Lade Inhalt...

Morning Breeze Café

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
360 Seiten

Zusammenfassung

Was passiert, wenn sich ein Social Media Star, in eine alleinerziehende Bäckerin verliebt, die das Internet ausschließlich dafür nutzt, um dort neue Rezepte für ihr Café zu finden? Brees Leben dreht sich zuerst um ihre elfjährige Tochter Shelly und dann um ihre zwei Leidenschaften: das Backen und das Wellenreiten. Als der bekannte Podcaster Ethan Franklin sie bittet, ihm das Wellenreiten beizubringen, lehnt sie spontan ab. Menschen, die im Internet leben, statt in der realen Welt, sind ihr suspekt. Es ist lange her, dass eine Frau bei Ethan mehr als nur oberflächliches Interesse geweckt hat – aber Bree mit ihrer bodenständigen Art fasziniert ihn. Er nimmt die Herausforderung an, ihr zu beweisen, dass er auch ohne sein Smartphone einiges zu bieten hat. Doch erst als Brees Welt aus den Fugen zu geraten zu droht, weil Shellys leiblicher Vater nach zwölf Jahren plötzlich Interesse an seiner Tochter bekundet, wird Ethan bewusst, dass er mehr für sie empfindet, als er sich eingestehen möchte. *** Ein moderner Gegenwartsroman der durch seine fein gezeichneten Charaktere besticht. Lass dich in das Morning Breeze Café nach Sausalito in Marin County an der Bucht von San Francisco entführen. *** „Kaum hatte sich die Tür mit diesem fröhlichen Glockenspiel hinter ihm geschlossen, hatte er das Gefühl, als wäre er von einem magischen Ort in die Realität zurückgekehrt." - Morning Breeze Café Mehr Informationen über mich und meine Bücher findest du auf meinem Autorenblog.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für meine Schwester Anke. Danke für die vielen schönen Gespräche und gemeinsam erlebten Momente.

1

Bree

Nur noch eine einzige Welle. Bree hockte auf ihrem Surfboard und beobachtete den Pazifik hinter sich. Da – ein Set von grünen Wellen. Sie drehte ihr Board, legte sich flach darauf und passte den Moment ab, um genau vor der Welle herzupaddeln. Bis der Punkt kam, an dem sie emporgehoben wurde. Mit den Händen belastete sie die Nase ihres Boards, damit es nicht zu hoch stieg. Im Bruchteil einer Sekunde stemmte sie sich hoch und erwischte den Schwung der brechenden Welle. Weich in den Knien, kontrolliert, surfte sie durch den Bogen und ließ sich von der Welle tragen. Sie sprang ab, schnappte sich ihr Surfboard und klemmte es sich unter den Arm.

»An deiner Haltung musst du noch arbeiten.«

Sie streckte Noah den Mittelfinger hin, was gar nicht so leicht war, da sie mit der Strömung kämpfte und das Board hochhalten musste. Noah lachte nur und stürzte sich in den Ozean. Sie konnte sich im letzten Augenblick gegen die Strömung stellen, als die nächste Welle sie erwischte und ins Wasser zurückziehen wollte. Bree lief auf den Strand, schnappte sich ihre Sachen und eilte zu ihrem alten VW-Bus. Ein Blick auf die Uhr. Mist. Sie war spät dran. Sie pellte sich aus dem Neoprenanzug, blieb in ihrem Badeanzug und schlang sich lediglich das Handtuch um den Körper, bevor sie in den Wagen sprang. Kurz hob sie die Hand, um die ankommenden Surfer zu grüßen. Kaum war sie auf der Straße, gab sie Gas.

»Du bist zu spät!«, schimpfte Mona, die sich bereits die bordeauxfarbene Schürze mit der weißen Welle umband und die Kaffeemaschinen anschaltete, als sich Bree, noch immer im Badeanzug, die Treppe hochschleichen wollte.

»Ich weiß, ich weiß, ich beeil mich.«

Sie öffnete die Tür zu Shellys Zimmer. Mit Schwung zog sie die Bettdecke fort und verteilte kalte Küsse auf jeder freien Hautstelle ihrer Tochter.

»Aufstehen, meine süße Maus! Die Sonne lacht am Himmel und es wartet ein Tag voller Abenteuer auf dich.«

Shelly quiekte, lachte, sprang auf Brees Taille und schlang die Arme um ihren Hals. »Du bist nass, du bist kalt und riechst nach Salz. Wie waren die Wellen?«

»Einfach herrlich!«

»Mom!« Der Blick ihrer Tochter war auf den Wecker gefallen. »Du bist zwanzig Minuten zu spät dran.«

»Immer noch genug Zeit, dass du dich anziehen und deine Sachen schnappen kannst. Ich mache dir in der Zeit ein extra super-duper Sandwich für die Schule.«

»Kakao und Cookie.«

»Okay, ausnahmsweise Kakao mit einem Cookie.«

Der entrüstete Zug um Shellys Mund verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln. So viel zur gesunden Ernährung, wenn das schlechte Gewissen an ihr nagte.

»Stell den Turbo an!« Sie ließ Shelly von ihrem Arm herunter. In ihrem mit Hunden bedruckten Shorty brauste Shelly ins Bad. Bree rubbelte sich ihre Haare trocken, während sie gleichzeitig den nassen Badeanzug auszog. Wann war ihre kleine, süße Maus so groß geworden? Obwohl Shelly erst elf Jahre alt war, fragte Bree sich manchmal, wer die Erwachsene in ihrer Beziehung war. Sie war um so vieles ernster, vernünftiger und verantwortungsvoller als ihre Klassenkameraden, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mindestens einmal am Tag ein lautes Lachen aus Shelly herauszukitzeln.

Mona bediente mit Eva die ersten Kunden im Morning Breeze Café, als Bree die offene Küche betrat, um die ersten Bestellungen frisch zuzubereiten. Ihre nassen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgeschlagen und unter ein lindgrünes Bandana verbannt. Die kalten Wassertropfen, die ab und an noch ihren Nacken herunterliefen, stellten eine willkommene Erfrischung dar.

Shellys rundes Gesicht, umrahmt von strohblonden Haaren, die ihr bis zur Schulter fielen, tauchte in der Tür zum Café auf. Sie setzte sich auf den Barhocker an der Theke, wo Mona ihr einen Kuss auf die Wange drückte.

»Guten Morgen, Sonnenschein, was darf es heute sein?«, flötete sie.

»Eine Schüssel voller paradiesischer Früchte sowie ein Schokocookie und Kakao für die Gelüste.«

Mona hob drohend den Zeigefinger. »Das mag sich ja reimen, aber hat Mom das erlaubt?«

»Hat sie.« Bree stellte den Kakao und einen Teller mit dem Keks sowie das Essen für die Schule vor ihre Tochter. Mit den Worten »Deine Gemüsesticks und dein Sandwich zum Mitnehmen und eine weitere Portion für Jimin«, reichte sie ihr den Stoffbeutel mit den Metalldosen rüber, den Shelly an ihren Rucksack band.

»Da hast du aber das schlechte Gewissen deiner Mom geschickt zu deinem Vorteil genutzt«, bemerkte Eva.

Grinsend nippte Shelly den ersten Schluck von ihrem heißen Kakao. Bree verschwand wieder hinter die Küchentheke, um die nächste Bestellung zuzubereiten.

»Guten Morgen, Mr. Sullivan.«

»Guten Morgen, Miss Morgenstern. Welche Termine stehen heute bei Ihnen an?«

»Nicht viele, nur ein Referat in der Schule. Wie sieht es bei Ihnen aus?«

»Auch nichts Besonderes, nur ein Treffen mit dem Aufsichtsrat.«

»Und welche Aktien würden Sie mir heute empfehlen?«

In Mr. Sullivans Augen blitzte ein Schmunzeln auf, wobei sein Gesicht todernst blieb. Er gehörte zu den Stammgästen des Morning Breeze Café. Manchmal glaubte Bree, dass Shelly der einzige Grund war, warum er jeden Morgen in ihr Café kam, und nicht ihr Frühstücksangebot.

»Nun, das muss natürlich absolut unter uns bleiben, das ist Ihnen hoffentlich klar, Miss Morgenstern?«

»Selbstverständlich, Mr. Sullivan.«

Er warf Bree einen kritischen Blick zu, bevor er sich wieder ihrer Tochter zuwandte.

»Auch nicht zu Ihrer Mom. Sie wissen ja, sie kann ganz schön charmant sein, wenn sie etwas will.«

Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Shellys Gesicht. Allein dass er das schaffte, hatte Bree veranlasst, Mr. Sullivan in ihr Herz zu schließen. »Aus mir bekommt sie kein Sterbenswörtchen raus.«

»Also gut«, verschwörerisch beugte er sich zu Shelly und wisperte ihr etwas ins Ohr. Es war ein Ritual, das sich mit ein paar Varianten jeden Morgen wiederholte. Bisher war es ihr noch nicht gelungen, herauszufinden, worüber die beiden tuschelten. Aktien konnten es nicht sein, denn davon hatte ihre elfjährige Tochter keine Ahnung. Doch eigentlich war es ihr egal. Die Hauptsache war, dass Mr. Sullivan zu den wenigen Menschen gehörte, die Shelly ein Lächeln aufs Gesicht zauberten.

Bree bekam einen Kuss von Shelly, dann verschwand ihre Tochter aus der Tür, begleitet vom Klangspiel der Glöckchen, die sie im Eingangsbereich aufgehängt hatte.

In den nächsten Stunden kam sie kaum dazu, Luft zu holen. Während Mona und Eva die Bestellungen entgegennahmen, Kaffeespezialitäten zubereiteten oder Tees aufbrühten, sorgte Bree dafür, dass die Theke mit ihren Spezialitäten gefüllt blieb. Obstsalat, Porridge, Chia-Pudding, Birchermüsli mit Cranberrys oder Rosinen, Smoothies neben belegten Brötchen sowie Broten, die sie als Sandwich bezeichneten, Croissants, süßen Teilchen und natürlich ihre bis nach San Francisco hinein bekannten Brote. Sie hatte sich bei ihrer ersten Reise in die USA gefragt, weshalb es dort kein gescheites Brot gab. Inzwischen wusste sie, weshalb: weil es sich nicht verkaufte. Anfangs waren vor allem die europäischen Touristen die Hauptabnehmer für ihre Sandwichs, Brötchen und Brote gewesen. Wohingegen die Einheimischen sich eher auf das süße, das warme und das Müsli-Angebot stürzten. In New Orleans mit seinen europäischen Wurzeln wäre es ihr vermutlich leichter gefallen, das Angebot ihres Cafés an die Frau zu bringen. Zum Glück war auch die jüngere Generation in San Francisco europäisch orientiert und überaus gesundheitsbewusst – ein Trend, den sie mit ihrem Angebot bediente. Die Anzahl ihrer Stammgäste unter den Einheimischen wuchs kontinuierlich.

Viel zu oft kam es in letzter Zeit vor, dass sie ihre Kundinnen und Kunden enttäuschen musste, weil das, was sie wollten, gerade ausverkauft war. Sobald die Ware ausverkauft war oder spätestens gegen siebzehn Uhr schloss das Café und dann nahm sich Bree alle Zeit der Welt für ihre Tochter. Am Wochenende ging sie nur morgens in die Backstube, die Arbeit in der Küche und im Shop übernahm dann Katlin, die neben Mona zu ihren Geschäftspartnerinnen zählte. Inzwischen hatten sie sieben Angestellte. Vier, die Mona beim Verkauf unterstützten, zwei, die in der Küche halfen, und seit drei Monaten Keith, den sie in der Backstube ausbildete. Er war eines Morgens in ihrem Laden aufgetaucht, hatte sich quer durch das Angebot gegessen und dann spontan gefragt, ob er bei ihr die Backkunst lernen könnte. Heute war sein freier Tag, weshalb sie zwei Stunden früher als sonst aufgestanden war. Keith besaß eine rasche Auffassungsgabe und ein absolutes Händchen für das Bäckerei-Handwerk.

Bree streckte und reckte sich, bevor sie sich die Zeit nahm, den Tee, den ihr Mona gebracht hatte, in winzigen Schlucken genussvoll zu trinken. Dabei betrachtete sie mit einem seligen Lächeln ihren kleinen Laden, dessen Ambiente sich so sehr von dem üblichen amerikanischen Stil unterschied. Holzpaletten waren zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert worden. Auf runde Holzklötze gelegte Bretter luden zwischen den Fenstern zum Verweilen ein, bunte Sitzkissen gaben den rustikalen Sitzgelegenheiten ein heimeliges Ambiente. Quadratische Tische boten für vier Personen Platz und ließen sich bei Bedarf auch für größere Gruppen zusammenstellen, weshalb an den Beinen feststellbare Rollen angeschraubt waren. Dazwischen standen immer wieder gemütliche Ohrensessel mit einem simplen Beistelltisch, in die man sich zum Lesen oder mit seinem Laptop zurückziehen konnte. Genauso gab es eine lang gezogene Theke mit einem halben Sichtschutz, die Strom bot, für die Gäste, die beim Essen arbeiten wollten. Etwas, das Bree selbst absolut nicht nachvollziehen konnte. Für sie musste ein Gericht zelebriert und genossen werden. Die Arbeitstheke war ebenso wie die Verkaufstheke aus einem Holzbrett geschnitten, geschliffen und wie alles andere antikweiß lasiert. Das gab dem ganzen Laden ein luftiges, leichtes Ambiente, zusätzlich verstärkt durch die filigranen, durchsichtigen Vorhänge an den Fenstern in Mint, Hellblau, Sonnengelb und pfirsichfarben – wie eine morgendliche Brise.

Es war Katlins Vorschlag gewesen, dem Café seinen Namen zu geben. Bree fand, dass es sie viel zu sehr in den Mittelpunkt stellte, doch Mona und Katlin waren sich in diesem Punkt sofort einig. Der Name passte in ihren Augen perfekt zu ihrer Lage in Sausalito auf dem Bridgeway Boulevard mit Blick auf die Richardson Bay. Wenn morgens die Sonne aufging, die Nebelfelder noch über der Bucht lagen und die Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, dann wusste Bree, dass die beiden recht gehabt hatten. Das Haus, in dessen Erdgeschoss sich das Café befand, gehörte Katlin. Im ersten Stockwerk gab es zwei Einliegerwohnungen. Die größere von beiden bewohnte Bree mit Shelly, die Dachgeschosswohnung hatte Mona bezogen.

Mona gesellte sich zu Bree in die Küche, weil gerade keine Gäste da waren. »Und? Warum warst du diesmal zu spät?«

»Die letzte Welle ließ auf sich warten.«

»Die letzte Welle oder dieser heiße Typ mit den langen Haaren und dem Waldtattoo auf dem Oberarm?«

»Typ mit Waldtattoo?« Bree runzelte die Stirn.

»Na der mit dem biblischen Namen.«

»Ach so, du meinst Noah«, lachte sie. »Nein, ganz bestimmt nicht, der ist nicht mein Typ, der ist eher etwas für dich.«

Mona verdrehte die Augen. »Klar, wenn ich zehn Jahre jünger wäre.«

»Hey, du siehst kein Tag älter aus als ich. Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich, dass er mich letztes Mal nach deinem Namen gefragt hat.«

»Blödsinn, du willst nur, dass ich nicht mehr sauer auf dich bin.«

»Ehrlich, bei so was würde ich niemals lügen«, sagte Bree mit unschuldigem Augenaufschlag.

Wenn man Mona ansah, käme man nie auf den Gedanken, dass sie eine knallharte Geschäftsfrau war, die mit jedem Lieferanten bis aufs Messer um die Preise feilschte. Sie hatte die Zahlen des Cafés eisern im Griff. Gleichzeitig besaß sie ein Händchen für den Umgang mit Menschen. Sie schaffte es mit einer Engelsgeduld, selbst die komplizierteste Kundin zufriedenzustellen. Da, wo Bree schon längst der Geduldsfaden gerissen wäre, schaffte Mona es mit einem Lächeln und ihrer bestimmten Art, jede Klippe zu umschiffen. Die Bewertungsplattformen waren voll des Lobes über den kompetenten und schnelle Service, genauso wie über die Backwaren und das Essen. Nur die Angestellten beschwerten sich manchmal bei Bree über Monas straffes Regiment, das keinen Patzer, keine Unfreundlichkeit oder Unpünktlichkeit duldete. In einem solchen Fall gab es ein Notfallstück Avocado-Cheesecake, einen Walnuss-Dinkel-Cookie, einen Chocolate-Cookie oder ein winziges Stück von den veganen Brownies, das neben dem geduldigen Zuhören die Wogen wieder glättete.

