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Hannas Wahrheit

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Hanna, Band 1

Zusammenfassung

Als sie sich das erste Mal begegnen, sind sie Feinde: die Fotografin Hanna Rosenbaum und Major Ben Wahlstrom, Soldat einer deutschen militärischen Spezialeinheit. Hanna versucht, die Menschen zu beschützen, die sie liebt, Ben hingegen will die Wahrheit hinter einem Anschlag auf ein afrikanisches Dorf aufdecken, um die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Hanna gibt Ben für eine einzige Nacht Einblick in ihre Seele, die sie so lange verschlossen hielt, und muss am nächsten Morgen feststellen, dass er ihr Vertrauen missbraucht. Gibt es immer nur eine Wahrheit? Und wenn ja – was ist, wenn diese Wahrheit bedeutet, einen Menschen zu verlieren, der aus tiefstem Herzen etwas Gutes erreichen wollte, aber dafür einen Weg wählt, der Leben kostet?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Rossi


»Es gibt Schönheit mitten im Leiden, Freude in der Trauer, Hoffnung in der Verzweiflung und neues Leben sogar im Tod.«

Nigerianische Lebensweisheit

1

Afrika

Tagelang war der Regen ausgeblieben. Staub hüllte den Jeep ein, drang durch jede Ritze in das Innere des Fahrzeugs. Wie ein feiner Film legte er sich auf die Menschen und gab allen das gleiche gelbliche Aussehen. Hanna Rosenbaum konnte den Staub sogar auf ihren Zähnen spüren. Vor einer ganzen Weile schon hatte sie aufgehört, den Mund mit Wasser aus zu spülen. Es war zwecklos, nach ein paar Minuten fühlte sich alles genauso trocken an wie zuvor. Selbst das Tuch über Nase und Mund nützte nichts. Besorgt dachte sie an ihre teure Kameraausrüstung.

Sie sah nach vorn. Ochuko Mutai fuhr konzentriert in einem gleichmäßigen Tempo. Wie Ochuko Mutai durch den Staub hindurch überhaupt die Straße sehen konnte, war ihr schleierhaft. Sie drehte sich zu ihrem Reisegefährten Harald Winter um, der leise vor sich hin schimpfend versuchte, die Kappe seiner Wasserflasche zu öffnen. Harald hatte ihr vor zwei Stunden den Platz neben dem Fahrer überlassen, sicher, weil er hoffte, dass es im hinteren Teil des Wagens etwas weniger staubte.

Winter fluchte, als das Auto anhielt.

»Was ist los?«, fragte er den Fahrer auf Englisch.

Hanna hörte die Gereiztheit in seiner Stimme. Nach zwei Wochen unterwegs mit Zelt, schlafen auf dem Boden und über dem Feuer aufgewärmtem Essen, sehnte er sich nach einem weichen Bett, so gut kannte sie ihn schon von ihren früheren Reisen.

Sie griff ihre Kamera, stieg aus dem Fahrzeug und begann, Fotos von der Landschaft zu machen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Ochuko Mutai zu Winter umdrehte.

»Ich würde gerne bei meiner Schwester vorbeischauen. Ihr Dorf ist nicht weit von hier entfernt, und von dort ist es nur noch eine Stunde bis zum Flughafen von Zaria. Wir wären in jedem Fall rechtzeitig da.«

Hanna schaute von ihrem Objektiv auf. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wusste, Harry würde einwilligen. Sie beide mochten den schweigsamen Ochuko, der zu einem ihrer Lieblingsmotive geworden war.


Sie waren für National Geographic in Nigeria unterwegs. Harald Winter schrieb eine Reportage über die Umweltschäden durch Erdölförderung im Nigerdelta und Hanna Rosenbaum war für die Fotos zuständig.

Hanna sah in allem, was sie umgab, die Schönheit der Schöpfung. Was sie in der Natur berührte, versuchte sie in ihren Fotos einzufangen.

Die Reise war für alle anstrengend gewesen, und eine kurze Pause, dachte Hanna, würde allen guttun. Außerdem war sie neugierig auf die Schwester von Ochuko Mutai. In seiner unvergleichlich indirekten Art hatte er Hanna einiges über sie erzählt, voller Liebe und Respekt in seinen Worten. Bis zu ihrem Rückflug nach Nairobi, von wo sie in zwei Tagen die Rückreise nach Deutschland antreten würden, war noch genügend Zeit für den kleinen Abstecher.


»Hanna, wir fahren weiter!«

Hanna lag flach auf dem Boden, um eine bessere Perspektive auf den Käfer zu haben, den sie entdeckt hatte.

In Harrys Stimme lag eine Spur von Ekel. Hanna musste grinsen. Als sie ihm vorher das Foto einer monströsen Spinne, gezeigt hatte, die sie am Tag zuvor in ihrem Lager fotografiert hatte, war er kreidebleich geworden.

Sie stand auf, klopfte sich den Staub aus den Klamotten, obwohl das völlig vergeblich war, und stieg zu den Männern ins Fahrzeug. Ochuko Mutai grinste, was Hanna zum Anlass nahm, ein weiteres Foto von ihm zu schießen.

»Ich frage mich, wen du mit deiner Fotografiererei nervst, wenn du wieder zu Hause bist«, brummte Harald.

»Dich«, antwortete sie und schoss ein Foto von ihm.

»Sag mal, Ochuko«, wandte sich Hanna an den Fahrer, »warum hast du gerade über mich gelacht?«

»Weil ich noch keine Frau kennengelernt habe, die jede Gelegenheit nutzt, um sich im Dreck zu wälzen, und das für die ekeligsten Geschöpfe auf dieser Erde.«

Sie lachten alle. Als Beschreibung von Hannas Tätigkeit in den letzten Wochen war das ziemlich zutreffend. Vor vier Jahren war sie das erste Mal mit Harald Winter zusammen unterwegs gewesen. Ein Fotoreporter war erkrankt, und die Agentur hatte Hanna kurzfristig für einen Auftrag über den Ganges angefragt. Das war ihre Chance gewesen, in die Liga der professionellen Fotoreporter einzusteigen.

Damals war sie vierundzwanzig und ein vollkommen unbeschriebenes Blatt. Harald Winter hatte sich maßlos aufgeregt, als er sie in Indien an die Seite gestellt bekam. Hanna erinnerte sich noch genau an seinen Wutanfall und seinen umgehenden Anruf bei der Agentur. Sie war ganz ruhig geblieben und hatte abgewartet, bis er einsah, dass es keine andere Möglichkeit gab. Missmutig schimpfte er über sie als Frischling und beklagte sich, dass er mit einer Frau dem Lauf des Ganges in die Berge folgen sollte. Wenn Hanna glaube, dass er ihre Kameraausrüstung tragen würde, dann habe sie sich geschnitten.

Belustigt war Hanna ihm gefolgt. Nicht sie war es, die nach dem vierten Tag über die Strapazen klagte. Ihr war kein Fußmarsch zu weit, sie kletterte jeden Baum hoch, wenn es dort eine bessere Perspektive für ein Foto gab.

Ihre Ausrüstung gab Hanna niemals aus der Hand. Sie packte ihren Rucksack immer mit denselben Utensilien, lediglich die Stoffe änderten sich je nach Klimazone. Eine Hose, ein zweites Oberteil, sechs Unterhosen, drei BHs, drei Paar Socken, Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Shampoo und Hygieneartikel. An der einen Seite ihres Rucksacks war eine Halterung mit Schutzhülle für ihr größtes Objektiv. Auf der anderen Seite gab es eine Halterung für das Stativ. Um die Taille trug sie einen Gurt, in dem sich ein weiteres Objektiv befand, ein Tuch, ein Schweizer Offiziersmesser, ein Jagdmesser, Batterien sowie in verschiedenen kleinen Taschen, nach einem bestimmten Farbencode sortiert, die Speicherkarten für die Kamera. Hanna konnte mit verbundenen Augen einen Objektiv- und Chipkartenwechsel vornehmen, noch dazu in der Geschwindigkeit, wie Profis in Thrillern die Magazine ihrer Waffen wechselten.

Schon bald waren Winters Bedenken verschwunden. Nachdem er ihre ersten Fotos zu Gesicht bekommen hatte, hatten sie sich zu Begeisterung gewandelt. Sein Artikel mit Hannas Fotos trieb die Auflagenhöhe der Zeitschrift nach oben.

Hanna Rosenbaum wurde in der Szene schnell bekannt und eine begehrte Partnerin für den Fotopart. Ihr Blick für die Seele eines Landes und noch mehr für die Menschen darin war unbestechlich. Schon häufig war Hanna das Staunen in Winters Gesicht aufgefallen, wenn sie ihm Fotos von ihren gemeinsamen Unternehmungen zeigte. Sie wusste, dass er sich fragte, wieso er nicht sah, was ihre Bilder ihm klar offenbarten. Manchmal machte sie sich einen Spaß daraus und brachte ihn völlig aus der Fassung, wenn sie durch digitale Nachbearbeitung besondere Merkmale in den Bildern hervorhob.

Es war Hannas einzigartiger Blick durch das Objektiv, der ihn zu ganzen Geschichten inspirieren konnte. Letztes Jahr war Harald Winter auf der ersten Ausstellung ihrer Fotos in einer Berliner Kunstgalerie gewesen. Die Ausstellung stand unter dem Motto: Menschen dieser Erde. Die Fotos zeigten Menschen aus verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Lebenssituationen. Es war ihr perfekt gelungen, die Gesichter und ihre Wesenszüge festzuhalten, und die Fotos berührten Winter tief. Viele von den Bildern waren bei ihren gemeinsamen Aufträgen entstanden: die Mutter, die ihr Kind tröstete, das gestürzt war, peruanische Frauen, die sich, in bunte Trachten gewickelt, lachend etwas erzählten. Ein Massai, der konzentriert in die Ferne blickte oder buddhistische Mönche in tiefer Meditation, sodass Stille und Ruhe förmlich greifbar waren.

Hanna wusste, seit Harald Winter mit ihr für Reportagen unterwegs war, gewann sein Stil an Klarheit und Kraft. Nun wagte er sich sogar an sein erstes Buch, das aus der Reportage über den Ganges hervorging.

Sie waren ein gutes Team, Hanna Rosenbaum reiste gerne mit Harald Winter. Er hätte ihr Vater sein können. Nie versuchte er mit ihr zu flirten oder gar mehr. Er erzählte ihr gerne und viel von seinem Leben, hatte vieles gesehen und über noch mehr geschrieben.

Manchmal dachte Hanna, es gäbe nichts, was er nicht wüsste.


Kurze Zeit später saßen alle drei mit Ochuko Mutais Schwester sowie mit zehn Kindern an einem Tisch und aßen Moi-Moi, die traditionelle afrikanische Speise aus in einem Fladen gebackenen Bohnen mit Eiern einer willkommenen Abwechslung nach dem einseitigen Essen der letzten Wochen. Ochuko erzählte den anderen von ihrer Reise, und obwohl Hanna und Winter die Sprache nicht verstanden, erkannten sie an seinen Gesten recht gut, wovon gerade die Rede war: mal von Harald Winter, der ständig in sein Buch kritzelte, mal von Hanna Rosenbaum, die Fotos machte. Hanna beobachtete die Geschwister, und wie ungezwungen sie miteinander umgingen. Rukia Mutai schien jünger zu sein als ihr Bruder Ochuko. Ihr Blick war wachsam und ernst, um ihren Mund war ein trauriger Zug, und in ihrem Lachen lag immer auch Vorsicht.

An der Art, wie Rukia mit den Kindern umging, war Hanna ziemlich schnell klar geworden, dass keines davon ihr eigenes war. Sie fragte sich, weshalb jemand zehn Kinder betreute. Eine weitere Sache fiel ihr auf: Obwohl das Dorf fernab jeder größeren Stadt lag, waren die hygienischen Bedingungen ausgezeichnet. Es gab eine Wasserpumpe im Haus und Strom, die Kinder waren sauber und ordentlich gekleidet, ihre Fingernägel geschnitten, die Haare kurz oder geflochten. Der Staub, wie er ihre Reisegruppe den ganzen Tag verfolgt hatte, war aus dem kleinen Haus verbannt.

Harald Winter hatte sein Notizbuch aus seinem Rucksack herausgezogen und zu schreiben begonnen, während sich das Gespräch zwischen Ochuko und seiner Schwester einem neuen Thema zuwandte.

Die Stimmen der beiden wurden leiser. Ihr Blick streifte immer wieder Hanna, die still aß. Schon bei der Begrüßung war ihr aufgefallen, wie Rukia Mutai sie mit großen Augen betrachtete und ihren Bruder etwas fragte. Ochuko hatte ihr ebenfalls einen Blick zugeworfen, die Stirn gerunzelt und seiner Schwester dann ihren Namen genannt. Hanna wurde das Gefühl nicht los, dass sie in irgendeiner Form der Gegenstand des leise geführten Gesprächs zwischen den beiden war. Sie fühlte sich wie eine Lauscherin, obwohl sie kein Wort verstand.

Andere scheue Blicke streiften die weißen Besucher. Als Hanna Grimassen zog, kicherten die Kinder hinter vorgehaltener Hand. Sie waren wirklich gut erzogen.

Hanna wusste nicht, was sie an den Kindern irritierte. Nachdenklich holte sie ihre Kamera heraus. So rückte sie jeder Frage in ihrem Leben auf den Pelz, mit der Distanziertheit durch das Objektiv ihres Fotoapparats nahm sie Abstand und richtete den Fokus auf den Wesenskern des Motivs, egal ob es eine Landschaft, Tiere oder Menschen waren.

Sie begann, Bilder von den schokoladenbraunen Augen der Kinder zu machen, die neugierig auf ihre Kamera gerichtet waren. Sie stand auf und bat die Kinder, ihr nach draußen zu folgen. Fragende Blicke gingen zu Rukia Mutai, und als sie nickte, kamen die Kinder hinter Hanna hergelaufen. Der Reiz des Neuen hielt aber nicht lange an, und bald waren alle in ihre Spiele vertieft. Nur ein Junge beobachtete sie neugierig, als sie weiter Bilder machte.

Auf dem Display des Fotoapparates zeigte Hanna ihm die Fotos. Dann fragte sie ihn in Zeichensprache, ob er es selbst probieren wollte. Der Junge nickte. Sie erklärte ihm die Kamera und stellte sich als Motiv zur Verfügung, was sie normalerweise nie tat. Sie hasste es, sich selbst auf Bildern zu sehen. Es war ein Gefühl von Schutzlosigkeit und Nacktheit, das sie dabei überfiel, als würde jemand ihren Panzer durchdringen.

Als der Junge einige Bilder gemacht hatte, nahm Hanna ihre Kamera zurück. Auf dem Display zeigte sie ihm seine Bilder. Er besaß ein natürliches Gespür für die Proportionen eines Porträts. Sie streckte ihre Hand aus, und gemeinsam gingen sie ein Stück hinter das Haus. Verblüfft hielt sie inne, als sie den ordentlich angelegten Garten sah.

Der Junge grinste und führte sie zu einem kleinen Beet mit Bohnen, zeigte auf sich, dann auf die Bohnen. Hanna verstand. Aufmerksam betrachtete sie die Pflanzen und fand eine kleine Raupe. Sie hob die Kamera ans Auge, fokussierte das kleine Tier und drückte ab. Als Nächstes gab sie dem Jungen die Kamera und deutete auf die Raupe.

Der Junge nickte eifrig und begann zu knipsen.

Indem sie ihre Bilder verglichen, verstand der Junge, was er anders machen musste, um bestimmte Effekte zu erzielen. Er lernte schnell.

Gemeinsam machten sie sich auf die Jagd nach anderen Motiven. Durch das Objektiv entstand eine neue Welt vor ihren Augen, der Garten wurde zu einem Abenteuer voller kleiner Wunder. Dann nahmen sie sich die Hütte von außen vor, fanden Ritzen, Holzstrukturen und Farbschattierungen. Als sie gerade ein Foto von der Haustür machten, wurde der Junge von den anderen Kindern gerufen. Sein Blick wanderte zwischen seiner neuen Freundin und den Kindern hin und her, Hanna lächelte, nahm ihm die Kamera ab und jagte ihn zu seinen Spielkameraden.

Sie machte noch ein paar Fotos von den spielenden Kindern, und plötzlich verstand sie, was sie an den Kindern irritierte. Es waren keine unschuldigen Kinderaugen, die sie durch ihr Objektiv sah. Mit einem tiefen Ernst, einer Weisheit und Traurigkeit blickten sie ihr aus den Bildern entgegen. Hanna kannte diesen Verlust von Unschuld in den Augen eines Kindes. Genauso erkannte sie den Schmerz in ihrem Lächeln.

Harald Winter kam mit Ochuko Mutai aus dem Haus und mahnte zum Aufbruch.

Sie verabschiedeten sich von seiner Schwester, Hanna strich dem Jungen über seinen Lockenkopf und unterdrückte das Bedürfnis, ihn in die Arme zu schließen. Sie selbst hätte es nicht gemocht, wenn jemand Fremdes so etwas tat. Sie wollte die Würde des Kindes respektieren.

Gemeinsam gingen sie zum Wagen zurück, der ein Stück abseits des Dorfes an einer Wegkreuzung in den Büschen stand, die Männer beide mit ihren Rucksäcken, während Hanna ihren großen Rucksack im Wagen gelassen hatte.

Hanna drehte sich um.

Der kleine Junge sah ihr nach. Sie hob die Hand und winkte ihm. Es war mehr ein Reflex, der sie die Kamera hochnehmen ließ. Sie betätigte den Auslöser, lächelte, als sie das Grinsen des Jungen ganz nahe vor ihren Augen sah. Durch das Objektiv nahm sie eine Bewegung hinter den Häusern wahr, die rechts von dem Jungen lagen.

Dann ging alles sehr schnell. Männer in Tarnkleidung brachen aus den Büschen und hinter den Häusern hervor. Entsetzte Schreie drangen an ihr Ohr. Hanna erstarrte, versuchte zu begreifen, was gerade geschah, fühlte, wie jemand an ihrem Hemd zerrte, verlor ihren Halt. Erst, als sie sich hinter dem Wagen befanden, ließ Harald Winter sie los.

»Oh Gott, wir müssen hier weg«, keuchte er. »Wo, verdammt noch mal, ist Ochuko?«

Während Winter zur Beifahrertür des Wagens robbte, linste Hanna hinter dem Hinterrad zum Dorf hinüber. Schüsse knallten, Kinder, Frauen und Männer brachen getroffen zusammen. Mit zitternden Fingern nahm sie die Kamera, ging in das Menü und wählte den Mehrfachauslöser. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie sich Ochuko Mutai geduckt in den Büschen zum Dorf vorarbeitete. Hastig setzte sie sich in Bewegung. Es gab nur noch einen Gedanken für sie: die Kinder. Sie musste die Kinder retten.

Sie folgte Ochuko, der bereits den Rand des Dorfs erreicht hatte, und ignorierte die verhaltenen Rufe von Harald Winter, zum Auto zurückzukommen. Ochuko Mutai versuchte, seine Schwester mit einer Handbewegung zu stoppen, als diese völlig verängstigt aus dem Haus kam. Zu spät. Ein einzelner Schuss war zu hören, und mit einem staunenden Blick brach sie zusammen. Hanna beschleunigte ihr Tempo, als sie sah, wie der kleine Junge, mit dem sie fotografiert hatte, in die Schusslinie der Angreifer geriet, gleichzeitig drückte sie den Auslöser auf ihrer Kamera.

