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Licht und Dunkelheit: Theona

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
452 Seiten
Reihe: Licht und Dunkelheit, Band 2

Zusammenfassung

Licht und Dunkelheit Band 2 Theona Verstoßen von ihrer Familie. Ohne Namen, ohne Ehre und gebrandmarkt mit dem Mal des Todes der Rache, versteckt sich Theona in dem unwegsamen Gebirge des Katakamas. Bis zu dem Tag, wo sie gezwungen ist das Leben eines Todfeindes zu retten, um eine Krieg zu verhindern. Statt Dankbarkeit wird sie zu einem Todesduell aufgefordert und am Ende ist es ein Blutschwur, der ihr Schicksal besiegelt. Wasser, Feuer, Luft und Erde, die Magie der Elemente wurden den Menschen von der Göttin Lishar aus Rache geschenkt. Den dort wo Licht ist, ist auch Dunkelheit und da wo ungezähmte Kraft steckt, liegt auch das Verderben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für meinen Sohn und meine Tochter

Findet den Mut, euren eigenen Weg im Leben zu gehen.

Mama


Blutzeremonie

Blut, aus freien Stücken gegeben,

verbunden für den Rest ihres Lebens.

Der eine steht für den anderen ein,

niemand wird verloren sein.

Geschlossen ein Bund, mit Blut besiegelt,

bezwingt, was trennt, und führt zum Siege.

Eine Seele – zweigeteilt – vereint in alle Ewigkeit,

bringt auf die Welt:

Licht und Dunkelheit.

1

Brandmal

»Theona von Akliet – Ihr werdet des Mordes an Elkas von Nordin für schuldig befunden.«

Auriels Hand glitt zur Seite, wo sonst das Schwert hing, und griff ins Leere. Als Theonas Blick ihn erfasste, erstarrte er, verharrte bewegungslos, als hätte er jede Gewalt über seinen Körper verloren. Neben ihm straffte sich sein Vater, dessen Gesicht keinerlei Regung zeigte.

Die Soldaten packten seine Schwester. Ohne Gegenwehr ließ sie es geschehen. Einer der Männer ergriff das Hemd der Verurteilten, zerrte es an der rechten Schulter herunter. Die Soldaten drückten sie mit dem Oberkörper auf den Steinblock, der mitten im Raum stand. Auriel schickte einen Befehl an seinen Körper, wollte ihr zu Hilfe eilen, als sein Vater ihn am Arm packte.

»Es reicht, wenn ich heute meine Tochter verliere. Bring nicht auch noch du Schande über unsere Familie.«

Die Stimme des Vaters war nur ein Hauch, sein Blick blieb von ihm abgewandt, starr auf sein jüngstes Kind gerichtet, dessen Blick weiter auf Auriel ruhte.

Das Eisen lag im Feuer, seit sie den Raum betreten hatten. Das Urteil war klar, bevor die Anklage erfolgte. Nur mit einer Hose bekleidet zog der Vollstrecker die Stange aus der Glut. Theona presste den Oberkörper fester auf den Steinblock und biss die Zähne zusammen.

Kravos von Nordin hatte den Mann bezahlt. Langsam näherte sich das glühende Ende ihrer Schulter. Tränen schossen ihr in die Augen von dem brennenden Schmerz, als das Eisen sich in ihre Haut senkte, und ihr ganzer Wille, dem Feind nicht die Genugtuung zu geben, zerbrach in der Qual. Ihr gellender Schrei, von den Steinwänden zurückgeworfen, hallte durch den Saal.

Süßlicher Geruch von verbranntem Fleisch schwängerte die Luft und zauberte ein Lächeln auf das Gesicht von Kravos von Nordin. Seine Rache an Theona von Akliet hatte eben erst begonnen.

Der Wind heulte um das Steingebäude, das sich weit vor der Stadtmauer von Eibalin einsam in die Hügel an der Grenze der Devon duckte. Regen prasselte auf das Dach und Blitze zuckten vom Himmel, um für einen kurzen Moment das Land um das Haus in einem bizarren Licht zu erleuchten. Burkas kam es vor, als schleudere Lethos selbst seinen Zorn auf die Stadt herab. Die Unwetter der letzten Tage hatten die Kämpfe zwischen Eldemarern und Tarieken zum Stillstand gebracht. Er hoffte, die Zeit würde reichen, dass er die Saat in die Erde bringen konnte. Solange der Krieg anhielt, war die Arbeit unnütz. Aber wenn die Gerüchte von den Friedensverhandlungen stimmten, dann würde das, was er in den letzten Wochen gesät hatte, sie im Frühjahr vor dem sicheren Hungertod bewahren.

Das Geräusch, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, drang erneut aus dem Sturm zu ihm ins Haus. Er war froh, dass Riah und die Kinder vor Monaten zu seiner Schwester geflohen waren. Er verharrte und lauschte angestrengt. Ein schriller, trompetender Laut, anscheinend von einem verzweifelten Tier ausgestoßen, übertönte den heulenden Wind. Burkas griff sich seinen Mantel, dann donnerte etwas mit voller Wucht gegen die hölzerne Eingangstür und ließ sie heftig vibrieren. Hastig sah sich Burkas in der Wohnstube um und packte den nächstbesten Gegenstand, den er als Waffe gebrauchen konnte. Die Glut in der Feuerstelle schickte flackernde Lichter über die Wände. Den Schürhaken mit der rechten Hand umklammernd, hob er den Riegel an, riss die Tür auf und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um der auskeilenden Hinterhand eines Pferdes auszuweichen. Kaum bemerkte das Tier den fehlenden Widerstand, wendete es sich zu ihm um.

Burkas starrte in das schmale, edle Pferdegesicht mit den glühenden Augen, die ihn zu durchdringen schienen. Ein weißer Stern leuchtete auf der Stirn des Tieres. Er vergaß den Regen, der ihm gnadenlos auf den Mantel über dem Nachtgewand prasselte. Dampf waberte von dem Pferd in die Luft, und es stieß ein dumpfes Prusten aus. Mit dem Kopf nickend ging es einen Schritt rückwärts. Es musste ein Traum sein. Als Burkas sich nicht bewegte, kam das Tier zurück, machte vorsichtig den Hals lang, nahm ein Stück Umhang zwischen die Zähne und zog sachte daran.

Das fein gearbeitete Kopfgeschirr, der Sattel, an dem hinten ein Bündel befestigt war, rechts ein Lederbehältnis, aus dem ein Bogen und Pfeile herausragten, und links eine Hülle mit einem Schwert – dieses Pferd gehörte einem hochrangigen Krieger. Obwohl er das Gefühl hatte, sein Gehirn könne all die Informationen nicht verarbeiten, kamen diese Wahrnehmungen an, und Burkas versuchte das, was er sah, mit Sinn zu füllen. Erst, als ein zorniger Blitz vom Himmel zuckte und dicht neben der Behausung in den Boden einschlug, bemerkte er, dass das Tier ihn mit hinausgezerrt hatte. Für einen kurzen Moment erschien es Burkas, als hätte er in dem Licht einen dunklen, länglichen Haufen auf der Erde gesehen.

Donner grollte über die Ebene. Niemand würde sich heute Nacht draußen aufhalten – außer er war lebensmüde. Weder bei dem Blitz noch bei dem Donner hatte das Pferd auch nur gezuckt. Stattdessen schubste es Burkas mit der Nase auffordernd in die Richtung, wo der Blitz eingeschlagen war.

Burkas stolperte über die eigenen Füße.

»Lass das«, schimpfte er, als er einen weiteren Schubser bekam. Selbst wenn er in die Hütte hätte zurückkehren wollen – es ging nicht. Das Tier ließ ihm mit seiner Entschlossenheit keinen Entscheidungsspielraum und hatte sich zwischen ihm und der Tür platziert. Entweder kämpfte er gegen es an oder er wanderte in die Dunkelheit hinaus. Er zog den Mantel enger an den Körper. Leise schimpfend setzte er einen Fuß vor den anderen, während er versuchte, sich durch die Körperhaltung ein wenig vor den tobenden Elementen zu schützen. Von hinten trieb das Pferd ihn gnadenlos vorwärts. Als er auf etwas Weiches trat, schrie er auf und starrte auf ein Bündel. Er ging in die Hocke, berührte es vorsichtig und erkannte, dass es ein Mensch war.

Das Pferd kniete sich nieder, legte sich zur Seite, sodass sein Rücken an dem Körper des Bündels zu liegen kam. Burkas verstand, was es von ihm wollte, bewegte zögernd die Hand zum Hals der Person, als hätte er Angst, dass er zu spät kam. Ein schwaches Pulsieren beruhigte ihn. Burkas ging auf die andere Seite des Tieres, griff über es hinweg und zerrte an den Armen des Bewusstlosen, bis sein Kopf das Ende des Pferdebauches berührte.

Mit derselben Achtsamkeit, wie es sich auf die nasse Erde gelegt hatte, erhob sich das Pferd und ließ Burkas Zeit, dafür zu sorgen, dass das Bündel über dem Sattel liegen blieb. Mit weichen, federnden Schritten schlug es den Weg zurück ein. Vor der Tür blieb das Pferd stehen. Burkas zog den Bewusstlosen herunter, innerlich auf erhebliches Gewicht gefasst, und wurde überrascht von der leichten Gestalt in seinen Armen. Er wandte sich zur Tür, die er offen gelassen hatte, und fluchte, als er die Pfütze in der Wohnstube sah. Er trug die Last über die Schwelle, trat die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Der Riegel fiel herunter, als er ihm mit dem Ellenbogen einen Schubs gab.

Ein Instinkt sagte ihm, dass das, was er machte, gefährlich für ihn werden konnte. Behutsam legte er den Mann vor der Feuerstelle ab, in der die Flammen munter tanzten. Er zog erst den durchweichten Mantel aus und hängte ihn an den Haken dicht am Feuer. Auch die Stiefel ließ er dort.

Seufzend betrachtete er das Bündel auf dem Boden, das hier in der Stube viel kleiner wirkte als draußen in der Nacht. Sein Blick glitt über die nasse, dunkle Kleidung. Ein Tuch war in der Art der Wüstenvölker um den Kopf des Reiters geschlungen. Er trug eine dunkelbraune, lederne Hose, ein schwarzes, dickes Wams und darüber einen festen Umhang. Ein feucht glänzender Stiefel ragte darunter hervor.

Die Erkenntnis, wer da auf dem Boden in seiner Hütte lag, ließ Burkas scharf die Luft einziehen. Hastig überwand er die kurze Distanz, fiel auf die Knie, drehte den Mann auf den Rücken. Er schaute in ein zierliches, scharf geschnittenes Gesicht mit vorwitzigem Kinn und einer Stupsnase, schmalen hellbraunen Augenbrauen, die sich in einem feinen Bogen über den Lidern wölbten. Er hatte sich die Gesichtszüge des Mannes grobschlächtiger vorgestellt, markanter, mit Narben oder sonst irgendetwas, aber nicht so wie das Gesicht einer Frau mit seidenweicher Haut. Burkas verzog den Mund. Der Krieger des Lichts hier in seiner Hütte – und natürlich verstand er jetzt, weshalb ihn der Anblick des Pferdes zuvor so gelähmt hatte. Tiela, die Tänzerin – jeder aus Eibalin, nein, aus ganz Tarieken, kannte die Legenden, die sich um diese Stute rankten. Und hatte er selbst nicht am eigenen Leib ihre Loyalität zu ihrem Herrn erlebt? Die Intelligenz in den wachen Augen erkannt? Welches Tier hätte in dem Sturm Hilfe für seinen Reiter gesucht? Keines!

Der Krieger bewegte die Lippen und seine Lider fingen an zu flattern.

»Tiela«, wisperte er brüchig. Schlagartig öffnete er nun die Augen und starrte Burkas an – ein brennender Blick aus Augen in der Farbe von Waldhonig. Blitzschnell ergriff er den Kragen von dessen Nachtgewand, zerrte Burkas mit einem Ruck herunter.

Burkas‘ Herz setzte aus, begann dann zu rasen. Ein Dolch ritzte zart seinen Hals. Ohne Aufforderung verstand er, was der Mann wissen wollte.

»Sie ist draußen, Krieger des Lichts.«

Er wagte nicht, sich zu rühren, wagte es nicht einmal zu atmen, während der Blick des Mannes seine Seele durchbohrte. Ein eigenartiges Gefühl strömte von dort, wo die Hand ihn gepackt hielt, in seinen Körper und lähmte jeden Muskel.

»Wenn Ihr mich loslasst, bringe ich sie in den Stall, trockne sie ab und gebe ihr Futter.«

Der Griff lockerte sich, der Dolch sank nach unten.

»Geht!«


Trotz des Unwetters stand das Pferd noch an derselben Stelle, an der Burkas den Reiter von ihm herabgezogen hatte. Voller Respekt trat er an den Kopf der Stute heran.

»Er lebt. Folge mir, damit du dich ausruhen kannst.«

Aufmerksam spielten die Ohren des Tieres, lauschten seinen Worten.

Das Pferd folgte ihm, als er den Weg zum Stall einschlug. Und so plötzlich, wie der Sturm in der Nacht ausgebrochen war, so unvermittelt legte er sich. Der Wind jagte die Wolken vom Himmel und der volle Mond erleuchtete ihren Weg.

2

Eibalin

Die Sonne durchbrach den Horizont und schickte ihr rotgoldenes Licht über die Ebene von Aludin. Die Stadt Eibalin lag mitten im letzten vorwinterlichen Grün der umliegenden Wiesen.

Einige Häuser lehnten sich vorwitzig dicht an die erste Festungsmauer, die die Einwohner vor Angriffen schützte. Ein Ring hinter dem anderen folgte bis zum innersten Kern. Oben auf dem Hügel leuchtete sandfarben das Haus des Statthalters.

Die Stoppeln der abgeernteten Felder erzeugten ein Schattenspiel in der Dämmerung des anbrechenden Tages. Träge floss der Tevor, der die Ebene in zwei Hälften zerschnitt, dahin. Dort, wo die Sonne emporkroch, hinter Eibalin, tauchten die Hügel und Wälder der Devon auf, die sich bis zum Meer hinzogen, eine weich und rund geformte, fruchtbare Landschaft mit mildem Klima. Diesem Lauf folgte auch der Fluss Tevor, der in dem unwirtlichen und zerklüfteten Katakmas entsprang, einem imposanten Gebirgszug, den ein schmaler Pfad durch eine Schlucht zerschnitt. Diese Schlucht war neben dem Seeweg die einzige Verbindung zwischen Tarieken und Eldemar. Der Blick von der Residenz aus bis hin zu den Rändern des Katakmas war überwältigend. Die Landschaft der Devon wandelte sich in Richtung Eldemar zu einer Wüste, bewohnt nur von den Wüstenstämmen, die jede Wasserquelle kannten und wussten, wo die tückischen Treibsandflächen auf Opfer warteten.


Die weißen Atemwolken vor Theonas Mund wichen der Wärme der Sonne. Für einen Moment ließ sie die Strahlen an ihr Gesicht, bevor sie das Tuch hochzog, das es bis auf die bernsteinfarbenen Augen verbarg. Nur Männer durften Geschäfte mit den Händlern auf dem Markt von Eibalin, einer der bedeutendsten Handelsstädte des Landes, machen. Die Bauern der Devon boten ihre Ernte an, der Tevor brachte die fremdländischen Waren der Seefahrer in das Landesinnere, die Wüstenvölker ihre Stoffe und ihre kostbaren Pferde.

Theona lenkte die Stute die steile Böschung an den Ausläufern des Katakmas hinunter, nachdem sie ein letztes Mal kontrolliert hatte, dass der Stern auf der Stirn des Pferdes vom Staub verdeckt wurde. Ihr Packpferd, ein kräftiger Wallach, voll beladen mit Fellen, verlagerte sein Gewicht auf die Hinterbeine und ließ sich hinunterrutschen.

Kopfschüttelnd beobachtete sie die kräfteschonende Fortbewegung des Tieres. In seiner geruhsamen und intelligenten Art hatte er ihr oft genug in unwegsamem Gelände das Leben gerettet. Keiner kannte das Gebirge so genau wie Atantuch, der Besonnene, wie sie den Wallach getauft hatte. Tiela, die Tänzerin – den Namen hatte ihr Vater dem Tier gegeben – ahmte ihren Kameraden nach, der sie inzwischen mit seiner unkonventionellen Fortbewegungsart überholt hatte, denn das passte der Stute überhaupt nicht. Sie nahm das letzte Stück in einem eleganten Satz, der Theona fast aus dem Sattel katapultiert hätte, und beendete den Wettstreit mit dem Wallach als Siegerin.

»Tiela, mein Mädchen, sei vorsichtig und nimm dir ein Beispiel an Atantuch«, schalt Theona sie sanft.

Sie lenkte beide Tiere zur Handelsstraße hin, die durch die Schlucht, die den Katakmas zerteilte, in das Gebiet der Eldemarer führte – Richtung Stadt.

Der Waffenstillstand zwischen den Völkern währte jetzt knapp drei Winter. In den Festungsmauern von Eibalin zeugten tiefe Kerben von den letzten Schlachten, und wenn Theona die Hand auf die Erde legte, durchströmte sie noch immer der Geruch vom Blut, das dort vergossen worden war. Den Friedensvertrag verdankten die Tarieken ihrem Bruder, Auriel von Akliet. Er hatte gegen den Willen des Heerführers Kravos von Nordin die Verhandlungen mit Prinz Thelos von Eldemar geführt. Der wiederum hatte eine für sein Alter erstaunliche Weitsicht bewiesen und die Kraft, über Stolz und Eitelkeit hinwegzusehen – im Gegensatz zu dem vor sieben Wintern verstorbenen Prinzen Tarkan. Mit dem Tod des Thronfolgers war Prinz Thelos zum Erben des Königstitels aufgerückt.

Vereinzelte Händler tauchten auf dem Weg zur Stadt auf, dann, an der Kreuzung, wo die Pfade aus der Devon und der Wüste Rikatah auf die Handelsstraße trafen, verdichtete sich die Menschenmenge.

Die Veränderungen in den letzten Wintern des Friedens erstaunten Theona immer wieder. Die Stadt Eibalin glich einem Ameisenhaufen, der einen Festungsring nach dem anderen baute und so Stück für Stück weiter in die Ebene wuchs. Trotz der gefährdeten Lage bei einem Krieg mit den Nachbarn zog der Handel die Menschen in die Stadt. Neben Baaren, der Hauptstadt von Tarieken, zählte Eibalin zu den größten Städten des Landes. Hauptsächlich lebten hier Soldaten, zahlenmäßig gefolgt von den Bevölkerungsschichten der Händler und Handwerker und schließlich der Bauern. An der Enge, dort wo die Hügel des Devon fast die Ausläufer des Katakmas berührten, stand die Festung der Tarieken.