Mit ihrer äußerlichen Erscheinung wirkte Mona wie eine dieser hippen, esoterischen Frauen, auf die man in San Francisco zuhauf traf. In ihrer weiten Jeanslatzhose, dem hautengen Blümchenshirt und dem lockigen, kastanienbraun gefärbten Haar mit Kurzhaarschnitt wirkte sie wirklich eher wie Ende zwanzig als Ende dreißig. Ihre knackige Figur bewahrte sie sich mit jeder Menge Yoga unweit von der Stelle entfernt, wo sich auch die Wellenreiter trafen. Wenn sie sich am Strand in den Flow ihres Sonnengrußes begab, zog Mona jede Menge männlicher Blicke auf sich.

»Ist dir eigentlich klar, wie schwer es ist, unsere Mitarbeiter zur Pünktlichkeit zu erziehen, wenn du ständig als schlechtes Vorbild vorangehst?«

»Hey, ich habe im Gegensatz zu euch anderen schon eine Schicht hinter mir, bevor ihr den Laden überhaupt aufmacht.«

»Das sieht aber keiner. Sie sehen nur, dass du zu spät kommst und denken, sie könnten es dir nachmachen. Dabei behauptet immer jeder, die Deutschen würden so viel Wert auf Pünktlichkeit legen.«

»Ein absolutes Vorurteil, das lediglich auf 99,9 Prozent der Deutschen zutrifft. Ich gehöre nun mal zu den 0,1 Prozent.«

»Dann werde ich dir diesen Monat 0,1 Prozent von deinem Gehalt abziehen«, frotzelte Mona. Immerhin spielte das keine Rolle, weil der Gewinn zu gleichen Teilen unter ihnen drei aufgeteilt wurde; das Gehalt, das sie sich monatlich auszahlten, stellte lediglich eine Vorauszahlung dar, bis sie ihre jährliche Bilanz erstellt hatten.

»Das ist eine supergeniale Idee, die du da hast!«

Mona hob ihre ordentlich gezupften Augenbrauen. »Was, dir Gehalt abzuziehen?«

»Nein. Wir könnten eine Box aufstellen, in die jeder, der zu spät kommt, fünf Dollar reintun muss. Und am Ende des Jahres gehen wir mit dem Inhalt essen oder machen sonst irgendetwas Cooles.«

»Hm.« Mona zog skeptisch die Nase kraus, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Gar keine schlechte Idee, Morgenstern. Aber statt es auszugeben, können wir es als Reserve verwenden.«

»Ehrlich Mona, ab und zu muss man auch mal Geld ausgeben.«

»Das musst du gerade sagen. Du gönnst dir ja nie etwas. Dein Bus hört sich an, als wäre der Auspuff kaputt.«

»Ich weiß, auch die Stoßstange wollte ich erneuern, aber das ist in meinem Budget für diesen Monat nicht drin. Außerdem hält es noch.«

»Siehst du, du bist geiziger als ich«, triumphierte Mona.

»Okay, aber nur, was das Auto betrifft. Hey, wo wir gerade über Geld reden. Du standest fast direkt neben Shelly, als Sullivan ihr den Tipp ins Ohr geflüstert hat. Welche Aktie hat er ihr empfohlen?«

»Echt süß, die zwei, oder? Wusstest du, dass seine Frau vor zwölf Jahren an Krebs gestorben ist? Er hat drei Söhne, die bis auf einen alle an der Ostküste leben. Seine Enkelkinder bekommt er nur selten zu Gesicht. Ich glaube, Shelly füllt diese Lücke für ihn. Und um deine Frage zu beantworten: Ich habe es nicht mitbekommen. Aber es muss ein guter Tipp gewesen sein, denn die Augen deiner Tochter haben geleuchtet.«

»Schade, wenn er ihr wirklich Tipps gibt und ich mein weniges Geld dort anlegen würde, wäre ich womöglich bereits Millionärin und müsste nicht um drei Uhr morgens in der Backstube stehen.«

»Und was würdest du dann machen? In einer Villa oben in Belvedere Triburon hocken und dich langweilen? Du kannst ja schließlich nicht den ganzen Tag im Wasser verbringen.«

Bree sah sehnsuchtsvoll über die Bay. »Stimmt, die Zeit ist vorbei.«

Mit ihren neunundzwanzig Jahren kam sich Bree manchmal uralt vor. Sie hatte nie Verantwortung tragen, sondern immer nur ein freies Leben führen wollen. In einem Camper oder mit Zelt von Surfparadies zu Surfparadies ziehen. Die Bäckerlehre hatte sie nur begonnen, weil die Lehrstelle in Wennigstedt auf Sylt gewesen war. Direkt am einzigen Surfstrand in Deutschland, wo 1962 bereits die ersten Wellenreiter die Nordsee durchkreuzten. Ihr großer Traum war es gewesen, einmal bei den Vans US Open of Surfing dabei zu sein. Jeden Cent hatte sie dafür gespart und natürlich hatte sie warten müssen, bis sie achtzehn war, denn ihre Pflegeeltern hätten nie ihre Einwilligung gegeben. Tja, und dann war sie Brady begegnet.

»Weißt du, du kannst dich echt glücklich schätzen mit Shelly.« Wie so oft erriet ihre Geschäftspartnerin den Weg ihrer Gedanken.

»Ich weiß, und ich würde sie für nichts in der Welt eintauschen. Auch nicht für eine Million Dollar.«


Das war das Schönste an ihrem ganzen Tag: Wenn sie abends im Bett mit Shelly kuschelte und sie gemeinsam eine Geschichte lasen. Auch diese Zeit würde viel zu schnell vergehen. Wer weiß, eines Tages würde Shelly womöglich genauso gegen sie rebellieren, wie sie es einst gegenüber ihrer Pflegemutter getan hatte. An ihre Mutter konnte sie sich nur vage erinnern. Sie war an einer Überdosis Drogen gestorben, als Bree gerade mal zwei Jahre alt gewesen war. Ihre Pflegeeltern stammten aus einem gutbürgerlichen Zuhause. Freundliche Menschen, zu denen sie jedoch nie eine tiefere Beziehung entwickelt hatte. Bree vermutete, sie waren genauso froh gewesen wie sie selbst, als sie mit sechzehn zur Bäckereilehre nach Wennigstedt gezogen war, um der gutbürgerlichen Enge ihres beschaulichen Lebens in einem sauerländischen Dorf zu entfliehen. Vor allem, als das Arbeitsamt sich noch bereit erklärte, ihre auswärtige Unterbringung zu bezahlen.

»… und die kleine Fee Lucinda tanzte mit ihren Freundinnen, bis der Tag anbrach.«

Bree klappte das Buch zu. Liebevoll strich sie über den glitzernden Umschlag, der vom vielen Vorlesen bereits einen Teil seines Glanzes eingebüßt hatte. Shellys Kopf lag auf ihrer Brust und sie streichelte das seidigweiche Haar ihrer Tochter, das nach frischen Pfirsichen roch.

»Mom?«

»Ja, meine süße Maus?«

»Warum wollte Dad mich nicht haben?«

Die Frage gab Bree einen Stich ins Herz, wie jedes Mal, wenn Shelly sie stellte. Sie erinnerte sich noch genau an das allererste Mal. Es war der erste Elternnachmittag im Kindergarten gewesen. Die Eltern von Shellys bester Freundin Jimin waren beide da. Jungdo, ihr Dad, war einfach nur süß, wie er nach der kleinen Vorführung der Kinder in einen wahren Begeisterungssturm ausbrach. Sie hatte genau gesehen, wie das Leuchten in Shellys Augen verblasste und einer tiefen Nachdenklichkeit Platz machte. Kaum waren sie im Auto, stellte sie die Frage. Seitdem wiederholte sie sie in unregelmäßigen Abständen, als wollte sie sicherstellen, dass sich die Antwort nicht veränderte.

»Dein Dad war noch sehr jung«, sagte Bree. »Er hatte gerade seine Bestätigung erhalten, dass er in Harvard aufgenommen worden war. Das ist weit weg von hier, an der Ostküste in der Nähe von Boston. Es ist nicht so, dass er dich nicht wollte, es war nur so überraschend, und er war noch nicht bereit dazu, Vater zu sein. Er weiß nicht, wie es ist, ein Kind zu haben.«

»Du hättest mitgehen können.«

»Ja, das hätte ich. Doch da war Katlin und sie bot mir an, dass ich das Restaurant übernehmen könnte, weil Ted drei Monate zuvor gestorben war. Sie brauchte mich und ich brauchte sie. Wir beide haben uns gegenseitig geholfen. Stell dir mal vor, wie sehr sie dich vermissen würde, wenn du auf einmal auf der anderen Seite der USA leben würdest.«

»Mr. Sullivan sagt, dass ein Studium nur vier oder fünf Jahre dauert. Und er hätte uns ja auch besuchen können oder schreiben oder skypen.«

»Weißt du, vielleicht hatte er davor Angst, weil er nicht weiß, was er sagen soll, und deshalb kommt er auch nicht bei uns vorbei.«

Shelly legte den Kopf in den Nacken und sah sie an. »Also lebt er wieder hier?«

Eine Eisenfaust legte sich um Brees Herz. Verdammt, dieses Kind war einfach zu gewitzt. »Ich bin mir nicht sicher.«

Immerhin, das war nicht gelogen. Sie hatte es nur per Zufall mitbekommen, als sie ihm beinahe am Hafen, wo seine Jacht vor Anker lag, über den Weg gelaufen war und sich gerade noch rechtzeitig hinter zwei Fußgängern hatte verstecken können. Seitdem mied sie den Hafen, was gar nicht leicht war, da das Morning Breeze Café nur eine Querstraße etwa 200 Meter Luftlinie entfernt lag. Seine Frau Jacklyn war ein paar Mal mit Freundinnen zum Lunch vorbeigekommen. Dass sie seine Frau war, wusste sie nur aus den Klatschblättern. Brady Wright, der Erbe von Wright Enterprise, heiratete Jacklyn Spencer, Tochter aus dem alten englischen Adelsgeschlecht, das seinen Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen konnte. Ein hübsches Paar, und Jacklyn war eine sympathische Engländerin.

»Ich liebe dich, Mom.«

»Ich liebe dich auch, meine süße Maus.«

Bree strich ihrer Tochter über den Kopf und küsste ihre Stirn. Shelly legte ihren Kopf wieder auf ihre Brust. Sanft streichelte sie den Rücken ihrer Tochter und versuchte, ihr damit all die Liebe zu vermitteln, die sie für sie empfand, bis die Atemzüge ihres Mädchens tief und gleichmäßig wurden. Das Leben war einfach nicht fair.

2

Morning Breeze Café

»Wie machst du das?« Keith runzelte verärgert die Stirn. »Dein Smoothie ist grasgrün und schmeckt auch besser als meiner.«

»Du musst die Reihenfolge einhalten, was wie lange gemixt wird, damit die wichtigen Nährstoffe erhalten bleiben. Er soll ja nicht nur gut schmecken, sondern auch gesund sein. Schau, ich zeige es dir noch mal.« Bree schob ihn beiseite, säuberte seinen Mixer und fing von vorne an. »Grundsätzlich gilt die Regel: Alle harten Zutaten, die cremig werden sollen, werden als Erste gemixt. Du beginnst mit der Flüssigkeit, der Süße, dann die harten Komponenten. Der Rucola darf nur kurz gemixt werden, weil er sonst seine Nährstoffe verliert. Gib noch einen Schuss Zitronensaft hinzu, dann bleibt das Aroma erhalten.«

Sie nahm einen sauberen Löffel, schöpfte eine winzige Menge ab und ließ ihn probieren.

»Mhm, perfekt.«

Bree, Keith und Maja arbeiteten Seite an Seite die Bestellungen ab. Immer wieder griff Bree korrigierend bei Keith ein, der nach der Backstube nun auch die Küche eroberte. Erstaunlicherweise blieb der Mann voll konzentriert, obwohl ihm Lulu, die neben Alicia und Mona die Kunden bediente, bei jeder Bestellung, die sie ihm überreichte, ein strahlendes Lächeln schenkte. Ganz konnte sie es ihr nicht verdenken. Sein asiatischer Einschlag verlieh ihm etwas Exotisches. Die schwarzen, vollen Haare waren einfach nur beneidenswert. Außerdem besaß er jede Menge Humor. Seit er bei ihnen arbeitete, hörte man die Angestellten viel häufiger lachen. Für Brees Geschmack war er allerdings eine Spur zu klein. Zu Lulu hingegen würde er perfekt passen. Langsam flaute der Strom der Kundschaft ab.

»Ich hab dich gestern in der Liveshow von Ethan gesehen. Ist es nicht seltsam, mit so jemanden befreundet zu sein?«, flötete Lulu.

Keith grinste sie an. »Nicht befreundet, eher bekannt, um ehrlich zu sein. Ich bin schon jahrelang ein großer Fan von ihm und war ganz schön von den Socken, als er mich fragte, ob ich ihm Unterricht in Martial Arts gebe.«

»Du machst Martial Arts?«

Keith blinzelte ihr zu. »Oh ja, ich war eine Zeit lang Stuntman, doch auf Dauer war mir der Job zu gefährlich. Ethan hatte den Tipp, mich anzusprechen, von einem seiner Interviewpartner erhalten, dem ich private Stunden gegeben hatte.«

»Und wie ist Ethan so?«

»Er ist ein echt netter Kerl und hat überhaupt keine Starallüren. Im Grunde ist er so, wie er bei den Podcasts und Videos rüberkommt.« Keith zuckte die Schultern. »Ist allerdings schon ziemlich cool, wie locker er mit all den bekannten Persönlichkeiten umgeht und per Du ist. Egal wen er anruft und fragt, ob er bei seinem Podcast dabei sein möchte, jeder sagt ihm zu.«

»Podcast?«, klinkte Bree sich in das Gespräch ein. »Ist das eine Fernsehshow?« Die beiden rissen die Augen auf und starrten sie an. »Was? Habe ich was Falsches gesagt?«

»Macht euch nichts draus.« Mona gesellte sich mit einem leisen Klimpern ihrer Armreifen, das sie immer zu begleiten schien, zu ihnen. »Bree hat ihr Smartphone nur, damit sie Shelly erreichen kann, und den Computer kann sie erst bedienen, seit ihr Shelly gezeigt hat, wie sie damit ein Rezeptbuch anlegen kann.«

»Manchmal höre ich auch Musik mit meinem Telefon«, verteidigte Bree sich.

»Smartphone«, korrigierte nun Maja von der anderen Seite.

»Ist doch egal, wie das Ding heißt.«

»Soll das heißen, du weißt ehrlich nicht, was ein Podcast ist?«, hakte Lulu nach.

»Nein.«

»Und du weißt nicht, wer Ethan Franklin ist?«

»Nein.«

Keith legte Bree den Arm um die Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Du bist meine Heldin.«

Sie schob ihn zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken über die Stelle, wo er sie geküsst hatte. In Lulus Augen sah sie die Enttäuschung aufblitzen.

»Hände weg, mein Lieber, sonst kürze ich dir das Gehalt«, drohte sie ihm lachend mit dem Kochlöffel. »Also, wer erklärt mir jetzt, was ein Podcast ist?«

»Letztlich nichts anderes als eine Audio- oder Videodatei, die du über das Internet runterladen kannst. Der Begriff setzt sich aus Broadcasting – also Rundfunk, ›cast‹ – und iPod, ›Pod‹ von Apple zusammen, weil darüber die ersten Sendungen verteilt worden sind. Es gibt übrigens zig Podcasts zum Backen und Kochen. Du könntest auch einen produzieren. Ist ganz simpel«, erklärte Keith.

Mona schüttelte den Kopf. »Vergiss es, dazu bekommst du Bree nie!«

»Das Ambiente hier wäre aber genial. Außerdem wäre es eine super Referenz für euch. Du könntest den Bekanntheitsgrad steigern, Backbücher herausgeben und deine eigene kleine Backshow aufziehen. Und wenn ich mal wieder nicht weiß, wie ich einen Smoothie richtig zubereite, schaue ich mir auf Youtube dein Video an.«

»Youtube?« Bree hob die Augenbrauen.

»Jetzt sag mir nicht, dass du auch nicht weißt, was Youtube ist.« Leichte Verzweiflung klang aus Keiths Stimme.

»Klar kenne ich Youtube, aber was soll ich da? Ich hab alle Hände voll zu tun und unser Café läuft.«

»Ja, aber du könntest dir ein Internetbusiness aufbauen.« Keith begann, sich in Begeisterung zu reden. »Ethan braucht in seinem ganzen Leben nie mehr zu arbeiten, wenn er keine Lust dazu hat. Sein Geld verdient er sozusagen im Schlaf. Alle reißen sich darum, in seinem Podcast zu erscheinen. Seine Bücher sind Megabestseller. Er steht auf, wann es ihm passt, geht in den Urlaub, wenn ihm danach ist, und überhaupt lebt er sein Leben so, wie er will. Er kennt keine Bürozeiten und kann alles machen, was ihm Spaß macht.«

»Wie alt ist er? Achtzehn?«, schmunzelte Bree.

