meinen Augen und wusste, dass nicht die Gischt der Nordsee dafür verantwortlich war.

„Wir lassen ihn aber im Wasser. Dort gehört er hin.“ Lina sprach leise.

„Ja, wir lassen ihn dort, wo er sich wohlfühlt.“ Ich drückte meine Tochter noch etwas fester an mich heran.

„Lass uns gehen. Ich möchte eine Waffel mit Kirschen. Darf ich?“ Lina löste sich aus meiner Umarmung und sah mich an.

„Das hört sich nach einem guten Plan an.“ Ich nahm ihre Hand, und wir machten uns daran, die Buhne zu verlassen. Nach wenigen Schritten blieb meine Tochter stehen und drehte sich nochmals um.

„Tschüss, lieber Seestern. Danke, dass wir dich sehen durften. Und nun los, suche dir ein tolles Versteck, damit dich die Möwen nicht erwischen.“

Frau Holle

Beruhigt darüber, dass Lina nicht auch die nächsten Tage irgendwelche Götter um Hilfe gefragt hatte, waren wir viel auf der Insel unterwegs.

Das mit dem Seestern war definitiv ein Zufall gewesen, und ich war froh, dass mein Butsche nicht weiter darauf eingegangen war. Ich hätte auch keine Erklärung parat gehabt, warum es bei anderen Wünschen nicht ebenfalls funktioniert hatte.

Doch noch war ich auf der sicheren Seite, da meine Kleine sich täglich meine Fotoausrüstung schnappte und eifrig Bilder machte, anstatt sich über Wunder den Kopf zu zerbrechen.

Am heutigen Samstag, der zugleich auch der letzte Novembertag war, hatte Lina auch ohne Ende fotografiert. Wir waren zunächst in Keitum gewesen und hatten dort eine fantastische vorweihnachtliche Welt erlebt. Die kleine Ortschaft wirkte einfach zauberhaft. Nein, es schien fast so, als wäre sie verzaubert worden. Überall waren Lichterketten, und die meisten Häuser waren ebenfalls herrlich festlich geschmückt. Die Schaufenster der kleinen Lädchen luden zum Weihnachtsbummel ein, und sogar die Menschen, die normalerweise mit einer miesepetrigen Laune durch die Weltgeschichte liefen, waren freundlich.

Tatsächlich schaffte es ausschließlich die Weihnachtszeit, besser gesagt, bereits die Vorweihnachtszeit, dass es friedlicher als sonst auf der Welt war. Als es dann auch noch zu schneien begann, war die Szenerie perfekt.

„Los, Papi, mach mit.“ Lina hielt ihren Kopf gen Himmel und versuchte auf diese Weise, mit ihrer Zunge einige Schneeflocken zu erwischen.

„Verschluck dich nicht.“ Ich musste lachen und wusste, dass meine Kleine auf solche Sprüche nicht mehr hereinfiel.

„Ich habe schon fünf gefangen. Und du?“

„Noch keine.“ Ich log, da ich selbstverständlich auch schon welche erwischt hatte.

„Wer zuerst zehn Flocken gefangen hat, gewinnt.“ Linas deutliche Ansage animierte mich dazu, jetzt doch mitzuzählen.

„Ich bin bei acht.“ Lina strahlte vor Freude.

„Und ich habe schon sieben Schneeflocken erwischt.“

„Echt? Nicht schummeln, Papa.“

„Niemals!“ Klar hatte ich geschummelt, da ich bereits weit über zehn Flocken gefangen hatte, es aber nicht verraten wollte.

„Zehn, gewonnen!“ Stolz sahen mich glückliche Kinderaugen an.

Dass mir der Schnee irgendwie wärmer als sonst vorkam, behielt ich auch lieber für mich. Was hätte ich auch sagen sollen? Immerhin lag es ganz sicher nur an meiner Einbildung. Schnee war Schnee, und Schnee war schon immer kalt gewesen.