Theona kontrollierte den Sitz des Gesichtstuchs, bevor sie an den Wachen vor dem Stadttor vorbeiritt. Dieses neueste Tor war weniger massiv konstruiert als die anderen und die des innersten Rings. Warum die Soldaten am Tor standen, entzog sich dennoch ihrem Verständnis, denn sie winkten die Reisenden und Händler einfach durch. Niemand kontrollierte die Passierenden auf ihre Bewaffnung. Einer der Wächter erkannte sie von früheren Besuchen und hob grüßend die Hand. Als das Treiben in der Stadt dichter wurde, stieg Theona ab und führte die Pferde. Unruhig spielten Tielas Ohren. Zum Glück lag ihr erstes Ziel in einer schmalen Gasse, in der sich weniger Menschen herumtrieben.

»Seid gegrüßt Sohn der Wüste, der im Katakmas lebt.«

»Auch ich grüße Euch, Heiler.«

»Fandet Ihr das Gentiana lutea für mich?«

»Nach Eurer vortrefflichen Zeichnung war es ein Leichtes, die Pflanze zu finden, Kundiger.«

»Sofern Ihr von der Schwierigkeit abseht, in das Verbreitungsgebiet des Gewächses vorzudringen«, erwiderte der Mann mit einem wissenden Lächeln. Er war klein, gedrungen und kahlköpfig und hatte hellblaue, etwas durchsichtig wirkende Augen, die gerade sehr glücklich strahlten.

Sie brachte alle Beutel mit den kostbaren Heilkräutern herein, und er roch prüfend an ihnen oder zerrieb ein wenig von dem Inhalt zwischen den Fingerspitzen. Schließlich seufzte er abgrundtief.

»Ich fürchte, Kilihael, ich kann Euch all die wertvolle Ware unmöglich abkaufen.«

»Gebt mir das, was Ihr übrig habt, und dann noch etwas von den schmerzlindernden Blättern, dem Öl, das die Muskeln entspannt und der Salbe, die die Haut heilen lässt.«

»Ein wenig würde nicht reichen. Da müsste ich Euch schon meine kompletten Vorräte geben.«

Er schaute finster, aber strahlte dann mit einem Mal wieder. Bevor Theona ihm erklären konnte, dass sie ihm den Rest schenken würde, verschwand er hinter einem Vorhang. Kurz darauf kam er mit einem ledergebundenen Notizbuch zurück.

»Damit begleiche ich wenigstens ein Stück weit die Schuld bei Euch.«

Achtsam nahm Theona es entgegen. Sie schlug es auf, blätterte, starrte den Mann an, der ihr ein Päckchen mit den gewünschten Heilmitteln zusammenstellte.

»Das kann ich unmöglich annehmen!«

»Doch das könnt Ihr, es sind meine Aufzeichnungen und ich schenke sie Euch. Die Zeiten ändern sich, hört man darauf, was die Reisenden wispern. Bald wird es zu gefährlich für Euch werden, nach Eibalin zu kommen und Handel zu betreiben.« Er umschloss ihre Hände, lächelte sie wehmütig an. »Ich werde Euch vermissen.« Er drückte ihr noch das Päckchen in die Hand. »Und nun geht, bevor Euch jemand sieht, der Euch nicht sehen darf.«

Er schob sie energisch aus der Tür, sodass die Frage, was er damit hatte sagen wollen, unausgesprochen blieb. Unwillkürlich sah sie über die Schulter, kontrollierte das Aussehen von Tiela und zog die schwarzen Tücher ein Stück höher.


»Oh nein, keineswegs kaufe ich diese minderwertigen Felle von Euch! Wo ist die Ware, die Ihr mir verspracht?«

»Der Lieferant erscheint hier nur drei Mal im Jahr und ist bisher noch nicht aufgetaucht. Gebt Euch zufrieden mit meiner durchaus akzeptablen Ware oder zieht mit leeren Händen von dannen.«

Hastig sprang Theona zur Seite, als ein eldemarischer Händler kopfschüttelnd aus dem Laden kam, doch er würdigte sie keines Blickes.

»Barbaren, diese Eldemarer, allesamt Barbaren! Glauben, alles müsste ihnen zu Füßen liegen und nur ihnen stünden die besten Felle zu. Pah! Er macht ein Vermögen mit meiner Ware und krittelt dennoch ständig daran herum.«

Theona verbiss sich ein Lachen. »Dann verkauft sie an das tariekische Königshaus oder die Forraner.«

»Ihr! – Wo wart Ihr so lange? Sonst trefft Ihr eine Woche nach der Ernte ein. Euretwegen vergraule ich meine beste Kundschaft.«

»Der letzte Winter war hart, und der Wildbestand im Katakmas brauchte Zeit für die nachfolgende Generation. Dafür bringe ich Euch diesmal besonders feine Felle mit.«

Gemeinsam gingen sie durch den Nebeneingang zum Stall, der an das Geschäft angrenzte. Der Groll verschwand augenblicklich aus dem Gesicht des Händlers, als er den vollgepackten Atantuch sah, und Theona glaubte in seinen Augen das Gold zu sehen, das er mit ihrer Ware einzunehmen gedachte.

Als sie diesen letzten Handel abgeschlossen hatte, hingen die Münzen schwer an Theonas Gurt. Zeit, sie in etwas Nutzbringendes umzuwandeln. Ihr erster Weg führte sie zu dem Buchhändler. Während er Kundschaft bediente, streifte sie die Regalwände entlang. Welchen Schatz wollte sie diesmal mitnehmen? Die Qual der Wahl ließ sie tief seufzen.

»Keines von denen!«

»Bitte?«

Sie drehte sich zu dem Buchhändler um. Der sie schmunzelnd betrachtete.

»Für Euch bewahre ich ein besonderes Buch im Hinterzimmer auf. Jolanda! Übernimm den Laden für mich.«

Eine ältere Dame kam hinter einem Regal hervor.

»Kilihael – der Mann meiner Träume. Wann macht Ihr mir endlich einen Heiratsantrag?«

Theonas Verlegenheit reizte die Sprecherin zum Lachen.

»Keine Sorge, ich weiß, dass ich zu alt für Euch bin. Aber auch Ihr werdet älter und solltet Euch langsam eine Frau zulegen. So erlöst Ihr die armen, schmachtenden Mädchen aus Eibalin, die sich nachts wegen Euch die Augen ausweinen.«

Theonas ganzer Körper verspannte sich, und sie verfluchte das lose Mundwerk der Mutter des Buchhändlers. Trotzdem bewahrte sie würdevoll Haltung.

»Ihr vergesst, welchen Namen ich trage. Welche Frau heiratet einen Mann ohne Abstammung und Ehre?«

»Ihr täuscht Euch! Ihr besitzt Geld, Bildung, einen wachen Verstand, und Ihr könnt lesen! Ihr seid höflich, zuvorkommend und behandelt jeden mit Respekt. Noch nie hörte ich ein unfeines Wort über Eure Lippen kommen. Und glaubt nicht, es bliebe unbemerkt, dass Ihr den Bettlern bei jedem Besuch in der Stadt etwas gebt. Ja, die Mauern besitzen Augen! Ein Mann wie Ihr ist ein Licht in der Dunkelheit. Euch lägen die Herzen der Bewohner zu Füßen, selbst wenn Ihr das Brandmal des Todes tragen würdet.«

Wie unter einem Peitschenhieb zuckte Theona zusammen, und verfluchte ihre Reaktion. Ihr Herz raste. Wie wahr diese Worte waren, ohne dass die Sprecherin es ahnte.

»Jolanda, wie oft muss ich dich ermahnen, dass du unseren Wüstenkrieger mit deinen Verkuppelungsversuchen in Ruhe lassen sollst! Geh, mach dich nützlich und verkaufe Bücher.«

Er zerrte an Theonas Ärmel, als sie ihm nicht sofort folgte. »Kommt, Herr, und seht, was für eine Kostbarkeit ich für Euch aufbewahre.«

Geschickt vermied er es, den unehrenhaften Namen »Kilihael« auszusprechen. Ein Kribbeln kroch Theona von den Füßen hoch bis zum Kopf. Hätte sie Fell gehabt, es hätte sich gesträubt, so intensiv lag die Spannung in der Luft. Angefangen von dem Heilkundigen bis hierhin folgten ihr Andeutungen und Gerüchte. Der Name Kravos von Nordin machte im Flüsterton die Runde in der Menschenmenge.

»Hier. Ist es nicht wunderbar?«

Der Buchhändler schlug das Tuch auf, das das Buch geschützt hatte. Seufzend strichen seine Finger über den kostbaren Einband. »Es ist uralt und stammt aus dem Land jenseits des Meeres.«

Theona vergaß das ungute Gefühl und starrte auf das dunkel gefärbte Leder, in das Sterne eingeprägt waren, die an manchen Stellen noch golden schimmerten. Wie so oft, wenn sie einer solchen Kostbarkeit gegenüberstand, erfasste sie Ehrfurcht.

»Darf ich?«

»Selbstverständlich!«

Achtsam schlug sie das Buch auf, trat einen Schritt dichter heran und blätterte darin. »Es ist auf Eldemarisch geschrieben. Wie kann das sein?«

»Man erzählt sich, dass einst ein Sohn aus dem Geschlecht der Bersaken auf das Meer hinausfuhr und nie wieder zurückkehrte. Wer weiß, vielleicht stammt das Buch von ihm?«

»Wie seid Ihr in den Besitz dieses Exemplars gelangt?«

Tadelnd schnalzte der Buchhändler mit der Zunge.

»Ihr wisst, dass ich meine Quellen niemals preisgebe.«

»Es kostet doch ein Vermögen.«

»Keine Sorge, Ihr könnt es Euch leisten.«

»Wovon handelt es?«

»Von den Sternen.«

»Den Sternen?«

»Ja, und wie sie uns den Weg in der Dunkelheit zeigen.«

»Es ist viel zu kostbar für mich.«

»Nein, es ist nur für Euch. Niemand anderer als Ihr weiß ein solches Buch zu schätzen. Wer sonst, außer Euch, kann Eldemarisch lesen? Und an die Barbaren wäre es verschwendet. Außerdem braucht es einen Verstand, um zu begreifen, was zwischen diesen Buchdeckeln geschrieben steht. Es ist für Euch vorgesehen!«

Oh, dieser gerissene Buchhändler! Er wusste genau, wann er sie am Haken hatte. Ja, und auch dass sie ohne mit der Wimper zu zucken exakt den Preis bezahlen würde, den er von ihr verlangte.

»Wie viel?«

»Fünf.«

»Fünf Sertzen?«, versuchte sie mit einem Scherz den Schock über den Preis zu überspielen.

»Sertzen?! Ihr enttäuscht mich! Seit wann wisst Ihr den wahren Wert eines Schatzes nicht mehr zu würdigen?«

»Drei Goldstücke oder Ihr behaltet es und sucht Euch jemand anderen für den Wucherpreis!«

»Drei?! Die Sonne muss dieses Jahr Euren Verstand ausgedorrt haben!«

Sie nahm die Finger vom Einband, machte einen Schritt zurück.

»Wartet! Einverstanden. Aber nur weil Ihr es seid!«

Sie sah ein zufriedenes Grinsen über die Miene des Mannes huschen, und doch trübte es ihre Freude in keiner Weise. Achtsam hüllte sie das Buch wieder in die Tücher ein.


»Willkommen, Kilihael«, begrüßte Riah sie, als sie die Pferde an den Ställen vorbei zum Haus lenkte. Burkas, Riahs Mann hatte ihr den Namen gegeben. Sie verdankte ihm ihr Leben in vieler Hinsicht. Niemals würde sie diese Schuld bei ihm begleichen können.

»Wie geht es deinem Rücken?«

Riah winkte ab.

»Dem ist nicht zu helfen. Es ist das Alter.«

Theona schüttelte den Kopf. Riah zählte höchstens zehn Winter mehr als sie. Die Arbeit auf dem Hof und den Feldern, die Geburt von drei Töchtern und zwei Söhnen und die Hausarbeit – das alles forderte seinen Tribut. Sie kam aus einer Bauernfamilie und hatte schon ihre Kindheit mit Feldarbeit verbracht.

Theona holte die Lederbeutel von Atantuchs Rücken. Lias, der jüngere Sohn der Familie, nahm ihr beide Pferde ab und brachte sie in den Stall.

»Er ist gewachsen.«

»Ja, viel zu rasch vergeht die Zeit«, seufzte Riah.

Theona nickte. Sie wusste, was sie meinte. Jeder zweite Bursche in einer Familie gehörte dem König für seine Armee. Auch wenn der Krieg mit Eldemar beendet war, gab es Streitigkeiten zwischen den einzelnen Herrschaftshäusern. Außerdem währte kein Friedensvertrag ewig, solange Kravos von Nordin an der Spitze des tariekischen Heeres stand.

Während Theona den einen Beutel dem ältesten Mädchen von Riah gab, schimpfte diese leise.

»Du verwöhnst die Kinder mit all deinen Geschenken.«

»Nur ein paar Süßigkeiten und Früchte«, wehrte sie ab. Sie liebte den Glanz in den Augen der Kinder, ihr fröhliches Lachen, wenn sie sich auf die Leckereien stürzten oder anfingen, Tauschverhandlungen zu führen. Sie wusste, dass es Riah genauso freute. Geld war ein knappes Gut in der Bauernfamilie.

»Was hast du in dem zweiten Säckchen?«

Auch Riah entzückten Geschenke, und es erleichterte Theonas Gewissen, ein wenig von dem zurückzuzahlen, was sie der Familie schuldete.

»Das zeige ich dir drinnen.« Verschwörerisch blinzelte sie Riah zu.

Gemeinsam gingen sie ins Haus. Aus dem Beutel holte Theona einen Sack mit braunen Kugeln heraus, die fast wie der Kot eines Hasen aussahen. Riah nahm eine davon in die Hand, roch vorsichtig daran und biss dann, bevor Theona sie davon abhalten konnte, hinein. Angewidert verzog sie das Gesicht.

»Pfui! Was ist das?«

»Nicht so, lass mich das machen.«

Theona ging erst zum Herd, um Wasser zu erhitzen, holte ein kleines Gerät mit einer Kurbel an der Seite aus dem Beutel, stellte es auf den Tisch und füllte oben die braunen Kugeln hinein. Dann begann sie, die Bällchen zu mahlen. Das Pulver, das unten herauskam, verteilte sie auf zwei Becher und schüttete das heiße Wasser in die Gefäße. Zwischendurch prüfte sie den Geschmack, und erst als ihr die gesamte Beschaffenheit des Tranks perfekt mundete, reichte sie Riah einen der Becher.

»Vorsichtig nippen, die Flüssigkeit einen Moment im Mund halten und runterschlucken.«

Zuerst versuchte Burkas‘ Frau einen winzigen Schluck. Ihre Augen begannen zu leuchten.

»Das ist köstlich, was ist das?«

»Es nennt sich Tijuam und stammt aus Eldemar.«

»Hm, ich muss sagen, die Eldemarer wissen, wie man das Leben genießt. Wusstest du, dass die Dächer auf dem königlichen Palast in ihrer Hauptstadt aus purem Gold sein sollen?«

»Ich hab davon gehört.«

»Und wusstest du, dass die Krieger des Inneren Kreises nicht nur die besten Kämpfer sind, sondern auch die ansehnlichsten und stattlichsten, damit ihr Anblick der Königin schmeichelt?«

»Ja, und sie feiern dunkle Beschwörungsfeste, um den Willen unschuldiger Frauen zu brechen und sie zu Sklavinnen der Lust zu machen.«

»Ehrlich?« Riah sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Nein, du solltest nicht allem Glauben schenken, was dir erzählt wird.«

»So einen Krieger aus dem Inneren Kreis würde ich trotzdem gerne sehen.«

»Wünsche dir das niemals. Grausame und erbarmungslose Bestien sind sie. Du würdest dir den Tod herbeisehnen, wenn du ihnen begegnetest.«

Sie sah Riah an, dass ihr die Frage auf der Zunge brannte, wie sie zu dieser Erkenntnis kam, und ärgerte sich über ihre unbedachten Worte. Je weniger Burkas‘ Frau von ihrem früheren Leben wusste, umso besser. Sie verdrängte hastig den Gedanken, in welche Gefahr sie die Familie mit ihrer bloßen Anwesenheit in der ohnehin überfüllten Behausung brachte.

»Ist dein Mann in der Stadt? Ich habe ihn heute auf dem Markt nicht gesehen.«

»Nein, er ist seit zwei Wochen unterwegs, aber wir erwarten ihn noch vor dem Vollmond zurück.« Riah seufzte tief.

Theona wusste, dass sie ihren Ehemann vermisste. Die Zuneigung zwischen den beiden ließ sich deutlich an ihren Augen ablesen, wann immer sie sie zusammen angetroffen hatte, sie zeigte sich aber auch in den kleinen Gesten: wenn Burkas mit dem Zeigefinger zärtlich seiner Frau über die Nase strich, oder wenn sie Blicke voll scheinbar unstillbarem Verlangen austauschten. Theonas eigener Vater hatte nie diesen Ausdruck im Gesicht gehabt, wenn er die Mutter ansah, aber das geschah ohnehin nur zu außergewöhnlichen Anlässen. Sie hatte nie gesehen, dass er sie jemals berührt hätte.

Schweigend genossen sie das heiße Getränk. Es hatte eine anregende Wirkung, brachte das Blut dazu, rascher im Körper zu zirkulieren, und machte den Geist wach. Zu viel davon löste allerdings ein unkontrolliertes Zittern aus. Davor hatte sie der Verkäufer gewarnt. Bisher hatte Theona von dem Getränk nur gelesen. Heute hatte sie es zum ersten Mal bei einem Händler aus Eldemar gekostet und beschlossen, außer sich selbst auch der Bauernfamilie damit ein Geschenk zu machen.

»Ich fühle mich, als wäre ich eben erst aufgestanden und hätte nicht den Tag über auf dem Feld gearbeitet.«

»Ja, aber du musst vorsichtig sein. Ihr dürft nie mehr als zwei Becher am Tag davon trinken.« Theona schlürfte genussvoll den letzten Rest der Flüssigkeit. »So, und jetzt kümmern wir uns um deinen Rücken.«

Skeptisch sah Burkas‘ Frau sie an.

»Was hast du vor?«

Ohne auf Riahs Zögern zu achten, zog sie sie in das Schlafzimmer des Hauses, drückte sie auf das Bett und öffnete ihr Kleid. Trotz Riahs verschämten Protests brachte Theona sie dazu, sich auf den Bauch zu legen, schob ihr das Hemd hoch und verteilte ein paar Tropfen eines duftenden Öls aus einem kleinen Fläschchen auf ihrem Rücken.

Sanft kreisten ihre Hände über die Muskeln und massierten die Flüssigkeit in die Haut ein, so wie es der Heilkundige ihr erklärt hatte. Die harte Muskulatur begann weicher zu werden. Rote Stellen erschienen auf der bearbeiteten Fläche und Riah seufzte entspannt. Schließlich hörte Theona an den gleichmäßigen Atemzügen, dass sie trotz Tijuam eingeschlafen war.