Jemand stoppte ihren Lauf, riss sie nieder.

Sie wand sich in dem Griff und wehrte sich, dann war sie wieder frei. Sie rappelte sich auf, doch es war zu spät. Der Junge lag bereits am Boden.

Hanna spürte ein Brennen in den Augen, ohnmächtig fühlte sie sich niedergedrückt. Voller Zorn hob sie die einzige Waffe, die sie besaß, ans Auge. Sie nahm ihr Ziel ins Visier und fotografierte. Schwenkte nach rechts, schwenkte nach links, während die Kamera in einem Staccato ein Bild nach dem anderen schoss. Durch das Objektiv sah sie, wie sich die Waffe eines Angreifers auf sie richtete. Dem Tod ins Auge blickend, ließ Hanna den Finger auf dem Auslöser, der in Bruchteilen von Sekunden ein Bild nach dem anderen machte. Sie hörte Schüsse und wartete darauf, dass die Kugel in ihren Körper eindrang, doch stattdessen brach der Mann in ihrem Objektiv zusammen. Bevor ihr Verstand die Information verarbeiten konnte, wurde sie zu Boden gerissen. Staub wirbelte um sie herum auf, der Luftwirbel eines Hubschraubers drückte sie zu Boden. Eine Explosion ertönte, und eine Hitzewelle schwappte über sie hinweg. Man zerrte an ihren Beinen und zog sie aus der Gefahrenzone. Erneut wehrte sie sich, dann traf sie etwas am Kopf und sie verlor das Bewusstsein.


Major Ben Wahlstrom betrachtete die Satellitenbilder vor sich auf dem Tisch. Eindeutig war zu erkennen, wie sich eine militärische Einheit auf ein Gebiet zu bewegte, das sich nahe einer großen Erdölförderanlage befand.

Als sechstgrößter Erdölproduzent stand Nigeria im Blickpunkt der internationalen Staatengemeinschaft. Trotz demokratischer Strukturen litt Nigeria unter wirtschaftlicher Korruption und militanten Gruppierungen.

Auch in Deutschland gab es ein reges wirtschaftliches Interesse an Nigeria. Zwar war kein offizielles Truppenkontingent des deutschen Militärs im Land, doch im Hauptquartier der UN in Nairobi befand sich ein deutsches Sonderkommando, das bei Bedarf in verschiedenen Regionen Afrikas eingesetzt werden konnte.

Das, was diesmal an Truppenbewegungen erkennbar war, glich keiner der üblichen militanten Aktionen, wie sie sonst bei Angriffen auf Pipelines aussahen. Das Ganze wirkte gut geplant und durchorganisiert.

Major Wahlstrom runzelte die Stirn. Die Geheimdienstunterlagen zeigten derzeit kein besonderes Gefährdungspotenzial auf, es war in letzter Zeit sogar recht ruhig in dem Land gewesen.

Leutnant Dirk Richter betrat den Raum.

»In dem gefährdeten Gebiet befindet sich eine deutsche Reisegruppe«, berichtete er. »Zwei Journalisten des National Geographic sind dort mit einem nigerianischen Führer unterwegs. In der Region gibt es drei Unterstützungsprojekte eines deutschen Pharmakonzerns und eine Forschungseinrichtung zu den gängigsten Krankheiten in Afrika.«

»Die Journalisten sind aus Deutschland?«

»Jawohl, Major Wahlstrom.«

»Also gut, dann stellen sie mir eine abhörsichere Leitung zu dem Verbindungsoffizier des nigerianischen Militärs her. Mal sehen, ob sie sich das vor Ort genauer anschauen können.«


Die Vibrationen des Hubschraubers weckten Hanna. Harald Winter hatte den Arm um sie gelegt und hielt sie fest. Über ihren Ohren befand sich ein Lärmschutz.

Hanna starrte Winter fragend an, der traurig den Kopf schüttelte. Mehr brauchte sie nicht zu wissen, Ochuko Mutai, seine Schwester und der Junge waren tot. Sie schloss die Augen und fragte sich, warum sie dieses Inferno überlebt hatte.

Harald Winter zog seinen Arm zurück, nachdem er sich versichert hatte, dass es Hanna einigermaßen gut ging.

Hanna tastete vorsichtig ihren Kopf ab und fühlte eine Beule rechts an ihrem Hinterkopf, die verflucht wehtat. Ihre Haare waren verklebt, aber als sie ihre Finger betrachtete, konnte sie daran kein Blut feststellen.

Der Lärm im Hubschrauber machte jede Unterhaltung unmöglich. Die Männer im Hubschrauber waren militärisch gekleidet, trugen Helme und Waffen. Die Soldaten waren alles Einheimische gewesen. Hanna sah ihre Kamera an. Das Objektiv war kaputt. Ob der Rest noch funktionierte, konnte sie nicht beurteilen.

Einem Impuls folgend, sah sie sich kurz im Hubschrauber um. Niemand schenkte ihr besondere Beachtung. Geschickt holte sie den Speicherchip vom Vortag aus ihrem Hüftgürtel und tauschte ihn gegen den in der Kamera aus, aber statt den benutzten aktuellen Speicherchip zu den anderen in ihren Taillengurt zu packen, drehte sie sich seitlich weg, beugte sich nach unten und verstaute den Chip in ihrem BH unter der linken Brust. Es war ein Instinkt, etwas, das sie nicht hätte erklären können. Die Bilder waren eine Gefahr, das war klar, niemand durfte sie in die Hände bekommen. Erst einmal musste sie selbst wissen und verstehen, was passiert war.

Sie sah Ochuko Mutai vor sich, seine Schwester, den Angreifer und den kleinen Jungen. Hanna schluckte, verscheuchte die Bilder und verdrängte all ihre Gefühle. Sie konnte es sich nicht leisten, schwach zu sein. Sie hatte es sich noch nie leisten können.

Kurze Zeit später landeten sie auf einem militärischen Stützpunkt unweit von Zaria im Nordwesten Nigerias.

Hanna überließ Harald Winter das Reden. Er war geschickt darin, immer ruhig und gelassen, nie wirkte er bedrohlich. Er erklärte dem Offizier, dass sie Journalisten seien, zeigte seine Papiere sowie die Genehmigung der nigerianischen Behörden. Dann erzählte er, warum sie in dem Dorf gewesen waren und was sie gesehen hatten. Das war der gefährlichste Teil, denn wer wollte schon ausländische Journalisten als Augenzeugen für einen militärischen Konflikt haben. Hanna hoffte nur, dass Harry überzeugend genug über ihrer beider Interesse an der Natur berichtet hatte.

Winter vermied jede Frage an den Offizier. Hanna hätte es brennend interessiert, wieso dieser Überfall auf das Dorf geschehen war und warum das Militär so schnell da gewesen war. Wie viele Kinder, Frauen und Männer waren gestorben? Sie biss die Zähne zusammen und schwieg. Solche Fragen zu stellen, konnte gefährlich sein. Erstaunlicherweise interessierte sich niemand für ihre Kamera oder ihre Fotos.

Schließlich war das Verhör beendet, und sie wurden zum Flughafen gebracht. Sie kümmerten sich beide nicht um die Blicke, die ihnen die Menschen zuwarfen. Erst im Flugzeug nach Nairobi atmeten sie beide auf.


Hanna starrte aus dem Fenster. Ihr kam alles unwirklich vor, als wäre sie gefangen in einem Albtraum. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.

Die Stewardess kam und verlor schlagartig ihr Lächeln. Stattdessen starrte sie Hanna besorgt an.

»Geht es Ihnen gut oder brauchen Sie einen Arzt?«

Hanna drehte ihr Gesicht von der Frau weg.

»Ihr geht es gut, danke. Haben Sie einen Whiskey?«, beruhigte Harald Winter die Stewardess.

Zögernd nickte sie. »Möchten Sie auch etwas trinken?«, wandte sich die Frau erneut an Hanna.

Harald sah Hanna fragend an, doch die schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Durst, keinen Hunger, überhaupt keine Bedürfnisse. Vergessen, nicht nachdenken, das war alles, was sie wollte und worauf sie sich zu konzentrieren versuchte.

Angestrengt starrte sie aus dem Fenster, um Einzelheiten von der Landschaft unter ihnen zu entdecken. Die Augen zu schließen traute sie sich nicht.

Die kleine Maschine landete auf einem Flughafen außerhalb von Nairobi, der sowohl vom Militär als auch für den Tourismus genutzt wurde. Schon von Weitem sah man fünf Soldaten – keine einheimischen, sondern weiße.

Der Blick des einen schweifte über die Passagiere des eben gelandeten Flugzeugs. Sein Blick blieb an Hanna hängen.

Hannas Magen krampfte sich zusammen.

Ein kurzer Wortwechsel mit dem Sicherheitsdienst des Flughafens, und dann kamen die Soldaten zielstrebig auf sie zu. Es gab keinen Zweifel, weshalb sie hier waren.

»Verdammt«, stöhnte Winter neben ihr, »das wäre auch zu einfach gewesen.«

»Harald Winter und Hanna Rosenbaum?«

Der Soldat, dessen Blick durch die Ankunftshalle geschweift war, sprach sie in perfektem Deutsch an.

Winter nickte stumm. Hanna presste die Lippen zusammen und musterte die Soldaten, die vor ihnen standen, einen nach dem anderen. Einer von ihnen war eine Frau, die ihr freundlich zulächelte. Doch in Hanna hallten noch die Schüsse von dem Überfall nach, und wenn die Frau auch lächelte, war sie genauso bewaffnet wie ihre Kameraden.

»Mein Name ist Major Wahlstrom.«

Der Mann, der das Wort an sie gerichtet hatte, zeigte auf die Soldatin: »Leutnant Brunner, Leutnant Richter, Oberleutnant Mader und Oberleutnant Schulte.«

Jeder der Genannten straffte sich bei der Nennung seines Namens. Fehlte nur noch, dass sie salutierten.

»Wir sind vom nigerianischen Militär informiert worden, dass Sie bei einem Überfall auf ein Dorf dabei waren.« Sein Blick ging kurz über Hanna und Winter. »Es tut mir leid, doch wir müssen Sie bitten, uns Bericht zu erstatten.«

Winter räusperte sich. »Gehören Sie zum deutschen Militär?«

»Ja, im Einsatz für die UN.«

»Hören Sie, ich habe bereits alles dem nigerianischen Militär berichtet, was wir gesehen haben. Wir waren wirklich nur rein zufällig an diesem Ort.«

Winter wurde von Wahlstrom unterbrochen.

»Das können Sie uns gleich in aller Ruhe in unseren Räumlichkeiten erklären.« Sein Blick schweifte kurz über die Ankunftshalle und blieb an dem Sicherheitsdienst hängen. »Dies ist nicht der richtige Ort dafür.«

Harald Winter seufzte. Hanna griff zu ihrer Kamera, bis ihr wieder einfiel, dass sie kaputt war. Sie strich kurz darüber.

»Können wir vielleicht erst in unser Hotel? Wir sind seit zwei Wochen unterwegs, dann der Überfall ... Ich würde gerne kurz duschen«, wandte Winter ein.

Er sah wirklich mitgenommen aus.

Bedauernd schüttelte Major Wahlstrom den Kopf.

»Unsere Basis liegt auf der Strecke. Ich verspreche Ihnen, dass es nicht lange dauern wird.« Er warf einen Blick auf Hanna, die immer noch schweigend neben Winter stand.

»Sie haben eine Kopfverletzung, Frau Rosenbaum, wurde sie behandelt?«

Hannas Hand ging zu der Beule an ihrem Kopf, und ihre Finger tasteten die Erhebung ab. Sie zuckte zusammen, als ein Schmerz sie durchfuhr.

Harry sah sie besorgt an. »Tut es weh? Ist dir schlecht?«

Sie nahm ihre Hand herunter und schüttelte den Kopf.

»Darf ich mal sehen?«, hakte der Major nach.

Sie zuckte zurück, als er neben sie trat.

Er lächelte beruhigend. »Ich werde Ihnen nicht wehtun, ich muss nur wissen, ob Sie einen Arzt benötigen.«

Hanna sah ihn mit schmalen Augen schweigend an.

Er wandte sich mit einem fragenden Blick an Harry. »Ist Frau Rosenbaum taubstumm?«

»Nein, ist sie nicht. Hanna?« Harald Winter zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Mit einem stummen Blick erklärte er ihr, dass es besser wäre, nicht zickig zu sein.

Widerwillig gab sie nach, stellte sich neben den Mann und drehte den Kopf, damit er ihre Verletzung betrachten konnte. Im Gegensatz zu ihrem Reisegefährten, der einen halben Kopf kleiner als sie war, überragte Major Wahlstrom sie. Das passierte Hanna mit ihren eins zweiundachtzig selten.

Er schob mit den Fingern vorsichtig ihre Haare beiseite. Sie biss die Zähne zusammen, die Berührung verursachte ihr Schmerzen. Er betrachtet die Beule.

»Ich denke, unser Arzt sollte sich das besser ansehen. Leutnant Brunner, rufen Sie bitte Dr. Wilson an, er soll kommen.«

Winter und Hanna folgten den Soldaten, es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Leutnant Richter hatte sich erboten, Harald Winters Rucksack zu nehmen, was dieser mit einem Kopfschütteln ablehnte. Der Rucksack, Hannas Kamera und der Gurt waren alles, was ihnen geblieben war.

Keinesfalls würden sie diesen Männern oder der Frau irgendetwas von sich anvertrauen, darin waren sich beide einig.

Vor dem Gebäude stand ein großer, dunkler Geländewagen. Die Frau öffnete Hanna die hintere Tür und bedeutete ihr einzusteigen. Winter setzte sich mit den beiden Soldaten in die mittlere Reihe. Oberleutnant Schulte übernahm das Steuer, auf dem Beifahrersitz nahm Major Wahlstrom Platz.

»Wieso hat das nigerianische Militär Sie informiert?«, fragte Winter den Major.

»Wir arbeiten eng mit den militärischen Einheiten in den Ländern zusammen. Sobald ausländische Personen, insbesondere Touristen, von Konflikten betroffen sind, ist es das normale Prozedere, dass wir informiert werden.«

»Konflikte«, brummelte Hanna leise, »ich nenne das Morde.«

Leutnant Brunner warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Sie haben ganz schön was abbekommen.«

»Die Beule ist nicht schlimm.«

»Ich meinte eher den Rest.«

Grinsend deutete die Soldatin mit dem Kopf zum Rückspiegel des Fahrers. Als Hanna hineinsah, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Ihr Gesicht war dreckverschmiert, an ihrer Wange zog sich ein blutiger Kratzer entlang und ihr Kinn war aufgeschürft. Ihre Kleidung sah nicht viel besser aus, merkte sie, als sie an sich herunterschaute. Auf ihrer Hose entdeckte sie neben dem dunklen Dreck noch den Staub, der von ihrer Fotoaktion, bevor sie in das Dorf abgebogen waren, stammte. Sie tippte mit dem Finger darauf und schluckte. Ein kleiner Umweg reichte, wenn das Schicksal es so wollte.

Schnell wandte sie den Blick von der Hose und starrte durch das getönte Fenster nach draußen. Im Wagen war es angenehm kühl, von der Hitze des späten Nachmittags war nichts zu spüren.

Der Wagen bremste vor einem mehrstöckigen Gebäude ab. Harald Winter wartete, bis Hanna ausgestiegen war. Sie sah seinem Gesicht an, dass er sich Sorgen machte. Beim Gehen flüsterte er ihr schnell ins Ohr, sie solle sich kooperativ verhalten.

Das Gebäude war schlicht und funktional eingerichtet. Nachdem sie die Sicherheitskontrolle am Empfang passiert hatten, fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage. Dort traten sie in einen Gang, der hell ausgeleuchtet war. Hannas Blicke wanderten fast automatisch zu den Überwachungskameras in den Ecken. Einer der Soldaten öffnete eine Tür auf der rechten Seite. Gemeinsam traten sie in das Zimmer.

Den größten Teil des Raums nahm ein Schreibtisch ein, auf dem zwei Bildschirme standen. Dahinter war ein bequemer Drehstuhl, davor drei Besucherstühle. Ein großes Fenster ließ Sonne ins Zimmer. In dem Raum befand sich keine Überwachungskamera.

Winter und Hanna blieben mitten im Raum stehen, Oberleutnant Marder stellte sich zwischen Fenster und Schreibtisch. Leutnant Richter hielt sich nahe der Tür auf, Leutnant Brunner stellte sich zu Hanna.

»Leutnant Brunner, begleiten Sie Frau Rosenbaum zu Dr. Wilson.«

Major Wahlstrom wandte sich an Hanna. »Ich nehme an, Sie verstehen Englisch? Unser Arzt ist nämlich ein Einheimischer.«

Sie verzog keine Miene, und Winter warf ihr den nächsten mahnenden Blick zu. »Ja, Hanna versteht Deutsch und Englisch. Sie redet nur nicht so gerne.«

»Dann werde ich das Gespräch wohl am besten mit Ihnen führen«, wandte sich der Mann mit einem freundlichen Lachen an Harald Winter.

Misstrauisch musterte Hanna ihn. Er war ihr einen deutlichen Tick zu freundlich.

»Sie können die Kamera und den Gurt hier lassen.« Der Major deutete auf ihren Taillengurt.

Hanna versteifte sich. »Nein.«

Das freundliche Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mannes. »Wir brauchen Ihre Papiere.«

Sie holte ihren Ausweis hervor, den sie immer in ihrem Gurt trug, genauso wie ihre Kreditkarte und ein wenig Bargeld in Scheinen. Sie reichte dem Major den Ausweis. Der schlug ihn auf, und seine Augen wanderten über die vielen Eintragungen, Stempel und Visa aus allen möglichen Ländern.

Stirnrunzelnd verglich er das Passbild mit der Person. Den wenigsten Menschen fielen die Unterschiede auf. In jedem Fall brauchte sie dringend einen neuen Reisepass. Hanna versuchte, ihre Gesichtszüge weicher wirken zu lassen.

Schließlich gab er ihr den Ausweis zurück. »Also gut, Frau Rosenbaum. Eine meiner Aufgaben besteht darin, die Aufnahmen in Ihrer Kamera zu prüfen. Meine Kollegen in Nigeria waren da etwas nachlässig. Das nigerianische Militär möchte sichergehen, dass Sie keine Bilder haben, die ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, wenn sie veröffentlicht werden. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass dies hier eine Situation ist, für die wir Fingerspitzengefühl benötigen.«

»Nein.«

Stille breitete sich in dem Raum aus. Hanna verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hanna, bitte«, mahnte Winter und bekam einen dankbaren Blick des Anführers dafür.