»Einunddreißig.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass es ihm nicht langweilig wird.«

»Langweilig, pfft!« Keith verdrehte die Augen.

»Okay, mein Lieber, verrate mir eines. Wenn du so begeistert von diesen Podcasts, Videos und Büchern bist, warum stehst du dann morgens um drei mit mir in der Backstube und jetzt in der Küche?«

Keith rieb sich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Ja. Warum eigentlich? Weil ich keine Ahnung habe, worüber ich reden und was ich online verkaufen möchte? Abgesehen davon gefällt es mir bei dir. Du hast es echt drauf, wenn es um gesunde Ernährung aus frischen, einfachen Zutaten geht, ganz zu schweigen von deiner Backkunst, bei der man, wenn man schon nascht, wenigstens vollwertig nascht. Außerdem bringst du das Flair von Europa nach San Francisco.«

»Europa? Hey, ich komme aus einem winzig kleinen Dorf im tiefsten Sauerland. Nix Europa. Ich bin ein Dorftrampel.«

»Sauerland?«

Sie schlug ihm mit dem feuchten Handtuch, das sie gerade zum Trocknen hatte aufhängen wollen, auf den Arm. »Vergiss es, ihr Amerikaner wisst ja gerade mal, wo in Deutschland Berlin und vielleicht auch noch Heidelberg und München liegen.«

»Cool – deutsches Mädchen vom Dorf erfüllt sich den Traum eines eigenen Cafés in San Francisco.« Er wischte sich die Hände an einem sauberen Tuch ab und langte in seine Hosentasche. »Muss gleich mal Ethan anpingen.«

»Warum?«

»Ihm vorschlagen, dass du unbedingt in seinem Podcast auftreten musst.«

»Hak's ab, für so einen Blödsinn habe ich keine Zeit.«

»Könntest du das wirklich hinbekommen?«

Bree sah in Monas Augen die Dollarzeichen aufblitzen.

»Keine Ahnung. Wie gesagt, wir kennen uns nur von dem Unterricht, den ich ihm gegeben habe, aber Ethan ist immer auf der Suche nach interessanten Gesprächspartnern, die aus dem Nichts ein Business aufgebaut haben. Darum geht es in seiner Show. Menschen und ihr Erfolgsgeheimnis und was andere davon lernen können. Sein letztes Buch hatte den Titel ›Rezept für Erfolg‹ und war monatelang auf der New-York-Times-Bestsellerliste und ist immer noch unter den Top 20 der Ratgeberbücher. Sein allererstes Buch ›Mehr Zeit zum Leben‹ findest du selbst nach sieben Jahren noch immer unter den Top-50-Sachbüchern.«

»Wow«, kommentierte Bree amüsiert und verkniff sich angesichts von Keiths Begeisterung ein Schmunzeln. Offensichtlich nicht gut genug.

Keith runzelte die Stirn. »Das klingt nicht begeistert.«

»Nein, nein, so ist es nicht. Ich bin total beeindruckt.«

»Du machst dich lustig über mich.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Okay, ja, ein bisschen. Du klingst wie ein Teenager, der über sein Idol spricht.«

»Das ist er auch«, mischte sich Maja ein. »Hast du eine Ahnung, wie viele Leute seinen Podcast hören? Millionen. Sein Blog ist der totale Renner, und wenn er ein Produkt erwähnt, dann ist es am nächsten Tag ausverkauft. Dabei macht er das nur für Produkte, von denen er absolut überzeugt ist. Ich habe mit seinem Buch ›Forme deinen Körper von innen‹ zwanzig Kilo abgenommen und halte mein Gewicht seit drei Jahren, weil es nicht um Diät geht, sondern um Ernährungspsychologie. Warum du isst, was du isst. All das, was wir im Café anbieten, passt perfekt zu dem, was er geschrieben hat. Wenn du in seinem Podcast auftrittst, können wir uns vor Kundschaft nicht mehr retten.«

»Hallo? Noch mal, ich trete in so einem Dingsda nicht auf. Außerdem bin ich kein erfolgreicher Mensch.«

»Siehst du, und genau da liegst du falsch!« Begleitet vom Klimpern ihrer Armreifen, das beinahe empört klang, stemmte Mona die Hände in die Hüfte. »Schau dich doch um, was du geschaffen hast.«

»Einen Moment mal, was wir geschaffen haben. Ohne dein Händchen für den Verkauf und die Zahlen wären wir in den ersten Jahren pleitegegangen. Nicht zu vergessen Katlin, die uns die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat, die Büroarbeit erledigt, mich in der Backstube vertritt, damit ich ab und an mal frei habe, und uns ein Dach über dem Kopf gegeben hat.«

»Papperlapapp. Du bist das Herz dieses Unternehmens. Wegen deiner Backwaren, deiner Gerichte und Getränke kommen die Leute in unser Café. Ohne dich gäbe es nichts, was ich verkaufen könnte.«

»Mein Reden«, warf Keith ein. »Ich bin schließlich nicht hier, weil ich etwas von Mona lernen möchte, sondern von dir.«

Mona drohte nun ihm mit dem Finger. »Du solltest vorsichtig sein, Keith, immerhin bekommst du deinen Gehaltsscheck von mir.«

»Okay, okay, vergesst was ich gesagt habe.« Bree zog ihre Schürze aus und befreite ihre Haare von dem kiwigrünen Bandana. »Von mir aus könnt ihr gerne weiterdiskutieren, ich mache für heute Schluss. Shelly, Jimin und ich wollten noch eine kleine Fahrradtour machen.«


Auf einer Anhöhe packte Bree das Picknick aus. Von hier hatte man einen wunderschönen Blick auf die Bucht. Das Wetter war ungewöhnlich klar, sodass sie sogar rechts die Golden Gate Bridge sehen konnten. Hungrig stürzten sich die Mädels auf ihre Blondies, deren Hauptbestandteil Süßkartoffeln waren und die viele Vitamine enthielten.

»Wieso heißt der Kuchen eigentlich Blondies?«, wollte Jimin wissen, die die letzten Krümel aufpickte.

»Na, weil es das Gegenteil von Brownies ist.« Shelly schob sich den letzten Rest genüsslich in den Mund.

Jimin betrachtete ihr Smartphone. »Mist, hier oben gibt es gar keinen Empfang.«

Bree warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Wozu brauchst du hier Empfang?«

»Na ja, weil BTS einen neuen Song herausbringen und ich doch unbedingt voten muss, damit sie die meisten Likes haben.«

»Ehrlich Jimin, du bist regelrecht besessen davon, es gibt doch genug andere Fans in der Army, die voten können. Die Welt geht nicht unter, wenn wir es in zwei Stunden machen«, konterte ihre Tochter.

»Doch geht sie, weil es eben auch auf die Geschwindigkeit ankommt.«

Bree streckte sich auf dem Gras aus. Von oben wärmte sie die Sonne und gleichzeitig wehte eine kühle Brise, die ihr angenehm über die nackte Haut strich. »Ich verstehe kein Wort von dem, was ihr erzählt. Angefangen bei: Wer oder was ist BTS?«

»Eine Boygroup aus Seoul, die sind gerade total in bei uns in der Schule. Stell dir vor, Lara hat von ihren Eltern eine Karte für das Konzert in New York geschenkt bekommen, 990 Dollar!« Shelly tippte sich an die Stirn. »Abgesehen von dem Flug und dem Hotel.«

Bree grinste. Das war so typisch für ihre Tochter, dass sie über solche Dinge nachdachte. Dann verschwand ihr Grinsen wieder. Ein elfjähriges Mädchen sollte nicht über Geld nachdenken und darüber, was sinnvoll war oder nicht. Sie sollte Blödsinn machen, Geschenke lieben und Abenteuer erleben. Bree drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf die Hand.

»Also ich finde das genial, wenn die Eltern ihrer Tochter einen solchen Traum erfüllen. Aber seit wann kostet ein Konzertticket 990 Dollar? Oder ist es eine VIP-Karte für den Backstage-Bereich?« Bree ließ ihrer Fantasie freien Lauf. »Vielleicht gehört ja sogar ein Essen mit der Band dazu?«

Jimin ließ sich ins Gras fallen. »Oh wow, was für eine Vorstellung, mit Jungkook zu Abend zu essen.«

»Das Konzert war nach einer halben Stunde ausverkauft und die Eltern von Lara haben die Karte auf einer Auktionsplattform ersteigert«, ließ Shelly die Seifenblasen zerplatzen.

»Also gut, ich gebe dir recht, das ist tatsächlich übertrieben. Selbst mein Dad meinte das, als ich ihn fragte, ob er mit mir dort hinfliegt«, seufzte Jimin ergeben.

»Siehst du, habe ich dir doch gesagt. Dabei kannst du dir online alles von ihnen ansehen, ganz zu schweigen von ihrer Youtube-Red-Dokumentation ›Burn the Stage‹.«

»Was ist denn das?« Bree hatte schon wieder das Gefühl, nur die Hälfte von dem Gespräch zu verstehen.

Jimin drehte ihr den Kopf zu. »Youtube?«

»Nein, das weiß ich schon.« Zum zweiten Mal an einem Tag wurde sie das nun gefragt. Sollte ihr das zu denken geben? »So ganz ist dieser Social-Media-Hype ja nun nicht an mir vorbeigegangen.«

»Mom glaubt ernsthaft, sie wäre an der innovativen Spitze, weil das Café eine Facebook-Fanpage hat.« Die Mädels kicherten.

»Nur weil ich nicht den ganzen Tag im Internet verbringe und dir ständig irgendwelche Bilder, Links oder Kurznachrichten sende, heißt das nicht, dass ich keine Ahnung von diesem modernen Zeugs habe.«

Shelly gab ihr einen Kuss. »Weißt du Mom, ich finde es toll, dass du mit uns Fahrrad fährst und nicht den ganzen Tag an deinem Rechner verbringst oder auf dem Smartphone herumtippst.«

»Danke. Und nun los, ihr Digital Natives, wollen wir mal sehen, ob ihr ohne eure technischen Geräte den Weg zurück findet.«


Bree maß die Mengen für die verschiedenen Brotteige ab und stellte sie bereit. Sie schaltete die Teigmaschinen an und fügte nach und nach die Zutaten hinzu. Während der Teig ruhte, schob sie die Holzscheite in den Steinofen. Das gab dem Brot und auch später dem Blechkuchen, den sie in der Nachglut buk, das spezielle Aroma. Sie liebte diese stillen Morgenstunden, wenn die Welt draußen dunkel war und noch alle schliefen. Das war schon in ihrer Teenagerzeit so gewesen. Während ihre Freundinnen bis in die Puppen geschlafen hatten, hatte ihr Tag um drei Uhr morgens mit den Vorbereitungen begonnen. Das hatte sich nicht geändert. Den Duft der frisch gebackenen Brote, Brötchen, Croissants, Plunderteilchen, Blechkuchen, der die Backstube ausfüllte, würde sie für nichts in der Welt eintauschen. Die Hitze, die ihr das Blut in die Wangen trieb, egal wie kalt es draußen war. Die eckigen Kastenbrote in verschiedenen Varianten mit Sonnenblumenkernen, Kürbiskernen, Leinsamen oder das deftig-salzige Kräuterbrot. Das nur durch die getrockneten Aprikosen, Datteln und Pflaumen gesüßte Früchtebrot wurde geschnitten und für die Sandwiches vorbereitet. Die Eckstücke wurden sorgsam verwahrt und zu Croûtons für die frischen Blattsalate verarbeitet, die sie zur Lunchzeit anboten. Bree hasste es, wenn Essen weggeworfen wurde, weshalb sie kleine Portionen zu niedrigeren Preisen verkauften, anstatt dem Trend vieler amerikanischen Restaurants zu folgen und Riesenportionen anzubieten.

»Mach du weiter mit den Apfeltaschen, ich übernehme das Rollen der Croissants, Zimt- und Mohnschnecken.« Katlin band sich erst die Schürze fest, bevor sie ihre blond gefärbten Haare in einem violetten Bandana verbarg. Die Farbe des Kopftuches passte exakt zu ihrem mauvefarbenen Kostüm. Wie man in dieser eleganten Kleidung in der Backstube stehen konnte, war Bree ein Rätsel. Katlin legte sehr viel Wert auf ihre äußere Erscheinung. Noch nie hatte Bree ihre Mitinhaberin ungeschminkt oder in einem Schlafanzug gesehen. Geschweige denn in einem Jogginganzug.

Hand in Hand arbeiteten sie weiter, in einem stetigen, konstanten Rhythmus, der beruhigend auf Bree wirkte. Als Kind hatten ihre Pflegeeltern sie anfangs von Kinderarzt zu Kinderarzt geschleppt, weil bei ihr ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom diagnostiziert worden war. Tatsächlich stellte es sich am Ende als eine Spätfolge des Drogenkonsums ihrer Mutter heraus. Sie war und blieb eine schlechte Schülerin, die Probleme hatte, dem Unterricht konzentriert zu folgen. Eines Tages durfte sie ihrer Pflegemutter beim Backen helfen, und siehe da, sie blieb geduldig, ruhig und arbeitete sorgfältig. Es machte ihr nichts aus, stundenlang Kekse auszustechen oder geduldig den Teig zu kneten, bis er die richtige Konsistenz besaß. Dass am Ende duftendes, wohlschmeckendes Backwerk entstand, welches sie geschaffen hatte, grenze für sie an Magie. Das war der Moment, in dem sie ihre Liebe zum Backen entdeckte.

»Mona hat mir erzählt, dass Keith dich in die Show von Ethan Franklin bringen möchte.«

»Hat sie das?«, murmelte Bree, völlig in das Falten der Apfeltaschen versunken.

»Ich liebe seinen Podcast. Einer der wenigen, die ich mir anhöre. Ich meine, nicht alle. Die über Fitnesstraining oder Bodybuilding lasse ich aus, aber die mit Oprah, Cal Fussman oder Katie Couric – unglaublich inspirierend. Ich weiß nicht, wie er es macht, doch er schafft es, dass sie wirklich von sich selbst erzählen, über ihr Leben, welche Fehler sie gemacht haben, vor welchen Herausforderungen sie standen und was sie daraus gelernt haben.«

Bree hob überrascht den Kopf. »Du hörst seinen Podcast?« Immerhin war Katlin siebenundfünfzig und damit um einiges älter als sie selbst.

Katlin lächelte sie an. »Nur weil du dich weigerst, dich mit der modernen Technik auseinanderzusetzen, die außerhalb der Backstube existiert, muss das ja nicht jeder so handhaben. Ja, natürlich höre ich Podcasts, sie sind einfach anders, persönlicher, authentischer als die Talkshows im Fernsehen. Außerdem kann ich beim Zuhören gleichzeitig etwas anderes machen.«

»Hm«, stieß Bree nachdenklich aus.

»Allerdings muss dir klar sein, dass die Gefahr besteht, dass wir uns vor Kunden nicht retten können, wenn du in seinem Podcast auftrittst, und wir dann außer Keith noch weitere Mitarbeiter brauchen, die dich in der Backstube unterstützen. Was generell eine gute Idee wäre. Ich wüsste nicht, wann du jemals mehr als drei Tage Urlaub gemacht hast.«

»Du findest, dass ich es machen sollte?«

»Die Entscheidung liegt bei dir. Mona kann ihre Mannschaft rasch aufstocken. Bei deiner Arbeit ist es etwas anderes. Einfache Aufgaben kannst du delegieren, doch die Zubereitung der Teige? Die Anzahl der Brote, die du in dem Steinofen backen kannst? Du kannst natürlich die andere Ware aufstocken, indem wir einen weiteren Backofen anschaffen. Mona hat bereits angefangen zu kalkulieren.«

»Warum muss immer alles größer werden? Ich meine, wir verdienen doch genug, oder etwa nicht?«

»Shelly ist ein kluges Mädchen. Möchtest du nicht, dass sie eines Tages aufs College geht?«

»Natürlich möchte ich das. Aber ich möchte auch Zeit mit ihr verbringen und nicht den ganzen Tag in der Backstube sein. Weißt du, was ich daran liebe, ein eigenes Café zu haben?«

»Dass du dir deine Zeit in gewisser Weise einteilen und dir Freiheiten nehmen kannst?«

»Genau.«

»Du weißt, dass das nicht wirklich der Wahrheit entspricht?«

»Nein, natürlich nicht. Ich arbeite mehr und wesentlich länger als zu der Zeit, in der ich angestellt war. Außerdem musste ich mir da nie Gedanken um Einkaufspreise, Strom, Holz oder sonst etwas machen. Das hat mein Chef erledigt.« Bree grinste. »Und jetzt machen das Mona und du für mich. Doch ich hätte niemals Shelly allein großziehen können, hätte ich sie jeden Tag allein lassen müssen.«

»Nun ja, sie hat einen Vater.«

»Der wollte, dass ich sie abtreibe.«

»Er war jung, fing gerade mit dem College an.«

»Und was war mit mir? Ich war auch jung, noch dazu völlig auf mich allein gestellt, in einem fremden Land, nur mit einem Besuchervisum.«

»Weshalb es verständlich, ja vielleicht sogar vernünftiger gewesen wäre, abzutreiben.«

Bree stoppte mit dem Schälen der Äpfel. Legte das Messer beiseite und starrte Katlin an.