Überrascht blieb Burkas an der Tür zur Küche stehen. Kilihael saß mit den Kindern am Tisch. Ein reichhaltiges Mahl war vor seiner Familie aufgetürmt, die kräftig zulangte. Die Mädchen überschütteten die Frau gerade mit Fragen zu einer Geschichte, die sie von ihr gehört haben mussten. Wohlwollend hörte sie geduldig zu und gab Antworten. Der Kleinsten, deren Wortschatz nur wenige Worte umfasste, half sie, gegen die größeren Geschwister anzukommen. Wenn er es recht verstand, ging es darum, wieso Lishar ihre Liebe zu Lethos geopfert hatte. Eine Strähne von Kilihaels goldblondem Haar schlängelte sich um den Finger seiner Ältesten, die es sanft mit dem Daumen streichelte, während sie völlig versunken dem Gespräch am Tisch lauschte.

Wie anders die Kriegerin des Lichts heute aussah. Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Haufen abgemagerten Elends, geschunden und gefoltert, der doch in eine Aura des Lebens gehüllt gewesen war. Die dunklen, feinen Linien in ihren Augen – wie ein geheimnisvolles Netz, das alle gefangen hielt, die hineinblickten. Die Wangen waren von der Hitze des Feuers zart gerötet. Die Haut schimmerte in einem tiefen Karamellton. Normalerweise trug Kilihael die Haare zu einem Zopf geflochten, obwohl er ihr damals geraten hatte, es wie ein Mann kurz zu schneiden. In der Öffentlichkeit verbarg sie es unter einem Turban und ihr Gesicht hinter einem Tuch, sodass nur die Augen sichtbar blieben. Ein Krieger aus dem Stamm der Wüstenvölker war ein alltäglicher Anblick in der Stadt und bei den Händlern. Dennoch schwirrten bereits Gerüchte über diesen Wüstenmann durch Eibalin. Mit dem ungewöhnlichen Blick, der einen gefangen nahm, so scheu, und doch selbstsicher in seinem Wesen, verlässlich und ehrlich, weckte dieser Reiter Neugierde.

Kilihael, das war sein Vorschlag für ihren neuen Namen gewesen. Viele Menschen ohne Abstammung, Familie und Ehre trugen ihn. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Im Gegenteil – die Menschen mieden den Umgang mit ihnen. Er hatte gedacht, der Name würde ihr Schutz bieten, doch sie hatte es geschafft, ihm eine Außergewöhnlichkeit zu verleihen.

Burkas lächelte, als er sah, wie Kilihael seiner Ältesten zart über den Kopf strich. Vermutlich hatte Isiah so lange gebettelt, bis sie den Zopf öffnete. Ihr Haar floss in sanften Wellen wie gesponnenes Gold hinab bis zu den Ellbogen. Das machte ihr Gesicht weicher und milderte den tiefen Ernst in seinem Ausdruck.

Als er Isiah einmal ermahnt hatte, dass sie Kilihael nicht bedrängen solle, hatte sie ihm gesagt, das Haar fühle sich seidenweich an und flauschig.

3

Burkas

Kopfschüttelnd betrachtete Burkas von der Tür aus seine fünf Sprösslinge, die an Kilihaels Lippen hingen und ihn überhaupt nicht wahrnahmen. An der Art, wie die Frau kurz ihren Waffenarm anspannte und wieder entspannte, erkannte er, dass sie ihn längst bemerkt hatte. Sie erzählte den Kindern eine weitere Geschichte von der dunklen Katze, mit der sie das Jagdrevier teilte. Diesmal handelte sie von einem Schneesturm, der sie in den Gipfeln des Katakmas erwischte, und davon, wie das Raubtier sich neben sie legte und sie mit der Wärme seines Körpers vor dem Erfrieren rettete. Die Kinder liebten natürlich die Vorstellung, dass Kilihael mit einer Raubkatze zusammenlebte, aber ihm lief bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Er hatte gehört, wie sie mit den Pferden sprach, und auf unerklärliche Art kam es ihm so vor, als würden diese sie verstehen. So wie die Tiere dem Klang ihrer weiblichen Stimme gebannt lauschten, so machten es auch die Kinder – und auch er und Riah. Und wenn sie sang, verschwand um sie her die Welt mit all ihren Sorgen, man tauchte ein in ein Reich voller Abenteuer, Liebe, Leid, Trost oder Hoffnung, je nachdem, welches Lied sie wählte.

Sein Blick streifte über die Runde am Tisch, er konnte jedoch Riahs rotblonden Haarschopf nicht entdecken. Er runzelte die Stirn, denn normalerweise genoss seine Frau Kilihaels Anwesenheit und teilte diese Zeit nur ungern mit ihren Söhnen und Töchtern. Als er sich räusperte, zuckten die Kinder zusammen.

Der Ansturm von Begeisterung, der folgte, zwang ihn in die Knie. Nach nur zwei Wochen Abwesenheit wurde er schon begrüßt wie ein Held. Er verdrängte die düsteren Gedanken, die er seit dem geheimen Treffen mit dem Abgesandten Auriel von Akliets nicht mehr loswurde. Kilihael begann sich die Haare zu flechten, und wenige Augenblicke später war sie wieder in einen Sohn der Wüste verwandelt.

»Burkas, du bist zurück?« Ein wenig zerknautscht, aber strahlend kam Riah aus dem Schlafzimmer. Der Lärm der Kinder hatte sie geweckt.

Zärtlich nahm Burkas sie in die Arme und zog sie dicht an sich. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte er ihr liebevoll ins Ohr. Als Antwort drückte Riah ihren Leib ein Stück fester an ihn. Er spürte das Feuer, das sie auch nach so vielen Wintern in ihm entfachen konnte, und küsste sie sanft auf den Mund. Ihr Kuss wurde inniger, fordernder.

»Igitt«, schrie Finja, die mittlere Tochter. »Müsst ihr das hier machen?«

Riah und Burkas lösten sich voneinander und lachten verlegen. Burkas‘ Blick streifte Kilihael, deren Anwesenheit er völlig vergessen hatte. Die Augen konzentriert auf den Tisch gerichtet, pickte sie Brotkrümel von der Tischplatte zusammen.

»Kinder, versorgt die Pferde, bringt den Wagen in den Stall, räumt meine Sachen weg – und dann dürft ihr noch draußen spielen, solange es hell ist. Ach ja, und wenn ihr einen dunklen Stoffbeutel findet …«

Weiter kam er nicht. Kreischend rannten die Kinder los, um die Anweisungen zu befolgen. Dass der erwähnte Beutel Geschenke für sie enthielt, darüber brauchte er kein Wort zu verlieren, das wussten sie auch so. Riah nahm ihm den Reisemantel ab, und er setzte sich neben Kilihael an den Tisch, die mit einem tiefen Atemzug aufstand.

»Ich muss aufbrechen.«

Burkas sah ihr Unbehagen. Es packte sie immer wieder, wenn sie mit ihnen den Abend verbrachte, vor allem nach einer Reise, wenn er und Riah Zärtlichkeiten austauschten. Dann stand sie körperlich unter Anspannung wie bei einem Angriff.

Mit einer Hand hielt er sie fest. »Setz dich, Kilihael, ich muss mit dir reden.«


Der Ernst in seiner Stimme, der sorgenvolle Blick aus seinen grauen Augen, die tiefen Kerben um den Mund und die Müdigkeit in seinen Zügen brachten sie dazu, sich erneut niederzulassen.

All das Wispern, das Gemunkel, die Anspannung in der Stadt – und jetzt Burkas‘ Ankündigung. Sie fühlte kalten Schweiß auf der Stirn. Ihr Herz beschleunigte den Rhythmus, Angst kroch durch ihre Adern. Dennoch wartete sie ab, drängte ihn nicht, auszusprechen, weshalb er sie zurückhielt.

Er suchte nach Worten, was das beklemmende Gefühl verstärkte.

»Du hast gekocht«, stellte Riah unbekümmert fest, ohne etwas von der Stimmung zu merken, und lud Burkas den Teller voll.

»Verzeih, du hast so tief geschlafen, dass ich dachte, du könntest es gebrauchen. Isiah half mir beim Kochen.« Theonas Blick folgte der Bauersfrau, die das Essen vor dem Familienoberhaupt absetzte und mit der Hand sanft die mit Barstoppeln übersäte Wange streichelte. Sie sah das Ehepaar geheime Zeichen der Leidenschaft miteinander tauschen.

Hastig senkte Theona die Augen. Wann immer sie das Verlangen eines Mannes in dessen Miene erkannte, brach ihr der Angstschweiß aus. Verhasste Bilder tauchten ungewollt in ihren Gedanken auf. Sie hörte das Flüstern einer schwitzenden Gestalt am Ohr, roch alkoholisierten Atem, fühlte körperlichen Schmerz, der sie zu zerreißen drohte. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder in der Lage gewesen war, sich schmerzfrei zu erleichtern. Der Name Kravos war heute auf dem Markt so häufig gefallen. Einer düsteren Aura gleich hatte er die Gemüter der Bewohner verdunkelt und sie den Geruch von Angst ausdünsten lassen.

Theona ahnte, was Burkas ihr mitzuteilen gedachte, und wollte es doch nicht mehr hören. Überwältigt von den Bildern der Vergangenheit sprang sie auf, rannte aus der Stube und erbrach draußen würgend ihr Abendessen.

Riah kam ihr mit einer Schüssel Wasser und einem feuchten Tuch hinterher. Dankbar säuberte Theona ihr Gesicht und ruhte sich für einen Moment auf den Stufen aus, bevor sie aufstand und ihr Erbrochenes mit Erde bedeckte.

»Es tut mir leid, ich glaube, ich habe heute zu viel gegessen.« Mühsam versuchte sie, die lebhaften Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen.

»Schschscht.« Riah legte den Arm um Theonas Schultern.

Gemeinsam blieben sie sitzen und sahen den Kindern beim Spielen zu. Langsam beruhigte sich Theona. Es gab Augenblicke, da wünschte sie, sie könnte Riah ihre ganze Vergangenheit anvertrauen. In der Hoffnung, dass, wenn sie alles laut aussprach, die Erinnerungen aufhörten, sie zu quälen. Doch sie wusste, dass dieses Wissen eine Gefahr für die Familie darstellte. Sollte Kravos von Nordin jemals herausfinden, dass sie noch lebte und wo sie sich aufhielt, dann gab es nichts, was sie oder jene, die ihr halfen, vor seinem Zorn schützte.

In den Jahren, seit sie in der Einsamkeit des Katakmas Zuflucht gefunden hatte, war ihr eine Zukunft so greifbar erschienen. Da war ein Ort, der nur für sie existierte, in dem sie Frieden fand und ihren Studien über die Sprachen anderer Völker nachgehen konnte. Heute hatte sie auf dem Markt wieder so ein Buch erworben, das in Tücher eingehüllt in einer von Tielas Satteltaschen lag. Doch sie wusste, dass die Zeit nur geliehen war. Sie hatte mit dem Brandmal der zum Tode Verurteilten viel länger überlebt als jeder vor ihr. Normalität war nur ein trügerisches Wort und konnte jederzeit der Realität weichen. Dieses eine Jahr noch, sagte sie leise zu sich selbst. Ihre Hand wanderte unter das Gewand, zu dem Anhänger, den der Großvater ihr auf dem Sterbebett gegeben hatte. Sie umschloss ihn und fühlte beruhigende Wärme, doch tief im Innern wusste sie, dass ihre Zeit abgelaufen war. Das Schicksal holte sie ein, und ihr blieb nichts übrig, als ihm entgegenzutreten.


Die Sonne sank hinter den Hügeln der Devon. Die letzten Strahlen streiften sie und Riah. Die Kinder entdeckten sie und rannten zu ihnen herüber. Ihre Mutter scheuchte sie ins Haus und folgte dem Nachwuchs, aber Theona blieb bewegungslos sitzen. Tränen kamen hoch, die sie mit einer ärgerlichen Handbewegung wegwischte. Sie konnte weiterziehen nach Eldemar, ins Feindesland, aber wer sagte ihr, dass sie den tariekischen Spionen dort verborgen bleiben würde? Oder sie zog, wie ursprünglich geplant, von Tinau, das in Eldemar lag, nach Forran und von da weiter nach Mintra, der Heimat ihres Großvaters. Sie seufzte tief. Das wäre eine Reise voller Gefahren mit der Ungewissheit, ob sie bei dem Volk überhaupt würde leben dürfen. Egal was sie versuchte, sie trug das Brandmal des Todes, und ihr Schicksal war besiegelt.

Im Haus kehrte Ruhe ein. Das Geschnatter der Kinder verebbte. Theona konnte sitzen bleiben und weiter in einer Illusion leben, weil unausgesprochene Worte ungehört blieben, oder sie ging hinein und stellte sich dem, was Burkas ihr berichten wollte.

Als sie in die Stube kam, saß er in seinem Sessel vor dem Kamin. Vor einem zweiten Sessel stand ein Korb voll mit Riahs Näharbeiten. Theona wählte für sich das Fell vor dem Feuer zu Füßen des Hausherrn, einen Platz, den die Kinder normalerweise für sich beanspruchten. Es machte ihr nichts aus, auf dem Boden zu sitzen.

Der aromatische Rauch von Burkas‘ Pfeife füllte das Zimmer. Schweigend saßen sie beieinander und starrten in die Flammen. Schließlich kam Riah aus dem hinteren Teil des Hauses, wo die zwei Räume für die Kinder lagen – einer für die Jungen und einer für die Mädchen. Sie setzte sich in den Sessel und nahm ihr Nähzeug auf.

Eine Weile beobachtete Burkas die konzentrierte Tätigkeit seiner Frau. Ihre Fähigkeit, zu so später Stunde noch die Geduld und das Geschick für diese Arbeit aufzubringen, erfüllte ihn mit Bewunderung. Die Liebe zu ihr schenkte ihm den Mut, jeden Tag voll Hoffnung zu beginnen. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und fünf lebhafte Kinder: Klas, Isiah, Lias, Finja und die kleine Amelia. Ihr Leben war hart, einfach und oft von Hunger bedroht. Welches Glück sie miteinander teilten, verstand er heute mehr denn je. Er betrachtete die Frau, die vor ihm auf dem Fell saß, und wünschte, er könnte ihr einen Teil der Bürde, die sie trug, abnehmen. Doch das lag nicht in seiner Macht.

»In Baaren wird viel über den Friedensvertrag mit den Eldemarern geredet«, begann er. »Es heißt, er wäre ein Zeugnis der Feigheit, und die Bedingungen gingen einseitig zulasten unseres Volkes. Auriel von Akliet habe nicht genug Forderungen gestellt und damit die Interessen der Tarieken verraten.«

Theona schloss die Augen. Deutlich sah sie das Gesicht ihres Bruders vor sich – jede einzelne Linie. Wie sie ihn vermisste! Wie sie wünschte, ihm beistehen zu können!

»Wer sagt das?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

»Kravos von Nordin.«

»Wird er gehört?«

Burkas zögerte mit der Antwort. »Auriel von Akliet ist ein Mann mit Einfluss, mit charismatischer Ausstrahlung und einer Vielzahl von Anhängern, und er ist ein vorausschauender Stratege. Aber du darfst Kravos von Nordin nicht unterschätzen. Er ist listig und hinterhältig. Der Friedensvertrag ist ein filigranes Werk, das weder von allen Tarieken noch von allen Eldemarern getragen wird.«

Überrascht wandte Theona den Blick vom Feuer zu Burkas. Eine solch tiefe Einsicht in das politische Machtgefüge des Landes empfand sie bei einem Bauern als befremdlich.

Er lächelte. »Beurteile niemals einen Menschen nach seinem äußeren Schein, Kilihael.«

»Was wird deiner Meinung nach geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Allerdings hörte ich, dass Kravos von Nordin plant, zwei Legionen seiner Krieger in Eibalin zu stationieren und sie selbst zu begleiten. Angeblich will er prüfen, ob Eldemar den Vertrag einhält, und eine Inspektion seiner Truppen vornehmen, die hier stationiert sind.«

»Kravos von Nordin kommt hierher?«, mischte sich zum ersten Mal Riah ein.

Theona lief ein Schauer über den Rücken. War es so weit? Bot das Schicksal ihr eine Gelegenheit, Rache zu üben für das, was er ihr und so vielen anderen in der Folterkammer angetan hatte? Sie fühlte den intensiven Blick von Burkas, als wollte er ihre Gedanken lesen.

Er wandte sich seiner Frau zu. »Ja, und ich denke, du solltest deine Schwester fragen, ob du dich mit den Kindern über den Winter bei ihr einquartieren kannst. Sie bekommt doch in Kürze ihr zweites Kind und wird deine Hilfe gewiss dankbar annehmen.«

Burkas sagte es leichthin, aber er konnte weder seiner Ehefrau noch Theona etwas vorspielen. Die Gefahr lag spürbar in der Luft.

»Ich bin müde. Kilihael, ich habe dir das Bett in der Kammer gemacht.« Riah legte die Näharbeit in den Korb zurück und ließ sie allein.

»Das ist nicht alles.« Umständlich stopfte Burkas die Pfeife mit frischem Tabak und entzündete sie mit einem Span aus dem Feuer im Kamin.

»Er hat ein Kopfgeld von 100 Goldstücken ausgesetzt für jeden Hinweis auf eine Frau mit goldblonden Haaren, die das Brandmal des Todes trägt ...«

Theona schluckte schwer. So viel Gold. Damit hätte Burkas für den Rest seines Lebens ausgesorgt.

»... oder auf einen außergewöhnlichen Sohn der Wüste. Dir ist klar, dass deine Tarnung zunichte ist?«

»Es tut mir so leid. Ich bringe dich und deine Familie in große Gefahr, und das, obwohl ich bei dir in Lebensschuld stehe.«

»Nein, wir alle stehen in deiner Schuld, Krieger des Lichts.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung.«

»Weißt du, ich mag in den Augen der Menschen hier ein Bauer sein, aber Auriel von Akliet hat das nicht interessiert.«

Überrascht hob sie das Gesicht und sah Burkas an.

»Er hat mich längst zu einem Offizier der Legion gemacht. Ich kämpfte an deiner Seite in den Schlachten.«

Mit einem Lächeln blinzelte er sie vergnügt an. »Ich weiß, du hast nur wenig Kontakt zu den Soldaten, und das, wie ich inzwischen weiß, aus gutem Grund. Aber wir, wir verehrten dich – beteten den Boden an, auf dem du gingst.«

»Und was hat es euch gebracht?«

»Den Frieden!«

»Den niemand will!«

»Das Volk will ihn. Es möchte leben und sehen, wie die Kinder aufwachsen und selbst alt werden. Und das alles ist gefährdet, weil es einen gibt, den nur die Rache antreibt.«

»Ich gefährde das, wofür ich mein Leben opferte. Ist es das, was du von mir einforderst? Dass ich mich ihm ausliefere – tot? Denn lebend, das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist, wird er mich niemals in die Hände bekommen!«

»Nein, das würde ich nie und nimmer verlangen! Du bist die Einzige, die ihn aufhalten kann!«

Sie schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Niemand hält Kravos von Nordin auf.«

»Auriel von Akliet bittet mich, dir auszurichten, dass du fliehen sollst.«

»Nein! Ich bleibe hier im Katakmas. So behalte ich die Entwicklungen im Auge, selbst wenn ich sehe, dass es keine andere Lösung gibt.«

Als Theona ihn ansah, mit diesem Blick, der seine Seele berührte, fielen die Sorgen von Burkas ab. Tiefe Ruhe erfüllte ihn, und er wusste, der Krieger des Lichts wachte weiterhin über das Schicksal der Tarieken.