Der Mann räusperte sich. »Frau Rosenbaum, ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihr Eigentum zurückerhalten, sobald wir alles gesichtet haben, und zwar rechtzeitig vor Ihrem Abflug morgen.«

»Na, da haben Sie sich was vorgenommen«, brummte Winter, »Hanna macht täglich Hunderte von Fotos.«

»Ich denke, es reicht, wenn wir die von heute sichten.« Er öffnete seine Hand. »Geben Sie mir einfach die Kamera.«

»Nein.«

Sie maßen sich mit Blicken. Die Atmosphäre in dem Raum veränderte sich. Jetzt mischte sich Leutnant Brunner in das Gespräch ein, mit einem freundlichen Lächeln auf ihrem Gesicht wandte sie sich Hanna zu.

»Frau Rosenbaum, ich weiß, das war heute ziemlich viel Stress für Sie, und wie ich hörte, ist Ihr Fahrer bei dem Überfall ums Leben gekommen. Das ist sicherlich nicht leicht für Sie. Kooperieren Sie mit uns, dann können Sie ganz schnell zurück ins Hotel.«

Hannas Anspannung wich, die Frau war ziemlich gut. Mit ihrer ruhigen Ausstrahlung und dem offenen, hübschen Gesicht wirkte sie längst nicht so bedrohlich auf sie wie ihre Kollegen. Was sie sagte, klang vernünftig. Aber Hanna gehörte nicht zu den Menschen, die vernünftig waren. Sie handelte immer instinktiv und aus dem Bauch heraus. Sie hatte die Bilder gemacht, weil es nichts anderes gab, was sie sonst hätte tun können. Es war ihre Hilflosigkeit gewesen, doch mit den Fotos trug sie jetzt eine Verantwortung, die sie nicht leichtfertig abgeben würde.

»Wie ist Ihr Vorname?«

»Celine«, antwortete die Soldatin mit einem entwaffnenden Lächeln.

»Sie haben recht, Celine, es war ein Scheißtag, und ich möchte in mein Hotel. Aber meine Fotos gehören mir, und ich werde Ihnen ganz bestimmt nicht meine Arbeit der letzten Wochen aushändigen und riskieren, dass sie unsachgemäß verwendet werden.«

Das war die längste Rede von Hanna Rosenbaum seit Wochen.

Obwohl sie Major Wahlstrom genau im Auge behielt, sah sie keine Geste, die sie auf einen Angriff vorbereitet hätte. Leutnant Richter und Leutnant Brunner packten Hanna, während der Soldat am Fenster Harald Winter blockierte, der ihr zu Hilfe eilen wollte. Sie spannte ihre Muskeln an.

»Hanna, nicht!«, erklang die scharfe Stimme von Harald Winter. »Verdammt, lassen Sie mich los«, bellte er als Nächstes den Soldaten an.

Alles blieb ruhig, niemand rührte sich und weder Leutnant Brunner noch Leutnant Richter lockerten ihren Griff.

Trotz unbändiger Wut hörte Hanna auf, sich zu wehren. Stattdessen versuchte sie den Major, der auf sie zu kam, mit ihrem Blick einzuschüchtern. Das misslang ihr. Der Mann zog die Kamera über ihren Kopf, löste geschickt ihren Hüftgürtel und nahm beides mit zum Schreibtisch.

»Am besten begleiten sie beide Frau Rosenbaum zu Dr. Wilson.«

»Sie können mich wieder loslassen«, fauchte sie die beiden Soldaten an. Der Major nickte kurz, dann erst ließen der Mann und die Frau sie los.

»Hanna, bleib bitte ruhig und vernünftig«, bat Harald Winter. »Die Leute hier machen einfach nur ihren Job. Kein Grund für dich, feindselig zu sein oder deine Wut über das, was geschehen ist, an ihnen auszulassen.«

Hanna biss die Zähne zusammen. Sie nickte Harald zu. Mit einem letzten vernichtenden Blick auf den Major, der sie nicht mehr beachtete, folgte sie Leutnant Brunner, die vorausgegangen war, während Leutnant Richter das Schlusslicht bildete.

2

Befragung

Im Arztzimmer wartete eine Schwester, die Hanna einen kleinen Raum zeigte, wo sie sich von dem gröbsten Dreck säubern konnte. Seit dem Überfall war es das erste Mal, dass Hanna ganz für sich allein war. Sie wusch sich das Gesicht und die Hände, eine braunschwarze Brühe floss in das Waschbecken. Solange ihr Tränen aus den Augen liefen, schöpfte sie immer wieder Wasser in ihre Hände und befeuchtete damit ihr Gesicht. Sie hasste es, sich hilflos zu fühlen, und sie hasste es, wenn sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle behielt. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben, durfte das, was passiert war, nicht näher an sich heranlassen. Das Gesicht des Jungen schob sich in ihre Gedanken. Sein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Sie hatte ihn nicht retten können. Weder ihn noch Ochuko Mutai, seine Schwester oder die anderen Kinder. Hanna biss sich in den Handballen. Der körperliche Schmerz half ihr, den seelischen zu verdrängen.

Äußerlich wieder ruhig ging sie in den Raum zu der Schwester zurück, wo sich auch die beiden Soldaten befanden. Leutnant Brunner musterte sie aufmerksam, während Hanna es vermied, sie anzusehen. Die Schwester desinfizierte den Schnitt auf ihrer Wange und versorgte auch ihre Schürfwunde am Kinn.

Dr. Wilson war ein älterer Mann mit grauen Locken und Brille. Er tastete zuerst Hannas Kopf ab, dann leuchtete er in ihre Augen. Zuletzt prüfte er ihre Reflexe.

»You feel sick?«

»No.«

»Did you pass out?«

»Yes.«

»How long?«

Sie zuckte mit den Achseln und verzog das Gesicht. Was für eine dämliche Frage.

»Where does the injury come from?«

»I have no eyes in my back.«

Er sah sie durch seine Brillengläser an. »No reason to be snotty, young woman. I want to help you, not to hurt you. Was the other German with you when you were injured?«

»Yes.«

Er sah auffordernd Leutnant Brunner an, die sich mit einem Seufzer auf den Weg machte. Kurze Zeit später tauchte Harald Winter auf, der sich zwischenzeitlich ebenfalls gewaschen hatte.

»Did you see what happened to this young woman?«

»Yes.« Winter sah kurz Hanna Rosenbaum an, senkte dann den Blick und sagte, an den Arzt gewandt: »It was me, I did this to her.«

Hanna und der Arzt starrten ihn überrascht an.

»Tut mir leid, Hanna. Ich kam einfach nicht gegen dich an. Du wolltest dich wie eine Wahnsinnige in das Inferno werfen. Ich nahm den nächstbesten Gegenstand, der mir unter die Finger kam, und schlug damit auf deinen verfluchten Dickschädel.«

Nachdem Leutnant Brunner übersetzt hatte, fing sich der Arzt als Erster wieder. »With what did you hit her?«

»With a stone.«

Er nickte. »You’re lucky that it wasn’t a spiky one.« Verlegen wich Harald Winter Hannas Blick aus.

»How long was she fainted?«

»It think about two or three minutes.«

»Okay, in this case I want to make a radiograph.«

»You can do a radiograph here?” Staunen klang aus Haralds Stimme.

Statt zu antworten warf ihm der Arzt einen scharfen Blick zu.

»Excuse me, but this building doesn’t look like a hospital«, entschuldigte sich Winter bei dem Arzt.

»I don’t know how it is in your country, but we have mobile X-ray apparatus here.«

»Sorry again, I didn’t want to hurt your feelings. You know how long this will take?«, fragte Harald Winter.

»Geh ruhig, wenn dich der Typ lässt«, antwortete Hanna auf Deutsch.

Winter sah sie zweifelnd an. »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, dich hier alleine zu lassen.«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»So wie vorhin?«

Hanna warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Bisher hat mir hier noch niemand einen Stein an den Kopf gehauen.«

Harald Winter hob die Hände. »Es tut mir leid, ehrlich.«

Hanna schwieg.

»Ich habe dir damit möglicherweise das Leben gerettet.«

»Vielleicht.«

Winter seufzte, dann gab er sich geschlagen. »Also gut. Ich habe den ganzen Vorfall bereits mit Major Wahlstrom durchgesprochen. Es kann sein, dass er deine Version auch noch hören möchte.«

»Und meine Fotos?«

Harald zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, sie haben deinen Gurt mitgenommen.«

Hanna warf ihm einen eindringlichen Blick zu. Sie fragte sich, ob er etwas von den Fotos erzählt hatte, die sie während des Überfalls gemacht hatte. War es ihm überhaupt aufgefallen, schließlich hatte er sich die ganze Zeit hinter ihr befunden?

»Have you finished your discussion? I have more patients who need my help much more than this young woman.«

Dr. Wilson war ungeduldig. Hanna folgte dem Arzt in den Nebenraum, in dem sie sich schon vorher aufgehalten hatte.


Nachdem der Arzt die Röntgenaufnahmen sorgfältig studiert hatte, schien er zufrieden zu sein. Er gab Hanna Tabletten für die Kopfschmerzen, dann erklärte er ihr die Symptome, auf die sie achten sollte. Möglicherweise würden weitere Untersuchungen notwendig sein. Genauso machte er sie darauf aufmerksam, dass Fliegen in ihrem Fall ein Risiko darstellen könnte. Hanna hörte zu und nickte an den Stellen, wo der Arzt eine Antwort brauchte.

Vor der Tür wartete Leutnant Brunner auf sie. Sonst war niemand mehr zu sehen.

»Ein Wagen steht für Sie bereit, der Sie ins Hotel bringt.«

»Nein, danke. Ich möchte zu dem Mistkerl, der meine Fotos hat.«

Die Soldatin grinste breit. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie so etwas in der Art sagen würden. Dann werde ich Sie mal hinbringen.«

Sie gingen wieder in den dritten Stock zurück. Leutnant Brunner klopfte an der Tür und hielt Hanna zurück, bis sie das »Komm rein« ihres Vorgesetzten hörte.

Major Wahlstrom saß am Schreibtisch vor den Computern. Jacke und Waffen hatte er abgelegt. Hannas Kamera und auch ihr Gürtel befanden sich nicht mehr im Raum. Sein Blick ruhte konzentriert auf den Bildschirmen.

Er hob kurz den Kopf und sah Hanna mit schmalen Augen an, bevor sein Blick zu Leutnant Brunner wanderte.

»Frau Rosenbaum möchte erst ins Hotel, wenn sie ihre Sachen wieder zurückhat.«

Sein Blick schien sich in ihre Augen zu bohren. Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus, doch er schien zu spüren, dass er Hanna Rosenbaum nicht durch sein Schweigen verunsichern konnte.

»Nun, dann werden Sie sich wohl noch ein wenig gedulden müssen. Es sei denn, Sie möchten das Ganze beschleunigen, und sagen uns, welcher Speicherchip die Bilder von heute beinhaltet.«

»Der in der Kamera«, log Hanna, ohne rot zu werden.

Der Major lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Darauf waren Landschaftsbilder, Bilder von Herrn Winter, von Ihrem Fahrer, eine Spinne, Gräser, ein Lagerfeuer, Sonnenuntergänge – davon alleine fast fünfzig Stück – und alle mit dem Datum von gestern.«

Sie schwieg.

»Leutnant Brunner, bringen Sie Frau Rosenbaum nach Q2 und geben Sie ihr etwas zu trinken und zu essen.«

Er wandte sich wieder dem Computer zu.

Für einen Moment war Hanna versucht, quer durch den Raum zu hechten und dem Major an die Gurgel zu springen, aber sie beherrschte sich.

Der Raum Q2 befand sich am Ende des Gangs. Ohne Fenster, nur mit einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet, war er eindeutig für Verhöre gedacht, was auch die Spiegelwand an der anderen Seite deutlich machte. Alles wie in einem schlechten Krimi.

»Soll das ein Witz sein?« Hanna drehte sich zu Leutnant Brunner um.

Die zuckte mit den Achseln. »Major Wahlstrom macht selten Witze. Ich denke, es ist seine Art, Ihnen zu sagen, dass Sie es im Hotel bequemer hätten. Der Wagen steht Ihnen noch zur Verfügung, falls Sie doch möchten?«

Hanna schloss die Augen und überlegte. Der Speicherchip im BH brannte auf ihrer Haut. Was wäre sicherer: hier zu bleiben und auf unschuldig zu tun, oder im Hotel zu versuchen, den Speicherchip zu verstecken? Doch irgendwie spürte sie, dass Leutnant Brunner sie nicht im Hotel allein lassen würde, solange ihr Vorgesetzter nicht hatte, wonach er suchte. Sie entschied sich für die Unschuldsnummer und verschränkte die Arme, um ihren Ärger zu verdeutlichen.

»Nein, danke. Ich warte, bis ich meine Kamera und die Fotos zurückbekomme.«

Die Tür fiel ins Schloss, sie war allein. Es war ein mulmiges Gefühl, denn es weckte Erinnerungen an etwas, das sie vergessen wollte. Sicherheitshalber ging Hanna zur Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Erleichtert stellte sie fest, dass sie offen war.

Zehn Minuten später kam die Soldatin mit einer Flasche Wasser sowie zwei Sandwiches und einer Zeitung zurück. Sie legte alles auf den Tisch.

»Gibt es hier eine Toilette?«

»Klar.«

Die Toilette war sauber und wies sogar Hygieneartikel für Frauen auf. Gemeinsam gingen sie zurück.

»Wenn Sie noch etwas brauchen, klopfen Sie einfach an die Scheibe.« Leutnant Brunner zwinkerte ihr zu, bevor sie Hanna wieder allein ließ. Hanna unterdrückte das kindische Bedürfnis, ihr die Zunge herauszustrecken.

Sie aß die Brote, trank das Wasser und vertiefte sich in die Zeitung. Irgendwann verlor sie das Zeitgefühl.


»Die letzten Fotos sind von gestern.«

»Und der Chip in der Kamera?« Major Wahlstrom fragte noch einmal nach, obwohl er und der Techniker das bereits am Anfang geklärt hatten.

»Das waren die Fotos von gestern, der Rest ist alles älter oder es sind leere Chips.«

»Kann es sein, dass sie heute nicht fotografiert hat?«

»Unwahrscheinlich, es gibt nicht einen Tag von ihrer Tour, wo sie keine Fotos geschossen hat.«

Major Wahlstrom legte den Hörer auf. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Er wählte eine Nummer.

»Oberst Hartmann, hier Major Wahlstrom. Ich brauche Ihre Freigabe zum Verhör der Fotografin.«

»Wo sind Sie?«

»Q2.«

»Ich komme. Machen Sie die Unterlagen fertig.«

Oberleutnant Schulte, der während der letzten drei Stunden die Aufgabe gehabt hatte, Hanna Rosenbaum zu beobachten, schüttelte leicht den Kopf. Dem Major war es egal, dass sein rangniederer Offizier eine andere Meinung als er vertrat.

Zehn Minuten später trat Oberst Karl Hartmann in den Überwachungsraum für Q2. Er trug Hemd, Anzug und Krawatte, als hätte er einen Bürojob in irgendeinem Unternehmen. Manchmal dachte Major Wahlstrom, dass sich Oberst Hartmann an der Normalität seiner Klamotten festhielt. Seine Karriere hatte ihn erst spät zum Militär geführt. Das kam in ihrer Einheit häufiger vor. Sie alle waren Experten, und jeder besaß seine speziellen Fähigkeiten. Oberst Hartmann war ein ausgezeichneter Analytiker, der sich hervorragend in Wirtschaftsfragen auskannte. Wahlstrom wusste, dass sein Vorgesetzter noch eine fundierte Zusatzausbildung beim BKA erhalten hatte – Spezialgebiet Wirtschaftskriminalität. Das hatte ihm beim Militär einen besonderen Status eingebracht, denn er konnte wie ein Unternehmer in Kosten-Nutzen-Relationen denken, langfristig und auf die Zukunft ausgerichtet. Er arbeitete gerne unter dem Kommando von Oberst Hartmann, weil er ihm das Gefühl gab, einen wertvollen Beitrag für die Stabilität des Landes zu leisten.

Major Wahlstrom schob seinem Vorgesetzten die Dokumente zu. Er hatte bereits alle Daten von Hanna Rosenbaum, deren Vorname eigentlich Johanna lautete, aus ihren Ausweispapieren in die vorgesehenen Felder eingetragen. Es fehlte lediglich die Unterschrift auf dem Formular ‚Freigabe der Befragung einer Zivilistin aufgrund einer militärischen Notwendigkeit‘. Statt wie üblich die Daten kurz zu überfliegen, um dann auf der letzten Seite seine Unterschrift darunterzusetzen, verharrte Oberst Hartmann und starrte auf die erste Seite.

»Johanna Rosenbaum? Geboren am 11.05.1980 in Berlin.« Er hob den Kopf und sah seinen Untergebenen an.

Dieser nahm Haltung an. »Korrekt, Oberst Hartmann.«

»Wo ist sie?«

»Im Verhörraum.«

Der Oberst erhob sich und stellte sich an die Scheibe, um in den Raum zu sehen. Major Wahlstrom versuchte, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen.

»Bericht.«

»Hanna Rosenbaum und Harald Winter hielten sich mit ihrem Fahrer Ochuko Mutai in dem besagten Dorf in Nigeria auf, das heute überfallen wurde. Wir vermuten, dass es sich bei der Einheit um bezahlte Söldner handelt. Als das nigerianische Militär bei dem Dorf eintraf, waren bis auf wenige Ausnahmen alle Bewohner bereits tot. Die Angreifer reagierten diszipliniert auf das Eingreifen des Militärs und ordneten den sofortigen Rückzug an. Wir wissen nicht genau, wie viele Männer es waren. Drei haben die Nigerianer erwischt.«

Mit einem Ruck drehte sich der Oberst um. »Wie konnte der Rest entkommen?«

Der Major zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, sie waren verdammt gut ausgerüstet.«

»Weiter.«

»Der Fahrer kam ums Leben, Hanna Rosenbaum und Harald Winter gehören zu den wenigen Überlebenden. Wir haben die beiden am Flughafen empfangen. Da Frau Rosenbaum Fotoreporterin ist, hofften wir darauf, dass sie vielleicht Fotos von dem Angriff gemacht hat.«

»Wieso ein Verhör?«

»Sie rückt die Fotos nicht raus.«

»Wenn sie überhaupt welche hat«, brummte Oberleutnant Mark Schulte.

Major Wahlstrom warf ihm einen scharfen Blick zu. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Frau etwas vor ihnen verbarg. Er hatte gelernt, seiner Intuition zu vertrauen.

»Was hat sie bisher gemacht?«, wandte sich Oberst Hartmann an Oberleutnant Schulte.

»Sie hat gegessen, getrunken, gelesen, und sie war noch zweimal auf der Toilette.«

»Sonst nichts?«

»Nein, sie hockt völlig bewegungslos da, läuft nicht herum, hat nicht an die Scheibe geklopft, gar nichts. Wenn Sie mich fragen, hat die Frau ein absolut reines Gewissen.«

»Oder sie spielt uns das alles nur vor«, erwiderte Major Wahlstrom.