»Bevor du auf mich losgehst, vergiss nicht, wer dich aufgenommen hat. Ich habe lediglich gesagt, dass es vernünftiger gewesen wäre. Ihr beiden«, Katlin hob ihre Hand und strich Bree über die Wange, »habt mir das Leben gerettet. Durch euch hatte ich wieder eine Aufgabe. Shelly ist für mich wie eine Enkeltochter. Und sie ist die Enkeltochter von Arthur und Leandra Wright.«

»Sie ist meine Tochter.«

»Und die Tochter von Brady Wright.«

»Der sich all die Jahre einen Scheißdreck um sie gekümmert hat!«

»Hättest du es denn erlaubt?«

Bree verschränkte die Arme vor der Brust. »Okay, raus mit der Sprache. Was ist los?«

Katlin war die älteste und beste Freundin von Bradys Mutter Leandra Wright, schon seit der Zeit, als sie noch nicht die Frau eines Milliardärs gewesen war, sondern eine einfache Weintechnikerin. An dem Tag, als Bree an der Türschwelle der Wrights aufgetaucht war, um Brady zu sagen, dass sie von ihm schwanger war, war Katlin ebenfalls dort gewesen. Nie würde Bree den Wutanfall von Arthur Wright vergessen. Wie er sie als deutsches Flittchen und Erbschleicherin beschimpft hatte. Eine Schlampe, die glaubte, sich in das gemachte Nest setzen zu können. Aber er würde ihre Durchtriebenheit durchschauen und sie würde kein Cent von ihm bekommen, geschweige denn, dass er sie bei sich im Haus aufnehmen würde. Brady hatte nichts gesagt. Schließlich war Katlin energisch eingeschritten und hatte Arthur die Stirn geboten. Sie nahm Bree mitsamt dem Rucksack, in dem alles steckte, was sie besaß, mit sich nach Hause und bot ihr eine Bleibe für die Nacht an. Brady war kurze Zeit später aufgetaucht und hatte ihr angeboten, die Kosten für die Abtreibung zu übernehmen und ihr 50.000 Dollar zu geben. Als könnte man ein gebrochenes Herz mit Geld bezahlen. Mein Gott, was war sie für ein Naivchen gewesen. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Vielleicht stimmte es ja, dass die Kinder die Fehler ihrer Eltern wiederholten, bis sie irgendwann daraus lernten. Shelly würde es einmal anders machen, da war sie sicher.

»Versprichst du mir, dass du nicht wütend auf mich wirst?« Katlin konzentrierte sich weiter auf das Rollen und Formen von Croissants, diesmal mit einer Füllung von reinen Kakaonibs.

»Ich versuch's.«

»Du weißt, dass Leandra und ich seit Ewigkeiten befreundet sind. Und dass wir es auch weiterhin sind, egal ob es Arthur in den Kram passt oder nicht.«

»Der Tyrann und seine demutsvolle Frau«, spottete Bree.

»So einfach ist das nicht, und ich weiß auch, dass du es nicht wirklich meinst.«

»Sag schon, was hast du gemacht?«

»Nichts gemacht, nur geredet. Leandra und ich waren gestern Abend zusammen essen. Sie hat mir erzählt, dass Jacklyn und Brady seit einem Jahr erfolglos versuchen, Kinder zu bekommen. Offensichtlich klappt das nicht, weil Jacklyn Probleme hat. Ich erzählte ihr von Shelly, wie gut sie in der Schule ist und wie stolz sie uns alle macht. Ich wollte sie nur trösten, mehr nicht.«

»Was will sie?«

»Sie möchte sie kennenlernen.«

»Nein!« Bree drehte sich um, nahm das Messer und begann in einer irrsinnigen Geschwindigkeit die nächsten Äpfel zu schälen.

»Du darfst nicht nur an dich denken, Bree.«

»Ich lasse nicht zu, dass sie Shelly wehtun.«

»Leandra würde ihrer Enkeltochter niemals wehtun.«

»Woher willst du das wissen?«

Katlin legte das letzte Croissant auf das Backblech und schob es in den Ofen. Sie wischte sich ihre Hände an einem Trockentuch ab.

»Weil sie und Shelly seit einem Jahr Kontakt miteinander haben.«

Bree schrie auf, als das scharfe Messer in ihren Finger schnitt. Blut quoll hervor und strömte ihr Handgelenk hinab. »Mist, Mist, Mist!« Sie presste ein Küchentuch auf die Wunde und rannte zum Waschbecken.

Katlin eilte mit dem Notfallset an ihre Seite. »Lass sehen.«

»Wie konntest du mich so hintergehen?«, wisperte Bree und blockte sie ab.

»Ich habe dich nicht hintergangen. Ich weiß es auch erst seit gestern Abend. Aber ich hatte meine Vermutung.«

»Deine Vermutung?«

»Ja, und wenn du ehrlich bist, hättest du auch zwei und zwei zusammenzählen können. Du erinnerst dich an den Forschungswettbewerb vor knapp einem Jahr, bei dem Shelly den dritten Platz gemacht hat und wo es um den Vergärungsprozess bei Weintrauben ging?«

Mit schmalen Lippen klebte Bree ein Pflaster mit viel Zug auf ihre Schnittwunde. Natürlich erinnerte sie sich. Sie war völlig geschockt gewesen, als Shellys Lehrerin ihr von dem Projekt erzählt hatte. Ausgerechnet ihre Tochter befasste sich mit der Herstellung von Weinen! Konnte es nicht Backen sein?

»Ihr Projekt erhielt einen Sonderpreis von der Familie Wright. Eine Besichtigung der Weinberge und der Weinkellerei.«

»Die sie nicht wahrgenommen hat.«

»Wegen dir, weil du es nicht wolltest. Es war das erste Mal, Bree, dass du deine Tochter dermaßen enttäuscht hast. Du hast ihr nie erzählt, dass Brady ihr Vater ist, nicht wahr?«

Sie wollte sich nicht daran erinnern. An die strahlenden Kinderaugen, in denen das Licht einfach so erloschen war, als die Tränen darin hochstiegen. Eine Woche hatte Shelly nur noch das Nötigste mit ihr gesprochen. Noch nie in ihrem Leben hatte Bree sich so elend gefühlt.

»Leandra ist in die Schule gegangen, um dem Mädchen stattdessen ein Buch über die Weinherstellung zu schenken. So haben sich die beiden kennengelernt, und ab und zu haben sie sich getroffen. Kannst du ihr das verübeln? Und erinnerst du dich, wie begeistert Shelly von dem Klassenausflug letzten Monat war, als sie das Weingut besucht haben?«

Bree drückte die Fäuste gegen die Augen und versuchte, das Pochen in ihrem Kopf zu ignorieren.

»Was will sie?«, presste sie schließlich hervor.

»Sie möchte, dass Shelly ihren Vater kennenlernt. Es hat ihr fast das Herz zerrissen, als Shelly bei ihrem letzten Treffen erzählte, dass ihr Vater sie nicht wollte. Natürlich ist ihr bewusst, dass sie kein Recht hat, dich darum zu bitten.«

»Weshalb sie damit zu dir gekommen ist.«

Katlin schwieg einen Moment und seufzte. »Versprich mir, dass du es dir wenigstens durch den Kopf gehen lässt.«

3

Ethan

Diesmal übernahm Bree die restliche Schicht in der Backstube und überließ Keith die Zubereitung der frischen Gerichte vorne in der offenen Küche des Cafés. Sie brauchte Ruhe, um über das Gespräch mit Katlin nachzudenken. In den ersten Jahren hatte sie jeden Tag darauf gehofft, dass Brady eines Tages im Café auftauchen würde. Sie hatte sich die Begegnung in allen Einzelheiten ausgemalt. Wir er sie um Verzeihung bat, ihr seine Liebe gestand und über seine süße Tochter in Entzücken geriet. Es war nicht leicht gewesen, eine Greencard für die USA zu erhalten. Ohne Greencard kein Job und schon gar kein Kredit. Ein Teufelskreis, der sich löste, als sie zu ihrer größten Überraschung eine Greencard erhielt. Katlin verzichtete sowohl für die Wohnung als auch für das Restaurant auf die Miete. Mona war schon lange scharf darauf gewesen, sich etwas Eigenes aufzubauen, doch hatte ihr der Partner in der Küche gefehlt. Sie arbeitete schon seit zehn Jahren für Katlin und Ted.

Im nächsten Schritt hatten sie versucht, einen Kredit zu bekommen, was sich als genauso schwierig herausstellte wie die Greencard. Auch hier tauchte die Lösung eines Tages in Gestalt von Mr. Sullivan überraschend auf.

Bree war nicht nur in den USA und bei Katlin geblieben, weil sich ihr dort eine einmalige Chance geboten hatte. Der viel wichtigere Grund war der Gedanke, dass ihre Tochter vielleicht eines Tages ihren Vater kennenlernen würde. In Deutschland hatte es niemanden für sie gegeben. Eine Unterstützung vonseiten ihrer Pflegeeltern hätte sie nie bekommen. »Eines Tages wirst du so enden wie deine Mutter.« Wie oft hatte sie das aus dem Mund ihres Pflegevaters zu hören bekommen, immer begleitet von diesem abgrundtiefen Seufzer, der ausdrückte, dass dies ihr unvermeidliches Schicksal war. Drei Mal im Jahr schrieb Bree ihren Pflegeeltern, zu Weihnachten und zu ihren Geburtstagen. Auch wenn es keine herzliche, liebevolle Beziehung war, so hatten sie ihr doch ein Zuhause gegeben.

In den letzten drei Jahren waren ihr zwei Dinge klar geworden. Erstens, dass die Tatsache, dass jemand ein Kind zeugte, nicht bedeutete, dass er es zu seiner Familie zählte. Zweitens, dass fremde Menschen zu einer echten Familie werden konnten. Katlin war für Shelly wie eine Oma, Mona ihre Tante und die anderen Mitarbeiter des Cafés, Eva, Lulu, Alicia, Maja, Yuma und selbst Keith, der von sich behauptet hatte, er könnte mit Kindern nichts anfangen, waren ihre kleine Sippe. Und dann gab es noch Mr. Sullivan, der ihre Tochter ins Herz geschlossen hatte und ohne den sie niemals ein eigenes Café besitzen würde.

Sie wusste, würde ihr jemals etwas passieren, wäre Shelly nicht allein auf der Welt, sondern hätte einen Kokon von Menschen um sich, die für sie da sein würden. Ganz abgesehen davon hatte ihr Leben in Deutschland Bree dazu bewogen, Mr. Sullivan zu bitten, ihr einen Tipp zu geben, wie sie in den USA regelmäßig Geld sparen und für ihre Tochter anlegen konnte. Jeden Monat zahlte sie zehn Prozent ihrer Einnahmen für ihre Tochter auf ein Bankkonto ein und weitere zehn Prozent für sich selbst für Notfälle und für das Alter. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Sie hatte keine Ahnung, wie hoch der Kontostand war, aber sie vertraute Mr. Sullivan.

Und jetzt, wo sie sich mit allem abgefunden hatte, wo sie keinen Gedanken mehr daran verschwendete, dass Shelly ihren Vater und ihre Großeltern kennenlernte, da tauchten sie auf einmal auf und wollten ihre Tochter kennenlernen. Brady war ein Einzelkind. Arthur Wright hingegen hatte noch einen jüngeren Bruder, Richard, der wiederum vier Kinder hatte, die alle verheiratet oder geschieden waren. Insgesamt hatte Richard im Gegensatz zu Arthur zehn Enkelkinder. Wenn Jacklyn tatsächlich keine Kinder bekommen sollte, wäre Shelly das einzige Enkelkind von Arthur Wright. Bisher hatte sie sich darüber nie Gedanken gemacht. Die Wrights spielten keine Rolle in ihrem Leben. Sie hatten ihr deutlich zu verstehen gegeben, was sie von ihr hielten, und dass sie ihr nicht glaubten, dass Brady der Vater ihres Kindes war. Das schien sich geändert zu haben.

Immerhin hatte Leandra Wright sich bei ihren Begegnungen mit Shelly nicht als ihre Oma ausgegeben. Es war Bree ein absolutes Rätsel gewesen, weshalb sich Shelly für ihr Forschungsprojekt ausgerechnet den Herstellungsprozess von Wein ausgesucht hatte. Bree hatte in ihr definitiv nie, auch nicht ansatzweise, das Interesse daran geweckt. Lag ihr das womöglich im Blut? War es fair von ihr, Shelly ihren Vater und die Großeltern vorzuenthalten? Was würde sie von ihr denken, wenn sie eines Tages herausfand, dass sie einen Vater hatte, der nur knapp 40 Meilen von Sausalito entfernt lebte? Wie hätte sie selbst als Kind reagiert? Sie kannte die Antwort darauf nur allzu gut. Sie wusste, wie es war, aufzuwachsen, ohne seine Wurzeln zu kennen. Das Problem war nur ihre Angst davor, dass dieser Schritt dazu führen würde, dass sie Shelly verlor. Gleichzeitig wusste sie, dass sie den Vertrauensbruch gegenüber ihrer Tochter nie mehr würde kitten können, wenn sie ihr den Kontakt verweigerte.


»Ich dachte schon, du würdest heute gar nicht mehr aus deiner dunklen Höhle hervorkriechen.« Keith tippte auf den Bildschirm des Tablets, auf dem die eingegangen Bestellungen aufgeführt waren. »Ich bin an der nächsten bereits dran, übernimm du die danach.«

»Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden der Chef ist«, brummte Bree und begann damit, eine Avocado zu zerteilen und in Scheiben zu schneiden. »Was hast du überhaupt die ganze Zeit gemacht? Musstest du erst nachschlagen, wie man ein Toscana-Sandwich zubereitet?«

»Du hast leicht reden. Schau mal auf die Uhr und die Schlange, die im Laden steht. Mona gefriert bereits das Lächeln auf den Lippen, und das will was heißen«, entgegnete Keith und schnitt die sonnenreifen, aromatischen Tomaten.

Immer wieder kam es zu Diskussionen zwischen Mona, die auf das Geld achtete, und ihr, die möglichst kurze Wege und vor allem geschmackliche Qualität für ihre Zutaten wollte. Am Ende ließ Mona sich durch das Lob der Kundschaft und ihren ressourcenschonenden Umgang mit den Lebensmitteln überzeugen.

Die nächste Stunde waren sie damit beschäftigt, die lange Liste der Bestellungen abzuarbeiten. Langsam entspannte sich die Situation im Café und das Tempo wurde ruhiger. Zeit für eine große Tasse Chai Latte.

»Soll ich dir einen Kaffee mitbringen?«, bot sie Keith an.

»Mhm?«

»Sag mal Keith, bist du schwul?«

»Ich? Spinnst du?«

»Dann verrat mir mal, weshalb du dem Typen in dem Ohrensessel die ganze Zeit Blicke zuwirfst und dabei ständig irgendwelche Zeichen mit dem Kopf gibst. Ich meine, ich kann dich ja verstehen, er hat wirklich was an sich, ganz abgesehen von diesem Lächeln.« Bree hob anzüglich die Augenbrauen. »Du weißt hoffentlich, dass das kein Problem für mich ist. Also tu dir keinen Zwang an und red mit ihm.«

»Ich bin nicht schwul, aber wo du ihn gerade erwähnst …« Keith wischte sich die Hände an der Schürze sauber und schob sie zum Verkaufstresen rüber.