In der Nacht hörte Theona die leisen Stimmen des Ehepaars in der Kammer nebenan. Riah wollte ihren Mann nicht verlassen, aber sie schien sich vor den anrückenden Kriegern zu fürchten. In der Stadt hatte Theona damals gehört, dass Kravos nach einer Frau mit blonden Haaren auf einem edlen Pferd suchte, angeblich einer Verwandten, der er ein Zuhause geben wollte. Fünf Goldstücke hatte er demjenigen versprochen, der sie ihm lebend übergab, eine Summe, für die ihm einige blonde Frauen gebracht worden waren – lächerlich im Vergleich zu dem Betrag, den er diesmal anbot. Nie hatte Burkas ihr gegenüber ein Wort über diese Suche verloren, aber die Kinder hatten von den finsteren Kriegern erzählt, die auch an ihrer Tür erschienen waren und alle gründlich gemustert hatten. Furcht einflößend und beängstigend waren sie gewesen, nur die Augen des zu der Zeit dreijährigen Lias hatten vor Begeisterung geleuchtet. Damals kannten die Kinder Theona nicht, heute sah das anders aus. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können? Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht im Kissen. Sie hatte die Familie in Gefahr gebracht.

Theona verstand die innere Zerrissenheit der Ehefrau und Mutter. Burkas konnte sich nicht allein um den Hof und das Vieh kümmern. Also beschloss das Paar am Ende, dass die beiden Söhne ihren Vater auf dem Hof unterstützen sollten. Dann wurde es still, bis Laute der körperlichen Liebe in Theonas kleine Kammer getragen wurden. Der kleine Lagerraum war so eng, dass Theona von der Tür aus auf die Pritsche hatte klettern müssen, die ihr Riah immer dort hineinstellte.

Das Geräusch raubte ihr mehr denn je die Ruhe. Sie wollte unter freiem Himmel liegen oder wenigstens im Stall. Doch sie brachte es nie übers Herz, Riah das zu sagen. Es rührte sie, wie die Bauersfrau sich bemühte, es ihr gemütlich zu machen.

Das Gespräch mit Burkas hatte ihr Unbehagen gesteigert. Theona fühlte sich gefangen, hatte keine Möglichkeit zur Flucht. Selbst das Schwert, das heute neben ihr im Bett lag, half ihr nicht, die Beklommenheit abzuschütteln. Den Gedanken an Schlaf musste sie aufgeben. So lag sie da, lauschte auf die ungewohnten Geräusche eines bewohnten Hauses und achtete auf Töne, die Gefahr bedeuten mochten, bereit, die Familie mit ihrem Leben zu verteidigen. Stattdessen hörte sie das leise Stöhnen von Riah, begleitet von Burkas‘ Keuchen. Peinlich berührt hielt sie sich die Ohren zu, als sie meinte, der Akt ginge dem Ende zu. Sie schloss die Augen, riss sie aber gleich wieder auf, als die Bilder des nie Vergessenen aus der hintersten Ecke ihrer Erinnerung hervorkrochen.

Sie keuchte auf, wartete, bis ihre Scham abflaute. Ob sich Riah genauso fühlte, wenn sie das Lager mit ihrem Mann teilte? Beraubt jeder Würde und Menschlichkeit? Gedemütigt und degradiert, um die Lust eines Mannes zu befriedigen? Erst als sie das eigene Blut schmeckte, bemerkte Theona, dass sie die Zähne in ihre Unterlippe grub. Sie drehte sich um, legte ihre Hand auf das fein und leicht gearbeitete Schwert, dessen genaue metallische Beschaffenheit nur ihr Großvater kannte. Er hatte es geschmiedet und ihr geschenkt, im Gewicht an die Kraft und Kampftaktik der Enkeltochter angepasst, ausgewogen in seiner Länge und exakt ausbalanciert. Die Schneide war so scharf, dass sie ein hochgeworfenes Tuch mühelos zerteilte, wenn es auf die Klinge herabschwebte. Mit allen Fingern umschloss sie den Griff. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Nie mehr würde sie zulassen, dass ein Mann ihr Schmerzen zufügte. Nie wieder. Sie dämmerte in einen oberflächlichen Schlaf, die Sinne dennoch in die Umgebung gestreckt.


Nach dem Frühstück brach Theona auf. Die Unruhe der Nacht hatte sie auch bei Sonnenaufgang nicht verlassen. Es zog sie unwiderstehlich in den Katakmas, wo sie so leicht niemand finden würde. Sie umarmte jedes der Mädchen, hob die kleine Amelia auf den Arm und küsste sie, den Jungs schlug sie freundschaftlich auf die Schulter. Dann zog Riah sie in die Arme und begann hemmungslos zu weinen. Sie beide wussten, dass es ein Abschied für immer war. Kilihael, die ohne Namen, würde nicht wiederkommen, und auch Riahs Schicksal umgab nun einen Hauch von Ungewissheit. Theona schwang sich auf Tiela, nahm den Führstrick von Atantuch, der mit Vorräten für den Winter beladen war. Sie trug die schwarze Kleidung eines Sohns der Wüste, die Beine der Lederhose in die Stiefel gesteckt. Über dem Hemd hatte sie eine Weste aus fester Tierhaut, die einem Schwerthieb standhalten konnte. Innen war sie gefüttert mit seidig weichem Kaninchenfell. Ein Ledergurt schützte ihre Handgelenke, befestigt mit einem Band, das zwischen Daumen und Zeigefinger über die Handfläche führte. Von dort bis kurz vor dem Ellenbogen hielten gebundene Lederriemen das Hemd am Arm, sodass der Stoff bei einem Kampf nicht störend flatterte. Ihr Schwert hing griffbereit vorn am Sattel. In einer Ledertasche hatte sie Pfeile, der Bogen war auf der anderen Seite weiter hinten befestigt. Die blonden Haare waren von dem Tuch verdeckt, genauso ihr Gesicht. Burkas trat neben sie ans Pferd. Sie reichte ihm den Arm und beugte sich zu ihm hinunter.

»Ich danke dir für alles, Burkas. Viele hätten mich sterben lassen, wenn nicht aus dem Grund, dass ich eine Frau bin, dann, nachdem sie das Brandmal des Todes entdeckt hätten. Du hast großen Mut bewiesen. Ich bin froh, dir begegnet zu sein.«

»Nein, mir ist es eine Ehre, dass sich unsere Wege kreuzten, Theona von Akliet«, sagte er leise, und sie erstarrte beim Klang des Namens. »Passt auf Euch auf und beschützt uns, wenn die Dunkelheit kommt.«

Bevor sie reagieren konnte, löste er seinen Arm von ihr und schlug mit der flachen Hand auf Tielas Hinterteil, die einen Satz nach vorn machte. Theona verabschiedete sich ein letztes Mal mit einem Kopfnicken und ritt aus dem Hof in die Straßen von Eibalin.

4

Krieger

Beim Jagen in den tiefer gelegenen Hängen des Katakmas traf Theona auf Kravos von Nordins Soldaten. Er selbst weilte nicht unter ihnen, was Theona zutiefst bedauerte. Das Gebirge war ihr Territorium, wo sie jeden Baum, jeden Strauch, jeden Stein und jede Höhle kannte. Alle Vorteile wären auf ihrer Seite gewesen. Ein einziger gezielter Schuss mit dem Bogen hätte für ihn das – wenn auch viel zu gnadenvolle – Ende bedeutet. Eine Weile beobachtete sie die Männer aus der Distanz. Die Krieger schienen nach etwas zu suchen. Das beunruhigte sie. Zwar hatte sie sich vor langer Zeit angewöhnt, wenig Spuren zu hinterlassen, doch im Winter geriet diese Aufgabe zu einem schwierigen Unterfangen. Zum Glück irrte normalerweise niemand in dieser Jahreszeit im Katakmas umher, es sei denn, er wäre seines Lebens überdrüssig, darum hatte sie bisher keine Probleme bekommen. Die Gefahr, in eine Felsspalte zu stürzen, einer Lawine zum Opfer zu fallen oder durch einen plötzlichen Wetterumschwung zu erfrieren, war viel höher als im Sommer.

Im ersten Jahr hatten Atantuchs Instinkte sie vor dem Tod bewahrt, wann immer er sich weigerte, eine Richtung einzuschlagen. Sie hatte dem Wallach vertraut und nie falsch damit gelegen. Inzwischen kannte sie das Gelände selbst und konnte bei einer Verfolgung von ihrer Ortskenntnis Gebrauch machen.

Die Anwesenheit der Krieger im verschneiten Katakmas beunruhigte sie. Sie beobachtete die Männer noch eine Weile. Der verlockende Gedanke, ihnen eine tödliche Falle zu stellen, überkam sie, vor allem, als sie den anführenden Offizier erkannte. Sie verwarf die Idee, da sie Kravos von Nordin nicht bestärken wollte, sie hier zu suchen. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das, was sie ursprünglich in die Wälder getrieben hatte.

Theona ritt einen weiten Bogen, folgte sicherheitshalber eine lange Zeit dem Lauf eines Gebirgsbachs, um weniger Spuren zu hinterlassen. Am Ende band sie Atantuch Lederlappen um die Hufe, froh über ihre Entscheidung, heute mit ihm anstelle von Tiela unterwegs zu sein. Es machte ihm keine Mühe, trotz des rutschigen Materials einen sicheren Weg auf den Pfaden zu finden. Außerdem neigte er nicht zu Übermut. Hinter einer Biegung gab es einen Felsen, wo sich der Bach zu einer weiten Furche verbreiterte. Sie beschloss, eine kleine Pause einzulegen, da Atantuch zusätzlich das von ihr erlegte Mutak trug. Dem toten Tier haftete noch die Wärme des vergangenen Lebens an. Sie musste sich beeilen, denn wenn sein Blut gefror, würde es schwer sein, es zu zerteilen. Mit beiden Händen schöpfte sie Wasser oberhalb von der Stelle, an der das Pferd trank. Leise schnaubte der Wallach. Theona schaute vom Wasser auf und sah die schwarze Raubkatze, die mit einem eleganten, lautlosen Satz aus dem Unterholz auf einen wuchtig gewachsenen Baum sprang. Das Raubtier machte es sich auf einem Ast bequem. Nur der Bach trennte es von ihr. Mit zuckendem Schwanz fixierten die grünen Augen das tote Mutak auf dem Pferd.

»Oh nein, Panalea, such dir gefälligst selbst Beute!«, fauchte Theona die schwarze Katze an. Sie brauchte jedes bisschen Fleisch. Seitdem sie die Krieger erspäht hatte, wusste sie, dass sie ihr Versteck nur noch verlassen konnte, wenn es absolut notwendig war.

Ein lautes Knacken ertönte. Die Muskeln angespannt, duckte sich die Katze in Angriffsposition. Jetzt fixierte sie ein anderes Ziel mit ihrem Blick. Unter dem Baum erschien ein Reiter in zerfetzter Kleidung. Blut rann ihm vom Kopf und aus unzähligen Wunden an seinem Oberkörper. Halb bewusstlos hing er auf dem Reittier, ohne die tödliche Gefahr wahrzunehmen, in der er schwebte.

Lautlos sprang das Raubtier auf den Nacken des Pferdes, das schrill wieherte, in höchster Not stieg und den Reiter zu Boden warf. Auch die Katze wurde von der heftigen Reaktion der vermeintlich sicheren Beute überrascht und gegen einen Stein geschleudert. Fauchend und sich schüttelnd kam das Raubtier wieder auf die Tatzen. Das Pferd flüchtete auf dem Weg, den es gekommen war. Der Mann lag leblos auf dem Boden. Langsam näherte sich die Katze mit geschmeidigen Bewegungen ihrem Opfer.

Theona handelte, ohne lange zu überlegen.

»Nimm das hier, Panalea!«

Sie zog das Mutak von Atantuch herab und schlitzte ihm die Kehle auf. Der frische Blutgeruch lenkte die Aufmerksamkeit des Raubtiers auf die bereits erlegte Beute. Für einen Moment zuckte sein Schwanz hin und her, dann war es auf der anderen Bachseite – eine weise Entscheidung, denn an dem Mutak hing mehr Fleisch als an dem Mann. Theona war ebenfalls schnell mit Atantuch bei dem Verletzten, brauchte aber all ihre Überredungskunst, damit sich der Wallach hinlegte. Das Raubtier behielt sie sorgsam im Auge. In geduckter Haltung riss es die saftigsten Stücke aus dem Fleisch. Ihr Panalea wusste genau, was am besten schmeckte.

Theona zog den bewusstlosen Mann über den Sattel und ließ das Pferd aufstehen. Einer inneren Eingebung folgend hatte sie dem Mann die restliche Oberbekleidung vom Körper gezogen. Ihr schwarzes Tuch zog sie von Gesicht und Haaren, riss es in Streifen und wickelte diese über die blutenden Wunden am Oberkörper und um den Kopf des Verletzten. Dann zog sie sich ihren Umhang aus und hüllte den Mann so gut es ging darin ein, damit er nicht unterwegs erfror.

Während sich Atantuch auf den Weg machte, warf sie Hemd, Wams und Umhang des Mannes der Katze hin. Wie erwartet fauchte das Raubtier empört, schlug mit der Tatze nach dem Stoff, zerfetzte ihn dabei noch mehr und besudelte ihn mit Blut und Fetzen des toten Mutaks. Theona hoffte, mit dieser Finte die Verfolger zu einer falschen Schlussfolgerung zu verleiten. Sie folgte ihrem Pferd ins Unterholz. Sorgsam wischte sie jede verräterische Spur hinter sich weg.

Sie holte den Wallach ein, führte ihn auf verschiedenen Routen in einem weiten Bogen, kletterte mit ihm auf Felssteige, auf denen sie keine Abdrücke hinterlassen konnten. Für Reiter ohne Ortskenntnisse im Katakmas hätte der Weg eine Strecke des sicheren Todes bedeutet.

Zu ihrem Versteck kehrte Theona in der Dämmerung zurück. Trotzdem prüfte sie sorgfältig die Umgebung, bevor sie den kaum sichtbaren, steinernen Pfad nahm, vorbei am tosenden Wasserfall durch eine Höhle. Hier wurde der Weg erst enger, dann öffnete er sich in ein kleines Tal, das seit vier Jahren ihr Zuhause war.


Theona holte eine Decke, machte Atantuch ein Zeichen, auf die Knie zu gehen, und zog vorsichtig den Verletzten, der noch immer bewusstlos war, vom Rücken des Wallachs. Sie schlug ihn in die Decke ein, ließ ihn liegen, wo er war, versorgte ihr Pferd, befreite es vom Hufschutz und entließ es ins Tal.

Schritt für Schritt zog sie rückwärtsgehend den Mann auf der Decke liegend in die Hütte – ein anstrengendes Unterfangen, das all ihre Kraft erforderte. Sein Stöhnen verriet ihr, dass sie ihm damit Schmerzen bereitete. Als sie ihn schließlich in ihrer Behausung hatte, pumpte ihr Herz heftig, und Schweiß rann ihren Körper hinab. Sie entzündete ein kleines Feuer, erhitzte Wasser und holte Tücher, bevor sie sich neben ihm auf den Boden kniete. Vorsichtig löste sie die schwarzen Stoffstreifen vom Kopf des Bewusstlosen und von seinem Oberkörper und musterte gründlich den zerschundenen Leib. Das dunkle, verfilzte Haar reichte dem Mann bis über die Schultern, seine Wangen wirkten eingefallen. Er stank erbärmlich nach Dreck, Urin und Exkrementen. Am Kopf entdeckte sie eine Beule, vermutlich vom Sturz. Das linke Ohr fehlte. Der Schnitt, einige Tage alt, sonderte eine zähe, übel riechende Flüssigkeit ab. Den unteren Teil des Gesichts bedeckte ein ungepflegter Bart, in dem etwas herumkrabbelte. Seinen Oberkörper überzogen Schnittwunden – nicht lebensgefährlich tief, dafür an Stellen, die schmerzten, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, denn sie besaß Narben an ähnlichen Stellen. An der rechten Seite hatte man ihm die Haut in einem daumenbreiten Streifen entfernt.

Alte Erinnerungen kamen hoch. Der Anblick des misshandelten Mannes rief sie ihr lebhaft vor Augen. Theona würgte und war froh, dass ihr Magen leer war. Sie stand auf, verließ die Hütte und ging ein paar Schritte. Mit beiden Beinen im Schnee blieb sie stehen, atmete tief die klare Luft ein und leerte ihren Kopf. Ihr Blick wanderte hoch zum Himmel. Durch ihre Füße strömte die Kraft der Erde. Sie gönnte sich den Moment, um die Weite zu spüren, bevor sie den Weg zurück zur Hütte einschlug und wieder hineinging.

Innerlich ging sie auf Distanz, sagte sich ganz nüchtern, dass vor ihr ein Körper lag. Es half ihr, Abstand zu gewinnen und den Fokus auf die Arbeit zu richten. Sie füllte das inzwischen heiße Wasser in eine Schüssel, streute Kräuter darüber und setzte gleich weiteres Wasser auf.

Den Rücken des Verletzten überzogen Peitschenstriemen, das hatte sie bemerkt, als sie ihn am Bach verbunden hatte. Es spielte also letztlich keine Rolle, ob sie vorn oder hinten anfing. Seine Beine waren bei der Folter ausgespart worden, dafür zeichneten sich auf einem Oberschenkel tiefe Krallenspuren von Panalea ab, Wunden, die sie nicht unterschätzen durfte, da sie sich leicht entzünden konnten. Sie seufzte ergeben. Dieser Mann präsentierte sich ihr als eine einzige Flickarbeit. Bevor sie die mühselige Aufgabe in Angriff nahm, ihn zu waschen und gründlich zu säubern, wollte sie sichergehen, dass er überhaupt noch lebte. Sie legte die Hand an seinen Hals. In einer zarten Bewegung der Haut fühlte sie Leben und ließ gleichzeitig Energie in ihn einfließen.

Während ihre Finger noch an der Stelle ruhten, schlug der Verletzte die Augen auf. Mit erstaunlicher Schnelligkeit und Kraft packte er ihr Handgelenk, hob seinen Kopf und zischte etwas in der Sprache der Eldemarer. Dann verdrehte er die Augen und fiel zurück.

Völlig erstarrt verharrte Theona und lauschte darauf, ob ihr Herz wieder zu schlagen anfing. Schließlich atmete sie tief durch, stand auf und holte ihr Messer, mit dem sie am Bach die Kehle des Mutaks aufgeschlitzt hatte, um es ihm in die Brust zu stoßen. Es wäre ein Akt der Gnade, nach all dem, was dieser Mann an körperlichen Verletzungen aufwies. Sie kannte sich in der Heilkunst nur unvollständig aus, und seine Überlebenschancen erschienen ihr gering.