»Sie denken wirklich, dass sie noch einen Chip hat?« Die Ironie in Oberleutnant Schultes Stimme war nicht zu überhören. »Vielleicht hat sie einfach keine Fotos gemacht.«

»Was ist mit den anderen Speicherkarten, haben Sie alle überprüft?«

»Paul Gerlach hat nicht jedes Bild geprüft, dafür liegt zu viel Material vor, aber Frau Rosenbaum geht sehr systematisch mit ihren Speicherkarten um. Alle haben eine Farbmarkierung und beinhalten jeweils nur die Fotos von einem Tag, soweit wir ihr System entschlüsselt haben. Die Bilder sind alle älteren Datums. Es sind je drei Karten für Freitag, Samstag, Montag, Dienstag und Mittwoch da, aber nur zwei von Donnerstag. Und der Überfall war heute, am Donnerstag«, erklärte der Major.

Oberst Hartmann runzelte die Stirn und drehte sich zum Fenster. In den letzten Monaten war es in Nigeria wieder häufiger zu Unruhen gekommen. Es wurde Zeit, dass sie ein Zeichen setzten. Wenn das Risiko, erwischt zu werden, stieg, stiegen auch die Kosten für die Söldner. Ohne Söldner keine militärischen Spielchen, dann blieben Korruption oder Verhandlungen übrig. Das war für die politische Stabilität des Landes nicht besonders hilfreich, aber wenigstens kamen dann keine Menschen zu Tode.

»Kennen Sie Johanna Rosenbaum?« Die Frage rutschte Major Wahlstrom heraus.

Abrupt drehte sich der Oberst um, ging zum Schreibtisch und setzte seine Unterschrift unter die Papiere.

»Sie haben freie Bahn, Major Wahlstrom. Oberleutnant Schulte, schalten Sie die Überwachungskameras aus.«

Oberleutnant Schulte hob kurz die Augenbrauen, dann führte er den Befehl seines Vorgesetzten aus.

Sie bewegten sich häufig an der Grenze zwischen legalem und illegalem Vorgehen. Wahlstrom hatte nicht vor, diese Grenze zu überschreiten. Er war sicher, dass die Frau mit entsprechendem Druck einlenken würde. Er verließ den Überwachungsraum und betrat den Raum Q2. Ein leises Summen bestätigte ihm, dass Schulte die Tür verriegelte.


Hanna sah, wie das rote Licht an der Kamera erlosch. Kein gutes Zeichen. Sie schluckte. Immerhin wusste Harry, wo sie war, und er hatte bestimmt bereits im Hotel ihre Auftraggeber informiert. Hoffentlich. Ihr Kopf drehte sich zur Tür.

Major Wahlstrom kam herein. Er trug ein T-Shirt, und Hannas Augen wanderten automatisch zu seinen Armmuskeln, seinem flachen Bauch. Sein Gang war federnd, sein Blick lag konzentriert auf ihr, sein Lächeln war verschwunden. Sie spannte unmerklich den Körper an, es war wichtig, ruhig zu bleiben. Er war nicht zufrieden mit dem bisherigen Ergebnis, er hatte sich von der Fotosuche etwas anderes erhofft, das konnte sie seinem Gesicht ansehen. Aber niemand, außer vielleicht Harry, wusste, dass sie Fotos von dem Überfall gemacht hatte. Es waren nur Vermutungen, er konnte es nicht wissen. Ob Harry etwas gesagt hatte? Nein, das hätte er sie wissen lassen. Es lag also bei ihr, den Vermutungen den Boden zu entziehen.

Die Lippen des Majors verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war kein echtes Lächeln, eher ein halbherziges Zähnefletschen. Er setzte sich auf den Tisch dicht vor sie.

Hannas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Für eine Unterhaltung war ihr das viel zu dicht. Es schien ihm darauf anzukommen, ihr Angst einzujagen, was ihm gelang. Sie beschloss, nicht abzuwarten, bis er die erste Frage stellte. Sie stand auf, wodurch sie auf ihn herabsah; gleichzeitig brachte sie so ein wenig Abstand zwischen sie beide.

»Und? Sind Sie fertig mit Ihrer Dia-Show? Kann ich endlich gehen?« Sie gab ihrer Stimme einen gelangweilten, ungeduldigen Ton und sah ihm direkt in die Augen. Unschuldige Menschen scheuten den Augenkontakt nicht.

»Nicht ganz. Setzen Sie sich.« Seine Stimme, ruhig und gelassen, brachte sie aus dem Konzept. Seine körperlichen und sprachlichen Signale passten nicht zueinander. Hanna blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust. Auf keinen Fall in die Defensive gehen.

Langsam richtete er sich auf. Die Art, wie er sich vor ihr aufbaute, wirkte äußerst bedrohlich. Das waren keine Muskeln aus einem Fitnessstudio, die sie sah, sondern ein kampferprobter Körper. Wäre die Kamera nicht ausgeschaltet gewesen, hätte sie sich defensiver verhalten. In ihr arbeitete es fieberhaft. Durften deutsche Soldaten bei einem Verhör von deutschen Staatsbürgern Gewalt anwenden? Wenn sie ihr etwas antaten, mussten sie mit einer Anklage rechnen. Nein, das Ausschalten der Überwachungskamera war nur ein weiterer Schachzug gewesen, um sie zu verunsichern. Ihre Kamera und der Gurt waren zwar nicht ohne Zwang, aber auch nicht gewaltsam entwendet worden.

Hanna versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Sie würde den Chip nicht freiwillig herausrücken.

»Was wollen Sie?«, brach sie das Schweigen und wich noch ein Stück zurück.

»Ich denke, das wissen Sie ziemlich genau.«

»Sie haben alles.«

»Das stimmt.« Er schwieg und beobachtete sie.

Hanna entschied sich fürs Abwarten. Sein Blick schweifte langsam über ihren Körper. Sie atmete ruhig weiter, versuchte, sich nicht von ihm verunsichern zu lassen. Sein Blick blieb an ihren Schuhen hängen.

»Wo haben Sie ihn versteckt?«

»Was versteckt?«

»Den Chip.«

»Sie haben alle.«

Nichts warnte sie vor seinem Angriff, obwohl sie glaubte, ihn genau im Auge behalten zu haben. Wie machte er das bloß? Ihr Blick war durch das Objektiv geschult, normalerweise konnte sie Bruchteile, bevor etwas passierte, es vorausahnen. Genau deshalb gelangen ihr so außergewöhnliche Fotos.

Jetzt lag sie schon auf dem Boden, bevor sie seine Attacke überhaupt realisiert hatte. Ein roter Blitz zuckte durch ihren Kopf, für einen Moment war ihr schwarz vor Augen. Sie keuchte auf, fixierte mit entsetzten Augen den Mann über sich.

Er hatte ihre Hände auf den Boden gedrückt, sein Oberkörper war dicht über ihrem und ließ ihr keinen Raum. Ihre Hüfte steckte wie in einem Schraubstock zwischen seinen Knien fest, mit seinen Füßen hielt er ihre Beine zu Boden.

Er gab ihr Zeit, sich ihrer Lage bewusst zu werden. Sie atmete gezielt gegen ihre Angst und lockerte die Körperanspannung, ganz entgegen ihrem Bedürfnis, mit aller Kraft gegen den Mann auf sich anzukämpfen. Insgeheim hoffte sie, er würde seine Haltung ebenfalls lockern, was nicht der Fall war. Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Atem. Sie war vollkommen bewegungsunfähig.

»Wo ist der Chip?«, fragte er leise.

Statt ihm zu antworten, funkelte sie ihn böse an.

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Entweder Sie geben ihn mir, oder ich suche danach. Was ist Ihnen lieber?«

Hanna schwieg und schluckte alle Verwünschungen, die ihr durch den Kopf schossen, hinunter. Er umschloss ihre Hände jetzt nur mit einer Hand, sodass er seine zweite Hand freibekam. Langsam begann die Hand an ihrem Körper hinunterzugleiten. Da war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen.

Ihre heftige Gegenwehr überraschte ihn.

Sie gewann ein wenig Spielraum, drehte sich zur Seite, nur um gleich darauf wieder auf dem Rücken zu landen.

»Hoppla, was war das?« Er fletschte die Zähne, diesmal amüsiert.

»Arschloch«, fauchte sie ihn an.

»Bezeichne mich, wie du willst. Du hast keine Wahl, gib mir den Chip.«

»Ich zeige Sie an wegen Nötigung.« Eine gefährliche Aussage, die ihr da über die Lippen rutschte, wie ihr sofort darauf klar wurde.

»Das kannst du gerne machen.«

Er sagte das völlig emotionslos, was Hanna erschreckte. In ihren Gedanken sah sie auf einmal Geheimorganisationen vor sich, die Menschen folterten und verschwinden ließen.

 »Aber pass auf, Hanna, ich bin heute mal nett«, duzte er sie weiter. Ein plumper Versuch, Vertrauen aufzubauen. »Ich gebe dir deine rechte Hand frei, und du darfst den Chip selber herausholen. Was meinst du?«

Sie biss die Zähne zusammen. Sie konnte nicht klar denken. Er fixierte ihre Hände erneut.

»Stopp«, keuchte sie.

Er musterte sie aus schmalen Augen. Langsam gab er ihre rechte Hand frei.

Ihr Fausthieb traf ihn direkt unter das Kinn. Diesmal lag der Überraschungsmoment auf Hannas Seite. Sie wand sich unter seinem Körper hervor, trat, biss, boxte, teilte gezielte Schläge aus, alles, was sie in ihren Selbstverteidigungsstunden gelernt hatte. Darauf war er nicht gefasst. Sie konnte sich befreien und hechtete zur Tür, die verschlossen war. Hanna verfluchte ihre Dummheit und fand sich wieder auf den Boden gerissen, diesmal durch einen Schlag, der ihr für einen Augenblick die Kontrolle über ihren Körper entzog.

»Was denkst du? Dass ich dich einfach hier herausspazieren lasse? Schalte mal dein Gehirn ein!«

Aus seiner Nase tropfte Blut auf sie herab. Grimmig lächelte sie, wenigstens hatte er ihre Wut zu spüren bekommen.

Jetzt war er nicht mehr zimperlich mit ihr. Seine Hand ging in ihre Hose. Hanna schrie entsetzt auf, nackte Panik legte sich über sie und weckte längst begrabene Erinnerungen.

Er hielt inne.

»Also gut, eine letzte, wirklich allerletzte Chance, klar?« Seine Stimme hatte wieder den gefährlich leisen Ton angenommen.

Sie nickte, unfähig zu sprechen. Er legte seinen rechten Unterarm über ihren Hals und fixierte ihr rechtes Handgelenk, dann ließ er ihre linke Hand frei, nicht ohne den Weg nach oben mit der anderen Hand zu blockieren.

Hanna rührte sich nicht.

»Was ist?«, schnauzte er sie an.

»Ich brauche die rechte.«

Er verharrte, starrte in ihre Augen. Sie bekam ihre Panik immer noch nicht in den Griff. Er wechselte die Stellung und gab ihre rechte Hand frei. Ganz langsam glitt ihre Hand in den Ausschnitt ihres Tank Tops, das sie unter ihrem offenen Hemd trug. Sie glitt weiter in den BH bis zu dem Chip. Genauso langsam holte sie ihn heraus. Sein Blick richtete sich konzentriert auf ihr Gesicht. Sie konnte sehen, wie sich der Puls an seinem Hals beschleunigte. Sie vermied jede Bewegung, die er falsch interpretieren konnte. Dann hielt sie ihm den Chip hin.

Ihre Blicke hielten einander fest. Langsam beruhigte sie sich. Seine Augen maßen sie kühl. Er nahm den Chip, ließ sie los und stand auf. Mit einer Hand zog er Hanna auf die Beine. Er deutete auf den Stuhl. »Ich lass ihn prüfen, setz dich so lange.«

Hanna ging zum Stuhl und setzte sich. Sie zog die Beine an, umschlang sie mit den Armen und legte den Kopf auf die Knie. Mit geschlossenen Augen hörte sie, wie die Tür zufiel. Jeden Gedanken, der Form annahm, erstickte sie im Keim. Ihre ganze Konzentration lag darauf, ruhig zu werden. Sie fragte sich, ob sie diesen Tag überleben würde.

Wie viel Zeit vergangen war, als Leutnant Brunner in der Tür stand, hätte Hanna nicht sagen können. Die sanfte Stimme, die so gar nicht zu ihrer Uniform passte, drang in ihr Bewusstsein.

»Kommen Sie, ich bringe Sie ins Hotel.«

Den ganzen Weg ins Hotel wartete Hanna darauf, dass etwas in ihr zusammenbrach. Aber nichts passierte.

3

Hanna

Major Wahlstrom unterdrückte seinen Impuls, in den Raum zurückzugehen und die Frau in den Arm zu nehmen. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken, zog sein T-Shirt aus und presste es sich gegen seine Nase. Er mochte es nicht, Gewalt gegen Frauen anzuwenden, aber Hanna Rosenbaum hatte ihm keine Wahl gelassen. Was er jedoch noch mehr hasste, waren Männer, die Frauen vergewaltigten, und das war Hanna Rosenbaum offenbar widerfahren, ihrer panischen Reaktion nach zu urteilen.

Er ging in den Überwachungsraum, Oberst Hartmann war alleine. Bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür, und Oberleutnant Schulte kam mit einem Kühlpack herein. Dankbar presste sich der Major das Teil auf seine Nase.

»Dass Ihnen mal jemand die Nase poliert, freut mich«, merkte sein Untergebener grinsend an. »Die Kleine ist ganz schön auf Zack.«

»Sie hatte Panik.«

»Und ein verdammt heißes Versteck. Ich hätte ihr keine zweite Chance gelassen.«

Oberst Hartmann stoppte mit einer eindeutigen Geste die bissige Entgegnung, die dem Major auf der Zunge lag. »War das wirklich notwendig?« Seine Stimme war scharf.

Major Wahlstrom zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Lust, seine Vorgehensweise vor seinem Vorgesetzten zu rechtfertigen, wo ihn selbst schon ein schlechtes Gewissen plagte. Außerdem hatte er nicht mit Hanna Rosenbaums hartnäckigem Widerstand gerechnet.

»Sie haben mir freie Bahn gelassen, die Überwachungskamera war aus.«

»Das ist kein Freibrief.«

»Ich weiß.« Wahlstrom war verärgert. Er gehörte nicht zu den Männern, die diesen Umstand unnötig ausnutzten, sein Vorgesetzter wusste das. Umso mehr überraschte ihn die Kritik, denn Oberst Hartmann verstand durchaus, den gesetzlichen Freiraum seines Sonderkommandos auszunutzen.

Der Oberst nickte langsam, wandte sich an Schulte: »Oberleutnant Schulte, rufen Sie Paul Gerlach, er soll die Bilder auf dem Chip prüfen. Ich hoffe, das Risiko hat sich gelohnt.«

Major Wahlstrom setzte sich auf einen Stuhl und ließ das T-Shirt sinken. Er konnte es nicht leiden, wenn sein Untergebener seine Machosprüche abließ. Viel zu oft nutzte der Oberleutnant seine Uniform für eine schnelle Nummer aus. Allerdings hielt er sich dabei an die internen Regeln und ließ seine Kameradinnen bei solchen Aktionen außen vor.

Paul Gerlach kam in den Raum. Er war der Computerspezialist der Einheit und besaß keinen militärischen Rang. Wahlstrom überreichte ihm den Chip. Er setzte sich an den Rechner im Überwachungsraum, schob die Speicherkarte in einen Leser, klickte und nickte zufrieden.

»Ja, das sind die Bilder von heute.«

Oberst Hartmann griff zum Telefon.

»Leutnant Brunner. Sie können Frau Rosenbaum die Sachen zurückgeben und sie in ihr Hotel bringen. Ich möchte, dass Sie sie bis auf ihr Zimmer begleiten. Stellen Sie sicher, dass sie emotional stabil ist, bevor Sie sie allein lassen.«

Wahlstrom hob überrascht die Augenbrauen. Diese fürsorgliche Seite seines Obersts war ihm neu.

»Wow«, entfuhr es Paul Gerlach.

»Was?«, wandte sich der Oberst an den Techniker.

»Schaut es euch selbst an.«

Er war der Einzige, der die Männer duzte, ohne dafür einen Rüffel zu kassieren.

Wahlstrom und Hartmann stellten sich hinter Paul Gerlach. Die Bilder zeigten den Ablauf des Überfalls. Die Angreifer waren maskiert. Als der Techniker einen Ausschnitt von einem Mann vergrößerte, konnte der Major die Konzentration in dessen Gesicht sehen, die kalten Augen hinter dem Schnellfeuerkarabiner. Es handelte sich eindeutig um eine HK 416, wie sie bei den Spezialkommandos im Einsatz war, aber auch viele der privaten Sicherheitsdienste schworen auf die Waffe. Eine Frau war zu sehen, die blutend am Boden lag, ein Kind, das von Panik erfüllt die Straße hinunterschaute. Auf dem nächsten Bild lag es tot am Boden.

»Scheiße«, fluchte Oberst Hartmann, der sonst kein Freund von solchen Ausdrücken war.

»Wieso dieses Dorf? Was ist daran so verdammt besonders?«, fragte Major Wahlstrom.

Oberst Hartmann nahm seine Brille ab und rieb sich mit den Fingern die Druckstellen auf dem Nasenrücken. Normalerweise sah man ihm sein Alter nicht an, heute schon. Er wirkte müde.

»Ich habe keinen blassen Schimmer. Paul, sehen Sie zu, ob sie Bilder finden, die uns mehr Hintergrund liefern, wer die Typen sind. Vielleicht können sie noch was aus den Gesichtern herausholen.«

Der Major griff nach dem Hörer und tippte eine Nummer ein. »Ed, schick uns noch mal die Satellitenaufnahmen aus dem Gebiet, wo der Überfall stattgefunden hat. Vor allem die von dem Rückzug.«

Oberst Karl Hartmann nickte ihm anerkennend zu. Es kam selten vor, dass sein Vorgesetzter ein Lob aussprach. Major Wahlstrom konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Er war in der Analyse der Situation schneller gewesen als sein Chef. Wenn es sich bei den Männern um eine angeheuerte Sicherheitstruppe handelte, bestand die Gefahr, dass sie sich schnell aus dem Staub machten. Sie mussten sich also beeilen, wenn sie eine Chance haben wollten, die Kerle zu erwischen.

»Also noch einmal: Was ist an einem Dorf mitten im Nirgendwo von Nigeria so interessant?«

»Vielleicht eine neue Erdölquelle?«, mutmaßte der Major.

Sein Oberst schüttelte den Kopf. »Nein, das stünde in unseren Unterlagen.«

Wahlstrom zuckte die Achseln. »Wir sind nie die Ersten, die an solche Informationen kommen. Die Strippenzieher der Wirtschaft sind uns immer voraus.«

Der tiefe Seufzer von Oberst Hartmann ließ Major Wahlstrom aufmerken. Die Augen seines Vorgesetzten starrten in die Vergangenheit, seine markanten Züge bekamen eine weiche Linie. Leise stand Wahlstrom auf und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Wir müssen sicherstellen, dass vorerst keine Informationen über das Vorgefallene durchsickern«, hörte er Hartmann sagen.