Der Mann in T-Shirt und verwaschenen Jeans erhob sich aus dem Sessel und kam mit diesem echt süßen Lächeln auf den Lippen zu ihnen herüber. Die dunkelbraunen Haare trug er länger und irgendwie zerschnitten, was neben dem Outfit zu seinem lässigen Äußeren beitrug. Jetzt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und schob sie sich dabei aus dem Gesicht. Einen Moment verlor sich Bree in den ozeanfarbenen Augen, die ihr Herz unwillkürlich höherschlagen ließen. Als würde sie durch eine perfekte Welle surfen und wäre ganz mit sich, dem Surfboard und dem Meer allein. Sie unterbrach den Augenkontakt und sah zur Kaffeemaschine, wo Alicia bereits ihren Chai Latte zubereitete. Jeder wusste, was sie trank, wenn die Rushhour vorüber war.

»Hi, du musst Bree Morgenstern sein.« Seine Stimme besaß ein warmes Timbre, das einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen ließ.

Alicia drückte Bree den Chai in die Hand. »Noch einen Cappuccino?«, fragte sie den Mann mit einem strahlenden Lächeln, das ihr sichtlich leichtfiel.

»Nein danke, zwei sind mein absolutes Limit.«

»Es waren drei.«

»Drei?«

Alicia errötete leicht. »Nicht, dass ich mitgezählt hätte.«

Er hob lachend die Hände. »Ich finde es klasse, dass du es noch im Kopf hast. Bei all dem Trubel, der hier den ganzen Morgen geherrscht hat … und nie hast du die Geduld verloren. Das ist ein echtes Talent.«

»Findest du?«

»Ethan«, mahnte Keith.

»Definitiv. Was ich aber gerne trinken würde, denn es sah am Nachbartisch fantastisch aus, ist dieses … wie heißt es gleich? Dieses helle Getränk mit diesem grünen Zeug drin.«

»Meinst du die selbst gemachte Limettenlimonade mit Minze und Thymian?«, hakte Alicia nach.

»Ja, genau, die würde ich nehmen.«

Das also ist Ethan Franklin, dachte Bree. Deshalb war Keith heute dermaßen mit den Bestellungen in den Rückstand geraten. Sie nippte an ihrem Chai und betrachtete den Mann, der seine Aufmerksamkeit jetzt seinerseits ihr zuwendete.

»Meine Antwort lautet Nein«, erklärte sie, bevor er den Mund aufmachen konnte.

»Auf welche Frage?« Mit einem treuherzigen Blick hob er die Augenbrauen.

»Egal auf welche.«

»Ehrlich gesagt, wollte ich gar nicht herkommen, als Keith mir schrieb, dass ich mir unbedingt euer Café ansehen sollte. Ich muss allerdings gestehen, er hat recht. Es ist etwas Besonderes. Aber Keith meinte auch, dass du kein Fan von mir bist.«

»Dafür müsste ich dich erst kennen.«

»Ein Punkt für dich. Was stört dich an der Idee, in meinem Podcast aufzutreten?«

»Ich habe nie verstanden, was Menschen an Realityshows mögen. Sein Leben über Facebook, Youtube oder was auch immer mit der ganzen Welt zu teilen, ist nicht mein Ding.«

»Das dachte ich mir bereits, als ich nichts über dich im Internet fand, und wenn ich mir euer Café anschaue, verstehe ich es auch.«

Bree musterte Ethan mit schräg gelegtem Kopf. »Was willst du dann von mir?«

»Bree!« Alicia warf ihr einen irritierten Blick zu und stellte mit einem warmherzigen Lächeln Ethan die Limettenlimonade hin.

»Deine Kokos-Curry-Suppe mit dem Steinofenbrot war eine echte Wucht und die Blondies sind einfach nur lecker«, redete Ethan unbeeindruckt weiter. »Keith sagte mir, dass das Morning Breeze Café mit seinem breiten veganen Essensangebot ein Geheimtipp ist. Alles aus frischen Zutaten zubereitet, möglichst aus der Region. Gesund, allergenarm und ohne künstliche Zusatzstoffe.«

»Werbeeinblendung beendet.«

Ethan lachte. »Und du besitzt Humor.«

Bree grinste widerwillig. Das musste man dem Typen lassen, er ließ sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen.

»Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du von mir willst.«

Sein Blick wanderte kurz über ihre gesamte Person. »Und ich dachte, das wäre offensichtlich.«

Empört schnappte Bree nach Luft und wollte kontern, doch er war schneller als sie.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, grinste er sie frech an. »Ich möchte gerne das Wellenreiten von dir lernen.«

»Wellenreiten?«

»Keith sagte, du seist super darin, und das glaube ich ihm aufs Wort.«

»Du willst, dass ich dir das Wellenreiten beibringe?«

»Ich dachte, das hätte ich bereits gesagt.«

»Umsonst?«

»Nein, natürlich würde ich den Unterricht bezahlen.«

»Hey, das hast du mir damals nicht angeboten«, beschwerte sich Keith.

»Dafür warst du in meinem Podcast, oder nicht?«

»Wie viel?«, wollte Bree wissen.

»Ich sehe, du bist käuflich.« Er nahm eine Serviette und wandte sich Alicia zu. »Darf ich?«

Verwirrt sah diese ihn an, dann begriff sie und gab ihm den Kuli. Er schrieb eine Zahl auf die Serviette und reichte sie Bree.

Bree schluckte. Nicht schlecht, damit würde sie die anstehenden Reparaturen an ihrem Bus doch noch vornehmen können. »Kannst du schwimmen?«

»Ich nehme das jetzt mal als eine aufrichtige, besorgte Frage ohne die Andeutung einer Beleidigung.«

»Selbstverständlich. Also?«

»Ja, ich kann schwimmen. Kannst du mir das Wellenreiten beibringen?«

»Es gibt zig Schulen, wo du das Wellenreiten lernen kannst. Warum ich?«

»Weil du laut Keith der erste Mensch bist, der es geschafft hat, ihm neben dem Sport etwas beizubringen, wozu er Ausdauer und Geduld benötigt. Beides Eigenschaften, die er nach eigener Aussage nicht besitzt. Was hast du noch mal gesagt, wie lange du an einer Idee arbeitest, bevor du die nächste hast?«

Keith hob grinsend die Schultern. »Drei Monate.«

»Außerdem hat er erstens gesagt, dass du jemand bist, der Dinge gut erklären kann, zweitens anderen deine Begeisterung für etwas nahebringst und drittens eine Engelsgeduld besitzt.«

Bree war überrascht. Sie hatte gedacht, sie hätte Ethan sofort durchschaut. Dass er zu den Männern gehörte, die es schafften, andere Menschen von allem zu überzeugen. Obwohl sie wusste, dass er versuchte, sie mit seinen Worten zu umgarnen, damit sie machte, was er wollte, schaffte er es, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Was er jedoch nicht bedacht hatte und auch nicht wissen konnte, war, dass es noch eine andere Eigenschaft gab, die sie auszeichnete. Dass sie knallhart und unnachgiebig war, vor allem, wenn es um das Surfen ging. Er würde spätestens nach einer Stunde mit der Welt fertig sein und aufgeben. Der Gedanke gefiel ihr, diesen von sich überzeugten Typen auflaufen zu lassen.

»Okay. Du überweist mir das Geld auf mein Konto. Ich schau mir an, wie es in den ersten Übungsstunden läuft. Wenn ich merke, dass du es nicht ernst meinst oder meinen Anweisungen nicht folgst, ist die Sache auf der Stelle beendet.«

Er hob in gespielter Überraschung die Augenbrauen. »Ehrlich? Das ging leichter, als ich dachte. Übrigens«, er schenkte ihr ein aufreizendes Lächeln, »ich hätte auch das Doppelte bezahlt.«

»Pech für mich, aber noch hast du keine Stunde Unterricht bei mir überstanden.« Sie trank den letzten Schluck von ihrem Chai Latte.

»Gib mir deine Kontonummer, dann überweise ich das Geld direkt.«

Er reichte ihr sein Smartphone. Skeptisch nahm sie das Teil an, sah dann jedoch das Feld, in das sie ihre Kontonummer eintippen konnte. Sie gab es ihm zurück und er tippte einen Code ein. »Erledigt. Wann und wo beginnen wir?«

»Ich kann nur am Samstag, die Uhrzeit hängt von den Gezeiten und Winden ab. Ich melde mich bei dir.« Sie drehte sich um und wendete sich wieder der Arbeit zu. Spätestens in einer Stunde würde im Café der letzte Ansturm von Kunden für heute aufkreuzen.


Ethan wusste nicht, ob er angesichts von Brees Desinteresse an seiner Person beleidigt oder amüsiert sein sollte. Sie hatte ihn nicht einmal nach seiner Nummer gefragt.

»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!« Keith hob breit grinsend den Zeigefinger und fügte, als hätte er Ethans Gedanken gelesen hinzu: »Keine Sorge, ich geb ihr deine Nummer.«

»Du kannst mir ihre geben.«

Keith schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee, sie ist in der Hinsicht sehr eigen. Aber keine Sorge, wenn sie sagt, dass sie dir das Wellenreiten beibringt, dann macht sie das auch.«

Ethan beobachtete, wie Bree geschickt mit dem Messer die Gurken schnitt und die Behälter auffüllte. Keith hatte nicht gelogen, als er sagte, dass der Laden anders sei, ohne genau beschreiben zu können, warum. Ethan konnte das sehr wohl. Es begann mit der ungewöhnlichen Einrichtung, die einem das Gefühl vermittelte, man würde bei Freunden vorbeischauen. Die Art der Gestaltung bot den unterschiedlichsten Charakteren die Möglichkeit, sich wohlzufühlen. Es gab offene Bereiche für die geselligeren Kunden, die in einer Gruppe kamen. Dann die durch geschicktes Anordnen von Pflanzen und Regalen abgeschiedeneren Plätze, wo man für sich sein konnte, um zu lesen oder sich mit der besten Freundin auszutauschen. In den Regalen gab es Bücher, Zeitschriften und Spiele. Ebenso fanden sich dort kleine Mitbringsel des Cafés, die man zum Verschenken oder für sich selbst kaufen konnte. Selbst er war versucht, die in einem Einmachglas geschichteten trockenen Zutaten für einen Kuchen zu kaufen, um sie Dana, die Frau seines besten Freundes Brian mitzubringen. Sie würde das Café lieben.

Dann die gemütlichen Ohrensessel mit einem Abstelltisch, wo man die Zeit vergessen konnte. Oder die Theke mit Stromanschlüssen und einer Sichtblende in der Mitte zum Arbeiten. In der ganzen Zeit, in der er hier war, war sie gut besetzt. Es gab eine Spielecke mit Sitzsäcken für die kleinen Gäste und sogar Ruhedecken mit Wassernäpfen für die vierbeinigen Begleiter. Hätte er das gewusst, hätte er Tiara mitgebracht.

Alles an diesem Ort lud zum Verweilen und Wohlfühlen ein. Dazu kamen die himmlischen Düfte nach Kaffee, Zimt, Vanille, ebenso wie Koriander, Rosmarin, Salbei, Thymian, Orange, Apfel, Zitrone, Karamell, gepaart mit dem herben Duft von aromatischem Holz. Fast wie letzten Winter in der Hütte im kanadischen Skigebiet Whistler Blackcomb. Fehlte nur noch der Glühwein.

Die gesamte Inneneinrichtung wirkte nordisch hell mit viel Holz, farbenfrohen Tischläufern und Sitzkissen; in einem Regal gab es sogar Decken, sodass man draußen auf der Terrasse sitzen konnte, selbst wenn es kühler war. Von dort hatte man einen herrlichen Blick auf die Richardson Bay. Die Trennung der Sitzgruppen geschah hier mit Hilfe von Bambus. Das Wispern und Rascheln der Blätter, wenn der Wind hindurchfuhr, wirkte absolut beruhigend.

Neben den Produkten aus dem Café präsentierten in den Regalen auch andere Ladenbesitzer eine kleine Auswahl ihres Sortiments. Interessantes Konzept, stellte Ethans wirtschaftliche Seite fest. Wenn der Shop jeden Morgen so gut besucht war wie heute, dann musste das hier eine kleine Goldgrube darstellen. Andererseits hatte er von Keith gehört, dass die Backwaren jeden Morgen frisch gebacken wurden und wenn alles ausverkauft war, dann war es eben ausverkauft.

Das Letzte in dem Mix, das diesen Ort in seinen Augen zu etwas Besonderem machte, war die Ausstrahlung der Menschen, die hier arbeiteten. Egal ob Inhaberinnen oder Angestellte. Es gab für die Angestellten keine Uniform. Stattdessen trugen sie bordeauxfarbene Schürzen mit einer weißen Welle und ihrem Namen darunter sowie Bandanas in verschiedenen Farben, die wie eine Piratenkappe geschnitten waren. Die längeren Haare der Frauen waren geflochten, in Pferdeschwänzen, Dutts, Knoten oder anderen raffinierten Hochsteckfrisuren verstaut. Mona trug eine Jeanslatzhose, ein enges rotes T-Shirt und Sandaletten. Wenn sie bediente, klingelten die vielzähligen Armreifen an ihrem Handgelenk und die Loops an ihren Ohren bewegten sich im selben Rhythmus. Ihre knallrot geschminkten Lippen spiegelten den Farbton ihres T-Shirts wider. Bei dem strahlenden Lächeln, das sie einem schenkte, konnte man gar nicht anders, als es zu erwidern. Alle Bedienungen strahlten diese Fröhlichkeit aus, die einem wie eine frische Morgenbrise entgegenwehte.

Er hatte beobachtet, wie sowohl Männer als auch Frauen, von dem Glockenspiel an der Tür begrüßt, das Café mit einem müden und gestressten Gesichtsausdruck betraten, um es mit einem Lächeln auf den Lippen wieder zu verlassen. Manche Kunden oder Kundinnen wurden mit Namen begrüßt, es wurden ein paar Nettigkeiten ausgetauscht. Bei einer jungen Frau hatte Alicia sogar nachgefragt, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen war. Oder bei einem Mann, ob es seiner Verletzung am Knie besser ging. Das Café als ein Treffpunkt von Freunden.

Die nächste Besonderheit, die er festgestellt hatte: Es gab kein winziges Stück Plastik in diesem Café. Das Besteck war aus Metall, die Teller tatsächlich aus Porzellan. Die Doggie-Bags wurden mit Pappschachteln, Papiertüten und bunten Servietten gepackt. Auf den Tischen gab es Zucker- und Salzstreuer sowie Pfeffer- und Gewürzmühlen. Am Abend, das hatte ihm Keith erzählt, packte eine der Inhaberinnen das verbliebene Essen ein und brachte es zu einem der vielen Obdachlosenheime der Stadt. Das Café war also nicht nur eine frische Morgenbrise für die Menschen, die es betraten, sondern wehte auch noch durch die Armenviertel von San Francisco. Dabei strahlten die zwei Besitzerinnen, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte, diese Menschlichkeit aus jeder Pore aus. Wenn auch Bree ihm gegenüber eine ruppige Art an den Tag gelegt hatte. Keith hatte recht, er wollte Bree in seinem Podcast interviewen und herausfinden, wo die inspirierende Art, ihr kleines Unternehmen zu führen und mit Leben zu füllen, herkam.

Nicht ein Mal hob Bree den Kopf, um ihn anzusehen oder gar zuzulächeln. Eine halbe Stunde versuchte er, sie durch seinen Blick dazu zu bringen, wenigstens ein Mal zu ihm zu schauen. Erfolglos. Als wäre sie völlig mit ihrer Tätigkeit verschmolzen. Die Geschwindigkeit, mit der ihre schlanken, langen Finger das Essen zubereiteten, hatte etwas Faszinierendes, durch diesen gleichmäßigen Rhythmus sogar etwas Meditatives. Als die Nachmittags-Rushhour begann, entschloss sich Ethan zu gehen. Kaum hatte sich die Tür mit diesem fröhlichen Glockenspiel hinter ihm geschlossen, hatte er das Gefühl, als wäre er von einem magischen Ort in die Realität zurückgekehrt. Über den Gedanken schmunzelnd, schüttelte er den Kopf. Vielleicht verbrachte er inzwischen tatsächlich zu viel Zeit hinter dem Computer und vor dem Mikrofon, wenn ein Café diese Wirkung auf ihn ausübte.

4

Monterey

Mit Kissen, einer Decke, Kopfhörern und einem Hörbuch macht Shelly es sich auf der Rückbank bequem. Bree verstaute die frischen Lebensmittel in der integrierten Kühlbox ihres Campingbusses. Die Beifahrer- und die Fahrertür wurden mit je drei Zweiliter-Metallflaschen bestückt. Eine mit grünem Roibusch-Limetten-Eistee, eine andere mit Erdbeer-Hibiskus-Eistee und der Rest enthielt Wasser. Die zwei Surfboards waren auf dem Dach festgezurrt und der Picknickkorb, gefüllt für den ganzen Tag, stand im Auto – fehlte nur noch der Schüler. Gerade als Bree ihr Smartphone hervorkramte, um ihn anzurufen, blendeten sie die Lichter eines Fahrzeugs. Von der Beifahrerseite stieg Ethan aus, bedankte sich bei dem Fahrer, holte seine Tasche von der Rückbank und ging zu ihr.