Dann ging es weiter zum Morsumer Kliff. Es war Linas Wunsch, da sie es liebte, dort Fotos zu machen. Allerdings war diese Gegend aber auch wirklich wunderschön. Nein, sie war einzigartig, wie meine Tochter selbst.

Als wir auf den Parkplatz beim Kliff ankamen, war die Welt bereits in ein wunderschönes Weiß gekleidet. Die Schneeflöckchen waren inzwischen zu riesigen Flocken geworden, und ich ging davon aus, dass Frau Holle noch längst nicht fertig war mit dem Ausschütteln ihrer Betten.

Auf dem Weg zum Kliff war Stille. Einzig unsere Schritte im Schnee waren zu hören. Es knisterte und fühlte sich toll an, da wir dieses Geräusch seit einigen Jahren nicht mehr kannten.

„Ob Opili den Schnee auch gemocht hätte?“ Leise drangen Linas Worte in meinen Gehörgang.

„Natürlich. Als ich klein war, ist Opa immer mit mir Schlitten gefahren. Wir hatten viel Spaß dabei.“ Ich stoppte meine Worte und musste daran denken, dass wir nicht ausschließlich nur Freude hatten. Also, mein Vater schon, ich hingegen weniger, da er eine reichlich blöde Angewohnheit hatte.

„Weißt du, ich habe es gehasst, wenn Opa mir dabei immer meine Mütze ins Gesicht geschoben hat.“ In Gedanken sah ich uns an der Alster laufen, während mein Vater dieses blöde Spiel mit mir machte.

„Wie? Ich kapiere nicht, was du meinst.“

„Das ist ganz einfach. Pass auf.“ Mit einer schnellen Handbewegung tat ich das, was ich damals immer erleiden musste. Ich legte meine Hand auf Linas Kopfbedeckung und schob sie soweit nach unten, dass sie nichts mehr sehen konnte.

„Hey! Lass das, ich sehe nix mehr.“ Schnell schob Lina die Mütze wieder dorthin, wo sie hingehörte.

„Doof oder? Fand ich auch immer.“ Erneut führte ich meine Hand zu ihrem Kopf und wiederholte mein Tun von eben.

„Papa! Mach nicht einen auf Opa.“ Meine Kleine zog lachend die Mütze aus dem Gesicht, und ich stieg ins Lachen mit ein.

Zwei Stunden später saßen wir wieder im Auto.

Falsch, Lina hatte bereits Platz genommen, und ich war dabei, den Wagen von den großen Schneemassen zu befreien. Unaufhörlich hatte es geschneit, und wenn ich den Himmel betrachtete, konnte man auch nicht davon ausgehen, dass es in naher Zukunft aufhören würde.

Als ich fertig war, fuhren wir los. Die Heizung lief auf Hochtouren, und ich war mal wieder heilfroh darüber, dass mein Jeep eine Sitzheizung besaß.

„Wohin fahren wir?“ Mein Butsche sah mich an.

„Zurück nach Westerland. Oder was meinst du?“ Mir war kalt, und ich hatte Hunger.

„Dafür bin ich auch.“ Lina nickte und stellte die Musik lauter, als Johannes Oerding uns etwas von der Leuchtschrift am Himmel vorsang.

„Das Lied passt perfekt oder Papi? Es wird gleich dunkel.“ Ich sah nur kurz zu meiner Beifahrerin hinüber, da ich mich auf das Fahren auf schneebedeckten Straßen konzentrieren musste.

„Nun ja, zumindest fast. Bei den Wolken werden wir von Sternen nicht viel erkennen können.“

„Ich kann Opis Stern immer sehen.“ Fast ein wenig eingeschnappt, drehte Lina die Musik noch lauter und sah aus dem Beifahrerfenster.

Schneeverwehungen

Lina hatte gewonnen. Auch wenn ich wirklich nur sehr begrenzten Appetit auf Fastfood hatte, waren wir in dem Restaurant mit dem großen M eingekehrt.