Theona hob das Messer, und ein sanftes Licht schimmerte am Körper des Mannes entlang. In ihren Gedanken flackerten Bilder auf: das Gesicht von Burkas in der stürmischen Nacht, über sie gebeugt, Nordins Krieger, die suchend durch den Katakmas schlichen, die gierig verzerrte Visage von Kravos, der sie mit Blicken zu verschlingen schien. Sie hörte die Worte ihres Bruders Auriel: Unser Land braucht den Frieden. Wir können nicht gegen die Eldemarer siegen. Ich bin bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. Bist du es auch – für unser Volk?

Sie schluckte, legte das Messer vorsichtig zur Seite, aber so, dass es jederzeit für sie griffbereit war, und begann den Verletzten zu säubern.


Das Fieber stieg weiter. In einem Kraftakt hatte Theona den Mann auf ihr Lager gehievt und ihn dort mit Lederriemen an die seitlichen Verstrebungen gefesselt. Nach seiner unvorhersehbaren Attacke blieb ihr keine andere Wahl. Sorgenvoll betrachtete sie die zwei Wunden am Oberkörper, deren umgebende Rötung deutlich eine Entzündung anzeigte. Die vier tiefen Krallenspuren wiesen dieselben Zeichen auf. Aus ihnen troff außerdem eine gelbliche, stinkende Flüssigkeit. Sie hatte bereits in dem Buch über Heilpflanzen nach etwas gesucht, das helfen konnte. Doch ihr Vorrat an getrockneten Heilkräutern war begrenzt. Von Stunde zu Stunde driftete der Mann ein Stück weiter dem Tod entgegen. Er brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin, aus dem sie auch den Namen ihres Bruders herauszuhören glaubte.

Die Sonne stand tief am Horizont. Heute Nacht würde es einen Schneesturm geben.

»Denk nach! Streng dich an!«, flüsterte sie in die Stille. Noch war sie nicht bereit, den Mann aufzugeben. Sie starrte auf eine Spinne, deren Beute im Netz zappelte. Mit dem vorderen Beinpaar packte die Spinne das Opfer und begann es auszusaugen.

Eine Idee blitzte auf, und Theona gestattete sich nicht, über ihre eigene Kühnheit nachzudenken. Stattdessen zog sie hastig ihren Umhang an, nahm sich einen Lederbeutel und lief nach draußen. Mit einem Pfiff rief sie die Pferde, sprang auf Tielas Rücken und ritt zum Zugang des Tals, wo sie absprang. Zu Fuß ging sie durch die Höhle zum Wasserfall, horchte, bis sie sicher war, dass niemand da war, der auf sie lauerte. Der Wasserfall toste die Steilwand herab. Obwohl er nicht so kräftig war wie im Frühjahr oder Herbst, konnte sich im oberen Becken doch noch keine durchgehende Eisschicht bilden. Theona griff mit der bloßen Hand in das eisige Wasser und tastete, bis sie auf etwas Schleimiges stieß – genau, was sie gesucht hatte. Sie kannte die Lebensgewohnheiten der Tiere nicht, deshalb packte sie gleich mehrere in den Lederbeutel und füllte ihn sicherheitshalber mit Wasser. In ihrem ersten Jahr hier hatten sich einige dieser Schleimmonster an ihrer Haut festgesaugt und ihr Blut abgezapft. Zum Glück hatte sie sie mit ein wenig Geschick entfernen können. Inzwischen war sie an die Schmarotzer gewöhnt, hatte sie doch sogar eine positive Eigenschaft an ihnen entdeckt: Setzte man sie auf einen blauen Fleck, so verschwand er, nachdem die Geschöpfe sich am Lebenssaft gelabt hatten. Außerdem verebbte der Schmerz. Theona hoffte, dass sie auch bei den entzündeten Wunden helfen würden. Da sie den Mann unmöglich zum Wasserbecken schleppen und schon gar nicht in seinem Zustand in eiskaltes Wasser tauchen konnte, mussten eben die schleimigen Biester zu ihm hingeschafft werden.

Zurück in der Hütte schüttete sie die Tiere mit dem Flusswasser in eine Holzschüssel. Sie holte eine zweite, die sie ebenfalls mit Wasser aus dem Becken füllte, und setzte dann vorsichtig je eines der Biester auf jede entzündete Wunde. Gierig saugten sie sich fest, und Theona konnte beobachten, wie sie langsam anschwollen. Schließlich rollten sie sich, anscheinend vollgesogen, zusammen. Sie nahm die Viecher herunter und packte sie in die zweite Schüssel, um sie von den anderen getrennt zu halten, die sie noch benutzen konnte. Nach zwei Stunden wiederholte sie das Ganze mit weiteren Exemplaren aus dem ersten Gefäß. Während die Tiere saugten, flößte sie dem Mann die nahrhafte Brühe ein, die sie mit Fleisch aus ihrem Vorrat gekocht hatte.

Sie holte frisches Wasser von der Quelle in der Höhle neben ihrer Hütte. Damit wusch sie den Mann in regelmäßigen Abständen ab, bis sie das Gefühl bekam, dass die Hitze in seinem Körper nachließ.

Draußen begann der Schneesturm zu toben, keine Seltenheit in dieser Jahreszeit im Katakmas. Kurz ging sie hinaus, um zu prüfen, ob sich die Pferde in die Höhle zurückgezogen hatten, die sie zum Stall gemacht hatte. Sie strich den Zweien durch das dichte Fell. Es war schön, ihre warmen, heilen, lebendigen Körper unter den Händen zu fühlen.

Schließlich ging sie zurück in die Hütte zu dem Mann, der dem Tod näher war als dem Leben. Nach einer Weile forderten die Anstrengungen ihren Tribut und sie schlief ein.


Theona erwachte von der Ruhe. Durch die Öffnung in der Wand, nur von einer hauchdünnen ledernen Haut verschlossen, schien die Sonne. Mit dem Kopf auf der Brust des Mannes war sie eingeschlafen, dessen Atemzüge jetzt tief und gleichmäßig gingen. Sie legte die Hand auf seine Stirn, die sich trocken anfühlte und nur noch wenig unnatürliche Hitze ausstrahlte. Sie kontrollierte die Wunden. Die Rötungen waren zurückgegangen, die gelbliche Flüssigkeit verschwunden.

Zufrieden schnappte sie den Beutel mit den vollgefressenen Schmarotzern und ein Tuch. Diesmal ging sie zu Fuß zum Becken, ließ die Biester frei, nahm ein Bad und wusch sich gründlich. Sie verdrängte die Gedanken an den Dreck, mit dem sie in Berührung gekommen war. Sie blieb so lange im Wasser, wie sie es aushielt. Mit dem Tuch rubbelte sie ihre Haut trocken, bis sie rot glühte.

Während sie zurücklief, erstarrte die Feuchtigkeit in ihrem Haar zu Eis. In der Hütte entfachte sie das Feuer und setzte einen Kessel mit frischer Suppe auf. Sie zitterte am ganzen Leib von der Kälte des Wassers. Nachdem sie einen der Schemel vor die Feuerstelle gezogen hatte, setzte sie sich dicht an die Flammen, beobachtete, wie die Wärme die Eiskristalle in ihrem Haar langsam zum Schmelzen brachte.

Theona dachte an ihre Kindheit, den Schneesturm, der sie und Auriel auf dem Weg zum Großvater überrascht hatte. Gemeinsam suchten sie damals in einer Höhle Zuflucht. Sie hatte mit viel Geduld ein Feuer entfacht, während ihr älterer Bruder – der Krieger – mit den Zähnen klapperte. Auch damals hatte sie beobachtet, wie die Hitze die Eiskristalle aus ihrem Haar löste.


Leiser Gesang weckte Thelos aus einem entsetzlichen Traum voller Schmerzen, Angst und Hoffnungslosigkeit. Es gelang ihm, den Kopf in Richtung der Stimme zu drehen. Eine Frau saß auf einem Hocker vor der Feuerstelle. Schwarze Kleidung hüllte ihren Körper ein. Sie hatte den Kopf auf die Seite geneigt, zum Feuer hin. Durch den dichten Teppich aus goldenem, welligem Haar konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Die Flammen flackerten wie lebendiger Lichtschein über die feuchte Haarpracht und ließ sie schimmern. Tot – er musste tot sein, und vor ihm saß eine Nymphe. So friedvoll strahlte das Bild und vertrieb seinen schrecklichen Traum. Es gab keine andere Möglichkeit. Er versuchte sich mit den Händen aufzustützen und stellte fest, dass sie seitlich neben seinem Körper festgebunden waren. Er rüttelte an den Stricken, und der Gesang verstummte. Er erstarrte. Ob Nymphen gefährlich waren, wenn man sie bei der Haarpflege oder beim Singen störte? Aber spielte das im Jenseits eine Rolle?

»Ihr seid wach.«

Ein fein geschnittenes Gesicht mit vollen Lippen und Augen, die wie flüssiger Waldhonig mit einer dunkleren Marmorierung aussahen, beugte sich über ihn und redete ihn an. Er verstand sie, und das erstaunte ihn. Sprachen Nymphen keine eigene Sprache?

»Könnt Ihr mich verstehen?«, wiederholte sie und artikulierte jedes Wort betont langsam auf Eldemarisch.

Er nickte vorsichtig, wusste nicht, ob er sich trauen sollte, sie anzusprechen.

Mit einem Stirnrunzeln betrachtete sie ihn.

»Hat man Euch die Zunge herausgeschnitten?«

Thelos erstarrte, stellte aber erleichtert fest, dass er seine Zunge noch besaß. Die Erinnerung an das heimlich geplante Treffen mit Auriel von Akliet überfiel ihn, an den Verrat, die Gefangennahme, die Folter. Er sah Kravos von Nordin wieder vor sich und erinnerte sich an seine missglückte Flucht. Seltsam. Müsste ihm im Jenseits nicht alles egal sein? Stattdessen übermannte ihn kalter Zorn über das, was ihm der tariekische Heerführer angetan hatte.

Im selben Moment durchfuhr ihn ein verzehrendes Feuer aus Schmerzen. Ungewollt bäumte sich sein Körper auf. Er kniff die Augen zu, fühlte eine kühle Hand auf seiner Stirn, öffnete erneut die Augen und sah den wachsamen Ausdruck in dem Gesicht der über ihn gebeugten Gestalt. Ein Becher wurde ihm an den Mund geführt. Er trank ihn Schluck für Schluck leer.

Die Spannung und die Schmerzen ließen nach. Ein dichter Nebel umschloss seinen Verstand, hinderte ihn am klaren Denken.

»Seid Ihr eine Nymphe?«, wagte er die Frage laut auszusprechen. Seine Zunge war so schwer, wollte ihm kaum gehorchen.

Sie sah ihn verständnislos an mit ihren großen, waldhonigfarbenen Augen. Dann begann sie unvermittelt zu lachen. Ihr weiches und melodisches Lachen ähnelte ihrem Gesang.

»Nein, ich bin keine Nymphe. Ich bin ein Mensch wie Ihr. Die Beule scheint Euch mehr Schaden zugefügt zu haben, als ich dachte.«

Ihre Hände tasteten seinen Kopf ab. Der Schmerz, der ihn bei der sanften Berührung durchzuckte, machte ihm endgültig klar, dass er auf wundersame Weise am Leben geblieben war und nicht im Totenreich weilte. Noch einmal zog er an den Fesseln, um die Untersuchung zu unterbinden. Immerhin ließ die Frau von ihm ab.

»Könntet Ihr mich losbinden?«, flüsterte er mühsam.

Ihr forschender Blick durchbohrte ihn, drang bis in die Tiefe seiner Seele. Er hatte das Gefühl, nackt vor ihr zu liegen, dann merkte er, dass genau das der Fall war. Nur eine Decke, die ihm bis zur Hüfte reichte, bedeckte ihn halbwegs.

Die Frau stand auf und holte ein Jagdmesser, das scharf und gepflegt aussah. Er hielt den Atem an, als sie sich über ihn beugte und eine Fessel zerschnitt.

»Denkt daran, dass ich Euch das Leben rettete!«

Der zweite Arm war befreit. Erleichtert zog er die Hände zum Körper und rieb sich die Handgelenke. Ein letzter prüfender Blick aus den seltsamen Augen, und sie steckte das Messer in den Hosenbund, setzte sich auf den Hocker vor das Feuer und begann wieder, ihr Haar zu kämmen.

Mit vorsichtigen Bewegungen verlagerte Thelos sein Gewicht auf die Seite. Er zog die Decke bis zu seinen Schultern hoch. Sie hatte das Gesicht von ihm abgewandt, und der dichte, goldene Haarteppich versperrte ihm ein weiteres Mal die Sicht darauf. Das Feuer knisterte, und der Lichtschein schickte unruhige Wellen über die Haare.

Er nahm jede einzelne Faser seines Körpers wahr. Alles tat weh, selbst das Atmen. So schwer es ihm fiel, in dem Nebel, der seinen Verstand umhüllte, einen Gedanken zu fassen, wurde ihm nach und nach bewusst, was man ihm angetan hatte. Seine Hand ruckte hin zum Ohr, aber da gab es nichts mehr außer einem ausgefransten Rand. Die Erinnerung an das Entsetzen und die Panik, als sich das schwere Messer näherte, lähmte ihn. Kaum hatte er das Ohr auf dem Boden gesehen, hatte er das Bewusstsein verloren.

Leise summte die Frau eine Melodie. Er hörte sie, aber der Klang wirkte seltsam flach und dumpf. Nie wieder würde er der Mann sein, der er gewesen war, weder äußerlich noch innerlich. Beruhigend bahnte sich das Lied einen Weg in seine düsteren Erinnerungen, drängte Schmerz, Angst, Wut und Hass in den Hintergrund. Die Lider wurden ihm schwer, sein Atem ging tiefer und er sank in einen ruhigen, heilenden Schlaf.


Thelos erwachte von dem Drang, sich erleichtern zu müssen. In der Hütte herrschte dämmriges Licht. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte. Die Frau konnte er nirgendwo entdecken. Langsam richtete er sich auf und verfluchte die sofort aufkommende Schwäche. Schmerzen brandeten durch seinen Körper. Ihm wurde schwindelig und er verlor die Orientierung. Krampfhaft krallte er die Hände in das Holz des Bettes, fixierte mit den Augen einen Punkt, bis das Auf und Ab nachließ. Suchend ließ er dann seinen Blick in der Stube umherstreifen, in der Hoffnung etwas zu finden, was er anziehen konnte. Die Hütte bestand aus diesem einen Raum. Ihm gegenüber gab es einen Tisch mit zwei Stühlen, ein Brett an der Wand, auf dem Bücher standen, was ihn irritierte. Auf einem weiteren Brett stapelten sich Holzschüsseln und runde Brettchen. Auf der anderen Seite entdeckte er eine Kochstelle mit einem Feuer, das niedrig brannte. Neben der Tür gab es Haken, an denen Felle hingen – zu Umhängen verarbeitet. Darunter standen Stiefel. Am Fußende des Betts stand ein Schrank. Thelos rutschte nach und nach über die Kante des Betts, hielt sich mit einer Hand am Eckpfosten fest und wuchtete sein Körpergewicht auf die Füße.

»Was macht Ihr da?«

Erschrocken griff er nach der Decke, um seine Blöße zu bedecken. Die Frau hielt mit ihren klaren Augen sein Gesicht im Visier, ohne dass ihr Blick auch nur einen Millimeter abrutschte. Thelos sank zurück auf das Bett und schlang sorgfältig die Decke um seinen Körper. Den Kopf der Frau bedeckte jetzt ein gewickeltes Tuch, wie es die Wüstensöhne trugen. Ihre Wangen leuchteten in einem tiefen Rot von der Kälte, die draußen herrschte.

Verlegen senkte er den Blick. »Es gibt Bedürfnisse, die sich nicht aufschieben lassen.«

Sie verstand sofort. »Ihr hättet mich rufen können.«

Ich bin kein hilfloses Kind, dachte Thelos grimmig, wütend über seine körperliche Schwäche und die demütigende Nacktheit. Sie bemerkte seine Bemühungen, sich mit der Decke zu verhüllen, genauso wie seine Verlegenheit.

»Verzeiht, aber Eure Kleidung, …« Sie verzog angeekelt ihr Gesicht.

Thelos schloss die Augen. Er wollte nicht daran denken, in welchem Zustand sie ihn aufgefunden hatte. Dabei wurde ihm klar, was diese Frau mit ihm gemacht haben musste, denn an seinem Körper klebte kein Krümel Schmutz mehr, und er roch weder nach Unrat noch nach Schweiß oder Urin. Stattdessen stieg ihm ein kräftiger Waldduft in die Nase, und seine Wangen begannen vor Scham zu brennen.

Er schlug die Hände vor das Gesicht, ertastete die weiche Haut an seinem Kinn und erstarrte. Ein Bartloser galt in Eldemar gar nicht als Mann! Was hatte sie ihm angetan?

»Es tut mir leid, ich hatte keine Wahl«, erklärte sie leise. Erschrocken fuhr er zusammen. Sie hatte sich lautlos genähert und stand dicht vor ihm. Er tastete vorsichtig nach der Stelle, wo ihm das Ohr fehlte. Dabei stellte er erleichtert fest, dass sie wenigstens das Kopfhaar verschont hatte. Sie öffnete die Schranktür und holte Kleidungsstücke heraus, die sie neben ihm auf das Bett legte.

»Denkt Ihr, dass Ihr es allein schafft, Euch anzuziehen?«

»Ja«, stieß er schroff hervor.

»Wenn Ihr so weit seid, ruft mich. Dann zeige ich Euch, wo Ihr Euch erleichtern könnt.«

Die Tür fiel zu. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, horchte auf den Klang ihrer Stimme von draußen, als sie in der Sprache der Tarieken leise schimpfte: »Nein Tiela, ich spiele nicht mit dir. Hör auf, lass es sein. Such dir Atantuch für deine Späße.«

Er hörte, wie Hufe auf den Boden stampften, dann ein aufforderndes Wiehern.

»Kscht!«

Dann galoppierte ein Pferd weg. Dunkel tauchte in seiner Erinnerung das Bild einer schwarzen Raubkatze mit leuchtend grünen Augen auf, das Spiel der Muskeln, seidiges, schwarzblau schimmerndes Fell. Er erinnerte sich an diese Stimme. Hatte sie wahrhaftig mit dem Raubtier gesprochen oder entsprang diese Erinnerung den Fieberträumen? Wer war diese Frau, die in der Wildnis lebte – allein, wie es schien? In einem Gebirge, dem selbst die Eldemarer mit Respekt begegneten wegen seiner Unwegsamkeit, den tiefen Schluchten und schmalen Pfaden. Jedes Kind kannte die Legenden vom Katakmas, von dem niemand lebend wiederkehrte, wenn er versuchte, ihn zu bezwingen.