Fragend hob sie die Augenbrauen, als sie dem Fahrzeug nachsah. »Ein Freund?«

»Nein, Uber. Guten Morgen, Bree.«

»Uber?«

»Das ist eine Art privater Taxidienst. Es gibt eine App, mit der du dich als Fahrer anbietest und mit der du eine Fahrt buchen kannst. Hi, ich bin Shelly.«

Ethan nahm Shellys ausgestreckte Hand. »Hi Shelly, nett dich kennenzulernen. Ich bin Ethan.«

»Ich weiß. Mom hat mir gesagt, dass sie dir das Wellenreiten beibringt.«

»Mom?« Überrascht ließ er den Blick zwischen ihr und Shelly schweifen.

»Hast du damit ein Problem?«, hakte Bree nach, bereit alles abzublasen, sollte er die falsche Antwort geben.

»Sollte ich?«

»Manche Männer mögen keine Kinder.«

»Nun, ich gehöre nicht dazu.« Ethan wandte sich ihrer Tochter zu. »Echt cool erklärt, das mit Uber. Jetzt hast du mich allerdings neugierig gemacht. Woher kennst du es, wenn deine Mom es nicht nutzt?«

»Wegen Mr. Sullivan. Der gibt mir immer Anlagetipps für mein Taschengeld, und Uber war mal dabei.«

»Mr. Sullivan? Du meinst nicht etwa den Kenneth Sullivan von Sullivan Brokerage?«

»Doch, den meint sie. Kommst du nun oder nicht?«, mischte Bree sich ein weiteres Mal in das Gespräch ein. Ohne auf seine Antwort zu warten, nahm sie hinter dem Steuer Platz und startete das Auto. Es funktionierte. Er verstaute rasch seine Tasche bei Shelly, schloss die Schiebetür und stieg ein. Um diese Uhrzeit war die Golden Gate Bridge noch leer.

»Du hättest mich abholen können, es wäre nur ein kurzer Schlenker gewesen.«

»Wenn ich es recht in Erinnerung habe, wolltest du etwas von mir, nicht umgekehrt.«

»Du machst es einem nicht leicht.«

»Ich weiß, was ich will.«

Bree sah im Rückspiegel, dass Shelly ihrem Gespräch folgte, statt sich wie sonst die Kopfhörer aufzusetzen, weil sie Autofahren furchtbar langweilig fand. Die Augenbrauen ihrer Tochter trafen sich über der Nasenwurzel. Ein sicheres Zeichen, dass sie über etwas angestrengt nachdachte. Sie nahm Ethan auf dem Beifahrersitz in Augenschein, dann kam unweigerlich ihre erste Frage.

»Warum willst du, dass Mom dir das Wellenreiten beibringt?«

Ethan drehte sich halb im Sitz um, sodass er Shelly ansehen konnte. »Weil es nach unglaublich viel Spaß aussieht. Kannst du auch Wellenreiten?«

»Nö, da schlucke ich immer viel zu viel Wasser und außerdem habe ich Angst.«

»Vor Haien?«

»Quatsch. Vor dem Runterfallen vom Board. Wenn mich die Wellen umherwirbeln und mir das Board um die Ohren fliegt. Bist du nicht schon ein bisschen zu alt, um das Wellenreiten zu lernen?«

»Ich glaube, dass du, egal wie alt du bist, alles lernen kannst, wenn du es möchtest, sofern du dir den richtigen Lehrer dafür aussuchst.« Er warf ihr ein schiefes Grinsen zu.

»Mom kennt aber kein Erbarmen, wenn sie dir etwas beibringt, und ist voll anstrengend.«

»Genau deshalb wollte ich sie haben.«

Der Kopf ihrer Tochter kippte zur Seite. »Bist du in meine Mom verliebt?«

Bree musste sich das Lachen verkneifen, als sie die schockierte Miene ihres Beifahrers sah.

»Nein! Wie kommst du auf die Idee?«

»Mona sagt, dass Männer manchmal ganz verrückte Sachen machen, wenn sie in eine Frau verliebt sind und ihr imponieren wollen.«

»So, tun sie das?« Ethan warf ihr einen hintergründigen Blick zu. »Gibt es denn viele Männer, die das bei deiner Mom versuchen?«

»Shelly, mein Mäuschen, wolltest du nicht noch eine Runde schlafen und das Hörbuch zu Ende hören?«

»Nö«, erklärte sie seelenruhig und wandte sich wieder Ethan zu. »Ich hab mir deine Webseite und zwei Videos von dir angeschaut und den Podcast mit dem einhändigen Pianisten angehört.«

»Und?«

»Du stellst gute Fragen.«

Ethan machte eine angedeutete Verbeugung. »Vielen Dank für das Kompliment.«

»Das mit dem Akrobatik-Yoga sah auch ziemlich cool aus, ist das schwer?«

»Wenn du weißt, wie es geht, überhaupt nicht, dafür macht es wahnsinnig viel Spaß. Wenn du möchtest und deine Mom es erlaubt, kann ich es dir zeigen.«

Bree sah im Rückspiegel, wie Shellys Augen aufleuchteten.

»Was ist Akrobatik-Yoga?«, mischte sie sich ein.

Diesmal bekam sie ein schelmisches Grinsen von ihm. »Das zeigen wir dir dann, nicht wahr Shelly?« Er wagte es tatsächlich, ihrer Tochter zuzuzwinkern. Diese grinste zurück, setzte sich die Kopfhörer auf und schloss die Augen. Bree atmete tief durch, warf Ethan einen scharfen Blick zu.

»Das ist kein Spiel oder eines deiner Experimente, von denen mir Keith erzählt hat.«

»Hey«, er hob beide Hände, »keine Sorge, Mamatiger, Akrobatik-Yoga ist ganz harmlos und macht wirklich viel Spaß. Alles, was dafür nötig ist, ist Körperbeherrschung, Achtsamkeit und Vertrauen. Solltest du bei Gelegenheit auch mal ausprobieren.«

Er kramte aus seiner Tasche die Kopfhörer heraus, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss wie Shelly die Augen. Bree wusste auch nicht, weshalb sie bei diesem Mann ständig die Krallen ausfuhr. Sie hatte früh gelernt, dass sie sich nur auf einen Menschen in ihrem Leben verlassen konnte, und das war sie selbst.


Bree machte beim Autofahren keine Musik an. Dafür zeigte ihre gerunzelte Stirn ihm, dass sie über irgendetwas nachdachte. Dabei ähnelte sich der Gesichtsausdruck von Tochter und Mutter enorm. Ein kleiner Schock für ihn. Keith hatte nichts von einem Kind erwähnt, aber der mochte auch keine Kinder. Wie alt sie wohl gewesen war, als sie Shelly bekommen hatte? Sechzehn? Siebzehn? Er achtete beim kurzen Blinzeln darauf, dass sie es nicht bemerkte. Kopfhörer aufzusetzen und so zu tun, als würde man schlafen, war eine gute Möglichkeit, einem Menschen die Sicherheit zu geben, dass er sich selbst überlassen war. In diesem Fall die einfachste Methode, einer Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Offensichtlich gehörte Bree zu den übervorsichtigen Müttern, die ihren Kindern nichts zutrauten und am liebsten ständig über sie kreisten. Eine überaus schlechte Angewohnheit, die den Kindern überhaupt nicht guttat. Weder konnten sie eigene Erfahrungen sammeln oder lernen, Frustration auszuhalten, noch ihre eigenen Kämpfe ausfechten. Das Interview mit Katie Mitchell hatte ihn wirklich nachdenklich gemacht, was für eine zukünftige Generation dort heranwuchs. Menschen, die nie gelernt hatten, dass es auch schwierige Zeiten gab, durch die man sich kämpfen musste oder die es zu überstehen galt. Interessant, dass ausgerechnet Bree eine solche Mutter war, wo sie bei der Geburt ihrer Tochter so jung gewesen war. Ein junges Mädchen, am Anfang ihres Lebens, gerade dabei, die Welt für sich zu entdecken. Bestimmt keine einfache Situation. Keith hatte ihm erzählt, dass Bree ursprünglich aus Deutschland stammte. Er fragte sich, weshalb sie in den USA geblieben war, und vor allem, wie sie das hinbekommen hatte. Die USA waren, was die Einwanderungsthematik betraf, überaus strikt.

Witzig die Aussage von Shelly, dass ihre Mutter kein Erbarmen kannte und voll anstrengend war. Es passte eigentlich nicht zu diesen Helikoptermüttern, die ständig über ihren Töchtern kreisten und ihnen alle Steine aus dem Weg räumten. Vielleicht steckte doch etwas anderes dahinter, dass Bree ihre Krallen ausgefahren hatte. Er fragte sich, ob sie das bei jedem Menschen tat oder nur bei Männern oder nur bei ihm? Spannende Fragen. Verliebt. Innerlich schüttelte er bei dem Gedanken amüsiert den Kopf. Er mochte keine komplizierten Beziehungen und diese Frau hatte quer über ihr gesamtes Gesicht »Kompliziert!« stehen. Überhaupt hegte er seit der Sache mit Jules keinerlei Interesse mehr an einer langfristigen Beziehung. Irgendwann wurde ihm jede Frau zu langweilig, zu anstrengend oder gar einengend. Obwohl er gelegentlich Brian, seinen ältesten Freund, um seine Ehe mit Dana sowie ihre zwei Kinder Matthew und Helena beneidete. Aber was sollte man sagen, es gab halt nur eine Dana auf der Welt. Sie maulte nicht herum, wenn sie ein Männerwochenende zusammen verbrachten oder sogar für eine Woche gemeinsam in den Urlaub gingen, ohne sie und die Kinder mitzunehmen. Blöd nur, dass sie vor Kurzem nach Dallas umgezogen waren. Vielleicht sollte er auch überlegen, seine Zelte in San Francisco abzubrechen. Die Stadt wurde immer hipper, und je mehr seine Fanbasis wuchs, desto mehr kam es zu obskuren Situationen. Neulich war ihm jemand sogar auf die Toilette gefolgt, um ihm seine neue Geschäftsidee zu pitchen, damit er darin investierte. Das war nicht nur schräg, sondern nervte.

Mit einem Ruck wurde er wach, weil die Schiebetür aufging. Einen Moment lang war er völlig orientierungslos. Offensichtlich war er eingeschlafen. Vor ihm lagen der Strand und das Meer des Sunset State Beach an der Monterey Bay zwischen Santa Cruz und Monterey. Im letzten Moment bremste er seinen Impuls, die Beifahrertür zu öffnen. Bree stand davor auf einem Hocker und löste die Gurte von den Surfboards auf dem Dach. Er nahm den Weg zwischen Beifahrer- und Fahrersitz durch die Schiebetür. Auf der Rückbank, die Kopfhörer noch auf, atmete Shelly tief und regelmäßig. Das ernste Gesicht wirkte im Schlaf so kindlich, wie es bei einer Elfjährigen sein sollte. Sie besaß dichte, lange Wimpern und eine gerade kleine Nase, auf der tatsächlich Sommersprossen erkennbar waren. Niedlich. Ob ihrer Mutter die auch hatte?

»Nicht anfassen, lass sie noch schlafen. Du kannst mir bei den Boards helfen.«

»Klar.«

Sie hob den Hocker und stellte ihn an den rückwärtigen Teil des Busses, stieg darauf und löste den hinteren Spanngurt. Bevor er überhaupt die Chance hatte, das oberste kleinere Surfbrett herunterzuholen – im Gegensatz zu ihr brauchte er dafür keinen Hocker – hatte sie es sich bereits geschnappt und hielt es ihm hin. Genauso verfuhr sie mit dem längeren Board.

»Du trägst das Surfbrett an deiner Seite. Achte darauf, dass die Nose vorne und der Tail hinten ist. Pass auch mit den Finnen auf, die sind an der flachen Seite messerscharf. Alles klar?«

»Nose, Tail …?«

»Vorne die runde Spitze ist die Nose, hinten …«

»Okay.« Er nahm das Longboard und klemmte es sich unter den Arm.

»Und pass auf, dass du niemanden umhaust«, grinste sie ihn an.

»War das tatsächlich ein Scherz aus deinem Mund? Die Frau besitzt Humor!«

»Trödel nicht rum und klopf Sprüche. Geh zum Strand, du willst schließlich was lernen, und vergiss deine Tasche nicht.«

»Jawohl, Mom.«

Er trabte los, bevor sie ihm mit der Hand einen Klaps verpassen konnte. Die aufsteigende Sonne in seinem Rücken warf ihre ersten Strahlen über den Sand und verwandelte ihn in eine rötliche Wüste. Flache Wellen schwappten über den Strand und malten ein feuchtes, hügeliges Muster darauf. Er war der einzige Mensch weit und breit. Tief atmete er die salzige Seeluft ein. Er legte das Brett mit der Unterseite auf den Boden. Die verschlafene Shelly, einen Rucksack auf dem Rücken, trug zwei Kissen unter dem Arm und in der anderen Hand ein rundes Zeltpaket, von dem er vermutete, dass es eine Strandmuschel war. Unter Brees linkem Arm klemmte das Shortboard und in der rechten Hand schleppte sie den Picknickkorb. Rasch lief er zurück, nahm Shelly das Zelt ab und streckte die Hand nach dem Korb aus.

»Das schaffe ich allein.«

»Ohne Frage, ich kann dir aber auch helfen.«

Sie verdrehte die Augen, reichte ihm dann jedoch den Korb.

»Wenn da auch nur ein Teil dessen drin ist, wonach es duftet …«

»Darauf kannst du dich verlassen. Mom macht immer alles selbst, dann weiß sie was drin ist.«

»Kann es sein, dass deine Mom ein leichter Kontrollfreak ist?«

»Leicht?«

Er freute sich diebisch, als das Mädchen ihm zum zweiten Mal ein breites Grinsen schenkte. In seinen Augen wirkte es viel zu ernst.

»Hey, passt auf, was ihr sagt, sonst gebe ich euch nichts ab.«

Shelly strich mit Daumen und Zeigefinger über ihre Lippen, als zöge sie einen Reißverschluss zu. Die Strandmuschel war ein Wurfzelt und war ruckzuck aufgestellt. Shelly baute sich ein kleines Nest darin und macht es sich gemütlich. Ethan zog seine Jeansshorts aus.

»Dein T-Shirt kannst du erst mal anbehalten. Zuerst die Theorie«, erklärte Bree, die ebenfalls aus ihrer Jeansbermuda schlüpfte. Sein Blick wanderte über kräftige Waden hoch zu muskulösen Oberschenkeln, die in Badeshorts verschwanden.

Er beäugte den Korb. »Was ist mit Frühstück?«

»Wenn du dein Board kennst. Wie heißt die runde Spitze?«

»Nose, und der hintere Teil ist der Tail.«

Sie nahm die Leine in die Hand. »Das ist die Leash, deren eines Ende am Board befestigt ist, während du dir das andere Ende um das Fußgelenk bindest. Das darfst du nie vergessen. Ein ungesichertes Board ist eine Gefahr für dich und alle anderen, die mit dir im Wasser sind.«

»Verstanden. An welchem Fuß mache ich es fest?«

»An dem, der hinten steht.«

»Und woher weiß ich, welcher hinten ist?«

»Das werden wir gleich feststellen, wenn wir zu den Trockenübungen kommen. Nächster Punkt. Versuche niemals, dein Board an der Leine zu ziehen oder gar deinen Finger in die Schlaufe zu stecken. Eine Welle, und er kann ab sein, und wenn du Glück hast, nur gebrochen oder verstaucht.«

»Okay. Wie halte ich es dann fest?«

»Das zeige ich dir noch. An deinem Board sind drei Finnen, die, wie gesagt, im schmalen Bereich scharf sind, deshalb solltest du es auch nie dort halten. Dann haben wir das Deck, auf dem du stehst, den Bottom, der auf dem Wasser aufliegt, und den Stringer.«

»Stringer?«

Sie deutete auf eine Holzlinie, die sich in der Mitte des Boards von der Nose bis zum Tail zog.

»Er macht das Board stabiler. Du hast nur einen, aber sieh dir meines an, es hat drei.« Sie deutete auf ihr Board, das sie parallel zu seinem in den Sand gelegt hatte.