Gut daran war allerdings, dass es hier freies WLAN gab und ich so durch das Internet surfen konnte. Natürlich erst nach dem Essen. Ich trank dabei einen Cappuccino, während sich mein Tochterkind ein Softeis zum Nachtisch gönnte.

Als ich meine Wetter-App öffnete, traf mich fast der Schlag. Meine Vermutung von vorhin war richtig gewesen, der Schneefall würde nicht weniger werden. Das Gegenteil war der Fall, und blöd war außerdem, dass ab heute Nacht starker Wind aufkommen sollte. Was das bedeutete, war mir natürlich sofort klar. Es würde Schneeverwehungen geben, die für eine längere Autofahrt natürlich echt unpassend waren.

Und wenn morgen der Autozug nicht fährt? Ein Gedanke schoss in meinen Kopf. Hier festsitzen, war nicht drin. Ich musste am Montag arbeiten und Lina in die Schule.

„Kleine, wir müssen heute schon abreisen.“ Ich hob meinen Blick vom Handy und sah meine Tochter an.

„Okay.“ Mehr sagte sie nicht.

Okay? Einfach nur okay? Interessiert dich gar nicht, warum wir abfahren müssen? Ich musste während meiner Gedanken grinsen.

„Warum lachst du?“

„Ich lache nicht, sondern grinse.“ Wir sahen uns an, und ich erkannte, dass Lina mein Verhalten nicht begriff.

„Und warum grinst du?“ Neugierig war sie also doch.

„Weil dich überhaupt nicht interessiert, warum wir so plötzlich los müssen.“

„Es wird schon einen wichtigen Grund haben. Aber es ist ja auch egal, ob wir heute Abend oder gleich morgen früh fahren.“ Ein Achselzucken begleitete ihre Sätze.

„Es soll weiter heftig schneien, und in der Nacht kommt noch Wind dazu. Bevor wir morgen nicht von der Insel kommen, ist es besser, noch heute die Sachen zu packen und abzuhauen.“ Ich fand, dass ich es erklären sollte, auch wenn Lina nicht danach gefragt hatte.

„Okay.“

Keine zwei Stunden später befanden wir uns schon mitten auf dem Hindenburgdamm. Der Zug war voll, was garantiert daran lag, dass noch andere die gleiche Idee wie wir hatten. Wie wir? Nein, eigentlich wie ich.

Auch auf dieser Fahrt durften wir mit unserem Auto oben stehen, hatten jedoch nicht viel davon, da wir durch das Gemisch aus starkem Schneetreiben und der Dunkelheit nicht wirklich etwas von der Landschaft erkennen konnten.

„Die Fahrt ist echt stinkelangweilig, und die Musik ist auch kacke.“ Genervte Worte drangen in mein Ohr.

„Dann mach doch was anderes an.“ Den Zusatz, dass pöbelnde Kinder nervig sein können und ich weder was für die Dunkelheit, den Schneefall, oder die Radiomusik konnte, verkniff ich mir lieber. Als Vater wusste man, wann es besser war zu schweigen.

„Okay.“ Lina griff nach ihrem Handy, aktivierte Bluetooth und verband es mit dem Autoradio.

„Hast du ein neues Lieblingswort?“ Ich musste lachen, da ich schon wieder lediglich ein Okay als Antwort bekommen hatte.

„Nö.“

Als Cro aus den Lautsprechern drang, wurde Linas Laune langsam etwas besser. So war es bei meinem Vater auch immer gewesen. Er hörte zwar nicht Cro, dafür stieg seine Laune jedoch bei Jazzmusik immer sofort an.

„Warum hält der Zug? Ist was passiert?“ Ich wurde entsetzt angesehen.