Er schüttelte den Kopf. Er hatte andere Probleme, die dringlicher einer Lösung bedurften. Sein Blick fiel auf die Kleidungsstücke, die neben ihm lagen. Er mühte sich ab, sie Stück um Stück anzuziehen. Entsetzt sah er auf eine weitere ungewohnte Nacktheit an sich, die ihm leuchtend ins Auge fiel. Schweiß brach ihm aus. Sie hatte ihm alle Zeichen der Männlichkeit geraubt, bis auf das lange Haupthaar! Blank rasiert wie bei einem hochgestellten Tarieken lag sein Gemächt vor ihm.

Es dauerte, bis sein aufgewühltes Gemüt wieder einen klaren Gedanken zuließ. Sie war freundlich und höflich zu ihm gewesen, hatte seine Wunden behandelt und – was eine viel wesentlichere Bedeutung hatte – ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider: »Ich hatte keine Wahl.«

Lebhaft kroch die Erinnerung hoch von dem Jucken, Brennen und Krabbeln überall am Körper. Er atmete tief durch. Immerhin hatte sie ihm das Haupthaar gelassen. Am Oberschenkel sah er Spuren von Krallen, die sich ins Fleisch gegraben hatten. Sachte strich er mit den Fingerkuppen daran entlang. Das Raubtier war also keine Ausgeburt seiner Fantasie. Wie viele Male stand er bei dieser Frau in Lebensschuld? Wie sollte er das jemals wieder in ein Gleichgewicht bringen? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, welche Bedeutung das in seinem Land besaß?

Seufzend zog er die Hose hoch, die viel zu kurz, dafür aber oben zu weit war. Die Ärmel des Oberteils reichten ihm nur bis knapp über die Ellenbogen. Egal, es musste irgendwie gehen. Langsam hievte er sich auf die Füße. In seinem Kopf begann der Raum zu kreisen.

»Ihr solltet mich rufen, wenn Ihr bereit seid.«

Erneut erschien sie wie aus dem Nichts in der Hütte, einem Geist gleich, als könnte sie durch Wände sehen oder verfügte über die Gabe einer gerissenen Lauscherin. Die Frau stellte sich neben ihn und schlang einen Arm mit erstaunlicher Kraft um seine Taille. Sie reichte ihm knapp bis zur Schulter. Auch die tariekischen Männer wiesen gegenüber den Eldemarern eine kleinere Statur auf, aber diese Frau erschien ihm winzig.

»Stützt Euch an meiner Schulter ab.«

»Vergesst es!«, knurrte er. Allein der Gedanke, sein Gewicht auf diese zerbrechliche Gestalt zu stützen, erschien ihm lächerlich. Blitzschnell ließ sie ihn los und wich zur Seite. Er schwankte, griff ins Leere und wäre gestürzt, wenn sie nicht erneut zu ihm getreten wäre und ihn abgestützt hätte.

»Vergesst Euren Stolz, Eldemarer. Was glaubt Ihr, wie Ihr ins Bett hineingekommen seid?«

Thelos gab sich geschlagen. Gemeinsam gingen sie Schritt um Schritt nach draußen. Die frische Brise traf ihn mit voller Wucht und ließ ihn zittern. Er blieb einen Moment stehen, nahm zwei, drei tiefe Atemzüge. Die Luft klärte seine Gedanken, verscheuchte das dumpfe Pochen. Gierig schnappte er nach Luft wie ein Ertrinkender, dessen Kopf unerwartet die Wasseroberfläche durchbricht. Geduldig harrte die Frau an seiner Seite aus, als wüsste sie, dass er Zeit brauchte, um sich wieder an das Gefühl von Freiheit zu gewöhnen.

Eine hellbraune Stute sah ihnen mit einem wachen, interessierten Blick zu.

»Wie wärs, Tiela? Statt dir ständig Blödsinn auszudenken, könntest du dich mal nützlich machen.«

Wieder hatte sie mit dem Tier in ihrer eigenen Sprache gesprochen. Thelos sah das Pferd lostrotten – zu ihm hin, als hätte es seine Besitzerin verstanden. Er legte den Arm über den Widerrist der Stute, der nicht höher reichte als an seine Schulter. Alles in Tarieken erschien ihm klein. Dankbar stützte er sein Gewicht auf das Pferd, was ein weniger beschämendes Gefühl war, als es weiterhin der Frau zuzumuten, die sie begleitete. Brav trottete das Tier neben ihm her. An einem Baum mit dichtem Buschwerk hielt es an.

»Nicht besonders komfortabel, aber es erfüllt den Zweck. Ihr könnt Euch an dem Baum festhalten.« Seine Retterin flüsterte der Stute etwas ins Ohr und verschwand Richtung Hütte. Das Pferd blieb bei ihm stehen und beäugte ihn interessiert. Sein Bedürfnis, sich zu erleichtern, war zum Glück dringender als die Irritation, dabei – wenn auch von einem Pferd – beobachtet zu werden.


Seine Kräfte waren fast aufgebraucht, als er mit der Hilfe des Pferdes wieder die Hütte erreichte. Ein brauner Wallach leistete ihnen Gesellschaft. Er besaß eine viel kompaktere Statur als die zierliche Stute, nicht nur, was die Muskeln, sondern auch, was die Beine betraf, war aber dafür knapp eine Handbreit kleiner. Thelos hörte die kräftigen Schläge einer Axt und sah sich nach der Tariekin um. Erst jetzt bemerkte er, dass die Hütte an eine Felswand anschloss, die sowohl eine Hauswand als auch das Dach bildete. Im Grunde musste dies zuvor eine offene Höhle gewesen sein, deren Form jemand geschickt ausgenutzt hatte. Direkt seitlich von der Hütte lag ein Eingang in das Innere des Felsens. Dort stand die Frau, schwang eine Axt und spaltete Holz in kleine Stücke. Ein Korb war zur Hälfte mit klein gemachtem Span gefüllt. Seine Augen blieben unwillkürlich auf das scharfe Werkzeug gerichtet.

»Wie ich sehe, habt Ihr den Rückweg ohne meine Hilfe geschafft. Ihr seht blass aus, geht hinein und ruht Euch aus.«

Er nickte mit einem letzten Blick auf die Axt und tastete sich an der Holzwand entlang zurück zur Tür. Für den Weg von der Tür bis zum Bett wagte er drei freie Schritte, sank auf dem Lager zusammen und schlief auf der Stelle ein.


Theona lauschte auf die schwerfälligen Schritte des Mannes. Seine ungelenken Bewegungen klangen so laut, dass sie genau wusste, wo in der Hütte er sich aufhielt. Sie spaltete weiter Holz, bis der Korb fast überquoll. Seine Gedanken bezüglich der Axt hatten sich offen in seinem Gesicht und dem fixierten Blick gespiegelt. Sie verstand sein Gefühl. Sie selbst hatte seit ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft keinen Tag alle Waffen abgelegt.

Sorgfältig suchte sie ein Versteck für die Axt, damit er sie nicht auf Anhieb finden konnte. Die Eldemarer lebten nach einem gnadenlosen Ehrenkodex, das wusste sie von dem ehemaligen Gefangenen ihres Bruders. Es hatte sie tief beeindruckt, wie zuvorkommend und höflich der Mann sich ihr gegenüber verhalten hatte, als sie ihn im Gefängnis besuchte. Als würde er sie in seinem eigenen Heim empfangen und nicht in einem Kerker. Sie hatte dem Eldemarer in der Hütte bereits zweimal das Leben gerettet, aber konnte sie annehmen, dass dies eine Bedeutung in dessen Land hatte? Ein Tarieke stände bei dem anderen in einer tiefen Lebensschuld, die er in jedem Fall, abzugelten hätte. Natürlich nicht bei einer Frau, denn eine Frau zählte in ihrem Land als Gegenstand. Deshalb wurde auch kein Tarieke zum Tod verurteilt, wenn er eine Frau getötet hatte. War die Frau allerdings verheiratet, so musste dem Ehemann ihr Gegenwert mit Gold ausgeglichen oder die Schuld durch Arbeit abbezahlt werden.

Auriels gefangener Eldemarer hatte nicht gewusst, dass sich unter der Kleidung seines Besuchers eine Frau verbarg. Er hatte von ihr nie mehr als ihre Augen gesehen.

Egal, wie es sich auch verhielt, der Mann in der Hütte hatte viel Leid von den Folterknechten des tariekischen Heerführers erlitten, und sie hatte ihn der Männlichkeit beraubt, seinen Stolz damit sicher tief verletzt. Sie konnte verstehen, wenn er den Wunsch hegte, sie zu töten.

Theona hatte sicherheitshalber auch ihren Bogen und das Schwert versteckt. Es war ein ungutes Gefühl, die Waffen nicht griffbereit am Körper zu tragen. Sie kam sich ohne sie förmlich nackt vor. Nur ihr Jagdmesser steckte verborgen im Gurt an der Hose. Als sie das Holz hereinbrachte, schlief der Mann tief und fest – angezogen quer über dem Bett liegend.

Die Hosenbeine und Ärmel waren viel zu kurz für ihn. Theona seufzte, denn Nähen gehörte zu den Aufgaben, für die sie keinerlei Begabung zeigte. Ewigkeiten voller Qual hatte sie in ihrer Kindheit damit verbracht. Stundenlang musste sie vor den Füßen der Mutter über eine Näharbeit gebeugt ausharren. Und immer wieder hatte diese die Stiche von Theonas Arbeit aufgetrennt, weil sie nicht fein und gleichmäßig genug waren oder es ihnen an Festigkeit mangelte. Jedes Mal musste sie von vorn anfangen. Weder besaß sie die erforderliche Geschicklichkeit noch die Geduld für diese Art der Tätigkeit. Hundertmal lieber hatte sie ihr Schwert im Training gegen Auriel geschwungen, auch wenn ihr danach jeder Muskel schmerzte und sie blaue Flecken davontrug. Aber davon hatte die Mutter nie etwas erfahren, weil es ein Geheimnis zwischen Auriel und ihr und dem Großvater war, das sie alle hätte das Leben kosten können.

Theona öffnete den Schrank und inspizierte die darin aufbewahrte Kleidung. Mit einem Seufzer begab sie sich an die verhasste Arbeit.


Thelos erwachte aus einem traumlosen, erholsamen Schlaf. Erstaunt stellte er fest, dass er angezogen auf dem Bett lag. Diesmal fiel es ihm leichter, sich aufzurichten. Die Schmerzen waren zwar in jedem Winkel des Körpers noch immer vorhanden, waren aber erträglich. Er war allein in der Hütte. Ein Topf hing über dem Feuer, aus dem es unwiderstehlich duftete. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte laut. Langsam schwang er die Füße vom Bett und stand auf.

Kurz übermannte ihn das Schwindelgefühl erneut, doch klang es rascher ab als zuvor. Er schlurfte auf die Essecke zu, nahm zwei Schüsseln und Löffel vom Brett. Ein Schopflöffel hing neben dem Topf über dem Feuer. Zu gern hätte er einen Teller voll genommen, aber es widersprach seiner Erziehung, ohne die Gastgeberin zu essen.

Sein Magen knurrte erneut. Er setzte sich an den Tisch, und sein Blick fiel auf einen Korb, in dem eine unvollendete Näharbeit lag – oder besser der Versuch, etwas zu nähen. Er nahm das Werk auf und ließ es prüfend durch die Finger gleiten. Die Stiche waren unregelmäßig, die Naht warf Falten. Er musste lächeln über diese Frau, die mit einer Axt Holz spalten konnte, aber keine ebenmäßige Naht zustande brachte. Jeder Krieger in Eldemar lernte neben dem Kämpfen auch das Nähen. Anfangs hatte er nur widerwillig lange Zeit mit Üben verbracht, doch die Fähigkeit hatte sich mehr als einmal als nützlich erwiesen. Zerrissenes Sattelzeug, Löcher in Hosen und Hemden, abgerissene Bänder – selbst die Wunden seiner Männer hatte er geflickt.

Die Tür der Hütte schwang auf, ein kalter Wind und Schneeflocken wirbelten herein, zusammen mit einem verschneiten Menschen. Die Frau klopfte den Schnee vom Umhang, sah zum Bett und hielt inne. Als ihr Blick auf Thelos fiel, lächelte er ihr zu.

Sie verzog nur leicht den Mund, dann musterte sie ihn kritisch. »Ihr seht besser aus.«

Sie hängte ihre Sachen an den Haken bei der Tür und zog die Stiefel aus.

»Ich fühle mich auch kräftiger.«

»Warum habt Ihr noch nichts gegessen?«

»Das wäre Euch gegenüber unhöflich gewesen.«

Ein feines Lächeln erschien auf ihren Lippen. Sie ging zur Feuerstelle, holte eine runde, dicke Scheibe von einem Stein und legte sie auf den Tisch. Er reichte ihr die Schüsseln, die sie aus dem Topf auffüllte. Es war eine dickflüssige Suppe mit reichlich Fleisch. Sein Magen knurrte laut und deutlich.

»Esst, damit Ihr zu Kräften kommt.«


Theona holte Becher vom Regal, kippte das Pulver der schwarzen Kugeln, die sie zuvor gemahlen hatte, hinein und schüttete heißes Wasser darauf. Sie schob ihm einen Becher zu. Der Mann starrte auf das Gefäß, zog es dichter heran, und wedelte mit der Hand den Dampf des Getränks zur Nase.

Verblüfft sah er sie an. »Das ist Tijuam. Wo habt Ihr das her?« Das Essen hatte er noch nicht angerührt.

Sie setzte sich mit einem verschmitzten Grinsen an den Tisch. »Auch wir Tarieken wissen Gutes zu schätzen.«

Sie tauchte den Löffel in die Suppe, und er folgte ihrem Beispiel. Nach den ersten gierigen Schlucken besann er sich und verlangsamte das Esstempo.

»Was ist das?« Er zeigte auf das Runde, das sie zuvor vom Stein geholt hatte.

»Ihr kennt kein Brot?«

»Das soll Brot sein?«

»Nun ja, es ist ein Fladen, anders als eldemarisches Brot, dafür haltbarer.« Sie brach eine Ecke davon ab, tauchte das Stück in die Suppe und kaute voll Genuss.

Vorsichtig zupfte er ein kleines Stück ab und folgte ihrem Beispiel. »Hmh, das schmeckt gut.«

Sie teilte den Rest in zwei Hälften und schob die eine zu ihm hinüber. Sein Gesicht war längst nicht mehr so blass wie am Tag zuvor. An Kinn und Wangen sprossen dunkle Stoppeln. Die Augen schimmerten in einem hellen, warmen Braunton. Seine Finger, die den Löffel hielten, sahen erstaunlich filigran aus, was ihr bereits zuvor aufgefallen war. Kein Krieger hatte solche Hände. Sie hatte ihm das schwarze, wellige Haar, das bis zu seinen Schultern reichte, nicht geschnitten, sondern es stattdessen sorgfältig gewaschen und gekämmt. Sie hatte eine Tinktur benutzt, die zwar furchtbar auf der Haut brannte, dafür aber Läuse effektiv bekämpfte. Für die anderen Stellen hatte sie die Rasur gewählt, da sie dort die beißende Flüssigkeit keinesfalls hätte benutzen können. Sie hatte gewusst, dass sie damit sein Missfallen heraufbeschwor, aber mit der Heftigkeit seiner Reaktion, als er erwachte, hatte sie nicht gerechnet. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Bruders, dass jeder Krieger bei den Eldemarern einen Bart trug. Tariekische Männer entfernten sich alle Haare, bis auf die am Kopf. Je höher der Status, desto sorgfältiger achtete ein Mann darauf. Körperbehaarung zeugte in Tarieken von Rohheit, Wildheit und mangelnder Kultur, darum hielt sich in ihrem Volk hartnäckig das Vorurteil, die Eldemarer seien Tiere, nein, sogar Bestien, die grausam töteten und viele andere Gräueltaten begingen.

Erst Auriel hatte ihr die Augen geöffnet und ihr erklärt, dass die Andersartigkeit eines Volkes keineswegs bedeutete, dass es weniger zivilisiert sein musste. Er brachte ihr das Lesen bei, damit sie sich Wissen aneignen und sich selbst ein Urteil bilden konnte. Das Lesen schärfte ihren Verstand, und rasch erlernte sie die Sprachen. Die meisten Bücher waren von Eldemarern geschrieben, viele auch von Mintranern und Forranern. Nur wenige stammten aus ihrem Volk. Angeblich existierte in der Hauptstadt von Eldemar ein Gebäude, das mehr geschriebene Werke barg, als es überhaupt in Tarieken gab. Später hatte sie aus eigener Erfahrung gelernt, die Eldemarer mit anderen Augen zu betrachten, die höfliche Zuvorkommenheit von Auriels Gefangenem zu sehen gegenüber dem, was ihr Kravos von Nordin angetan hatte.

»Darf ich Euch um eine weitere Schüssel Suppe bitten?«

Freundlich hatte er sie auf Tariekisch angesprochen, behandelte sie in einer Form, wie in Tarieken höchstens Ehefrauen von Hochstehenden angesprochen wurden. Es kam aber selten vor, dass ein Mann – sei es der Ehemann oder ein Gast – überhaupt das Wort direkt an eine Frau richtete. Von Frauen wurde schlicht erwartet, dass sie ihren Pflichten im Bett und im Haushalt nachkamen.

Unwillkürlich fühlte sich Theona an Burkas erinnert. Erst als sie das Leben der Bauernfamilien kennenlernte, hatte Theona ein anderes Verhalten Frauen gegenüber erlebt. Burkas redete auf Augenhöhe mit Riah und fragte sie nach ihrer Meinung in wichtigen Dingen.

»Ihr dürft«, antwortete sie auf Eldemarisch und stand auf.

»Ihr sprecht unsere Sprache ausgezeichnet. Das ist ungewöhnlich. Um genau zu sein, kenne ich nur einen einzigen Tarieken, der ein paar Worte Eldemarisch spricht, aber Ihr redet fließend und akzentfrei.«

Theona schwieg. Es gab außer ihr tatsächlich nur einen Tarieken, der die Sprache des Feindes beherrschte und verwendete. Wenn ihr Gegenüber ihn kannte, konnte die Tatsache, dass Kravos seine besten Männer der Gefahr des Katakmas im Winter aussetzte, nur eines bedeuten.

Sie stellte ihm die volle Suppenschüssel hin, setzte sich und musterte ihn mit der frischen Erkenntnis neu.

»Wer seid Ihr?«, fragte sie leise.


Langsam tauchte Thelos unter ihrem Blick den Löffel in die Suppe, hob ihn an die Lippen und schluckte die heiße Flüssigkeit hinunter. Ihr Blick war intensiv, sie war angespannt und wartete auf eine Antwort. Er hob den Kopf, hielt ihrem Blick stand und erwiderte ihn in derselben Intensität.

»Die Frage ist: Wer seid Ihr?«

Sie zog die Lippen auseinander, aber ihre Augen blieben wachsam auf ihn gerichtet. Es war eher eine Drohgebärde als ein Lächeln.

»Ich bin die, die Euch das Leben gerettet hat.«

»Meinen Namen zu wissen, könnte für Euch tödlich sein.«

»Hier draußen im Katakmas kann jeder Tag tödlich enden.«

»Umso ungewöhnlicher, dass Ihr in dieser unwirtlichen Gegend lebt, eine Frau ohne einen Mann, der sie beschützt.«


Theona hörte sein Misstrauen hinter den Worten.