»Okay. Warum ist der Bottom nach innen gebogen?«

»Das sorgt dafür, dass das Wasser durch die Finnen geleitet wird, auch hilft dir das später, wie der Stringer, beim Take-off.«

»Take-off? Ich dachte, wir wären beim Wellenreiten und nicht beim Fliegen.«

»Daher kommt der Begriff, weil du dich von der Bauchposition in die Stehposition begibst, um dann die Welle zu reiten. Genug erklärt. Schwingen wir uns auf das Board.«

Sie legte sich auf den Bauch, überkreuzte hinten die Fußgelenke, zur Nose des Boards hatte sie etwa eine Handlänge Platz. »Dein Solarplexus sollte etwa in der Mitte liegen, das ist allerdings nur eine grobe Richtlinie. Kannst du dir vorstellen, wieso?«

»Ich nehme an, dass du sonst mit deinem Gewicht die Nose zu tief ins Wasser drückst?«

»Exakt. Aber was passiert, wenn die Welle unter dein Board kommt und die Nose nach oben drückt?«

»Dann sollte ich vermutlich mein Gewicht nach vorne bringen.«

»Mit anderen Worten?«

Er biss sich auf die Innenwange, um bei ihrem lehrerhaften Ton nicht zu grinsen. Ihre topasfarbenen Augen besaßen einen dunkleren inneren Ring und wurden nach außen hin heller, bis zum erneut wieder dunklen Irisrand. Es war das erste Mal, dass er so dicht vor ihr saß, dass er diese Schattierungen wahrnehmen konnte.

»Hey, ich habe dich was gefragt«, riss sie ihn mit verärgerter Stimme aus seiner Betrachtung.

»Dass die Lage meines Körpers variiert.«

»Genau, das muss natürlich schnell gehen. Kommen wir nun zu den Händen. Klemm deine Daumen unter die Achseln. Auf der Höhe setzt du deine Hände jetzt auf das Deck, direkt neben deinem Körper, Ellenbogen parallel. Die Haltung nennen wir auch Chickenwings.«

»Bock, bock, bock«, imitierte er ein Huhn.

»Ha, ha.«

»Pass auf, sonst fängst du an zu lachen.«

»Willst du nun Wellenreiten lernen oder nicht?«

»Langsam verstehe ich, was deine Tochter meinte.« Rasch spannte er die Bauchmuskeln an und hob die flachen Hände nach vorne. »Ich bin ja schon still, Frau Lehrerin.«

»Wenn du jetzt noch die Hände ausstreckst, bist du im Adler.«

»Das kenne ich vom Yoga und das«, er setzte die Handflächen unter die Schulter und streckt sich nach oben, »ist die Kobra.«

»Auf diese Weise bremst du die Geschwindigkeit ab, weil du die Nose nach unten drückst.«

»Meinst du das jetzt ehrlich oder revanchierst du dich für meine Scherze?«

»Ehrlich. Die Füße bleiben ganz eng aneinander. Sie dürfen sich auch gerne, wie gerade bei mir, am Fußgelenk kreuzen. Wenn du mit den Händen das Board umfasst, kannst du dich schnell ein Stück nach vorne oder hinten schieben. Gehst du von der Adlerhaltung nach unten, wirst du schneller. So weit alles klar?«

»Jawohl.«

»Die erste Übung, die wir jetzt gleich nach dem Frühstück machen, ist, dass wir ins Wasser gehen, auf eine gebrochene Welle warten, auf das Board gleiten und uns von der Welle an den Strand tragen lassen.«

»Gebrochene Welle?«

»Das sind die Wellen mit dem weißen Schaum, die bereits gekippt sind. Mit diesen Wellen übst du die gesamten Grundlagen, und erst, wenn alles sicher sitzt und du den Take-off sauber hinbekommst, können wir uns an die ungebrochenen Wellen machen. Das Wichtigste ist das Timing. Jetzt bist du dran.«

5

Wellenreiten

Brav wiederholte Ethan alles, was sie ihm erklärt hatte, und beantwortete auch die Fragen. Ernsthaft und ohne zu flachsen. Sie musste zugeben, er besaß eine rasche Auffassungsgabe. Sie holte die Thermoskanne hervor und schüttete ihm einen Chai Tea Latte mit einem Hauch von Matcha ein.

»Porzellanbecher am Strand?«

»Ich hasse Plastik- und Pappbecher. Keine Ahnung, was ihr Amerikaner daran so toll findet. Daraus schmeckt jeder Kaffee oder Tee ekelig.«

»Amerikaner? Bist du das nicht auch?«

»Nein, die Greencard wurde zwar verlängert, aber bisher habe ich die US-Staatsbürgerschaft nicht beantragt.« Sie biss in das Vollkornbrötchen, das mit Cashewmus sowie selbst gemachter Aprikosen-Rhabarber-Marmelade bestrichen war. »Meine Werte sind wohl eher deutsch.«

»Was sind deine Werte?«

»Dass ich Müll, vor allem Plastikmüll vermeide, wann immer ich es kann.«

»Das ist kein Wert.«

»Was sind denn deiner Meinung nach Werte?«

»Authentizität, Ehrlichkeit, Loyalität, Freiheit, Sicherheit, Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Verantwortung. Soll ich weitermachen?«

»Auf seine Umwelt Rücksicht zu nehmen, damit ihr unserer Generation nicht nur den Müll vererbt, ist verantwortungsvoll, also ein Wert.«

Nicht nur Bree, auch Ethan sah Shelly verblüfft an, die mit unschuldigem Blick ein großes Stück von ihrem Avocado-Tomaten-Roggenbrötchen abbiss. Er fuhr Shelly durchs Haar.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du viel zu klug für dein Alter bist? Du hast recht, es ist ein Wert.«

Ihre Tochter grinste verschmitzt. Es gab Bree ein Stich. Sie wollte nicht, dass Shelly Ethan mochte, und es gefiel ihr nicht, wie mühelos es ihm gelang, ihr ein Lächeln zu entlocken. Er griff in seinen Rucksack, holte eines dieser Sandwichs in einer Plastikpackung hervor, die aus mehr Chemie als natürlichen Zusatzstoffen bestanden, außerdem eine Kekspackung und Schokoriegel.

Bree rümpfte die Nase. »Das willst du nicht ernsthaft essen?«

»Warum nicht?«

Sie schnappte ihm die Packung aus der Hand. Shelly blinzelte Ethan zu.

»Das ist voller künstlicher Aromen und chemischer Mittel, um das Zeug haltbar zu machen, und enthält jede Menge verschiedene Zuckerarten. Da hat ja selbst Müll mehr Nährstoffe als das Teil.« Bree schnappte sich seinen Rucksack, sah hinein und holte einen weiteren Schokoriegel, drei Sandwiches, zwei Äpfel, eine Banane, eine Flasche Cola und ein Buch heraus. »Unglaublich. Ein Wunder, dass du noch lebst.« Sie schüttelte den Kopf und sah auf den Buchrücken. »Seneca? Wer ist das?«

»Du kennst Seneca nicht? Das war ein römischer Philosoph. Welche Klassen hast du im College belegt oder wie auch immer das in Deutschland heißt?«

»Keine. Ich bin nach der neunten Klasse abgegangen und habe eine Bäckerlehre angefangen. Aber wenn du so schlau bist, warum vergiftest du dann deinen Körper mit all diesem Zeug?«

»Mom, er ist ein Mann, was glaubst du?«

»Was soll das denn heißen? Dass sich Männer nicht gesund ernähren können?«

»Nein, nur dass sie zu faul sind, zu kochen, und auch keine Lust haben, zu spülen oder den Haushalt zu machen«, erläuterte Shelly ungerührt.

Bei dem wissenden Blick, den ihr Ethan daraufhin zuwarf, stieg Bree die Röte ins Gesicht. Ihm war natürlich klar, woher Shelly diese Weisheit hatte.

»In La Travita, wo ich mit meinen Freunden gerne essen gehe, ist die Pizza wirklich eine Wucht, und da gibt es nur Männer in der Küche.«

»Du willst also sagen, dass auch Männer kochen?«, konnte sich Bree die Frage nicht verkneifen.

»Nicht nur das, sie können sogar hervorragend kochen, wenn sie es wollen. Denk mal an all die Fünf-Sterne-Köche, wie viele Frauen sind darunter?«

»Ha, das zeigt nur, dass die amerikanischen Frauen noch immer total unterdrückt werden. Es gibt viel mehr gute Köchinnen als Köche«, kramte ihre Tochter das nächste Argument hervor.

»Und woher nimmst du diese Weisheit?«

Shelly sah Bree mit einem auffordernden Blick an. Mist, sie hatte sich eigentlich aus der Diskussion heraushalten wollen.

»Es ist ganz simple Statistik. Es kochen viel mehr Frauen als Männer, ergo ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unter den Frauen herausragende Köchinnen gibt, viel größer als unter Männern. Männer wiederum, die kochen, üben es meistens als Beruf aus, und weil diese ganze Sterneverleihungsgeschichte eine männerdominierte Welt ist, gibt es mehr Fünf-Sterne-Köche als -Köchinnen.« Sie hielt ihm eine Blechdose hin. »Ein Dinkelvollkorn-Spinatwrap mit Guacamole, Kichererbsen, Chinakohl, Tomaten, Erdnüssen und meiner Spezialsoße. Das Zeug, das du dir gekauft hast, kannst du zu Hause essen.«

Er strahlte sie an. »Da sag ich nicht Nein.«

Ein wenig überrascht, dass er ihr Angebot ohne Widerstand annahm, reichte sie es ihm. Sie hatte sich wirklich danebenbenommen, als sie sich einfach seinen Rucksack geschnappt und darin herumgewühlt hatte. Eigentlich war es nicht ihre Art, derart in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen. Überhaupt schien er bei ihr alle schlechten Seiten hervorzubringen. Sie beobachtete, wie er in den Wrap biss. Er schloss die Augen, kaute langsam und genussvoll.

»Mhm, der ist lecker.«

Er biss ein zweites Mal hinein, diesmal blieben die Augen offen und er schenkte ihr einen amüsierten Blick, als er bemerkte, wie sie ihn beim Essen beobachtete. Seine Augen besaßen wirklich die Farbe des Pazifiks in der Morgensonne und sie spürte, wie sie Gefahr lief, darin einzutauchen. Rasch wandte sie sich von ihm ab.

»Shelly, du kannst dir nicht einfach das Buch nehmen und anfangen zu lesen.« Bree hatte erst jetzt bemerkt, dass sie sich das Buch von Ethan geschnappt hatte. Ihre Tochter, die sich bereits in die erste Seite vertieft hatte, hob den Kopf.

»Es gehört sich auch nicht, den Rucksack von anderen Leuten auszuräumen, ohne vorher zu fragen.«

Sie biss sich auf die Lippe. Mist. Sie war wirklich kein gutes Vorbild für ihre Tochter gewesen.

»Du hast recht, es war nicht in Ordnung von mir.«

Überrascht sah Shelly sie an.

Mit einem tiefen Atemzug drängte sie ihren Stolz zurück und wandte sich an Ethan. »Es tut mir leid, dass ich, ohne dich zu fragen, einfach in deinen Sachen herumgewühlt habe. Manchmal bin ich etwas impulsiv, wenn es um gesundes Essen geht.«

»Du willst sagen, dass du nur diese Grenze überschritten hast, weil du in meinem Interesse gehandelt hast, damit ich mich selbst nicht vergifte?«

Sie grinste. »So in etwa.«

»Mhm. Entschuldigung akzeptiert. Immerhin bin ich in den Genuss von diesem Wrap gekommen, der vermutlich mit seinen vielen Vitaminen und Nährstoffen dazu beitragen wird, dass ich morgen mehr Muskelmasse besitze als heute.«

»Ehrlich gesagt Nein, denn dafür müsstest du mehr Proteine zu dir nehmen«, konnte sie sich nicht verkneifen. »Shelly?«

»Es tut mir leid, dass ich einfach dein Buch genommen habe.«

»Kein Problem. Ich bin gespannt, wie viele Seiten du davon liest, und wenn du Fragen hast, dann beantworte ich sie dir gerne. Du musst nämlich wissen, ich bin ein großer Fan von Seneca und er hat mich durch viele, viele einsame Nächte begleitet.«

Shelly runzelte die Stirn. »Du sprichst von Seneca in deinem Podcast.«

»Stimmt, das mache ich, und nicht nur das, ich habe sogar ein paar Aufnahmen gemacht, wo ich Stellen daraus vorlese. Ich glaube nämlich, dass wir alle viel von ihm lernen können.«

»Genug geredet«, ging Bree dazwischen. »Du willst schließlich Wellenreiten lernen. Zeit, dich in deinen Neoprenanzug zu werfen. Hast du dir einen 3/2 geholt?«

»Jawohl, die Dicke des Neoprens am Torso ist drei Millimeter und die an den Armen und Beinen zwei.«

»Hast du schon mal einen Neopren angezogen?«

»Nein.«

»Okay, dann schau mir am besten zu, wie ich es mache.« Bree schlüpfte aus ihrem T-Shirt, zog aus der Tasche den Neoprenanzug heraus. »Zuerst den einen Fuß, über die Fußknöchel, achte darauf, dass das Knie-Pad nicht verdreht ist, und bis zum Oberschenkel. Sieh zu, dass der Anzug nirgendwo Falten wirft, dann das zweite Bein. Hüfte, bis zu den Achselhöhlen hochkrempeln, alles glatt ziehen, dann den einen Arm rein, bis das Handgelenk komplett frei ist, hochziehen ohne Falten, bevor du mit der Schulter reinschlüpfst, danach der nächste Arm. Den Kopf durch das Loch für den Front Zip, den du dir hoffentlich geholt hast.« Sie sah ihn an. »Ethan? Hast du mir zugesehen?«

Er räusperte sich. »Ähm, ja.«

»Dann los, du bist dran.«

Er zog das T-Shirt aus und Bree fiel die Kinnlade herunter. Sie hatte damit gerechnet, einen wabbeligen Oberkörper zu Gesicht zu bekommen, immerhin saß der Mann hauptsächlich vor einem Computer und stopfte sich mit Fast Food voll.

»Du kannst den Mund wieder zuklappen.« Ethan schnalzte mit der Zunge. »Kann es sein, Bree Morgenstern, dass du voller Vorurteile steckst?«

»Normalerweise sind Nerds nicht so, so …«

»Durchtrainiert?«, kam er ihr zu Hilfe. »Ich treibe gerne Sport, und für Akrobatik-Yoga brauchst du eine Menge Oberkörpermuskulatur. Shit, dieses Teil ist aber wirklich eng, da kommt man sich ja vor wie eine Presswurst.«

»Da sind noch Falten an deinem Oberschenkel.«

»Verdammt, man kann das ja gar nicht hochziehen, weil man es nicht fassen kann.«

»Es geht. Du hast es ja gesehen.«

Er schaute sie vorwurfsvoll an, während er sich weiterhin abmühte, seinen Körper in den Neopren zu quetschen. Aus der Strandmuschel kam ein erstickter Laut. Bree sah zu Shelly hinüber und sie brachen beide in Lachen aus. Es sah aber auch zu witzig aus, wie Ethan versuchte, sich mit schlängelnden Bewegungen in den Anzug zu pressen.

»Ja, ja, lacht ihr zwei nur«, brummte er. Schließlich war er drin, machte den Reißverschluss zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Okay, erst mal ins Wasser zum Abkühlen.«

Ein anzügliches Grinsen. »Wenn du meinst. Von mir aus brauchen wir das nicht.«

»Ich will sehen, wie du schwimmst. Stopp!«, hielt sie ihn auf, als er sich ins Wasser stürzen wollte.

»Was?«

»Machst du es immer so, dass du einfach ins Wasser gehst an einem Strand, wo du noch nie warst?«

»Wer sagt, dass ich hier noch nie war?«

»Was nicht heißt, dass die Strömungsverhältnisse dieselben sein müssen wie damals.«

»Wir haben auflandigen Wind, was bedeutet, dass die Wellen flach sind. Wir haben Flut, sodass auch die Strömung Richtung Strand läuft, beste Bedingungen also für einen Anfänger wie mich. Weit und breit sind keine Haie in Sicht. Darf ich jetzt ins Wasser, Frau Lehrerin?«

Natürlich konnte er schwimmen. In kräftigen Zügen kraulte er hinter ihr her. Sie schwammen ein Stück parallel zum Strand, dann wieder zurück. Auch hier kämpfte er nicht gegen die Strömung an, sondern nutzte wie sie den Vorwärtsschub der Wellen aus. Sie holte die Boards vom Strand.