„Wahrscheinlich müssen wir einen entgegenkommenden Zug vorbeilassen und dafür kurz stoppen.“ Ehrlich gesagt, hoffte ich, dass es so war. Auf eingefrorene Gleise oder Schneeverwehungen hatte ich wenig Bock. Einige Stunden auf dem Hindenburgdamm zu verbringen, gehörte jetzt wahrlich nicht zu meinen Favoriten. Doch sollte ich Lina was von meinen Befürchtungen sagen? Sicherlich nicht!

Alles um uns herum war dunkel, und wenn Cro nicht noch immer für uns gesungen hätte, wäre es garantiert totenstill gewesen. Gerade, als ich meiner Kleinen den Vorschlag machen wollte, dass wir ja was spielen könnten, ging im Fahrzeug vor uns die Innenbeleuchtung an.

„Papi … Wie süß ist der denn!“ Nein, es war kein Sprechen, sondern vielmehr ein Kreischen.

„Was ist süß?“ Ich hatte nichts entdeckt.

„Da … guck doch.“ Erst jetzt erkannte ich einen kleinen Hundekopf, der neugierig aus dem Heckfenster des vor uns stehenden Wagens zu uns sah.

„Tatsächlich. Der ist wirklich niedlich.“

„Niedlich? Der ist der Hammer. Sieh dir die kleinen Schlappohren an, die kleine schwarze Nase und sein bernsteinfarbenes Fell.“ Lina kam gar nicht aus dem Schwärmen heraus.

„Bernsteinfarben? Der Knirps ist doch braun.“

„Papa! Bernsteinfarben ist doch ein Braunton. Weißt du das etwa nicht?“

„Doch … Eigentlich schon.“ Weiter zu diskutieren, konnte ich mir sparen. Natürlich hatte meine Tochter recht, und ich wusste auch genau, welcher Satz als nächstes folgte.

„Können wir uns nicht auch einen Hund holen? Bitte! Einen solchen wie der da.“ Ihr Finger war direkt auf den kleinen Hund gerichtet.

„Du weißt doch …“

„Ach Mensch! Vielleicht zu Weihnachten? Ich wünsche mir nichts anderes und gehe auch immer mit ihm raus.“ Lina hatte mich nicht nur unterbrochen, sondern direkt versucht, alle Register zu ziehen.

„Das geht leider wirklich nicht.“

„Okay.“

Da war es wieder. Ihr neues Lieblingswort musste erneut herhalten. Trotzdem war ich erstaunt, dass das Thema so schnell vom Tisch war. Wahrscheinlich lag es daran, dass wir schon häufig darüber gesprochen hatten und sie meine Antwort kannte. Klar hätte auch gerne einen Hund. Leider passte es jedoch nicht, da er zu häufig hätte alleine sein müssen.

Dann ging die Fahrt weiter. Zum Glück hatten wir wirklich nur einen anderen Zug vorbeilassen müssen.

„Tschüss, kleiner brauner Hund.“ Lina winkte dem niedlichen Gesellen noch kurz zu, dann setzte sich der Wagen vor uns in Bewegung. Wir hatten Niebüll erreicht, konnten den Zug verlassen.

Unfallfrei kamen wir drei Stunden später zu Hause an und fielen hundemüde in die Betten. Auspacken wollten wir morgen. Immerhin hatten wir durch unsere vorgezogene Abfahrt den ganzen Sonntag Zeit dafür.

Vergessen!

Ich träumte diese Nacht wie verrückt und hätte darauf gerne verzichten können.

Mein Vater war die Hauptperson meiner Träume und ließ mich als eine Art Dirigent durch die Vergangenheit wandern.

Er zeigte mir Fehler und maßregelte mich dafür. Merkwürdigerweise waren es Fehler, die ich niemals begangen hatte. Zumindest welche, an die ich mich nicht erinnerte.

Lina kam nicht in meinen Träumen vor. Ob der Grund dafür war, dass ich im Bezug zu ihr keine Fehler gemacht hatte? Wohl kaum! Welcher Vater ist schon fehlerfrei!?