»Ich denke nicht, dass sie reden werden.«

»Was macht Sie so sicher, Major Wahlstrom?«

»Harald Winter ist ein vernünftiger Mann. Er weiß, dass er in einem instabilen Land ist. Außerdem war er überaus kooperativ und hat mir haarklein erzählt, was genau vorgefallen ist.«

»Harald Winter macht mir keine Sorgen.«

»Wenn wir Hanna Rosenbaum hier festhalten, wird das Harald Winter nicht so einfach hinnehmen«, stellte Wahlstrom sachlich fest. Ihm gefiel der Gedanke nicht, die junge Frau in Haft zu nehmen, außerdem hatte er die Beschützerinstinkte des älteren Reporters gegenüber der Fotografin wahrgenommen. Er wusste, dass Winter bereits Kontakt mit den Auftraggebern für die Reportage aufgenommen hatte. Er war sich sicher, dass es wesentlich mehr Staub aufwirbeln würde, Hanna Rosenbaum festzuhalten, als wenn sie sie einfach gehen ließen. Aber das war nicht seine Entscheidung.

Der Oberst betrachtete ihn indessen aus schmalen Augen, als denke er tatsächlich ernsthaft über seine Worte nach. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor seine Miene wieder einen ernsten Ausdruck annahm.

»Nehmen Sie unseren Job niemals auf die leichte Schulter, Major Wahlstrom.«

Der Major nahm Haltung an. »Jawohl, Oberst Hartmann.«

»Ich möchte nicht, dass morgen ein Bericht in der Zeitung steht, wir hätten die Bilder einer Fotoreporterin beschlagnahmt. Wir können keine Aufmerksamkeit in der deutschen Presse gebrauchen oder gar ein richterliches Verfahren wegen Missachtung von Urheberrechten.«

»Wir haben die Freigabe der Staatsanwaltschaft ...«

»Ja, haben wir, aber es bleibt Ihre Verhörmethode. Sie entsprach nicht gerade den polizeilichen Regeln.«

»Nein, wir sind auch nicht bei der Polizei«, stellte er ruhig fest. »Ich hätte nicht handgreiflich werden müssen, wenn Frau Rosenbaum kooperativ gewesen wäre. Sie hatte genügend Möglichkeiten, mir die Fotos freiwillig auszuhändigen.«

»Und Sie denken, das sieht sie genauso?«

Verärgert presste Wahlstrom die Lippen aufeinander.

»Nun ja, am Ende waren Sie verletzt, und nicht Frau Rosenbaum.« Ein Anflug von Humor klang durch die Worte Hartmanns hindurch.

»Ich denke, wir können ihr etwas geben, damit sie den Vorfall auf sich beruhen lässt.« Wahlstrom war der Gedanke gekommen, als er die Bilder gesehen hatte. Sein Vorgesetzter hob die Augenbrauen.

»Sie ist eine außergewöhnliche Fotografin, und wie viel ihr an ihren Fotos liegt, haben wir ja mitbekommen. Wenn wir ihr alles zurückgeben, bis auf die Fotos von dem Überfall?«

Sein Vorgesetzter runzelte zweifelnd die Stirn.

»Also gut, wir versuchen es. Stellen Sie sicher, dass Frau Rosenbaum die Botschaft versteht, und lassen Sie sich von Gerlach eine Rückversicherung einbauen.«

Wahlstrom zögerte. »Ich wollte Leutnant Brunner mit der Aufgabe betreuen.«

Hartmann schüttelte den Kopf. »Nein, Major, das ist Ihre Aufgabe.«

»Es wäre wichtiger, dass ich mir die Fotos genauer anschaue und die Truppenbewegungen auf den Satellitenbildern«, versuchte Wahlstrom, ein erneutes Zusammentreffen mit Hanna Rosenbaum zu vermeiden. Er wusste aber, dass Oberst Hartmann es ganz und gar nicht schätzte, wenn man ihm widersprach.

»Gibt es ein Problem, von dem ich nichts weiß, Major Wahlstrom?«

»Nein, Oberst Hartmann.«

»Gut, dann führen Sie meinen Befehl aus.«

Wahlstrom wandte sich ein zweites Mal zur Tür.

»Und – Major Wahlstrom – lassen Sie Ihre Finger von der Frau. Das ist ein Befehl.«

»Jawohl, Oberst Hartmann.«


Hanna war froh, allein in ihrem Zimmer zu sein. Leutnant Brunner hatte sich als sehr anhänglich erwiesen. Sie packte ihre Kamera auf den Tisch. Harry hatte bereits ihr zurückgelassenes Gepäck und ihren Laptop aus dem Aufbewahrungsraum des Hotels holen lassen. Alles stand neben ihrem Bett, daneben lag eine Tafel Schokolade. Der gute Harry, fürsorglich wie ein Vater. Tatsächlich war sein Sohn nur zwei Jahre älter als sie und seine Tochter zwei Jahre jünger. Hanna hatte die beiden kennengelernt, als Harry sie einmal gebeten hatte, ein Wochenende bei seiner Familie zu verbringen.

Sie war die letzten Jahre viel mit Harald Winter unterwegs gewesen. Sie mochte Winter, weil er sie so nahm, wie sie war. Er versuchte sie nicht in Gespräche zu verwickeln und stocherte nicht in ihrem privaten Leben herum. Wenn sie unterwegs waren, ging es immer nur um das Projekt. Harald war darüber hinaus ein Quell des Wissens, egal, um welches Thema es ging.

Es war ihm unangenehm gewesen, sie um den Besuch zu bitten. Verlegen hatte er nach ihrem letzten Auftrag erklärt, dass seine Frau zur Eifersucht neige und sich in den Kopf gesetzt habe, dass sie beide ein Verhältnis hätten.

Widerwillig hatte Hanna sich darauf eingelassen, die Familie Winter ein Wochenende lang zu besuchen. Es war nicht ihre Art, in das Leben anderer Menschen einzudringen, so wie sie niemanden in ihr Leben hinein blicken ließ.

Es war ein schwieriges Wochenende gewesen, weil sich alle Familienmitglieder auf Hanna konzentrierten. Sie war sich vorgekommen wie unter einem Mikroskop. Ihre Antworten waren noch einsilbiger gewesen als sonst. Ihr mangelndes Interesse am Leben der Familie Winter machte ein Gespräch schwer. So manche Teile der Unterhaltung hatten einem Verhör geglichen. Erst als sie gemeinsam die Bilder ihrer Reportage über die Höhlenforscher ansahen, entspannte sich die Stimmung.

Hanna fand die Familie Winter im Übrigen sympathisch. Sie mochte Harald Winters Frau, ihr gefiel die Art, wie das Ehepaar miteinander umging, wie sie scherzten, lachten und sich berührten. Warum seine Frau eifersüchtig war, hatte Hanna nicht so recht verstanden. Harald Winter hatte nie Anstalten gemacht, sich ihr zu nähern. Und bei ihm zu Hause konnte sie in jedem seiner Blicke und Gesten gegenüber seiner Frau seine Liebe erkennen. Das war etwas, das sie schmerzhaft an ihre Kindheit erinnerte. Damals war auch ihre Welt heil gewesen.

Hanna wusste nicht, ob sie die Bedenken seiner Frau an dem Wochenende zerstreut hatte. Harry hatte nie wieder mit ihr darüber gesprochen. Harry. Besorgt lief sie zu seinem Zimmer hinüber, klopfte.

»Harry, bist du noch wach?«

Er machte ihr die Tür auf, nur mit einer Pyjamahose bekleidet. Dann zog er sie in das Zimmer und nahm sie in seine Arme. Hanna versteifte sich, und schnell ließ er sie wieder los. Er wusste, dass sie solche Intimitäten nicht mochte.

Sie sah die Erleichterung in seinem Gesicht, und auf einmal verspürte sie ein Verlangen, sich erneut in seine Arme ziehen zu lassen. Einfach fallen lassen, einfach die Nähe und Wärme eines anderen Menschen spüren. Leben.

»Gott sei Dank, du bist da. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Alles klar bei dir?« Sein Blick ging zu ihrem Hinterkopf.

Sie tastete nach der Beule, die sie bereits völlig vergessen hatte, und grinste.

»Alles klar.«

»Und was ist mit deiner Kamera und dem Bildmaterial?«

»Die Kamera habe ich zurückbekommen und einen Teil der Bilder.«

»Welche Bilder hast du zurück?«

»Die für die Reportage.«

»Und der Rest?«

Hanna zuckte mit den Achseln. Sie hatte nicht vor, ihm zu erzählen, was vorgefallen war und worum es sich bei den restlichen Bildern handelte. Je weniger Harry wusste, desto weniger würde sie ihn in Schwierigkeiten bringen.

Harry seufzte tief. »Hoffen wir, dass es das war, was sie wollten. Ich habe in jedem Fall bereits den Verlag informiert, dass wir wieder da sind, und habe ihnen von diesen deutschen UN-Soldaten erzählt, die uns am Flughafen abgefangen haben. Sam meinte, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen, die wären in Ordnung.« Harry zögerte. »Möchtest du heute Nacht bei mir bleiben?«

Sie wich einen Schritt zurück zur Tür. Ihr sentimentales Gefühl war verflogen, und das Bild seiner Frau stand ihr sofort deutlich vor Augen.

Sein Gesicht färbte sich rot. »Quatsch, Hanna, doch nur um zu reden, das war heute verdammt knapp.« Seine Augen gingen zu seinem Nachttisch, auf dem sich eine bereits geleerte und eine halb volle Flasche Rotwein befanden.

Hanna schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte nicht reden oder sich betrinken. Letzteres tat sie nie, aus Angst, die Kontrolle zu verlieren. »Ich geh schlafen.«

Sie öffnete die Tür und schlüpfte aus dem Zimmer.


Es war nicht das erste Mal, dass Hanna einen Teil ihres Gepäcks verloren hatte. Aus diesem Grund hatte sie von Harald Winter die Angewohnheit übernommen, am Stützpunkt, wie er es nannte, Gepäck mit allen wichtigen Utensilien aufzubewahren. Überaus ärgerlich war der Verlust ihres Rucksacks gewesen, mit dem Stativ und dem Objektiv. Es würde sie eine dreistellige Summe kosten, beides zu ersetzen.

Sie stieg unter die Dusche, drehte das Wasser erst ganz heiß auf, bis ihre Haut glühte, dann kalt. Aus ihren Haaren löste sich das getrocknete Blut und rann den Abfluss hinunter.Sie wandte schnell den Blick ab. Vorsichtig wusch sie sich die Haare, bevor sie ihren Körper üppig mit Grapefruit-Duschgel einrieb, bis der Geruch von Schweiß,Rauch und Tod verschwunden war. Am Ende war das Duschgel aufgebraucht. Bei ihren kurz geschnittenen Haaren brauchte sie keinen Fön. Vorsichtig trocknete sie die Haare und ließ die warme Zimmerluft den Rest erledigen. Die Klimaanlage hatte sie abgestellt.

Hanna betrachtete ihr braun gebranntes Gesicht im Spiegel. Ihre blauen Augen wirkten heute dunkel und die Farbe ging ins Violette über. Ihre Gesichtszüge waren noch härter als sonst. Die schmalen Lippen waren nahezu unsichtbar in ihrem Gesicht. Sie starrte konzentriert in den Spiegel, dann versorgte sie die Wunde an der Wange, die beim Duschen wieder aufgegangen war. In ihrer Reiseapotheke befanden sich alle möglichen Hausmittel, und sie schluckte gleich noch ein paar Globuli. Immerhin tat ihr der Kopf nicht weh – ihr Schädel hatte schon mehr aushalten müssen. Sie lächelte ihrem Spiegelgesicht zu und stellte sich dabei die weichen Gesichtszüge ihrer Zwillingsschwester vor. Ihr Gesicht wurde zu einer Grimasse. Schnell wandte sie sich von dem Spiegelbild ab. Sie hatte nie verstanden, warum andere Menschen sie und Marie nicht auseinanderhalten konnten.

Hanna holte ihr Jagdmesser aus dem Gurt und schob es unter ihr Kopfkissen. Eine Waffe griffbereit zu haben, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Eigentlich war es lächerlich, denn sie würde damit niemals jemandem etwas zuleide tun können. Bewusst rief sie sich das Gesicht des Nigerianers ins Gedächtnis, sah sein maskiertes Gesicht, seine dunklen Augen und die Waffe, die er auf sie gerichtet hatte. Waren Ochuko Mutai, seine Schwester und der kleine Junge durch eine Kugel aus dieser Waffe gestorben? Irgendwann würde sie diesem Fremden vergeben müssen, um Ruhe zu finden.

In ihre Decke gekuschelt versuchte sie einzuschlafen. Doch sobald sie ihre Augen geschlossen hatte, huschten die Bilder von dem Überfall immer wieder in ihrem Kopf umher. Sie ließ es zu, sie wusste, dass alles, was sie zu unterdrücken versuchte, seinen Weg an die Oberfläche doch gewaltsam fand. Leise stimmte sie ein Gebet an, in der Hoffnung, dass die wohlvertrauten Worte den Toten und ihr selbst Trost spenden würden.

»Du hast sie aus dem Leben gerissen. Die Kinder hatten noch ihr ganzes Leben vor sich. Wie soll ich sagen: Herr, dein Wille geschehe, denn er ist weise und gut, wenn du diese Menschen so schutzlos lässt? Ich weiß, nicht du bist es, der getötet hat. Lieber Gott, ich flehe zu dir: Nimm von mir die Gleichgültigkeit und alles Desinteresse. Lass mich die Wärme der Sonne wieder spüren und die Kühle des Regens. Gib, dass ich die Blumen auf den Wiesen und die Früchte der Bäume wieder sehe. Wann werden mich die Sorgen anderer Menschen, wann wird mich der Angstschrei eines Kindes wieder erreichen – zum Trösten? Wie weit bin ich entfernt von allem Mitleid und stillem Glück? Die quälende Finsternis der Nacht ist meine einzige Gefährtin. Herr, wann erwärmst du mein erstarrtes Herz, wann gibst du mir ein Stück Leben, ein Stück Hoffnung auf das Gute in dieser Welt zurück?«

Hanna suchte nach ihren Tränen, aber da war nichts. Neue, viel bedrohlichere Gedanken bemächtigten sich ihrer. Sie hatte versagt, sie hatte nicht über die Konsequenzen nachgedacht, die ihre Bilder nach sich ziehen konnten. Was, wenn sie damit in Nigeria einen Konflikt heraufbeschwor? Sie wollte nicht für den Tod von noch mehr Menschen verantwortlich sein.

Stöhnend verbarg sie ihren Kopf im Kissen. Warum hatte sie diesen vermaledeiten Chip nicht einfach zerstört? Stattdessen hatte sie ihn ausgerechnet in ihren BH gesteckt. War sie wirklich davon ausgegangen, dass ein Soldat Hemmungen haben würde, ihren Körper abzutasten? Als sie sich erneut an die wandernde Hand auf ihrem Körper erinnerte, kroch gleich wieder Panik in ihr hoch.

Sie runzelte die Stirn, drehte sich auf den Rücken. Nein, es war etwas anderes gewesen, das sie in Panik versetzt hatte. Es war das Gefühl gewesen, das seine tastende Hand in ihr auslöste. Sie mochte keine Zärtlichkeiten, keine Intimität oder auch nur eine Berührung ihres Körpers. Meist war es Abwehr, ja Ekel, den sie verspürte, wenn jemand sie berührte, aber nicht bei ihm. Es hatte so viel Neutralität in seiner Berührung gelegen, so viel Zielgerichtetheit, dass es für ihn offenbar gar keine Rolle spielte, dass es ein Frauenkörper war, den er abtastete. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte Hanna, dass jemand ihren Körper mit der gleichen Zärtlichkeit berührte, mit der es Lukas bei Marie tat oder Armin bei Silvia.

Sie sprang aus dem Bett, erschrocken von ihren eigenen Gedanken. Wieso hatte er seine Wut bekämpft, innegehalten und ihr eine weitere Chance gegeben, den Chip aus seinem Versteck zu holen? Sie setzte sich an den Tisch, nahm ein Blatt vom Briefpapier des Hotels und begann zu skizzieren, ohne zu wissen, was sie zeichnete. Schließlich sahen ihr die aufmerksamen Augen des kleinen Jungen entgegen. Hanna starrte das Bild an, dann begann sie, es zu zerreißen. In immer kleinere Stücke, bis sie so winzig waren, dass sie die Fetzen wie Schnee in den Papierkorb rieseln lassen konnte.

Erneut kuschelte sie sich in ihr Bett ein. Zu Hause müsste sie wieder an ihrer Selbstverteidigung arbeiten. Ihre Reflexe waren völlig eingeschlafen. Sie wollte sich nie wieder hilflos fühlen, und doch war sie nicht in der Lage gewesen, sich zu wehren. Angst durfte sie nicht lähmen. Als sie an die blutende Nase des Majors dachte, huschte ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte sich gewehrt, ja. Er war einfach besser trainiert gewesen, und sie hatte ihren Verstand nicht eingeschaltet, sondern sich von ihren Gefühlen überwältigen lassen.

Hanna drehte sich auf den Rücken, sie konnte das Gesicht des Mannes über sich schweben sehen. Dieser kurze Ausdruck von Mitleid, der über sein Gesicht huschte, als er ihre Angst bemerkte. Seine Kühle und Beherrschtheit, als sie den Chip hervorangelte. Kein schmutziges Grinsen, keine anzügliche Regung seines Körpers auf ihrem. Sie verstand das nicht, immerhin hatte er Macht über sie gehabt. Nachdenklich starrte sie in die Dunkelheit, visualisierte sein Gesicht, spürte ihrem Verlangen nach, ihn zu berühren. Wie konnte ein Mensch auf der einen Seite bereit sein, einem anderen Gewalt anzutun, und sich auf der anderen Seite völlig unter Kontrolle haben? Sie konnte die Wärme seiner Hand auf ihrer Hüfte spüren. Zart strich sie sich über die Stelle. Entsetzt hielt sie inne. Was tat sie da?

Mit klopfendem Herzen presste sie ihren Kopf in das Kissen. Warum fühlte sie keine Trauer? Warum konnte sie nicht weinen? Warum war sie nicht erleichtert, dass sie lebte? Stattdessen dachte sie an Sex – etwas, das ihr sonst nie in den Sinn kam. Sie musste doch krank sein.

Ärgerlich warf sie die Decke weg, stand auf, holte sich ihren Laptop und die Speicherchips. Sie würde keinen Schlaf finden, also konnte sie genauso gut etwas Sinnvolles tun und die Bilder sortieren. Vielleicht lenkte sie das von ihren verqueren Gedanken ab.

4

Nacht

Mit gekreuzten Beinen setzte sich Hanna auf ihr Bett. Schokolade in sich hineinstopfend, den Laptop auf dem Schoß, begann sie mit der Arbeit. Immer wieder stieß sie auf Ochuko Mutai. Sein Profil, wie er konzentriert am Steuer saß. Sein Gesicht im Widerschein des Lagerfeuers, als er eine Geschichte seines Volkes erzählte. Oder wie er mit Harald Winter auf dem Plateau stand. Die untergehende Sonne im Rücken, zeigte er mit der Hand auf das Land unter ihnen. Sein Gesicht war dabei weich und voller Stolz. Da stand jemand, der sein Land liebte. Hanna schluckte. Empfand sie dasselbe für ihr Land?