»Du hältst das Brett immer neben deinem Körper. Am besten nimmst du es an der Nose. Wenn heftigere Wellen kommen, die dich nicht übersteigen, kannst du es einfach anheben, dann läuft das Wasser unter deinem Board durch. Du drehst das Board so, dass du immer zwischen Welle und Board bist, nie andersherum. Warum?«

»Weil die Welle sonst das Board auf mich werfen kann und das könnte schmerzhaft enden.«

»Exakt. Wenn du von deinem Board fällst, schützt du zuallererst deinen Kopf und das Gesicht.« Sie zeigte ihm, wie sie die eine Hand in den Nacken legte, den Ellenbogen abgespreizt vor das Gesicht hielt, die andere legte sie schützend über ihren Kopf. Beide Ellenbogen trafen sich vor dem Kopf. Sie ließ ihn die Haltung zehn Mal hintereinander üben, bis er es in ihren Augen schnell genug machte. »Diese Haltung löst du erst auf, wenn du weißt, wo sich dein Board befindet, und du sicher sein kannst, dass die nächste Welle es dir nicht über den Kopf schlägt. Wenn du mit anderen Surfern im Wasser bist, achtest du auch darauf, wo die anderen Boards sind. Grundsätzlich gilt, dass jeder Surfer eine Brettbreite und eine Leash-Länge Abstand halten sollte. Dennoch, sicher ist sicher. Alles so weit verstanden?«

»Ja.«

»Bei der ersten Übung gehst du raus, bis du maximal hüfthohes Wasser erreichst. Siehst du die Stelle, wo die meisten Wellen brechen?«

»Ja.«

»An exakt der Stelle drehst du dein Brett Richtung Strand, wartest das nächste Wellenset ab, hechtest auf dein Board und siehst zu, dass du draufbleibst. Kapiert?«

»Ist ja nicht so schwer.«

»Soll ich es dir einmal zeigen?«

»Ja, bitte.«

Sie demonstrierte ihm die Übung. Die Schwierigkeit bestand darin, den exakten Zeitpunkt herauszufinden, an dem man sich auf das Brett legte, und natürlich eine Welle auszuwählen, die genügend Kraft besaß, um einen bis an den Strand mitzunehmen. Der selbstsichere, leicht überhebliche Gesichtsausdruck verschwand, als Ethan die ersten Male vom Brett rutschte oder nur kurz ins Gleiten kam. Bei der vierzehnten Welle machte er alles richtig und seine Freude darüber war ansteckend. Wie ein kleiner Junge. Sie ließ ihn die nächste Stunde weiterüben, bis er jede zweite Welle korrekt einschätzte und den richtigen Zeitpunkt traf. Die nächste Übung bestand darin, dass er die Arme ausbreitete, sobald er sich im Gleichgewicht fühlte. Das klappte wiederum auf Anhieb. Shelly gesellte sich zu ihr und kühlte sich im knietiefen Wasser ab. Das Erste, was sie ihrer Tochter beigebracht hatte, war das Schwimmen. Aber im Gegensatz zu ihr hatte sie nie die Affinität zum Wasser entwickelt, obwohl Shelly eine ausgezeichnete Schwimmerin war. Das Wellenreiten hatte sie nie lernen wollen. Sie war ein vorsichtiges Kind, das Gefahren einschätzte. Nie hatte Bree hinter ihr herrennen müssen, weil sie sich etwa unbedacht in den Ozean gestürzt hatte.

»Er ist ganz schön geschickt«, bemerkte Shelly.

»Das darfst du ihm aber nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil zu viel Selbstvertrauen dazu führen kann, dass du dich in Gefahr begibst, und ich habe keine Lust, ihn aus dem Wasser fischen zu müssen.«

»Ich mag Ethan. Er ist nett.«

»Ich bringe ihm nur das Wellenreiten bei.«

»Ich weiß.«

Ethan kam mit seinem Brett aus dem Wasser. »Ich muss was essen und trinken.«

»Okay, Pause.«

Das Rauspulen aus dem feuchten Neopren war leichter als das Anziehen. Inzwischen war der Strand mit weiteren Besuchern gefüllt. Darunter viele Familien und auch einige Surfer. Alles Anfänger, für die diese Stelle mit den heutigen Bedingungen einfach ideale Voraussetzungen bot. Bree bemerkte, dass eine Gruppe junger Mädels beobachtete, wie Ethan sich abtrocknete. Verdenken konnte sie es ihnen nicht. Er ließ sich neben Shelly auf die Decke fallen und legte ihr seine Hand auf den Arm, was diese zu einem lauten Quieken veranlasste. Kein Wunder, nach der vielen Zeit im Wasser musste er eiskalt sein. Sie aßen und Shelly löcherte Ethan mit Fragen zu dem Buch, die er geduldig beantwortete, um ihr dann im Gegenzug auch welche zu stellen. Er machte Scherze und Shelly giggelte und lachte, wie es ein elfjähriges Mädchen machen sollte. Bree bekam das Gefühl, das dritte Rad am Wagen zu sein.

»Auf, genug pausiert. Trockenübungen für den Take-off«, sagte sie, und er erhob sich. »Zieh dir das T-Shirt über.« Überrascht sah er sie an. »Damit du keinen Sonnenbrand bekommst«, log sie.

»Okay«, kommentierte er gedehnt und zog es sich an.

Sie zeigte ihm drei verschiedene Varianten des Take-off und ließ sie ihn ausprobieren. Eines der Mädels ließ Ethan während der ganzen Übung nicht einen Moment aus den Augen. Ihr braun gebrannter Körper steckte in einem weißen Nichts von gehäkeltem Spitzenbikini. Sie zählte zu der typischen modernen verhungerten Variante der Amerikanerinnen. Manchmal glaubte Bree, dass dieses Land nur zwei Extreme kannte, dick oder dünn. Sie wusste, das war nicht fair. Natürlich gab es auch die Durchschnittlichen, so wie sie es auch war, aber die gingen in der Masse der anderen unter. Als Ethan eine Pause einlegte, kam die Frau herübergeschlendert. Bewundernswert, wie sie auf dem Sand ohne Stöckelschuhe ihre Hüften schwingen lassen konnte.

»Hi, surfst du das erste Mal?« Sie sprach Ethan an, ohne auch nur ein Blick an Bree zu verschwenden.

»Sieht wohl so aus«, grinste er und nahm seiner Antwort damit die Spitze. »Ethan.«

»Whitney. Das sieht schon ziemlich gut aus, da bekommt man direkt Lust, mitzumachen.«

»Der Sand wackelt auch nicht und Bree ist eine verdammt gute Lehrerin.«

»Hi«, kam es Bree lahm über die Lippen, als Whitney ihr einen kurzen abschätzenden Blick zuwarf. Bree hatte das T-Shirt über ihrem Badeanzug angezogen und ihre Kappe aufgesetzt. Ihre durchtrainierten Waden besaßen locker die Stärke von Whitneys Oberschenkel.

»Komm doch später rüber zu uns, wenn du fertig bist, wir machen heute Abend mit den anderen ein Lagerfeuer«, wandte sich Whitney wieder Ethan zu.

»Danke für die Einladung, aber«, er sah Bree an, dann Shelly, »Wir wollen am Abend noch zurückfahren.«

»Überleg es dir, du verpasst was, und eine Mitfahrgelegenheit nach San Francisco wird sich finden.«

»Wie kommst du darauf, dass ich aus San Francisco komme?«

»War nur so eine Idee.« Ihre Stimme rutschte eine Spur tiefer. »Du kannst aber auch bei mir übernachten.«

»Danke für das Angebot, Whitney.« Er drehte sich zu Bree um. »Wollen wir?«

Perplex sah Bree ihn an. Wollte er jetzt ehrlich von ihr wissen, ob sie, die Whitney gar nicht eingeladen hatte, mit dabei sein wollte? Gerade als sie den Mund für die Ablehnung öffnete, bemerkte sie seinen intensiven Blick, das kaum merkliche Wandern der Iris hin zum Meer. Ach, das meinte er.

»Klar, auf in den Neopren, jetzt geht es zur Sache. Weißt du noch, wie du den Kopf schützen musst?«

Blitzschnell fuhren seine Hände in den Nacken und auf den Kopf. Obwohl sie beide nicht mehr weiter auf Whitney achteten, blieb diese stehen, beobachtete aus der Nähe, wie sich Ethan in den Neopren quetschte, was nach der Arbeit im Wasser leichter funktionierte als am Morgen.

»Viel Spaß.« Whitney drehte sich schließlich um und trollte sich zu ihrer Gruppe, wo die anderen auf sie einsprachen. Bree entschied sich, das Getuschel und die Blicke zu ignorieren.

»Du nimmst weiterhin das Board ins Wasser wie zuvor, das Paddeln und Drehen üben wir später oder ein anderes Mal. Wenn du stabil auf dem Board liegst, dann versuchst du den Take-off. Wähle Wellen aus, die dich lange mitnehmen, sodass du genug Zeit für den Take-off hast. Später, wenn du in die Welle gehst, bevor sie bricht, bleiben dir dafür nur Sekunden.«

»Sorry wegen dem eben.«

»Kein Problem. Du kannst auch gerne hierbleiben.«

»Oh nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe kein Interesse daran, dass später auf Youtube Videos von mir auftauchen.«

»Du denkst, sie hat dich angequatscht, weil du diesen Podcast machst?«

»Hundertprozentig.«

»Wieso denkst du das?«

»Woher sonst sollte sie wissen, dass ich aus San Francisco komme?«

»Auf beiden Seiten meines Bullis findest du den Aufkleber mit dem Logo unseres Cafés samt Adresse und Telefonnummer.«

»Und wieso glaubst du, dass sie uns mit deinem Bulli in Verbindung bringt?«

»Weil wir die allerersten am Stand waren und sie mit den anderen Surfern«, sie deutete auf die Gruppe von jungen Leuten, von denen einige ein Stück weiter unten ebenfalls den Take-off übten, »nach uns angekommen ist.«

»Wäre ein Argument.«

»Sie hat dich im Auge gehabt, seit du aus dem Wasser raus bist, und auf die Distanz kann man nicht wirklich eine Person erkennen, geschweige denn ihre Stimme.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Hat sie das?«

»Willst du nun surfen oder nicht?«

»Zeig mir zuerst die drei Varianten des Take-offs im Wasser.«

6

Lagerfeuer

Bei ihr sah das absolut mühelos aus. Bree besaß eine unglaubliche Kraft in ihrem Oberkörper. Er fragte sich, ob das durch ihren Beruf bedingt war oder ob es durch den Sport kam. Keith hatte ihm erzählt, dass das Bäckerhandwerk durchaus die Muskeln trainierte. Trotz der Maschinen, mit denen der Teig geknetet wurde, bearbeitete Bree jeden Teig bei der Endverarbeitung noch einmal mit den Händen. Je mehr Zeit sie im Wasser verbrachten, desto mehr taute sie auf. Sie mochte es nicht, dass er sich mit Shelly verstand, das merkte er ihr deutlich an, wenn ihre linke Augenbraue missmutig nach unten wanderte. Sie kam ihm vor wie ein Igel, der sich zu einer stacheligen Kugel zusammenrollte, sobald man ihm zu nahe kam. Er hatte es als ziemlich unverschämt angesehen, wie ihn Whitney in der Anwesenheit von Bree angesprochen hatte. Eigentlich reagierte er sonst lockerer auf so eine Situation. Immerhin, ein gekränkter Fan konnte sich leicht zu einem Troll entwickeln. Aber diesmal hatte es ihn gestört, vor allem weil in Brees Augen dieser wissende Blick gelegen hatte. Sie hatte ja keine Ahnung, wie einsam sein Leben geworden war, seitdem er eine Social-Media-Berühmtheit war. Klar bestand die Möglichkeit, dass Whitney aufgrund des Café-Logos am Bulli gewusst hatte, woher sie kamen. Doch welche Frau schaute schon auf das Werbelogo eines alten, verbeulten Busses? Nein, er war sicher, dass ihn seine Instinkte nicht täuschten. Whitney wusste, wer er war. Mehrmals war sie mit ihrem Handy am Wasser aufgetaucht.

Er hoffte nur, dass sie die Bilder und Videos für ihren eigenen Gebrauch machte und nicht öffentlich ins Internet stellte. Ihm persönlich machte das nichts aus. Außerdem hatte er Brian, der die rechtlichen Themen für ihn im Auge behielt. Die Frage war nur, wie Bree darauf reagieren würde, wenn sie mit ihm darauf zu sehen wäre. Zum Glück schien Whitney jedoch nicht die Spur an Bree interessiert zu sein. Was sie diese ja auch ziemlich deutlich hatte spüren lassen. Nachdem er den Take-off zum zehnten Mal geschafft hatte, begannen seine Oberarmmuskeln von der ungewohnten Anstrengung zu zittern.

Er zog das Board an den Strand. »Pause!«

»Geh schon mal vor.« Sie klemmte sich ihr Shortboard unter den Arm und sprintete ins Wasser. Er sah zu, wie sie sich auf das Board warf und mit kräftigen Paddelzügen auf das Meer hinausglitt. Sie drehte das Board parallel zum Strand. Fünf Minuten verharrte sie, dann legte sie sich flach auf den Bauch, wendete das Board mit der Nose zum Strand und paddelte los. Ihr Take-off war elegant und ausbalanciert, geschickt nutzte sie die Welle bis zum Schluss aus. Kaum im knöcheltiefen Wasser angekommen, paddelte sie wieder raus.

Einer der anderen Surfer gesellte sich zu ihm. »Ziemlich cool, die hat es echt drauf«, meinte er. »Startet sie bei den Vans US Open?«

»Nicht dass ich wüsste, aber wieso denkst du das?«

»Hast du nicht gesehen, wie exakt sie den höchsten Punkt der Welle jedes Mal erwischt? Oder die Bottom-Turns, um die Welle wieder hochzukommen, als würde sie am Board kleben. Sie beherrscht die Technik echt sauber. Kyle, by the way«, stellte er sich vor.

»Ethan.«

Kyle grinste breit. »Ich weiß. Whitney quatscht den anderen schon die Ohren voll von deinen Büchern und Podcasts. Lass dich also nicht von ihr täuschen, wenn sie so tut, als würde sie dich nicht kennen.«

»Ich freue mich, wenn ich im realen Leben auf einen Fan treffe.«

»Hast es bestimmt leicht bei den Mädels.«

»Oh nein, glaub mir, es ist viel schwerer als früher.«

»Echt jetzt?«

»Ich schwör's.«

»Über welche Surfschule hast du deine Lehrerin gebucht? Ich kenne eigentlich sonst jeden hier in der Gegend, der Unterricht gibt.«

»Sie arbeitet nicht als Surflehrerin.«

»Oh, sie ist deine Freundin? Da wird Whitney aber schwer enttäuscht sein.«

»Nein, ist sie nicht.«

»Also eines deiner Experimente, die du per Video aufnimmst.« Kyle drehte sich suchend um.

»Auch nicht. Ich wollte einfach nur das Wellenreiten lernen.«

Bree kam aus dem Wasser zu ihnen, stellte das Shortboard ab und wrang sich die Haare aus.

»Hi, ich bin Kyle. Wo hast du das Wellenreiten gelernt?«

»Bree. Den Ort kennst du nicht.«

»Versuch's, ich war schon überall.«

Ihre Augen leuchteten, ihre Gesichtsmuskeln waren völlig entspannt und auf ihren Lippen lag sogar ein zufriedenes Lächeln. Völlig ausgewechselt im Vergleich zur Fahrt.

»Auf Sylt.«

»Sylt?«

»Hab's doch gesagt. Sylt ist eine Insel in Deutschland.«

»Ich weiß«, grinste Kyle. »Du wirst lachen, ich war da schon mal beim Windsurf-World-Cup mit einem Freund. Nettes Inselchen, für meinen Geschmack allerdings etwas zu klein. Deine Bottom-Turns waren verdammt gut.«

»Und das aus deinem Mund. Danke!«

»Startest du bei den Vans US Open?«

»Nein.«

»Warum nicht? Du hast eine saubere Technik, du könntest dich wirklich platzieren.«

»Früher bin ich auf Wettkämpfen gestartet. Wenn man Mutter wird, verändern sich allerdings die Prioritäten. Heute surfe ich nur noch, weil es mir Spaß macht.«

»Heute Abend startet am Strand eine kleine Party zum Ende des Wochenkurses. Habt ihr Lust, euch zu uns zu gesellen?«

»Danke, aber …«

»Keine Sorge, wir betrinken uns nicht und nehmen auch keine Drogen, deine Tochter ist in unserer Gesellschaft vollkommen sicher. Gib dir einen Ruck, wir können noch ein bisschen über das Wellenreiten quatschen. Außerdem möchte ich mehr über Sylt erfahren.«

»Kyle!«, rief einer der Jungs.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739498515
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
San Francisco vegane Ernährung Weingut David gegen Goliath Liebesroman Bäckerin Nachhaltigkeit Sommerroman Humor

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
Zurück

Titel: Morning Breeze Café