Dann träumte ich von Geräuschen. Zunächst hörte ich das Knarren einer Tür. Nein, nicht irgendeiner Tür, sondern von der, die zum Zimmer meines Vaters gehörte. Die, die schon mein ganzes Leben lang knarrte.

Nachdem sie mit einem lauten Knall zugeschlagen war, erkannte ich Licht. Die Nachtischlampe meines Vaters leuchtete, und die Lichtstrahlen kamen unter der schweren Tür hindurchgekrochen. Sie machten sich in unserem Haus breit und suchten sich ihren Weg. Einen Weg, den ich nur zu gut kannte. Es war genau der Weg, den ich bereits als Kind gelaufen war und den auch Lina jedes Jahr vierundzwanzigmal und voller Freude lief.

Es war die Strecke vom Zimmer meines Vaters zum Kamin. Dort hing immer der Adventskalender.

Genau in dem Moment, als ich vom Adventskalender träumte, wurde ich wach.

„Scheiße! Ich dumme Bratwurst.“ Ich richtete mich auf und spürte kalten Schweiß über die Stirn laufen. Dann sprang ich aus dem Bett und lief zur Tür. Dort angekommen, blieb ich stehen und richtete meinen Blick zum Nachttisch. Mein Wecker zeigte in feurig roter Farbe an, dass wir es 3:35 Uhr hatten.

„Und jetzt?“ Mit der Situation überfordert, zog ich mir eine Jogginghose an und griff anschließend nach dem Kapuzenpulli, der auf dem Stuhl lag. Dann verließ ich mein Schlafzimmer und machte mich auf den Weg in die Küche. Durch das Fenster hindurch konnte ich die leuchtenden Straßenlaternen erkennen. Und ich erkannte noch etwas. Es schneite unaufhörlich, und die Flocken waren riesengroß. Wind war ebenfalls aufgekommen, und ich war froh darüber, dass wir mit unserer Abfahrt von Sylt alles richtig gemacht hatten.

„Mit der Abfahrt schon. Dafür habe ich aber das Wichtigste überhaupt verbockt. Ich bin wirklich ein selten dämlicher Kerl. Nein, ich bin ein schlechter Vater. So etwas wäre meinem Papa niemals passiert.“ Ich sprach zu mir selbst und hasste mich in diesem Augenblick für meine Unfähigkeit.

Mein Traum von eben hatte mir etwas sagen wollen. Nein, etwas zeigen, und ich bin froh darüber, nicht weiter geträumt zu haben. Tatsächlich war ich jetzt glücklich, hier in der Küche zu stehen und nicht meinen Traum weiterträumen zu müssen. Wäre es so gewesen, hätte ich wahrscheinlich Bilder gesehen, wie meine Tochter morgen früh aus ihrem Zimmer kam und sich auf den Weg machte. Sie wäre zum Kamin gelaufen, so wie sie es jedes Jahr tat. In einer Hand hätte sie eine Schere getragen und auf ihrem niedlichen Kindergesicht hätte ein Strahlen gelegen. Ihr kleines Kinderherz wäre voller Vorfreude gehüpft, und ihre müden Augen wären mit jedem Schritt wacher geworden.

Und dann … Ja, dann wäre sie beim Kamin angekommen und hätte ins Nichts geschaut. Dort, wo sonst immer ihr Adventskalender hing, war es leer, da ich Volltrottel keinen gebastelt hatte. Doch nicht nur das, ich hatte sogar vergessen, vierundzwanzig Kleinigkeiten zu besorgen. Wenn ich zumindest daran gedacht hätte, gäbe es die Chance, jetzt alles nachzuholen. Immerhin war noch etwas Zeit, bis Lina aus ihrem Bettchen stieg.

Doch Pustekuchen. Ich hatte es komplett verbockt.

Da ich jetzt nichts mehr ändern konnte, ging ich zurück in mein Bett. Als ich am Zimmer meines Vaters vorbeiging, glaubte ich kurz, einen Lichtstrahl unter dem Türschlitz zu erkennen. Als ich erneut hinsah, war er jedoch verschwunden.