Sie konnte in ihrem Geist noch immer die Schüsse aus den Gewehren und das Staccato der Maschinenpistolen hören. Wer gab diesen Fanatikern solche Waffen in die Hand? Sie fragte sich, ob sie als Letztes das Foto von dem Typen, der sie hatte erschießen wollen, noch gemacht hatte. Als sie die Augen schloss, konnte sie ihn wieder durch das Objektiv ihrer Kamera sehen. Erstaunt öffnete sie die Augen und schüttelte den Kopf. Nein, das waren keine Fanatiker gewesen. Der Mann hatte gezögert, sonst wäre sie nicht mehr am Leben.

Was würde das Militär mit ihren Bildern machen? Wären sie die Rechtfertigung für einen Gegenangriff? Würde dieser den Angreifern den Tod bringen? Hanna suchte nach ihren Gefühlen für die Männer, die das Dorf angegriffen und so viele Menschen getötet hatten. Sie erinnerte sich an ihre Gespräche mit Ochuko Mutai. Nicht die Dialoge, sondern ihre Schweigsamkeit war es gewesen, die sie auf eine eigenartige Weise verband. Wenn er von seinem Land redete, verwendete er Worte, die Hanna an eine Krankheit denken ließen. Er sprach von Wunden oder Geschwüren, die sein Land prägten. Oder von einem Fluss, der es zerschnitt.

Afrika war für Hanna ein unverständliches Land. Schönheit und Grausamkeit hielten sich die Waage wie Schein und Sein. Ein Flusspferd, das gemütlich und behäbig aussah, konnte gefährlicher sein als ein Löwe. Was für ein Motiv konnte es geben, ein ganzes Dorf zu zerstören? Ein Kampf zwischen zwei verfeindeten Stämmen? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie musste aufhören, sich solche Gedanken zu machen, das konnte gefährlich werden. Sie hatte in ihrem Leben gelernt, dass es viele Fragen gab, die niemand beantworten konnte. Sicherer war es, wenn sie sich an ihre Bilder hielt. Mit ihren Fotos konnte sie den Menschen andere Länder und Kulturen nahebringen. Vielleicht konnte sie damit sogar Respekt oder Verständnis für die Andersartigkeit der Menschen erwecken. Sie wusste, dass es ein idealistischer Gedanke war, den sie hegte. Geld und Macht regierten die Welt – der Leitspruch ihres Stiefvaters. Sie verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihrem Gedankenkarussell. Hannas Puls beschleunigte sich, ihre Hand rutschte unter das Kopfkissen. Erneute klopfte es. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. In den letzten Stunden war einfach zu viel passiert.

»Hanna, bist du noch wach?«, rief jemand leise an der Tür. Harry, der vermutlich trotz des vielen Weins nicht schlafen konnte. Das nächste Klopfen ertönte.

»Warte«, flüsterte Hanna und fragte sich gleichzeitig, weshalb sie nicht laut sprach. Hastig schlüpfte sie in ihre Jogginghose, öffnete die Tür und erstarrte. Es war nicht Harry, der davor stand, sondern der Mann, der ihr den Chip abgenommen hatte. Mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht stand er da, diesmal in leichten Jeans, einem schwarzen T-Shirt und schwarzer Kapuzenjacke.

Hanna unterdrückte ihren ersten Impuls, die Tür ins Schloss zu werfen. Das würde bei dem Typen nichts nützen.

Die Arme vor der Brust verschränkend starrte sie ihn finster an. »Ich habe keinen weiteren Chip.«

»Ich weiß.« Er blickte sich kurz im Flur um, sah sie dann wieder an. »Darf ich reinkommen?«

Hannas Augen glitten zu seinen Händen, die in den Jackentaschen steckten. Ihr Blick blieb dort hängen. Er zog die Hände heraus und klopfte leicht auf die Taschen. Dann öffnete er die Jacke weit, sodass sie seinen Körper sah, und drehte sich einmal langsam im Kreis. Ihr war klar, er wollte ihr zeigen, dass er unbewaffnet war, was ihn nicht weniger gefährlich machte. Sie hatte keine Ahnung, was er von ihr wollte.

Hanna versuchte, den Inhalt ihres letzten Chips Revue passieren zu lassen. Was konnte auf den Bildern zu sehen sein, dass er in Zivil zu ihr ins Hotel kam? Ein ungeheuerlicher Gedanke ließ ihr das Blut stocken. Was, wenn er hier war, um sie zu töten? Durch ihren Körper schoss Adrenalin und versetzte sie in Spannung.

Ein amüsiertes Grinsen zeigte ihr, dass er anscheinend mühelos ihre Gedanken las. »Schön, dass du vorsichtiger geworden bist. Aber wenn ich hergekommen wäre, um dich zu erledigen, würde ich bestimmt nicht hier im Flur stehen, freundlich an deiner Tür klopfen und warten, bis ich von einem der Hotelgäste gesehen werde.«

Eine hauchfeine Röte bildete sich auf Hannas Wangen. Das war ein dummer Gedanke gewesen. Sie blockierte weiterhin ihre Tür.

»Mache ich einen so beängstigenden Eindruck auf dich, dass du mich nicht reinlässt?«

»Ja.«

»Also gut, dann nicht.« Er drehte sich um. »Ich dachte, du wolltest vielleicht die Bilder zurückhaben, die nichts mit dem Überfall zu tun haben, aber wenn dich das nicht interessiert ...« Er zuckte mit den Achseln.

Hanna biss sich auf die Unterlippe. Natürlich wollte sie ihre Bilder zurückhaben. »Halt.«

Er drehte sich wieder zu ihr, die Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen. Statt etwas zu sagen, gab sie die Tür frei, ging in ihr Zimmer zurück und setzte sich im Schneidersitz auf das Bett. Sie hörte, wie er die Tür schloss, und schon stand er in ihrem Zimmer, das auf einmal beängstigend klein wirkte. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, zog sie den Laptop auf ihren Schoß.

Stille war etwas, das Hanna normalerweise nichts ausmachte. Heute beschleunigte sie ihren Puls. Ihre Anspannung würde ihm nicht verborgen bleiben.

Ein neues Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit. Ihre Angst schien ihn zu amüsieren.

Grimmig biss Hanna die Zähne zusammen und streckte ihm auffordernd die Hand entgegen, um den Chip zu erhalten. Er bewegte sich langsam, nahm den einzigen Stuhl im Zimmer, zog ihn zum Bett und stellte ihn hin, bevor er sich rittlings darauf setzte. Der Stuhl zwischen ihnen reichte Hanna, um sich nicht mehr von Wahlstrom bedroht zu fühlen. Seine Arme auf die Lehne gestützt, sah er sie aufmerksam an.

Sie fokussierte den Mann mit schmalen Augen, was denselben Effekt für sie hatte, als konzentriere sie sich durch das Objektiv ihrer Kamera auf einen Gegenstand. Sein Gesicht war komplett symmetrisch, doch saß das linke Ohr ein wenig tiefer als das rechte. Seine Jochbeine waren stark ausgeprägt, sodass seine schmalen Augen in tiefen Höhlen lagen. Die Augenbrauen waren fein geschwungen. Sein dunkelbraunes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, über der Stirn ein wenig länger. Hier standen Haare nach oben, obwohl sie nicht gegelt wirkten. Ein natürlicher Wirbel? Die Augenfarbe war ihr heute zunächst wie ein helles Grün erschienen. Mit den dunklen Klamotten wirkten sie jetzt auch dunkler. Seine eher kleine Nase war beneidenswert fein und gerade geschnitten. Die Unterlippe war voller als die Oberlippe, der rechte Bogen länger als der linke. Ein unauffälliges Gesicht, das wandelbar war.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, als er schließlich den Speicherchip aus der Innentasche seiner Kapuzenjacke nahm. Ihn zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, blieb seine Hand hinter der Stuhllehne.

»Dir ist klar, dass du den Chip nicht ohne Gegenleistung bekommst?«

Entsetzen und Ablehnung standen ihr offenbar so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass der Major sie verblüfft und irritiert ansah. Dann hellten sich seine Augen auf, und er wurde tatsächlich rot. Jetzt war es an Hanna, verwirrt zu sein.

»Einen Deal, versteht sich.«

Durch seine Worte klang eine Spur Empörung. Hanna musste lächeln. Er schien ehrlich verunsichert zu sein.

Sie legte den Kopf schief, versuchte, den Menschen vor sich zu begreifen. Zwecklos. Ohne ihre Kamera war sie aufgeschmissen. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihn fotografierte?

»Hörst du mir zu?«

Hanna, die sich gerade gedanklich auf die Suche nach ihrer Kamera gemacht hatte, konzentrierte sich wieder auf den Mann vor ihr.

»Was für ein Deal?«

»Du bekommst diese Fotos und später auch deine anderen von dem Überfall.«

Skeptisch sah sie den Soldaten an. Nach all dem Druck und der Überschreitung legaler Grenzen verstand sie sein Entgegenkommen nicht.

»Letztere natürlich erst, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind.«

»Das wäre?«

Er lächelte. »Irgendwann.«

Sie ließ sich Zeit bei ihrer Überlegung, erwog, dass das noch nicht alles sein konnte.

»Und ich schweige?«

»Exakt.«

»Ich wurde körperlich angegriffen.«

»Soweit ich mich erinnere, hatte ich am Ende die blutige Nase.«

Hanna hob ihren rechten Arm, drehte ihn, sodass er die Außenseite sehen konnte. »Ich habe blaue Flecken.«

Ist das, was unter dem Rand des T-Shirts rausschaut, ein Tattoo?«

Diesmal war es an Hanna, zu erröten. Sie brachte die Außenseite ihres Armes wieder außer Sichtweite und sie schwiegen sich an. Sie war gut im Schweigen. Er auch.

Schließlich siegte das Verlangen nach ihren Bildern. Sie wusste, auch mit einem Anwalt stünde Aussage gegen Aussage. Ihre mangelnde Kooperation und die Gründe, aus denen sie die Bilder nicht hatte herausrücken wollen, konnten leicht missverstanden werden. Sie streckte ihre Hand aus. Seine Augenbrauen gingen fragend in die Höhe.

»Deal«, erklärte sie.

»Sicher?«

»Ja.«

Er legte den Speicherchip in ihre Hand. Beim Loslassen glitten seine Fingerspitzen über ihre Handfläche. Hanna spürte seiner Berührung nach. Sie betrachtete den Speicherchip und versuchte die Verwirrung, die dieser Mann in ihr auslöste, in den Griff zu bekommen.

Es war eindeutig ihr Chip, von ihr mit Nagellack markiert. Sie musterte seinen Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten war. In seinen Augen blitzte kurz etwas auf. War der Chip vielleicht nicht sauber? Sie war hin und her gerissen. Einerseits wollte sie endlich die verloren gegangenen Bilder sehen, andererseits traute sie ihm nicht über den Weg.

Die Frage war, ob seine Techniker besser waren als Viktor. Sie konnte ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken, als sie an Viktor dachte. Es gab Momente, in denen er unter Verfolgungswahn litt, nicht krankhaft, sondern aus einer Erfahrung heraus, die er mit ihr teilte. Er war ein Meister im Umgang mit dem Computer, und ihr Laptop war immer auf dem neuesten Sicherheitsstand. Viktor versorgte Hanna mit Programmen, die nicht auf dem Markt erhältlich waren.

Vorsichtig, als wäre er eine Bombe, schob sie den Chip in den Slot ihres Laptops. Während die Bilder über ihren Bildschirm huschten, vergaß Hanna die Anwesenheit des Soldaten.

Der Sonnenaufgang. Ihr Aufbruch aus dem Lager, Staubwolken und immer wieder Ochuko Mutai. Das Bild von dem Käfer, den sie fotografiert hatte, kurz bevor sie zum Dorf abgebogen waren. Das kleine Häuschen seiner Schwester, die Kinder, sie selbst, die Kinder beim Spielen. Ihre Entdeckungstour durch den Garten mit dem Jungen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie fühlte Tränen in ihren Augen, als sie das letzte Bild von dem kleinen Jungen sah. Sein Gesicht, und wie er ihr durch das Objektiv zuwinkte.

»Er wäre ein guter Fotograf geworden, mit der richtigen Anleitung. Ich habe selten Bilder gesehen, die mich so tief berührt haben.«

Seine Stimme war sanft. Sie streichelte Hanna, weckte Sehnsucht in ihr. Woher wusste er, dass es der kleine Junge war, der die Bilder gemacht hatte? Er war offenbar ein aufmerksamer Beobachter.

Sie hob den Kopf und sah in seine sanften, nun grauen Augen. Sein Gesicht war offen, die strengen Linien hatten sich aufgelöst. Traurigkeit und Schmerz waren sichtbar.

»Es tut mir leid. Ich wünschte, wir hätten es verhindern können.«

Hanna fühlte sich zu ihm hingezogen, ohne dass sie dagegen ankam. Er war wie ein kraftvoller Magnet. Während der letzten Stunden war sie dem Tod viel zu nahe gewesen und hatte bei dem Jungen schon einmal ihre Mauern fallen lassen. Sie sehnte sich nach einer Berührung, nach einer tröstenden Umarmung, einmal nicht die Starke sein zu müssen, sondern gehalten zu werden.

Seine Körperhaltung spannte sich, als sie sich ihm näherte. Sie hockte sich auf die Fersen, streckte vorsichtig die Hand aus. Die Haut seines Gesichts war unter ihren Fingern abwechselnd weich und rau. Sie schloss ihre Augen, jede Berührung war ein Impuls, der in Form von Energie durch ihren Körper pulsierte. Die Welt um sie herum geriet in Vergessenheit. Sie versuchte, das Bild seines Gesichts mit den Fingern nachzuzeichnen, die Augen geschlossen. Dabei spürte sie Falten, Unebenheiten, eine Wölbung und eine leichte Schwellung am Nasenbein.

Er verharrte reglos auf seinem Stuhl. Sein Abwarten ließ sie mutiger werden, es war wie eine neue Erfahrung voller Lebendigkeit. Sonst erkundete sie ein Gesicht nur über ihren PC, nie mit den Händen. Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seine Lippen, konnte den lächelnden Bogen fühlen, und sein Lächeln übertrug sich auf sie.

Hanna öffnete die Augen und sah ihn an. Ohne zu wissen, was sie tat, wieso sie es tat und warum sie es nicht stärker kontrollieren wollte, näherte sie sich seinem Gesicht. Warmer Atem streifte ihre Wange. Sein Mund war unter ihren Lippen noch weicher. Hanna hatte keine Erfahrung mit Küssen. Sie löste ihre Lippen von seinen, hielt inne und wartete darauf, dass etwas Furchtbares passierte. Sie konnte die Enge in ihrer Kehle spüren.

Aber es passierte nichts, gar nichts. Wieder öffnete sie die Augen, die sie bei dem Kuss geschlossen hatte. Seine Hände lagen auf der Stuhllehne, er machte keine Anstalten, sich zu nähern oder sie zu packen. Sie sah in seine nebelgrauen Augen, suchte nach der Gewalt darin und fand sie nicht. Bei ihm war alles Kontrolle, und auf einmal wollte sie, dass er sie verlor.

Ihre Panik war weggewischt, stattdessen nahm die Neugierde überhand. Sie rutschte ein Stückchen näher, ließ ihre Hand von seinem Hals den Nacken hochwandern und legte ein zweites Mal ihre Lippen auf seine. Sie schreckte nicht zurück, als er vorsichtig ihren Kuss erwiderte. Seine Zunge berührte ihre, und erschrocken über die Intensität des Gefühls, hielt sie den Atem an.

Sachte zog er seinen Kopf zurück.

»Sorry«, flüsterte er, »aber ich habe jemandem versprochen, meine Finger von dir zu lassen.« Er lächelte schief. »Ich halte meine Versprechen.«

Bis zu diesem Moment war Hanna von dem, was sie machte, völlig verunsichert. Sie hatte keine Ahnung, was sie wollte oder weshalb sie sich einem wildfremden Mann an den Hals warf. Jemandem, von dem sie noch kurz zuvor angenommen hatte, dass er sie vielleicht umbringen wollte.

Oder war genau das der Reiz? Ihr Hang zum Risiko, bis an die Grenzen zu gehen und noch ein Stück darüber hinaus? Sein Rückzug war ein Signal, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Sie musste das, was gerade mit ihr passierte, weiter erforschen, konnte nicht innehalten.

»Dann behalte deine Finger bei dir.«

Sie küsste ihn ein weiteres Mal, diesmal ohne jede Zurückhaltung, gleichzeitig zog sie ihn mit den Händen vom Stuhl. Sein Widerstand war kurz, dann lag er in ihrem Bett, sein Kopf dicht unterhalb des Kissens.

Hanna legte sich auf ihn. Während sie ihn küsste, zog sie ihm erst die Jacke aus, dann fuhren ihre Hände unter sein T-Shirt. Er hob die Arme und legte sie ausgestreckt hinter den Kopf. Als seine Hände das Kissen berührten, fiel ihr das Jagdmesser ein. Sie erstarrte.

Aufmerksam sah er sie an, ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Was ist, wird es dir zu gefährlich? Möchtest du aufhören?«, neckte er sie.

Hanna hatte sich in ihrem Leben noch nie so stark gefühlt. Statt ihm zu antworten, senkte sie ihre Lippen erneut auf seine. Inzwischen hielt auch er sich beim Küssen nicht mehr zurück. Sie schob sich langsam höher. Als sein Mund durch ihr T-Shirt hindurch ihren Busen berührte, stöhnte sie auf. Ihre Lust und die Gefahr rangen miteinander, dann fanden ihre Finger den Griff des Messers. Mit einer fließenden Bewegung schob sie es über den Rand des Bettes hinaus und ließ es auf den Boden fallen. Sie spürte die Spannung seines Körpers, als sie sich wieder auf ihn legte.

Jetzt, da das Messer weg war, nahm sie sich Zeit für ihn. Sie streichelte seinen Körper, genoss den Geschmack seiner Haut. Lächelnd kostete sie die Macht aus, die er ihr gab, weil sie sah, wie schwer es ihm fiel, die Finger von ihr zu lassen. Sie ließ sich von ihrem eigenen Verlangen treiben und wurde mal schneller, mal langsamer in ihren Bewegungen. Sie verspürte ein Kribbeln, dem sie sich entgegen sehnte, und intensivierte ihre Liebkosungen. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe und der Schweiß brach ihr aus. Als sich eine kleine Explosion in ihrem Körper ausbreitete, die alle ihre Gedanken wegfegte und jede Spannung in ihrem Körper auflöste, kam ihr ein Seufzen über die Lippen. Sie hielt inne und wagte nicht, sich noch weiter zu bewegen. Sie versuchte, das Gefühl festzuhalten und es zugleich erlöst ausklingen zu lassen. Noch nie hatte sie so etwas gefühlt. War es das, was Marie im Sex suchte?

Sie öffnete die Augen und betrachtete den Mann unter sich, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. In ihr war zu viel Staunen über das, was mit ihrem Körper passiert war.

Sanft drehte er sie auf die Seite, und sie ließ es ohne Angst geschehen. Er legte sich seitlich dicht neben sie. Eine Hand in seinem Nacken, versuchte Hanna, ihn sachte auf sich zu ziehen.