»Ich habe gelernt, auf mich aufzupassen.«

»In der Tat, und Ihr könnt meine Sprache.«

Schweigend kämpften sie im Augenkontakt miteinander, keiner gewillt, dem anderen seine Identität preiszugeben. Schließlich aß der Eldemarer weiter.

Nachdenklich musterte Theona ihn, wusste, dass es, wenn sie es laut aussprach, zur Gewissheit werden würde, ohne einen Weg zurück in die gnädige Ungewissheit, in der sie so unbekümmert leben konnte. Aber es gab keinen Zweifel. Sie musste ihn sich nur in einer roten Uniform mit einem Drachen, der silberfarbenen Stute und etwas mehr Fleisch auf den Knochen vorstellen. Zwar hatten seine Worte ihre Aufmerksamkeit auf ihren Bruder gelenkt, dennoch erkannte sie etwas in den Gesichtszügen ihres Gegenübers.

»Ihr seid Thelos von Bersaken.«

Er hielt nicht einmal inne, löffelte ungerührt weiter Suppe in sich hinein.

Äußerlich gelassen hatte sie die Worte ausgesprochen, aber der Schock der Erkenntnis hallte in ihr nach. Sie hoffte inständig, einem Irrtum zu unterliegen. Wenn sie wahrhaftig den Prinzen von Bersaken vor sich hatte, dann bedeutete das den Untergang ihres Volkes. Dann war alles, was sie geopfert, alles, wofür ihr Bruder jahrelang gekämpft hatte, von Kravos von Nordin zunichtegemacht. Sie schloss die Augen, fühlte, wie ihr kalte Wut und Mordlust durch die Adern schossen, Gefühle, die sie kontrollieren musste, egal, was es sie kostete.

Niemals durfte ein Mensch durch die Gabe sterben.

Sie kämpfte die Emotionen nieder. Unüberlegtes Handeln führte nie zum Ziel. Oft genug hatte es ihr das Leben gerettet, einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Ihr seid Thelos von Bersaken«, wiederholte sie, diesmal mit Gewissheit, weil er noch immer nicht reagierte.

Schließlich hatte er die Schüssel leer gelöffelt.

»Wie kommt Ihr darauf?« Er leugnete es nicht.

»Wie, im Namen von Lethos, seid Ihr in die Hände von Kravos geraten?« Innerlich war sie weiterhin bemüht, die Kontrolle zu behalten.


Thelos beendete seine Mahlzeit, lehnte sich vorsichtig zurück und sah die Frau an, die mühsam ihre Wut zu verbergen suchte.

»Ich wurde verraten.«

»Von wem?«

»Auriel von Akliet.«

Für einen Augenblick schien sie die Fassung zu verlieren, dann schüttelte sie nur energisch den Kopf.

»Niemals.«

»Er bat um ein geheimes Treffen unter vier Augen, ohne meine Wachen.«

»Nein, auf keinen Fall hätte er Euch gebeten, nach Tarieken zu kommen. Er hätte nie den Frieden riskiert, nie Euch diesem Risiko ausgesetzt, in die Hände des tariekischen Heerführers zu fallen! Egal um was es geht und was es ihn kostet!«

Die Frau sprach mit der gleichen festen Überzeugung wie der Mann, der ihn aus dem Kerker befreit hatte. Er setzte an, ihr zu widersprechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ohne die Krieger des Inneren Kreises als Begleitschutz! Wie kann ein Prinz so hirnlos sein, sich in das Land der Feinde zu begeben, vollkommen allein?«

»Es gibt einen Friedensvertrag.«

»Was nicht heißt, dass Euch jeder hier wohlgesonnen ist und Ihr unbeschadet durch die Gegend reiten könnt!«

»Wer sagt, dass ich ohne Begleitschutz gekommen bin?«

Sie starrte ihn an. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Dann fasste sie sich wieder.

»Die Krieger des Inneren Kreises haben Euch begleitet?«

»Nein, nur meine Leibgarde.«

»Und wo ...«

»Tot. Alle. Und für jeden Einzelnen wird Auriel von Akliet bezahlen.«

»Ihr handeltet unüberlegt und leichtsinnig! Ihr tragt die Verantwortung für den Tod eurer Männer selbst.«

Thelos verzog das Gesicht. Er brauchte nicht die Zurechtweisung einer Frau, um zu begreifen, dass er einen Fehler gemacht hatte, oder um ihn an seine Schuld zu erinnern.

»Er hat mich verraten, hat den Frieden zwischen Tarieken und Eldemar auf dem Gewissen«, erklärte er kühl.

Mit einem Satz sprang die Frau auf. Blitze schossen aus ihren Augen, die alle Honigsüße verloren hatten und stattdessen wie flüssige Lava glühten. Ihm stockte der Atem, als er ein dunkles Grollen vernahm, die Erde unter ihm anfing zu zittern.

Mit einem lauten Krachen knallte ihr Stuhl zu Boden. Sie zog sich wortlos ihre Stiefel und den Umhang an, stampfte durch die Hütte zur Tür, und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand sie aus der Hütte. Eine Wolke von hereingewirbelten Schneeflocken tanzte langsam auf das Holz herab und hinterließ feuchte Flecken.

Das Beben verebbte. Thelos klopfte das Herz bis zum Hals. Stöhnend verbarg er sein Gesicht in den Händen.

»Was bin ich für ein Narr.«

Die wenigen eigenen Männer, die ihn begleitet hatten, waren allesamt gestorben. Wildfremde Tarieken mussten ihm das Leben retten und opferten sich für ihn. Und was machte er? Er beleidigte den Menschen, dem er zweifach das Leben verdankte, und das nur, weil er nicht einsah, wie unbedarft er gehandelt hatte. Er war doch offenkundig in eine Falle getappt und hatte dem tariekischen Heerführer eine großartige Chance geboten, die dieser genutzt hatte.

Was würde passieren, wenn dem Königshaus von Eldemar sein Ohr überbracht würde? Sonas von Bersaken ließe sich in seiner Rache von niemandem stoppen! Niemand würde es versuchen. Stattdessen stünde das gesamte Heer hinter dem charismatischen Anführer. Und der würde erst ruhen, wenn Tarieken in Schutt und Asche lag. – Alles wegen seiner Arroganz.

Er richtete sich auf, wischte sich die Tränen der Scham aus dem Gesicht und starrte finster ins Feuer. Noch war es nicht zu spät. Noch konnte er das Schicksal in die Richtung lenken, nach der es ihn so schmerzlich verlangte, aber bevor er sich in den Winter hinauswagen konnte, brauchte er warme Kleidung.

Er nahm die Näharbeit zur Hand. Tot nutzte er niemandem.

5

Flucht

»Das ist alles, was von ihm übrig ist.«

Den Kopf tief geneigt, wartete Denos die Worte des Heerführers ab. Dessen Zorn brodelte auch nach den vier Tagen ihrer Suche in derselben Intensität wie in der Nacht der Flucht des Gefangenen.

Obwohl der Prinz in seinem Zustand einen Kampf mit dem Raubtier unmöglich überlebt haben konnte, hatte Denos die Soldaten gnadenlos weitergetrieben, bis der Sturm sie zur Umkehr zwang. Denos, der am längsten im Dienst stehende Offizier der Eliteeinheit, kannte den Zorn des Kravos von Nordin. Als einziger hatte er bisher jeden Ausbruch überstanden, weil er wusste, wann er den Kopf einzuziehen hatte. Niemand, dem sein Leben etwas wert war, riskierte es, sich Kravos‘ Wut auszusetzen. Alle Wachen, die mit der Aufgabe betraut gewesen waren, den Gefangenen ununterbrochen zu beaufsichtigen, waren tot. Manche waren von den Verrätern bei der Befreiungsaktion getötet worden, andere hatte Kravos eigenhändig mit dem Schwert erschlagen.

Die Stille im Raum trieb dem Offizier den Schweiß auf die Stirn. Dann endlich kamen kaum hörbar die Worte aus dem Mund des Grauhaarigen: »Morgen früh brecht Ihr wieder auf.«

Sein von Narben zerfurchtes Gesicht umgab eine Aura des Schreckens. Er hatte es nicht nötig, die Stimme zu heben. Je leiser er sprach, desto gefährlicher wurde es, das wusste Denos aus jahrelanger Erfahrung und senkte den Blick.

»Ihr werdet es nicht wagen, ein zweites Mal ohne Thelos von Bersaken zurückzukehren.«

Trotz seiner Angst wagte es der Offizier, ihm zu widersprechen. »Verzeiht, Herr, das Pferd, mit dem er floh, ist tot. Mit einem Biss im Nacken und tiefen Krallenspuren brach es vor uns zusammen. Die Raubkatze hat auch ihn getötet, wir können ihn Euch nicht bringen ...« Er verstummte.

In seinem Blickfeld tauchten Stiefel auf, eine Hand packte seine Haare, zerrte daran und zwang sein Gesicht hoch. Er starrte in die unversöhnlichen, zornigen schwarzen Augen von Kravos von Nordin und vermochte weder das Herzrasen noch den Schweiß noch den trockenen Hals als körperliche Reaktion darauf zu unterdrücken. Diese Art des hasserfüllten Ausdrucks hatte er bisher erst einmal erlebt, in der Nacht, als der Heerführer über die Leiche seines einzigen Sohnes gebeugt auf dem Boden hockte. Damals hatte sein Hass Theona von Akliet gegolten.

Die blutverschmierten, zerfetzten Sachen kamen unter seiner Nase zum Vorschein. Sie wurden ihm ins Gesicht gedrückt, bis er glaubte, daran zu ersticken, dann ließ ihn Kravos los.

Er schnappte nach Luft.

»In diesem Fall werdet Ihr mir die aufgeschlitzte Katze bringen mit seinen Überresten. Habt Ihr mich verstanden?«

Denos nickte stumm.

»Verschwindet aus meinen Augen, sofort.«

Mit einer knappen, ehrerbietigen Verbeugung zog sich Denos zurück.


Ein Zischen drang durch seine zusammengebissenen Zähne, als Kravos mit der Faust auf die Mauern der Festung einschlug. Er musste den Schmerz fühlen, damit er seine Kontrolle wiedergewann. Zum zweiten Mal in seinem Leben war ihm ein Gefangener durch die Finger geschlüpft. Er schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis beide Flüchtigen seine Rache gespürt und sie ihren letzten Atemzug getan hatten. Bis dahin bedurfte noch jemand seiner speziellen Aufmerksamkeit, einer, der es gewagt hatte, ihn zu hintergehen, ihm das Käsestück aus der Falle zu nehmen, in der er Sonas von Bersaken hatte fangen wollen. Auriel von Akliet hatte es gewagt, einen Bauern zum Offizier zu machen und ihm den Auftrag zu geben, Thelos von Bersaken zur Flucht zu verhelfen. Wie geschickt er sich, die Tarnung nutzend und den Einfältigen spielend, Zugang zu dem Gefangenen verschafft hatte! Das würde er büßen. Ein langsamer Tod stand ihm bevor, dessen Anblick er genießen würde.

Er lenkte seine Schritte in den Kerker hinunter. Eine Wache öffnete ihm die Zellentür. Kravos von Nordin trat ein und sog tief den Geruch von Angstschweiß, Blut und Urin ein.

»Nun, Burkas, wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er den Gefangenen höflich.

Als Antwort spuckte ihm der Mann vor die Füße. »Deine Tage sind gezählt, Kravos von Nordin, und mit dir stirbt deine Linie aus«, krächzte er dann mühselig hervor.

Es waren die letzten zusammenhängenden Worte von Burkas, dem Bauern, den Auriel von Akliet zum Offizier zu erheben gewagt hatte. Lange hallten seine Schreie in den Mauern des Kerkers wider, während er eines qualvollen Todes starb.


Sie musste hinaus aus der Hütte, ihre Gefühle in den Griff bekommen. Ihr Großvater hatte ihr gesagt, dass es gefährlich für sie sei, Wut zuzulassen. Er hatte von einem Band zwischen ihr und der Erde gesprochen, das Kraft spendete, jedoch gleichzeitig zerstören konnte, wenn sie die Kontrolle verlor. Niemand durfte durch ihre Verbindung mit dem Element sein Leben verlieren, sonst wäre ihre Seele für immer verdammt.

Theona stapfte durch den Schnee aus dem Tal heraus. Sie kletterte einen steilen Felsen hinauf, von dem aus sie über die Wälder, die den Rand des Katakmas umgaben, bis auf das Tal sehen konnte. Winzig klein sah die Stadt Eibalin von hier oben aus. Der mühselige Aufstieg hatte den Zorn aus ihrem Körper vertrieben. Mit welcher Gewissheit konnte sie behaupten, dass Auriel Thelos von Bersaken nicht in eine Falle gelockt hatte?

Der Schmerz der Erinnerungen trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie stand wieder vor ihren Eltern und demütigte sich selbst mit der Schilderung dessen, was Kravos von Nordin ihr angetan hatte. Sie hatten die Verletzungen gesehen, einen Teil ihrer Wunden geheilt und um ihr Leben gebangt, jedoch nur so lange, bis sie die Wahrheit hörten. Voller Verachtung hatte die Mutter ihr wortlos den Rücken zugedreht. Die Worte des Vaters klangen ihr in den Ohren: »Du wirst dich dem Verbrechen, das du begangen hast, stellen.«

Was Kravos ihr angetan hatte, spielte keine Rolle für ihn, nur dass sie Elkas von Nordin getötet hatte, das zählte. Ihr Hilfe suchender Blick war zu Auriel gewandert, der es vermieden hatte, ihr in die Augen zu sehen. Er hatte ihr nie verheimlicht, welches Risiko sie einging, hatte sie darin bestärkt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, weil er keine Möglichkeit hatte, sie zu beschützen, wenn es hart auf hart käme. Ja, er hatte es ihr offen gesagt und es ihr zu bedenken gegeben.

Sie hatte die Entscheidung getroffen und nur sie trug die Verantwortung für ihr Scheitern. Er hatte sie nicht verraten, sondern sie unterstützt – mit den Optionen, die ihm zur Verfügung standen.

Theona setzte sich auf einen Stein, schlang die Arme um die Knie. Die Kälte, der ihr Umhang nach außen trotzte, war harmlos gegenüber der Eiseskälte, die sie in ihrem Innern gefangen hielt. Egal was geschehen war – sie musste überlegen, wie ihre nächsten Schritte aussahen. Wenn Kravos von Nordin das Ohr des Prinzen an Sonas von Bersaken schickte, dann gab es nichts, was den Rachefeldzug des eldemarischen Heerführers stoppen konnte. Und genau darin lag Kravos‘ Absicht. Die Eldemarer sollten den Friedensvertrag brechen und angreifen. So gewann er die Forraner als Verbündete oder hielt sie zumindest davon ab einzugreifen.

Sie kannte die Art, wie der Tarieke dachte, wie er handelte. Lange Zeit hatte sie das zweifelhafte Privileg genossen, es aus nächster Nähe zu beobachten. Die männliche Arroganz und Überheblichkeit, zu glauben, er könne das Heer der Eldemarer schlagen, und das, indem er den Zorn dieses Volkes durch die Demütigung des Prinzen schürte. Sie hatte Sonas von Bersaken mehr als einmal in einer Schlacht erlebt, seine Angriffstechniken gemeinsam mit Auriel studiert, bis sie einen Schwachpunkt fanden, und sie kannte seine Stärke. Er erkannte Fehler und lernte aus ihnen – eine Fähigkeit, die sie bei wenigen Kriegern entdecken konnte. Selbst ihren Bruder hatte sie oft daran erinnern müssen, dass Entscheidungen falsch sein konnten. Sonas von Bersaken ließ sich nicht von Rachegefühlen zu einem leichtfertigen Angriff hinreißen. Aber im Kampf würde sein Zorn keine Gnade walten lassen. Allein der Anblick der Krieger des Inneren Kreises ließ die tariekische Armee vor Angst und Schrecken erstarren, so wie sie es damals in der Schlacht erlebt hatte. Ihr Pfeil war nötig gewesen, der Treffer, der erste Tote der Eliteeinheit, der ihnen deutlich machte, dass auch diese Krieger aus Fleisch und Blut bestanden.

Sieben seiner Männer musste sie mit präzisen Pfeilschüssen töten, bevor sich Sonas von Bersaken in der Schlacht zum Rückzug gezwungen sah. Der erste Schritt zu einem Waffenstillstand war gemacht, der Blutzoll für einen Frieden, der mit einer unbedachten Leichtsinnigkeit des Prinzen von Eldemar zerstört werden konnte. Alles, was ihr je im Leben etwas bedeutet hatte, hatte sie geopfert. Die Wut kochte erneut in ihr hoch. Sie schlug mit der Faust auf einen Stein. Der Schmerz und das Zittern der Felsen brachten sie zur Besinnung. Thelos von Bersaken musste seinen Bruder stoppen. Sie knirschte mit den Zähnen, aber das schien ihr die einzige Möglichkeit zu sein, und sie würde dafür sorgen, dass er diese Chance bekam.

Nachdem sie die Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie, wie Ruhe und Kraft sie erfüllten. So war es, wenn sie einen Weg klar vor Augen hatte. Im Kopf begann sie mit der Planung ihres Vorhabens.


Erst tief in der Nacht kehrte sie zu ihrer Hütte zurück. Geschützt von der Felswand trotzte das Holzhäuschen dem Winter. Die Pferde standen unter einem Baum. Sie bevorzugten das offene Tal gegenüber der Zuflucht in der Höhle. Atantuch hatte Theona bereits entdeckt und beobachtete mit wachsamen Augen, wie sie sich der Hütte näherte. Tiela lag im Schnee und döste. Der stürmische Wind des Tages war einer stillen Nacht gewichen. Die Eiskristalle glitzerten unter der schmalen Sichel des Mondes. Im Winter waren selbst die Nächte im Katakmas hell. Theona nahm ihr Jagdmesser in die Hand, lauschte auf die Geräusche, die sie umgaben. Leise öffnete sie die Hüttentür. Sie wusste nicht, wie Thelos auf die offenen Worte, mit denen sie sein Handeln kritisiert hatte, reagieren würde. Ein Tarieke würde sie dafür bestrafen. Im Raum herrschte Dunkelheit. Dennoch nahm sie alles um sich herum wahr. Der Tisch war aufgeräumt, das Feuer brannte niedrig. Der Prinz lag im Bett. Sein Atem ging tief und gleichmäßig.

Fassungslos betrachtete Theona den Mann. Es wäre ein Leichtes für sie, ihn mit dem Dolch zu töten. Sie hängte ihre Sachen an den Haken und zog die Stiefel aus. Die in der Ecke am Schrank verstauten Schlaffelle rollte sie vor der Tür aus und legte sich mit griffbereitem Messer zum Schlafen nieder.