„Das sind die Nachwirkungen meines Traumes“, sagte ich und ging weiter. Dann hörte ich ein Geräusch.

„Lina? Lina, bist du das?“ Ich sprach leise und spitzte meine Ohren. Doch es war still. Auch, als ich zur Tür meines Vaters zurückging und mein Ohr an sie legte, war nichts zu vernehmen.

Auch noch zwei Stunden später war ich wach. Ich lag auf meinem Bett und sah aus dem Fenster. Auch von hier konnte ich die tanzenden Schneeflocken erkennen. Allerdings kamen sie nicht mehr von oben. Zumindest wirkte es so, da der Wind inzwischen sehr kräftig geworden war und die Flocken von links nach rechts trieb.

An Schlaf war nicht zu denken. Zum Glück schaffte ich es aber, meine negativen Gedanken loszulassen. Ich vertrieb sie und ersetze sie durch einen Plan. Gleich ganz früh wollte ich mich morgen auf die Socken machen und alles besorgen, was ich für Linas Adventskalender benötigte.

Da meine Kleine mit absoluter Sicherheit sehr früh wach war und ich ihr die Enttäuschung so gut es ging ersparen wollte, stand ich auf und verließ das Schlafzimmer.

Ich schob den alten Schaukelstuhl, in dem mein Vater immer so gerne gesessen hatte, vor den Kamin und wartete auf meine Tochter. Dort sitzend wollte ich sie in Empfang nehmen und ihr alles erklären. Die Wahrheit war schließlich immer das beste Rezept.

Ja, so würde es funktionieren, und da ich sowieso nicht einschlafen konnte, war mein Plan perfekt.

Der Adventskalender

„Papi, wach auf! Was hast du nur gemacht?“ Leider hatte die Müdigkeit doch gegen meinen Plan gesiegt. Ich war also nicht nur ein schlechter Vater, der seiner Tochter keinen Adventskalender gebastelt hatte, sondern auch noch ein Weichei, das zu schwach war, gegen die Müdigkeit zu gewinnen.

„Weißt du …“ Ich stoppte, da ein „Es tut mir leid“ einfach nicht die richtigen Worte gewesen wären. Mir war klar, dass ich eine Erklärung dazu abgeben musste. Am besten die, die ich mir heute Nacht überlegt hatte. Blöd war nur, dass sie mir jetzt nicht einfiel.

„Für Lina und Ben, viel Spaß im Tal des Unmöglichen.“ Nachdem Lina die kleine Lampe angeknipst hatte, sah sie über mich hinweg und sagte diese Worte.

„Was hast du gesagt?“ Natürlich hatte ich jedes einzelne Wort verstanden, begriffen jedoch nicht.

„Für Lina und Ben, viel Spaß im Tal des Unmöglichen.“ Ohne nachzufragen, sagte sie den Satz einfach nochmal. Anschließend sah sie mich an, strahlte wie ein kleines Kind, das ihren selbstgebastelten Adventskalender entdeckt hatte und sprang mir auf den Schoß. „Danke, Papi, du bist der beste Papa der Welt.“ Der Schaukelstuhl wippte bedrohlich, trotzdem hatte ich keine Angst davor, gemeinsam mit meiner Tochter vom Stuhl zu kippen.

Warum es nicht so war? Ganz einfach, ich war noch immer mit Linas Worten beschäftigt und konnte mich nicht entscheiden, welche mich mehr verwirrten. War es der Satz mit dem Tal des Unmöglichen? Oder doch die Worte, dass ich angeblich der beste Papa der Welt war.

„Hör mal, Lina, ich muss dir was erklären. Leider habe ich vergessen …“ Weiter kam ich nicht.

„Darf ich jetzt schon aufmachen?“ Linas eben noch müde Augen funkelten vor Glück.

„Was willst du öffnen?“ Erstaunt und unwissend sah ich zu meinem Kind.