»Nicht so schnell«, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr und nahm ihr Ohrläppchen zwischen die Zähne. Sie wand sich. Ihre körperliche Reaktion auf seine Geste irritierte sie.

»Darf ich auch?«, flüsterte er weiter, während sein Mund sich den Weg zu ihrem Hals suchte. Sie konnte fühlen, wie sich ein weiteres Mal dieses heftige Gefühl in ihr aufbaute. Sie stöhnte auf. Dieser Mann brauchte seine Finger nicht, er war auch schon so gefährlich genug. Sie krallte ihre Hände in seine Haare, ohne Halt zu finden. Eine Hand wanderte hinunter zu seiner Taille, krampfhaft versuchte sie, ihn zu sich zu holen, um der süßen Folter ein Ende zu bereiten. Er schob sich ein wenig auf sie, aber nicht ganz. Sie biss sich auf die Unterlippe, öffnete die Augen und starrte in sein verschmitzt lächelndes Gesicht.

»Du glaubst doch nicht, dass ich es dir so leicht mache? Jetzt, wo ich weiß, wie du aussiehst im schönsten Moment, kannst du mich nicht mehr täuschen.«

Er verschloss ihren Mund mit einem langen Kuss. Hanna spürte seine Hände auf ihrem Körper, die sie behutsam streichelten, während sein heißer Atem ihren Hals streifte.

Sie stöhnte. »Du behältst deine Finger nicht bei dir«, stieß sie hervor.

»Das ist Selbstverteidigung.«

Danach hörte Hanna nichts mehr, ging völlig in ihrem Verlangen auf.


Ben Wahlstrom hatte die widerstreitenden Gefühle in Hanna Rosenbaums Gesicht gesehen, als ihre Augen flink über die Fotos flogen, ihre harten Züge, die weicher wurden. Diese unglaublich blauen Augen, die sich mit Tränen füllten und eine Verletzlichkeit offenbarten, die er unter der rauen Schale erahnt hatte.

Worte kamen über seine Lippen, bevor ihm bewusst wurde, was er sagte. Doch alles entsprach der Wahrheit. Die Bilder zeigten mit unglaublicher Schärfe, wie es um Afrika stand, und es tat ihm weh, weil er dieses Land liebte. Auf eine andere Art, als es die Einheimischen taten oder der Mann auf dem Bild, der nun tot war. Wenigstens hatte der Mann ein Leben gehabt, im Gegensatz zu dem Jungen auf den letzten Fotos.

Dass die Frauen und Kinder in diesem Land so leiden mussten, frustrierte ihn am meisten. Es war hier wie in all den anderen Ländern, in die ihn seine Einsätze geführt hatten. Ihnen fehlte Essen, sie kamen nicht an Medikamente, sie wurden missbraucht, um die Macht einer Gruppe über eine andere Gruppe zu demonstrieren. Manchmal, wenn er sich fragte, was sie mit ihrer Arbeit erreichten, ging er zu einer Schule. Dort sah er die Kinder und hoffte, dass sich wenigstens für sie etwas änderte, weil er da war und seinen Job erledigte.

Als Hanna sich ihm näherte, wusste er nicht, was sie von ihm wollte. Ihre Berührung und ihr Kuss waren unsicher und unbeholfen. Diese Unsicherheit berührte ihn tiefer, als es ihm lieb war. Es war ein gefährliches Terrain, auf dem er sich bewegte. Aus Prinzip vermischte er niemals Beruf und Privatleben, und da gab es noch den Befehl seines Vorgesetzten. Aber er konnte diesen Augen, diesen weichen Lippen unmöglich widerstehen. Zumal diese Frau es ihm so leicht machte, dem Befehl nicht Folge zu leisten. Adrenalin war durch seinen Körper pulsiert, als sein Kopf das Kissen berührt hatte. Und noch einmal, viel intensiver, nachdem er das Jagdmesser unter seinem Arm gefühlt hatte. Es war ihm aufgefallen, dass es an ihrem Bauchgurt fehlte, der auf dem Schreibtisch lag. Er war sich ihrer Absicht nicht sicher gewesen, als sie sich nach oben gearbeitet hatte. Er hatte alle Möglichkeiten, die sich ihm boten, genutzt, um sie abzulenken, von welcher Absicht auch immer.

Wie sinnlich Hanna auf seine Berührungen reagierte, faszinierte ihn. Sie gab ihm das Gefühl, der erste Mann zu sein, der sie auf diese Art berührte. Erregung und Anspannung waren gleichzeitig durch seinen Körper geschossen, als sie in einer geschmeidigen Bewegung das Messer aus dem Bett befördert hatte. Fast bedauerte er es ein wenig, es hätte ein interessanter Aspekt werden können. Aber dann nahm ihn das, was sie mit ihm anstellte, völlig in Anspruch. Er spürte ihre Unsicherheit wieder neu, nachdem sie gekommen war und dann nicht wusste, was sie mit sich und ihm machen sollte. Als wäre auch dieses Gefühl völlig unbekannt für sie. Er war sich seiner Verantwortung bewusst, als er sie sachte von sich schob und sie neben sich legte.

Es war höchste Zeit aufzuhören, aber er konnte ihr nicht widerstehen. Sie war wie ein Magnet für ihn, vom ersten Moment an, als ihre veilchenblauen Augen sich auf ihn gerichtet hatten. Ihre ruppige, schweigsame Art und ihr Trotz waren eine Herausforderung für ihn. Ihre Haut war weich, ebenso ihr Bauch, ganz im Gegensatz zu ihren durchtrainierten, kräftigen Armen und Beinen. Er hatte ihr Tattoo gesehen. Um ihren linken Oberarm wand sich ein tätowierter Dornenkranz. Der kratzige, rasierte Nacken, im Gegensatz zu ihren dichten tiefschwarzen Haaren. Ihre völlige Hingabe, wenn er sie berührte.

Im letzten Moment hatte er an das Kondom in seiner Hosentasche gedacht, das ihm in der Stadt bei einer Aids-Aufklärungskampagne in die Hand gedrückt worden war. Er hoffte nur, dass Hanna es nicht missverstand, als habe er den heutigen Abend so geplant. Alles andere verdrängte er. Keiner würde je erfahren, was sie und er in dem Hotel gemacht hatten.

Lächelnd fühlte er, wie sie sich zufrieden und entspannt in seinen Arm kuschelte, voll Vertrauen. Und das nach all der Feindseligkeit, mit der sie ihn den ganzen Tag über bedacht hatte. Er schloss die Augen und gönnte sich diesen raren zufriedenen Moment.


Hanna lag in seinem Arm, ihren Körper dicht an seinen gekuschelt. Während er sie umfasst hielt, streichelte er mit einer Hand ihren Nacken. Er küsste sanft ihre Beule am Kopf, die schon etwas kleiner geworden war. Ihr fiel ein, dass sie noch nicht einmal seinen Vornamen kannte. Sie wollte ihn gar nicht wissen. Diese kleine Spur Anonymität gab ihr das Gefühl, alles nur zu träumen, und das machte es für sie leichter, ihr Verhalten zu akzeptieren, anstatt sich dafür zu schämen. In ihr waren tiefe Zufriedenheit und eine Ruhe eingekehrt, die sie nicht kannte.

In gewisser Weise war es der erste Sex in ihrem Leben gewesen. Sie hatte nicht wirklich geahnt, dass es so etwas gab. Kein Schmerz, keine Gewalt – ein Geben und Nehmen. Dieser Soldat, der im Einsatz tötete, war zärtlich, weich und achtsam gewesen. Die Gefahr, die er noch ein paar Stunden zuvor für sie ausgestrahlt hatte, als er sie verhört und bedrängt hatte, war verschwunden. Wie konnte ein Mensch so unterschiedlich erscheinen? Und warum musste sie mit ihren Gedanken immer die kostbarsten Momente in ihrem Leben belasten? Konnte sie das Glück nicht einfach zulassen, wenn es ihr begegnete? Sie sah sofort die Gefahr, verletzt zu werden.

Hanna schob die Gedanken beiseite und schloss die Augen. Alle ihre Sinne waren auf die neuen Gefühle ausgerichtet, die sein an sie geschmiegter Körper in ihr auslösten. Sie seufzte tief.

»Was ist? Immer noch nicht satt?«, flüsterte er an ihrem Ohr.

»Hm, doch«, antwortete sie schnell. Mehr konnte sie nicht verkraften. Sie fühlte sein Lächeln an ihrem Hals, ein prickelndes Gefühl.

»Warum dann der Seufzer? Tut es dir leid?«

Warum mussten Menschen mit Reden alles kaputtmachen, fragte sich Hanna. Keine Macht der Welt würde sie dazu bringen, ihm zu sagen, weshalb ihr das Stöhnen über die Lippen gekommen war. Ihr war bewusst geworden, dass er sie für alle Zeit verändert hatte. Bis heute war sie gut ohne Sex ausgekommen. Einzige Ausnahme: ein Experiment mit Viktor Samuels an ihrem achtzehnten Geburtstag. Es war eine sachliche, fast wissenschaftliche Angelegenheit gewesen, zu erfahren, wie es sich anfühlte, wenn man seinen Körper öffnete für einen anderen. Das Experiment war eine Probe für ihre Freundschaft gewesen, ohne dass sie recht verstanden hatte, weshalb. Was sie heute Nacht mit einem wildfremden Menschen geteilt hatte, dieses völlige sich Aufgeben und Eintauchen in einen anderen, sich loslassen, sich nirgendwo mehr festhalten, nichts denken, nichts sagen, einfach nur sein – das war etwas ganz anderes.

Hanna runzelte verwirrt die Stirn. Eigentlich hätte es sich erschreckend anfühlen müssen, sich so aufzugeben, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. War sie dazu bereit gewesen, weil sie wieder einmal so knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war? Sie schauderte bei der Erinnerung daran.

Sanft strich seine Hand ihren Körper entlang, sein Arm umschlang sie und hielt sie fest. Ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit strömte warm durch ihre Adern, erreichte ihr Herz und ließ es stocken. Ihr Hals verengte sich, Tränen wollten in ihre Augen treten. Es war so lange her, dass sie gehalten worden war, dass einmal nicht sie die Starke sein musste. Trotzdem: Sie musste dem Ganzen sofort ein Ende bereiten, bevor sie sich verlor und aus dieser Schwäche nicht mehr herauskam. Es war an der Zeit, diesen Menschen aus ihrem Bett zu werfen. Ihn wegzuschieben, bevor er sie verletzen konnte.

»Ich möchte schlafen«, erklärte sie ruppig.

»Dann schlaf«, entgegnete er entsprechend knapp und ignorierte den Rauswurf.

»Verschwinde.« In ihrer Stimme lag mehr Schärfe als beabsichtigt.

»Sonst passiert was?«

Hanna spannte ihren Körper an, vor ihren Augen baumelte das Messer. Wie dumm und naiv sie gewesen war, was für ein leichtes Opfer sie war. So schnell hatte er sie die Gefahr vergessen lassen, aber sie würde sich wehren. Sie musste nur schneller sein als er.

»Erstichst du mich dann mit deinem Messer?«

Sie konnte den Schalk in seiner Stimme hören. Langsam drehte sie sich um, sodass sie sein Gesicht in der Dunkelheit erahnte, nur seine Augen konnte sie nicht erkennen.

Seine ganze Körperhaltung war entspannt. Er legte das Messer vorsichtig in den Spalt zwischen ihre Körper. Dann ergriff er ihre Hand und führte sie zu dem Messergriff.

»Du kannst mir vertrauen. Es ist nicht meine Absicht, dich zu verletzen, Hanna, das weißt du.«

Sie sah sein breites Lächeln nicht, hörte es aber in seinen Worten. Ihre Finger umschlossen den Griff des Messers. Er zog seine Hand zurück, legte sie unter seinen Kopf.

»Lass mich wenigstens bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist.«

Eine Bitte ohne Erwartung. Sie drehte sich um und ließ es zu, dass er sich wieder an sie schmiegte.

»Waren die Bilder brauchbar?«

Sein Körper spannte sich unmerklich an.

»Werdet ihr die Angreifer hochgehen lassen?«

Er schwieg und küsste ihr Haar.

»Mit Gewalt auf Gewalt zu antworten, ist keine Lösung«, erklärte sie ruhig.


Er entspannte sich, genoss die Wärme ihres Körpers. Der künstliche Duft von Duschgel war längst ihrem Körpergeruch gewichen, ein wenig roch sie inzwischen nach ihm. Ihre regelmäßigen Atemzüge signalisierten ihm bald, dass sie eingeschlafen war. In seinen Armen, obwohl ihre Finger weiterhin den Griff des Messers umschlossen hielten. Es war interessanter gewesen, nicht zu wissen, ob er womöglich jeden Moment sein Leben riskierte. Eine Art Ansporn für ihn, sein Bestes zu geben. Dennoch war es leichtsinnig gewesen, zuzulassen, dass sie sich zum Messer hocharbeitete. Ein Gefühl, das er ein zweites Mal provoziert hatte, indem er sie mit dem Messer konfrontiert hatte. Der Gedanke war reizvoll, beim Höhepunkt zu sterben, anstatt in irgendeiner Gefängniszelle oder bei einem Einsatz.

Major Wahlstrom stellte die Weckfunktion seiner Armbanduhr ein und gönnte sich den Luxus, neben dieser Frau zu schlafen.

Als seine Uhr piepte, löste er sich von ihr und zog sich leise an. Hanna schlief tief und fest, fast wie ein Baby. Ihre Gesichtszüge waren weich, die Lippen geöffnet. Sie erschienen ihm voller als tagsüber. Er sah die blutunterlaufene Stelle, auf die gebissen hatte, um ihre Laute zu unterdrücken. Schade, er hätte sie gern gehört. Vorsichtig beugte er sich über sie und küsste ein letztes Mal ihr weiches Haar. Sein Blick fiel auf den Speicherchip, der noch in ihrem Laptop steckte.

Trotz ihres Misstrauens hatte sie nichts bemerkt. Leise verschwand er aus dem Zimmer.

5

Deutschland

Hanna erwachte vom Klingeln des Telefons. Sie hob ab.

»Hanna, sag nicht, dass du noch schläfst.«

»Ich bin wach.«

»Dann schwing deinen Hintern runter, wenn du noch was frühstücken möchtest, das Taxi kommt in einer Stunde.«

Harrys kratzige Stimme hörte sich nach einer schlimmen Nacht an. Sie ließ sich ins Bett zurückfallen, streckte und dehnte sich wohlig. Es war lange her, dass sie so fest und traumlos geschlafen hatte.

Dann war sie mit einem Satz aus dem Bett und zehn Minuten später fertig für die Abreise. Ein schneller Blick durch das Zimmer, nichts erinnerte daran, was sich in der letzten Nacht hier abgespielt hatte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Vielleicht war alles nur ein Traum gewesen? Eine Fantasie? Eine Flucht in eine andere Welt, die nun dem Licht der Realität gewichen war? Es war eine schöne Erinnerung.

Sie verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Harald Winter saß vor einem Teller voll mit Rührei, Speck, kleinen Würstchen und Bratkartoffeln. Hanna rümpfte die Nase. Allein der Geruch des Fetts ließ ihren Magen rumoren. Es war ihr schleierhaft, wie man so etwas morgens essen konnte. Sie holte sich eine Müslischüssel, Quark, Obst, ein Vollkornbrot, Butter und Nutella. Dazu einen Becher Kakao.

Harry musterte sie. »Du siehst heute Morgen anders aus«, stellte er fest und hielt beim Kauen inne.

»Ich bin sauber.«

»Nein, das ist es nicht.« Er schüttelte den Kopf.

Sie wandten sich beide ihrem Essen zu, Harrys Augen musterten Hanna jedoch intensiv. Schließlich kam er zu einem Ergebnis, was Hanna an der Gabel erkannte, mit der er auf sie zeigte.

»Es liegt an deinen Augen, ihre Farbe ist irgendwie anders. Sie sind blauer, und dein Gesicht – ist weicher als sonst. Was hast du gestern Nacht gemacht?« Die letzten Worte kamen eine Spur schärfer aus seinem Mund.

Hanna schoss die Röte ins Gesicht. Harald Winter besaß eine außerordentliche Beobachtungsgabe, was für seinen Job unentbehrlich war. Aber seine direkte Art ihr gegenüber empfand sie als unangenehm. Sie schwieg.

Nachdenklich betrachtete er sie, die Stirn gerunzelt, dann pickte er mit der Gabel ein kleines Würstchen auf und schob es sich ganz in den Mund. Nachdem er zu Ende gekaut hatte, seufzte er tief.

»Schon gut, es geht mich schließlich nichts an. Ich habe jedenfalls eine beschissene Nacht hinter mir. Das Bild von Ochuko geht mir nicht aus dem Kopf. Ich glaube, langsam werde ich zu alt für das alles hier.« Frustriert legte er seine Gabel hin und schob den Teller weg. »Wenn ich doch nur gesagt hätte, dass wir den Umweg nicht fahren können.«

Hanna legte ihre Hand auf die von Harry. »Es ist passiert, du kannst es nicht mehr ändern, wir müssen damit leben.«

»Schlaue Sprüche aus dem Mund einer Achtundzwanzigjährigen. Hast du noch mehr solcher Weisheiten auf Lager?«

»Nein. Aber ich habe schöne Bilder von ihm.«

»Nur nicht die letzten.«

»Doch, die auch.« Zu spät registrierte Hanna, dass sie sich verraten hatte.

»Sag nicht, du hast mit einem von diesen Typen geschlafen.«

Bei ‚diesen Typen’ ging seine Stimme runter. Hanna hatte keine Lust, sich von Harald Winter eine Moralpredigt anzuhören, mit wem sie seiner Meinung nach ins Bett steigen konnte und mit wem nicht. Sie war nicht seine Tochter.

»Das geht dich nichts an.«

»Nein, stimmt, beziehungsweise schon, wenn du dich mit solchen Männern einlässt«, giftete er sie leise an.

»Das war nicht geplant!«, fauchte sie zurück. Dann schwappte der Zorn über sie, weil sie sich vor ihm rechtfertigte. Verärgert warf sie ihren Löffel hin, der Appetit war ihr vergangen.

»Du hast denen gestern doch nicht die Masche von den ach so besorgten Soldaten abgekauft?«

»Schscht.« Etliche Leute sahen schon zu den beiden herüber. Vermutlich dachten sie, es wäre ein Streit zwischen Tochter und Vater im Gange. Allerdings war sich Hanna nicht sicher, ob sie hier unbeobachtet waren oder ob man sie abhörte. Auch ihr war klar, dass sie es nicht mit regulärem Militär zu tun gehabt hatten.

»Es ist mir egal, ob mich jemand belauscht«, regte sich Harald Winter auf, senkte allerdings seine Stimme. »Das ist ein Verein, der über Leichen geht. Ich hoffe, das ist dir bewusst. Vielleicht war es ja nicht von dir geplant, aber von denen bestimmt. Und aus welchem Grund auch immer er mit dir ins Bett gestiegen ist, glaub ja nicht, es hätte keine Absicht dahintergesteckt.«

»Es steckte Absicht dahinter.«

»Ach ja?« Beide Augenbrauen von Harald Winter schossen in die Höhe.