„Mensch, Papili, nun tu doch nicht so doof. Darf ich?“ Irgendwie verstand ich die Situation nicht. Erneut nachzufragen, war jedoch überflüssig, da es irgendetwas geben musste, was ich nicht auf dem Zettel hatte.

„Mach einfach.“ Erst jetzt fielen mir wieder Linas Worte ein. Plötzlich war mir wieder der erste der Sätze präsent, die meine Tochter eben gesagt hatte und in dem unsere Namen vorkamen.

Nur unsere Namen? Nein, sie hatte auch etwas von einem Tal gesagt. Vom Tal des Unmöglichen sogar, und genau aus diesem Grund versuchte ich, mich etwas aufzurichten. Es war ein Vorhaben, das nicht wirklich einfach war. Mit einer Elfjährigen auf dem Schoß und auf einem Schaukelstuhl sitzend, konnten sowas wahrscheinlich nur Zirkusakrobaten, und daher gab ich nach kurzer Zeit auf.

„Manno, sitz doch mal still! So kann ich nicht aufstehen und komme nie an das erste Türchen.“ Lina hockte auf mir, drückte auf meine Nase und sah mich an.

„Ist ja schon gut. Ich werde versuchen, mich nicht mehr zu bewegen.“ Ich lachte, während Lina von mir herunterkletterte. Erst als sie vor mir stand und wieder über mich hinweg zum Kamin sah, schnallte ich, was sie eben von sich gegeben hatte. Das erste Türchen? Was für ein Türchen? Werde ich etwa gerade von meiner Tochter veralbert? Dort kann kein Türchen zum Öffnen sein, schließlich habe ich Depp …

Während meiner Gedanken war ich aufgestanden und hatte mich zum Kamin gedreht. Was ich sah, verschlug mir die Sprache, und ich vermutete gerade, die erste Halluzination meines Lebens zu erleben.

Über unserem Kamin hing tatsächlich ein riesiger Adventskalender. Er bestand aus rotem Stoff, auf dem alle erdenklichen weihnachtlichen Figuren verewigt waren. Ich sah Rentiere, Schlitten, Engel und den Nikolaus. Der Rand bestand aus Zuckerwatte, und wenn mir meine Augen keinen Streich spielten, war der komplette Kalender mit rotweißen Zuckerstangen umrandet. Wunderschön in die Figuren hineingearbeitet standen die Worte, die Lina vorhin vorgelesen hatte.

„Für Lina und Ben, viel Spaß im Tal des Unmöglichen.“ Jetzt war ich es, der die Inschrift laut vorlas. Dann ging mein Blick etwas weiter nach unten, und ich konnte vierundzwanzig Jutesäcke erkennen, auf denen jeweils ein großes Bild zu sehen war.

Doch was waren es für Bilder? Ich war nicht in der Lage, sie zu erkennen. Stand ich zu weit weg? Oder waren sie tatsächlich total verschwommen? Herausfinden würde ich es wohl nur, wenn ich näher an den Kalender ranging. Nachdem ich den ersten Schritt getan hatte, blieb ich stehen.

„Wo kommst du her? Wer hat dich gebracht?“ Ich stoppte meine kleine Fragestunde, da es wohl kaum Sinn machte, sich mit einem Adventskalender zu unterhalten.

„Was hast du gesagt, Papi?“ Lina sah mich an.

„Ich muss dir was sagen. Ich habe keine Ahnung, woher dieser Adventskalender kommt. Wie er zu uns gekommen ist. Ich habe nämlich vergessen, einen zu basteln und …“ Lina unterbrach mich.

„Darf ich jetzt das erste Türchen öffnen?“ Meine Kleine sah mich bittend an.

„Natürlich.“ Es schien ihr egal zu sein, woher dieser Kalender kam. Wahrscheinlich machten sich Kinder keine Gedanken über Dinge, die man nicht ändern konnte.

So wie bei diesem Kalender. Er war einfach da, und wir konnten es nicht ändern. Falsch, wir wollten es auch nicht!