»Er wollte sich entschuldigen.«

Trotzig schob Hanna die Unterlippe vor. Das Bild, wie Wahlstrom ein Kondom aus seiner Hosentasche gezaubert hatte, stand ihr deutlich vor Augen. Es gab ihr einen Stich, gleichzeitig fühlte sie, wir ihr Magen anfing zu rebellieren. Sie beherrschte sich. Sollten sie belauscht werden, war es besser, überzeugend zu sein.

Winter verschluckte sich an seinem Kaffee.

»Wofür? Dass er dir deinen Hüftgürtel abgenommen hat?«

Sie biss sich auf die Lippen. Auf keinen Fall würde sie Harry erzählen, was gestern passiert war.

»Hanna, weißt du, was ich normalerweise an dir mag? – Dass du dir nichts vormachst, sondern mit beiden Beinen fest in der Realität stehst. Du sitzt hier nicht heulend herum, obwohl ich weiß, dass dir der Tod von Ochuko und den Kindern sehr nahe gegangen ist. Ich weiß auch, dass du schlau genug bist, das Ganze zu vergessen. Etwas, was ich auch ganz bestimmt tun werde. Aber was du hier heute Morgen verzapfst, ist echter Bullshit. Dazu noch dein romantisch entfremdetes Gesicht ... Was hat dir der Typ gegeben? Drogen?«

Das reichte. Hanna warf klirrend ihr Besteck auf den Tisch, stand auf und rauschte aus dem Frühstücksraum. Sie registrierte durchaus die mitfühlenden Blicke, die die älteren Anwesenden auf Harry warfen, und fragte sich, ob jemand von dem Verein darunter war. Mist! Es war ihr egal, was sie dachten.


Irgendwann, später im Flugzeug, entschuldigte sich Harald Winter bei Hanna. Gemeinsam schauten sie sich die Bilder an, die Hanna bereits als Auswahl für National Geographic zusammengestellt hatte. So blieb ihr der Weg in die Redaktion erspart. Immer wieder schweifte ihr Blick dabei auf die Warnanzeige ihres Antivirenprogramms. Nichts – kein Blinken, keine Warnmeldung, alles schien in Ordnung zu sein. Hanna konzentrierte sich wieder auf die Auswahl an Fotos. Für einen kleinen Absatz in der Reportage suchten sie das letzte Bild von Ochuko aus und das, wo er mit Harry im Sonnenuntergang stand. Harald formulierte einen unverfänglichen Text als Nachruf auf ihren Fremdenführer und sprach dabei von einem Unfall.


Doch Bilder wie Worte hinterließen ihre Spuren bei Harald Winter und Hanna Rosenbaum. Den restlichen Flug über hingen sie beide ihren Gedanken nach. Das, was Hanna am meisten an Winters Bemerkungen ärgerte, war, dass er damit ihre Zweifel geweckt hatte. Für einen Moment war ihr Leben schön gewesen, ohne Angst, ohne Verrat. Tief in ihrem Innern aber wusste sie: Major Wahlstrom hatte sie benutzt. Egal, wie sehr sie glauben wollte, dass die Initiative von ihr ausgegangen war – sie war einfach nur verdammt gut manipuliert worden. Sie schluckte, weil sie daran dachte, wie leicht es gewesen war. Ein wenig Mitgefühl, ein wenig Zärtlichkeit, ein paar Schmeicheleien, und sie war Wachs in seinen Händen gewesen. Was hatte sie denn geglaubt – dass sie auf einmal unwiderstehlich anziehend auf Männer wirkte? Hanna gönnte sich eine halbe Stunde Selbstmitleid, bevor sie sich wieder aufraffte und ihre Kamera hervornahm. Das zweite Objektiv in ihrem Gürtel war unversehrt geblieben und sie begann, Bilder aus dem Fenster des Flugzeugs zu schießen. Die Bilder würden nichts werden, aber beruhigten den Aufruhr in ihrem Inneren.

 

Gleich nach der Ankunft nahm Hanna Kontakt zu Viktor Samuels auf. Wohlweislich bat sie dazu nicht Harald Winter um sein Handy, sondern suchte sich ein Münztelefon. Sie selbst besaß kein Handy. Es würde ihr das Gefühl geben, ständig überwacht zu sein.

Dann nahm sie wie immer die öffentlichen Verkehrsmittel zu ihrer Wohnung. Allerdings wechselte sie mehr als einmal kurzfristig die S-Bahn, fuhr erst in eine Richtung, dann wieder in eine andere. Aufmerksam und doch unauffällig beobachtete sie ihre Mitreisenden. Sie bemerkte nichts, das ihr Misstrauen geweckt hätte.

Zu Hause warf sie ihre Creme weg, auch Deo, Zahnpasta und Zahnbürste. Ihre gesamte Reiseapotheke. Nichts blieb von ihren Waschutensilien übrig. Ihre Klamotten packte sie allesamt in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner. Danach ließ sie jedes Kleidungsstück sorgfältig durch die Finger gleiten und prüfte alle Unebenheiten. Nachdem sie sich einen Kaffee gemacht hatte, setzte sie sich in ihren Lieblingsstuhl und ließ den Blick durch die Wohnung gleiten. Außer einem Tisch, an dem sie aß, einem weiteren – mit zwei großen 27-Zoll-Monitoren, einer davon ein iMac – an dem sie arbeitete, einer Küchenzeile und einer Couch sowie dem Sessel gab es keine Möbel in dem Raum. Ihre Wohnung verfügte über zwei weitere Zimmer, ein Schlafzimmer mit einem Bett und ein Bad. Die Wände waren voller Collagen mit ihren Fotos, die sie immer mal wieder anders arrangierte oder austauschte, je nachdem, an welchem Projekt sie arbeitete.

Hanna versuchte, auch ihren Kopf zu säubern, wie sie es mit ihren Reisesachen gemacht hatte. Leider ließen sich die Spuren hier nicht so einfach auslöschen, schon gar nicht die der letzten Nacht.

Eine der Collagen weckte ihre Aufmerksamkeit. Obwohl Hanna sich als kreativen Menschen bezeichnete, war sie doch äußerst pingelig, was ihre Wohnung betraf. Es gab kein Chaos, alles hatte seinen Platz. Sie brauchte Klarheit, Ordnung und System um sich herum, damit sie ihren Kopf frei hatte für ihre kreative Arbeit. Deshalb ließ sie andere Menschen nur selten in ihre Wohnung. Da sie keine sozialen Kontakte pflegte, war das auch nicht nötig. Aber hier stimmte etwas nicht mit der Collage. Die Systematik bei der Anordnung der Bilder war falsch.

Langsam erhob Hanna sich aus ihrem Sessel. Sie bewegte sich in Richtung des Bildes und blieb wie angewurzelt stehen, als sie erkannte, dass sich ein Foto in einer falschen Position befand. Jemand war in ihrer Wohnung gewesen. Fröstelnd schlang sie ihre Arme um sich. Hier war ihr Zuhause, ihr Zufluchtsort, hier hatte sie sich immer sicher gefühlt. Was war sie doch für ein Idiot.


Als sie am nächsten Morgen aufwachte, musste sie sich für den Tag eine Beschäftigung überlegen, denn an ihre Rechner wagte sie sich nicht heran. Trotz der negativen Meldung ihres Antivirenprogramms war sie inzwischen davon überzeugt, mit dem Speicherchip nicht nur ihre Bilder zurückbekommen zu haben. Sie selbst verstand jedoch zu wenig von Technik und befürchtete, auch ihre anderen Geräte möglicherweise zu infizieren. Sie musste warten, bis Viktor ihren Rechner am Abend checken würde.

Also ging sie einkaufen und füllte ihre Vorräte an Lebensmitteln auf. Danach sah sie die Post durch. Sie telefonierte mit ihrem Trainer für Nahkampftechnik, Stevie, der ihr umgehend einen Termin einräumte. Stevie trainierte hauptberuflich die BKA-Beamten für den Personenschutz. Für einige wenige ausgewählte Zivilisten bot er ein persönliches Training an. Den Kontakt zu Stevie verdankte Hanna dem Polizisten, der sie damals aus dem See gezogen hatte. Wann immer sie in Berlin war, trainierte sie mit ihm.


Er nahm sie hart ran. Rücksichtsvollen Umgang vermied er, schließlich würde ein Angreifer genauso wenig vorsichtig sein. Und Hanna war wirklich eingerostet.

»Wo sind deine Reflexe, Hanna, oder soll ich dich lieber Hanni nennen?«

Er reizte sie ständig. Sie arbeiteten hart und konzentriert, aber egal, wie sehr sie sich anstrengte, am Ende landete sie immer auf dem Boden.Bald schäumte sie vor Wut.

Stevie grinste sie an. »Zwei Wochen, dann bist du wieder fit.«

»So fit, dass ich einem Mistkerl in den Hintern treten kann?«

»Kommt darauf an, Baby, was der Mistkerl drauf hat.«

»Mach mich einfach nur fit.«

Ihre Muskeln schmerzten schon bald, was sie mit Zufriedenheit erfüllte. Dennoch half es ihr nicht, ihre Frustration wieder in den Griff zu bekommen.


Mit ihrem Laptop im Rucksack streifte Hanna durch die Stadt. Sie wechselte unregelmäßig die S-Bahnen, rannte im letzten Moment zu einem Bus, machte Fotos von den Menschen, die sie umgaben. Manche Passanten reagierten verärgert, wenn sie sie fotografierte. In diesem Fall löschte sie das Bild. Die meisten nahmen es freilich gar nicht wahr.

Bei Viktors Wohnung angekommen, zog Hanna ihren Schlüssel heraus und schloss auf. Eine kleine Dreizimmerwohnung im zweiten Stock.

Das Chaos, das sich ihr bot, ließ ihr den Atem stocken. Überall standen schmutzige Teller und Gläser herum, leere Flaschen, Kleidungsstücke lagen achtlos auf dem Boden. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg in die Küche, wo es nicht besser aussah. Den Herd zierte eine dicke Fettkruste, der Boden klebte, sodass ihre Tritte einen schmatzenden Laut von sich gaben. Viktor, Viktor, wie kann man nur in so einem Saustall leben, dachte sie. Sie suchte nach einem sauberen Platz für ihren Rucksack. Seufzend wischte sie von einem Stuhl die Krümel herunter, legte ihre Sachen ab, hängte ihre Jacke über die Stuhllehne und krempelte die Ärmel hoch.

Als sich eine Stunde später der Schlüssel in der Tür drehte, lief die Spülmaschine mit der ersten Ladung.

»Hey, Hanna, schön, dass du wieder da bist.«

»Viktor, du bist ein Schwein. Schaff dir endlich eine Putzfrau an.«

»Bist du wahnsinnig? Die letzte hat mir jedes Mal die Stecker aus dem Rechner gezogen. Außerdem – wie willst du mich sonst bezahlen?«

Er drückte Hanna rechts und links einen Kuss auf die Wange. »Also, wo ist das gute Stück?«, kam er gleich zur Sache.

Sie deutete mit dem Kopf auf ihren Rucksack und wandte sich wieder dem Herd zu. Den Tisch hatte sie sich gleich als Erstes für ihre Säuberungsaktion vorgenommen. Der Gedanke, ihr schönes MacBook Air käme mit diesem Dreck in Berührung, stieß sie ab.

Viktor setzte sich an den Laptop und fuhr den Rechner hoch. Mit gerunzelter Stirn flogen die Finger über die Tasten, starteten Programme, externe Geräte wurden angeschlossen, der Rechner runter- und wieder hochgefahren. Zwischendrin brachte Hanna Viktor Rührei, Tomaten, Gurken und ein Glas Wasser an den Tisch.

Leise pfiff er durch die Zähne, lehnte sich zurück und streckte sich. »Mit wem warst du denn zusammen?«

Obwohl Hanna wusste, dass sich Viktors Worte nicht auf ihre sexuellen Aktivitäten bezogen, trieben seine Worte ihr die Röte ins Gesicht, und ihr Ärger über ihre Naivität kochte wieder hoch.

»So schlimm?«

»Nicht schlimmer als jeder andere Trojaner, aber verflixt gut gemacht, wenn man bedenkt, wie lange ich gebraucht habe, um ihn zu identifizieren.«

»Hat er sich an meine Bilder gehängt?« Sie schlug die Hand vor den Mund, und ihre Augen weiteten sich. »O Gott, ich habe Harry die Bilder für die Reportage auf einem USB-Stick mitgegeben.«

Verärgert runzelte Viktor die Stirn. »Babe, langsam solltest auch du wissen, dass sich Trojaner nicht wie Viren übertragen. Nein, deine Bilder sind clean. Ich denke auch nicht, dass es die Absicht des Trojaners ist, sich weiter zu verbreiten. Ich glaube, er macht andere Dinge.«

»Und was für welche?«

»Na ja, es kommt darauf an, welche Aufgabe er hat. Soll er überwachen, welche Seiten du im Browser besuchst, oder deinen E-Mail-Verkehr abfangen? Oder möchte jemand deinen Rechner fernsteuern, um so zum Beispiel ein Bot-Netz aufzubauen?«

»Bot-Netz?«

»Ja, das kann ein einträgliches Geschäft sein, wenn es vermietet wird, um beispielsweise einen Konkurrenten mit Mails vollzuspammen.«

Hanna stellte sich hinter Viktor und starrte auf den Bildschirm des Laptops, wo in unzähligen Fenstern Daten durchliefen. Ihr sagte es gar nichts, was da auf dem Bildschirm passierte, doch sie vertraute Viktor in jeder Hinsicht, was Computer anging.

»Kannst du rausfinden, was dieser Trojaner bei mir macht?«

»Können schon, wird aber ein Weilchen dauern, das ist eine harte Nuss. Kannst ja derweil mit dem Putzen weitermachen.«

»Kein Wunder, dass deine Beziehungen nie länger als zwei Wochen halten, wenn du deine Freundinnen ständig so behandelst.«

Viktor grinste. »Du hältst es schon zwölf Jahre mit mir aus.«

»Ja, aber nur weil ich ein gutmütiges Schaf bin und masochistisch veranlagt.«

»Gib es endlich zu: Du bist einfach hoffnungslos verliebt in mich.«

»Klar, und die Sonne dreht sich um die Erde.«


Hanna hatte das Gefühl, als würde jemand sie im Schlaf beobachten. Sie riss die Augen auf. Viktor hockte mit einem dampfenden Becher Kaffee lächelnd direkt vor ihr. Ihr Gehirn brauchte einige Sekunden, bis sie wusste, wo sie war. Je mehr sie in der Weltgeschichte herumreiste, desto häufiger geschah es, dass sie desorientiert erwachte.

Viktor reichte ihr den Becher mit dem dampfenden Kaffee. Hanna richtete sich auf und nippte vorsichtig. Er setzte sich mit einem zweiten Becher zu ihr.

»Danke für das Aufräumen.«

Sie grinste ihn schief an.

Die Wohnung war blitzblank geputzt. Alle Schränke waren wieder ordentlich sortiert und an der Pinnwand hing ein Zettel mit einer Einkaufsliste.

»Dafür der Kaffee und das Lächeln?«

»Nein, lachen muss ich, weil du dich wie ein kleines Kind auf meiner Couch eingerollt und im Schlaf die komischsten Gesichter gemacht hast.«

»Du siehst im Schlaf genauso komisch aus.«

»Tatsächlich? Woher willst du das wissen?«

Seine Stimme war nicht vorwurfsvoll, doch Hanna empfand seine Worte so.

»Ich weiß noch genau, wie wir uns das erste Mal in der Klinik begegnet sind.«

Sie legte den Kopf schief und betrachtete Viktor. Es war überhaupt nicht seine Art, rührselig zu sein oder in der Vergangenheit herumzustochern.

»Du bist damals mit einer Spiegelreflexkamera im Garten herumgeklettert, völlig versunken darin, die Welt durch das Objektiv zu betrachten. Du hast gelacht und hattest deinen Spaß, du hast über das ganze Gesicht gestrahlt. Und ich habe mich gefragt, weshalb du in der Klinik warst. Du hast es mir nie erzählt.«

Hanna schwieg und trank langsam ihren Kaffee, ohne Viktor dabei anzusehen.

»Ich habe dir im Garten meine ganze Lebensgeschichte erzählt, von dir aber wusste ich nur deinen Namen: Hanna. Ohne dich wäre ich niemals aus der Klinik herausgekommen. Ohne dich würde ich heute nicht hier sitzen und Kaffee trinken.«

Nervös zupfte Hanna an der Kuscheldecke, mit der Viktor sie zugedeckt hatte. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm sagen oder was sie erwidern sollte.

Er sah sie an. »Du musst eine Entscheidung treffen«, erklärte er ruhig. »Was du dir da eingefangen hast, ist nicht irgendein Trojaner, aber das war dir vermutlich schon klar.«

Hanna trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken weiter.

»Er überwacht deine Aktivitäten auf dem Computer, leitet deine eingehenden und ausgehenden E-Mails an eine andere Adresse. Er protokolliert alles, was du im Internet machst, und schickt diese Informationen in regelmäßigen Abständen in kleinen Häppchen ebenfalls an diese Adresse. Nein, das ist eigentlich nicht richtig, denn würde es sich um eine Adresse handeln, hätte ich sie gefunden. Im Grunde ändert sich bei jeder Übertragung die Adresse. Außerdem lässt sich dein Bildschirminhalt abrufen, und zwar wirklich ziemlich geschickt, ohne dass es zu viel von deinem Prozessor beansprucht. Wobei du ja sowieso bereits ein leistungsstarkes Maschinchen hast. Um es kurz zusammenzufassen: Entweder wirst du von einer Behörde überwacht, oder du bist in den Fokus einer kriminellen Elite geraten.«

Nachdenklich runzelte Hanna die Stirn. Sie starrte still vor sich hin.

»Also, was willst du tun?«

»Er bleibt drauf«, entschied sie ruhig.

Fahrig strich sich Viktor Samuels mit den Händen durch seine langen Haare. »Das kann gefährlich sein.«

»Eine Gefahr, die ich kenne, ist nicht mehr gefährlich.«

»Wem zum Teufel bist du auf den Füßen herumgetrampelt?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich denke, es ist nur eine Sicherheitsmaßnahme.«

»Eine Sicherheitsmaßnahme? Hanna, das ist eine bis ins kleinste Detail ausgeklügelte Software. Sie ist so raffiniert programmiert, dass ich gar keine Ahnung habe, wie du überhaupt auf die Idee gekommen bist, dass sie auf deinem System ist. So was kostet Geld, das bringt niemand für Sicherheitsmaßnahmen in den Umlauf. Wer so was einsetzt, will etwas von dir.«

»Aber ich nichts von ihm.«

Sie trank den Kaffee aus, drückte Viktor einen Kuss auf sein Haar, stand auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Rucksack. Sie spürte, wie Viktor sie beobachtete, als sie ihre Sachen zusammenpackte. Seine Sorge drückte sich in seiner ganzen Körperhaltung aus, und das rührte sie. Sie ging zu ihm und lächelte ihn schief an.

»Danke.«

»Du solltest zur Polizei gehen.«

»Und denen was sagen? Dass ich einen Trojaner habe?«

»Ja.«

Sie schüttelte den Kopf.

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Hannas Wahrheit