„Okay, dann schneide ich den Sack jetzt ab.“ Lina stand inzwischen direkt am Kalender und griff nach dem ersten Jutesäckchen. Als ihre kleinen Finger es berührten, wurde das verschwommene Bild deutlich. Aus einem verwaschenen schwarzweißen Foto wurde ein farbiges Bild, auf dem eine Holzeisenbahn zu erkennen war.

„Papi, schau mal.“ Lina drehte sich zu mir, dann sprach sie weiter. „Die sieht aus wie unsere.“ Meine Antwort war ein Nicken, da ich einen Moment brauchte, um mich zu sammeln.

„Das ist unsere.“ Ich hatte es daran erkannt, da sie am Schornstein eine Delle hatte. Tatsächlich war das Bild auf dem Jutesack ein Foto unserer Holzeisenbahn.

Stumm und schweigend standen wir da. Dann trafen sich unsere Blicke.

Türchen Eins – Die Magie beginnt

Sonntag, 01. Dezember

*** Unser Traumzug ***

Ein kurzes Nicken hatte für unsere Verständigung gereicht.

Nachdem Lina den Sack abgeschnitten hatte und neben zwei Schokoengeln noch eine Schriftrolle herausnahm, konnte ich die Aufregung in ihrem Gesicht ablesen. Andersherum verhielt es sich natürlich ebenso, da auch ich einen solchen Augenblick selbstverständlich noch nie erlebt hatte.

„Willst du? Oder soll ich lesen?“ Meine Tochter sah mich an.

„Ich würde mich darüber freuen, wenn du liest. Wollen wir uns setzen?“ Ich deutete zum Schaukelstuhl. Auf den Platz, auf dem mein Vater am Heiligabend immer saß und uns die Geschichte Pelle zieht aus vorgelesen hatte.

Es war ein tolles Ritual, und ich fand, dass es wir es fortsetzen sollten. Okay, heute ging es nicht um Pelle, aber schließlich war auch noch nicht der vierundzwanzigste Dezember.

Nachdem ich Platz genommen hatte, hüpfte Lina auf meinen Schoß und begann sofort damit, die Schriftrolle zwischen ihren Händen auszubreiten.

„Bist du bereit, Papi?“

„Und wie!“ Ich legte meine Arme um Lina, brachte den Schaukelstuhl in Bewegung und spitzte gespannt die Ohren.

Der Traumzug und das Tal hinter dem Unmöglichen.

Habt ihr schon einmal etwas vom Traumzug gehört?

Nein?! Dann müssen wir das jetzt aber dringend ändern.

Wann, außer jetzt, ist ein besserer Zeitpunkt dafür. Kommt mit auf die Reise. Auf eine Reise in eine für euch unbekannte Welt.

Erlebt Abenteuer und trefft „Freunde“, die euch durch das Leben begleitet haben.

Ich habe meiner kleinen Tochter früher jeden Abend eine Geschichte über den Traumzug erzählt. Genau, wie es mein Vater früher auch für mich getan hatte.

Doch das ist Vergangenheit, heute seid ihr mit dem Zuhören an der Reihe.

Wir haben nämlich den 1. Dezember, und damit wird auch das erste Adventskalendertürchen geöffnet.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739473642
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Träume Weihnachtsmann Suche Tochter Familie Advent Reise Liebe Weihnachten Vertrauen Humor Kinderbuch Jugendbuch Roman Abenteuer

Autor

  • Ben Bertram (Autor:in)

Ben Bertram ist das Schreibpseudonym eines waschechten Hamburger Jung. Am 14.05.1968 erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er seit vielen Jahren pflegt. Er lebt in seiner Lieblingsstadt Hamburg und verbringt viel Zeit auf der Insel Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Dort wird er, wenn sein Blick auf das Meer gerichtet ist, von vielen neuen Ideen und Eingebungen „überfallen“.
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Titel: Der magische Adventskalender