Thelos schlug die Augen auf. Er konnte keine Spur seiner Gastgeberin entdecken. Lange hatte er gerätselt, welche Gefahr durch eine Tariekin, die dem Element Erde angehörte, für ihn bestand. Seine Erfahrungen mit tariekischen Frauen beschränkten sich auf wenige offizielle Anlässe. Unscheinbar, eher Dienstboten gleich, waren sie jeder direkten Ansprache ausgewichen und mieden jeden Blickkontakt. Diese Frau hier in der Wildnis entsprach in keiner Weise dem Bild, das er bisher von den Tariekinnen aus Erzählungen und eigener Erfahrung hatte. Was würde sie tun, wenn sie wiederkam? Ihn verraten? Ihm das Leben nehmen? So konzentriert er auch gelauscht hatte – erst als die Tür einen anderen Schatten in den Raum warf, bemerkte er, dass sie zurück war. Er ließ seinen Atem langsam und gleichmäßig weiterfließen. Wenigstens im Täuschen übertraf ihn niemand. An der Art, wie sie durch den Raum huschte, das Schlaffell aus der Truhe hervorzog, sich Decken und eine Schlafrolle schnappte und sich auszog, erkannte er, dass sie sich unbeobachtet glaubte. Er bewunderte die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen, die so effizient und lautlos waren. Ihren Schlafplatz richtete sie sich vor der Tür ein und rollte sich auf den Fellen zusammen. Er hätte keinen Moment daran geglaubt, dass er an ihr vorbeischleichen könnte.

Kurz darauf musste er eingeschlafen sein. Über die mangelnde Wachsamkeit seinerseits hätte sich sein Bruder die Haare gerauft, doch in ihm steckte nun einmal kein Krieger, wie in Sonas und in dieser Frau.


Bevor er den Plan vom vorigen Abend umsetzen konnte, musste er seinen Aufenthaltsort und damit den Wohnort seiner Lebensretterin in Erfahrung bringen, auch wenn er wusste, dass es sein Gewissen belasten würde. Er brachte Schande über sich, indem er seine Lebensschuld ihr gegenüber verriet. Draußen begrüßte ihn der Wallach mit einem Wiehern, die Stute entdeckte er nirgendwo. Als er in die Höhle neben der Hütte ging, stellte er fest, dass dort nur ein einziger Sattel auf einem Holzbock lag. Spurenleserei gehörte nicht zu seinen Talenten, sodass er keine Ahnung hatte, ob sie aus dem Tal geritten war oder nicht. Es war auch nicht wichtig, denn er musste die Chance, die sich ihm gerade bot, einfach nutzen. Er überlegte, ob er ihr eine Nachricht mit einer Entschuldigung für den Diebstahl hinterlassen sollte, sah aber davon ab. Das würde sie im Zweifel nur unnötig in Gefahr bringen. Mit der Suche nach der Axt verlor er Zeit. Im Training hatte er sich mit der Axt als Waffe nicht besonders geschickt angestellt, doch war es allemal besser, mit einer Axt als ohne eine Waffe dazustehen.

Der Wallach hielt still, als er ihn sattelte. Thelos zog sich unter Schmerzen in den Sattel, saß unbeweglich, bis sie nachließen. Er hob den Kopf und stellte nach einer Musterung der Umgebung fest, dass er überhaupt nicht wusste, wie er aus dem Tal herauskommen sollte.

»Was sucht Ihr?«

Beim Klang der Stimme zuckte er zusammen. Sie tat seinen Versuch mit einem leichten Kopfschütteln ab. Röte schoss ihm ins Gesicht. Er straffte sich, seine Hand glitt zur Axt. Ihre Augen folgten der Bewegung.

»Könnt Ihr die in einem Kampf handhaben?« Sie klang eher interessiert als ärgerlich und erst recht nicht ängstlich.

»Das Schwert liegt mir mehr.«

Sie nickte bestätigend, als wären sie Freunde, die über Waffen fachsimpelten, und ignorierte die Tatsache, dass er dabei war, ihr Pferd zu stehlen und sie mit einer Axt zu bedrohen.

»Also – was sucht Ihr?«

»Den Ausgang.«

Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung hinter sich.

»Der Eingang ist von Gebüsch verdeckt. Wenn Ihr durchkommt, trefft Ihr auf der anderen Seite auf einen Wasserfall. Es führt ein schmaler Pfad den Felsen entlang, der wenige Pferdelängen später in den Wald übergeht.«

Er nickte zum Dank und wendete den Wallach.

»Was habt Ihr vor?«

Er seufzte tief. »Was glaubt Ihr? Ich reite nach Hause zurück. Verzeiht, dass ich Euch ein Pferd entwenden muss. Ich verspreche, dass ich Euch eines Tages dafür reichlich entschädigen werde.«

»Welchen Weg wollt Ihr einschlagen?«

Diese Frau schien aus Fragen zu bestehen. Verstimmt runzelte er die Stirn. Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Die waldhonigfarbenen Augen musterten ihn weiterhin, und es irritierte ihn.

»Wollt Ihr in das Tal zurückreiten und über die Handelsroute zurück nach Eldemar?«

Nein, das wäre ein katastrophales Vorhaben, entschied er spontan. Die Männer von Kravos von Nordin würden sicherlich auf ihn lauern, und die Enge der Schlucht war für sie von Vorteil, um mit wenig Aufwand den Weg zu überwachen. Eine andere Möglichkeit bestand darin, quer durch Tarieken bis zur Hauptstadt Baaren am Meer zu flüchten und den Seeweg zu nehmen, aber das Risiko erwischt zu werden, war nur unwesentlich geringer. Außerdem kostete es mindestens drei Wochen, die Zeit auf See nicht einberechnet.

Welche Alternativen boten sich? Die Wüste – nein, keine Option. Abgesehen von den Gefahren, die diese unwirtliche Gegend barg, müsste er einen Teil der Devon durchqueren. Es blieb nur die Handelsroute! Sie schien ihm die Überlegungen vom Gesicht abzulesen.

»Ich bringe Euch sicher über den Katakmas nach Eldemar. Das ist der kürzeste Weg, und Eure Verfolger werden damit nicht rechnen.«

Er starrte sie an. »Ihr seid wahnsinnig.«

»Nein. Erwecke ich wirklich diesen Eindruck bei Euch?«

»Es existiert keine Route über den Katakmas nach Eldemar.«

»Es gibt eine, nur kennt sie niemand mit Ausnahme der Wildtiere. Oder doch nur ich?«, fügte sie mit einem boshaften Lächeln hinzu.

Er schüttelte den Kopf – er handelte wohl besser, solange der Schnee ihm einen Vorteil gewährte – und drückte die Beine an die Flanken des Pferdes.

Es rührte sich nicht.

Die Frau trat neben ihn, griff in die Zügel. »Vertraut mir. Wieso sollte ich Euch erst das Leben retten, um es Euch später wieder zu nehmen?«

»Weil Ihr wisst, wer ich bin.«

»Und genau aus diesem Grund könnt Ihr mir Euer Schicksal anvertrauen. Ihr seid der Einzige, der jetzt noch einen Krieg zwischen Tarieken und Eldemar verhindern kann.«


Sie sah ihm an, dass er ihr misstraute, womöglich an ihrem Verstand zweifelte. Sie musste seine Vernunft ansprechen.

»Ihr besitzt keine ordentliche Kleidung. Im ersten Schneesturm werdet Ihr erfrieren. Mit der Axt zu jagen, ist kein Kinderspiel und Eure Kraft reicht nicht für einen längeren Ritt. Ruht Euch einige Tage hier aus. Dann habe ich passende Kleidung für Euch. Wir können haltbare Vorräte mitnehmen, die ich vorbereite, und ...«, sie warf einen prüfenden Blick in den klaren Himmel, »... der nächste Schneesturm ist dann durchgezogen.«

Ihre Worte wirkten vernünftig, obwohl er die letzte Bemerkung zum Wetter anzweifelte. Der Himmel strahlte in einem hellen, klaren Blau. Lag es an den Worten, am Klang ihrer Stimme oder an der Aura, die sie umgab, dass er sich ihr nicht widersetzen konnte?

»Einverstanden, ich vertraue Euch ein weiteres Mal mein Leben an.«

Am Abend heulte der Sturm um die Hütte, und Thelos war froh, dass er auf den Rat der Frau gehört hatte.


Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit Reisevorbereitungen. Es entstanden zwei Hosen und zwei Hemden für Thelos, eine Lederweste, ein Umhang aus Fell und ebensolche Beinkleider. Die Stiefel wurden an den Stellen, an denen sie ihm nicht passten, aufgeschnitten und ausgeweitet. Über dem Feuer räucherten sie in Streifen geschnittenes Fleisch, das mit Salz haltbar gemacht wurde. Immer wieder nötigte ihn seine Lebensretterin, sich auszuruhen, mit dem Hinweis, dass er Kraft brauchen und seine Schwäche für sie beide unausweichlich den Tod bedeuten würde. Die Tariekin war der schweigsamste Mensch, den er je getroffen hatte, aber das Singen schien sie zu lieben. Meistens geschah es unbewusst bei der Arbeit, und sobald sie bemerkte, dass er ihrem Gesang lauschte, hörte sie auf. Ihre Stimme besaß einen Klang, der ihn tief in seinem Innersten berührte. Selbst auf Tiere übte er eine magische Anziehungskraft aus. Überhaupt faszinierte es ihn, wie ihr die Pferde, als wären sie Hunde, überallhin folgten. Manchmal erspähte er hoch am Himmel einen Nevarn, von dem er erst annahm, dass er zufällig über dem Tal kreiste, bis er ihn eines Tages auf dem Arm der Frau sichtete. Sanft streichelte sie seine weichen Brustfedern und sie sangen einander gegenseitig etwas vor. Das Schauspiel währte, bis ihn der Raubvogel entdeckte und sich majestätisch in die Luft erhob.

Eines Abends fragte er sie, mit welchem Namen er sie anreden dürfe. Lange schwieg sie und arbeitete konzentriert an ihrer Näharbeit, sodass er schon dachte, sie hätte seine Frage überhört.

Schließlich sagte sie leise: »Nennt mich Kilihael.«

Er wusste, dass dies ein Name war, den Tarieken trugen, die ohne Familie aufwuchsen, und dass solche Menschen auf der untersten Ebene der Hierarchie bei diesem Volk rangierten.

Der Name passte nicht, denn alles an ihr besaß eine Aura von edler Geburt. Er hatte noch kein Geschöpf kennengelernt, das sich selbst so sehr genügte und dennoch eine solch tiefe Sehnsucht nach Gesellschaft ausstrahlte.


Schließlich brach der Tag ihrer Abreise an. Sorgfältig räumte Kilihael die Hütte auf, stellte jeden Gegenstand an seinen Platz, bevor sie die Tür schloss. Sie hatte ihm den Wallach zugewiesen. Neben den Vorräten für ihn und das Pferd befestigte sie daran ein Unterfell zum Ruhen sowie Decken. Alle ihre Felle besaßen ein dichtes Haarkleid. Sie waren weich und spendeten Wärme. Außerdem gab sie ihm einen Bogen, Pfeile und ein Schwert. Lächelnd merkte sie an, sie hoffe, dass er damit umzugehen verstände. Ihre Meinung über seine Kriegskunst schien ihm nicht besonders hoch.


Theona hatte sich an Thelos gewöhnt. Unaufgefordert hatte er Aufgaben im Alltag übernommen, erledigte sie, ohne viele Worte zu verlieren. Umso erstaunlicher kam ihr das vor, da sie ein solches Verhalten von einem Prinzen nicht erwartet hätte. Unmerklich wuchsen sie zu einer eingespielten Gemeinschaft zusammen. Auf seine Fragen antwortete sie einsilbig. Er verstand das Signal und akzeptierte, dass sie keine Lust verspürte, mehr preiszugeben als notwendig. Stattdessen begann er in den Büchern zu lesen, wenn es die Zeit zuließ oder er, von ihr gezwungen, eine Pause einlegte. Mit jedem Tag, der verstrich, gewann er an Kraft. Dass er wenige Tage zuvor dem Tod näher gewesen war als dem Leben, kam ihr unwirklich vor. Er wahrte ihr gegenüber die Grenze, die sie unbewusst gezogen hatte, respektierte ihren Wunsch, allein zu sein. Nie folgte er ihr, wenn sie sich ins Tal zurückzog. Auch sah sie in seinen Augen keine Gier oder Lüsternheit. Weder betrachtete er sie mit anzüglichen Blicken, noch versuchte er ihr Befehle zu erteilen. Er war ein Prinz ohne Ansprüche.

Sie ließ ihn mit Atantuch vorreiten. Der Wallach kannte den Weg, sobald ihm Theona vermittelt hatte, welches ihr Ziel war. Trittsicher suchte er seinen Pfad durch das Gelände. Solange es die Vegetation zuließ, hielt sie immer wieder an, sodass die Pferde fressen konnten. Sorgfältig beobachtete sie die Umgebung. Vor allem die Tiere gaben ihr mit ihrem Verhalten Hinweise. Thelos vertraute sich komplett Theonas Führung an. Einerseits schmeichelte es ihr, andererseits lastete die Verantwortung schwer auf ihren Schultern. Sie fragte sich, wie er sein Land regierte mit solchen Charaktereigenschaften. Musste ein Herrscher nicht seinen Platz als Anführer beanspruchen, nach Macht und Entscheidungsfreiheit streben, statt den Anweisungen einer Frau wortlos zu folgen? Die Erfahrungen im Umgang mit ihm verwirrten sie. Bisher hatte sie außer Burkas nur Männer gekannt, die sie unterwerfen oder besitzen wollten, die sich kein bisschen für ihre Ansichten interessierten und für die sie nur eine Erweiterung ihrer Sammlung von Vermögen darstellte.

Nur ihr Bruder und ihr Großvater hatten ihr jemals Anerkennung als Mensch gezollt und maßen ihr mehr als einen materiellen Wert zu. Auriel hatte ihren wachen, scharfen Verstand erkannt und ihn sich zunutze gemacht, genauso wie ihre Geschicklichkeit im Kampf und ihren strategischen Weitblick. Oft wünschte sie sich, sie wäre als Mann geboren, der frei seine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Das Leben im Katakmas kam dieser Vorstellung nahe. Einzig und allein die Gesellschaft anderer Menschen fehlte ihr.

Mittags, am zweiten Tag nach ihrem Aufbruch, bemerkte sie, dass sie verfolgt wurden. Ein Wächter des Waldes, der schimpfend aufflog, verriet es ihr. Sie hinterließen deutliche Spuren im Schnee, was sie nicht ändern konnte. Mit sorgenvoller Miene nahm sie wahr, wie sich der Abstand zu dem Verfolger über den Tag langsam, aber stetig verkürzte. Sie verschwieg dem Prinzen ihre Beobachtung. Es war sinnlos, ihn zu beunruhigen. Stattdessen versuchte sie, das Tempo zu erhöhen, doch so ausgeruht Thelos erschien – die Eile zehrte an seinen Kräften. Die Verfolger hingegen wurden schneller, womöglich beflügelt von der Jagd nach ihrer Beute. Theona suchte eine Lagerstelle für die Nacht aus, die sie ohne seine Hilfe verteidigen konnte und die geschützt lag. Erschöpft glitt der Prinz nach dem ganztägigen Ritt vom Wallach.

Sie versorgte Atantuch, während Thelos mit einem Zweig den Schnee beiseitefegte, die Unterfelle auf dem Boden ausbreitete und sich niederließ. Er aß und trank etwas, bevor er sich zusammenrollte und auf der Stelle einschlief. Er hatte auch nicht gefragt, weshalb sie kein Feuer entzündeten, obwohl es noch Holz in der Umgebung gab. So wie er rollte auch Theona sich auf einem Fell zusammen, um auszuruhen und zu dösen. Eine Hand ließ sie unter ihrem Schlaffell auf der Erde ruhen. Alle Sinne richtete sie auf die nächtlichen Laute und die ungewollten Begleiter aus, doch auch ihre Verfolger schienen eine Pause einzulegen.


Als Denos nach dem sechsten Tag im Katakmas auf Spuren stieß, konnte er sein Glück kaum fassen. Dennoch fragte er sich, woher Kravos von Nordin hatte wissen können, dass der Entflohene noch lebte und ihm anscheinend von jemandem geholfen wurde. Die Fährte zeigte eindeutig, dass zwei schwer bepackte Pferde in den Höhen des Gebirges unterwegs waren. Niemand anderer würde das Risiko eingehen, bei dem Wetter durch den Katakmas zu ziehen. Außerdem folgte die Spur einem Weg, der unweigerlich über den Gipfel nach Eldemar führte. Mit der Hoffnung, wieder aus diesem unheimlichen Gebiet herauskommen und in heimische Gegenden zurückkehren zu können, trieb Denos die acht Männer seiner Einheit unbarmherzig an. Er hatte einen Soldaten, der sich ein wenig von der Fährte entfernt hatte, an den Berg verloren. Die Schneedecke unter dem Pferd hatte nachgegeben, und noch bevor der Reiter einen Laut über die Lippen brachte, verschwanden beide in einem tiefen Spalt des Katakmas. Von da an ritten sie alle hintereinander her wie die Perlen auf einer Kette, der Spur der Beute nach. Das verlangsamte ihr Tempo zum Ärger von Denos, der gehofft hatte, noch vor dem Abend den Gefangenen und seinen Helfer einzuholen. Als die Dunkelheit hereinbrach, wagten sie es nicht mehr weiterzureiten. Ihr Nachtquartier schlugen sie in einer Felsennische am Hang des Berges auf, wo der Wind den Schnee weggefegt hatte.

Kaum brach der Tag an, nahmen sie die Verfolgung wieder auf. Die Spur war verweht, nur eben noch zu erkennen. Aber Denos wusste, dass die Distanz zwischen ihnen nicht mehr groß sein konnte.


Bereits in der Morgendämmerung weckte Theona Thelos. Sie gab ihm kalten Tijuam zum Trinken. Tiefe, dunkle Ränder unter seinen Augen zeigten ihr, dass er keinen erholsamen Schlaf gefunden hatte.

»Wie ist es um eure körperliche Verfassung bestellt?« Ihr Blick ruhte auf seinem Gesicht, den eingefallenen Wangen, der Blässe angesichts der Kälte, der sie sich gegenübersahen.

»Ausgezeichnet.«

»Hört mir zu, dies ist nicht der Zeitpunkt, den Helden zu spielen. Unser beider Leben hängt davon ab, dass Ihr mir die Wahrheit sagt.«

Schluck für Schluck trank er den kalten Tijuam.

»Das linke Bein schmerzt, und der Ritt hat mehr an meinen Kräften gezehrt als gedacht«, gab er zu.

Theona hockte sich nieder, versenkte die Hände im Schnee, bis ihre Handflächen die Erde berührten.

»Was macht Ihr da?«

Sie schloss die Augen, atmete tief durch. Wann immer sie im Leben eine Entscheidung traf, brauchte sie diese Verbindung der Hände mit dem Element. Sie leerte alle lästigen Gedanken aus ihrem Kopf. Der nächste Atemzug füllte sie mit dem Geruch des Erdreichs aus – gefrorene Erde, in der Eiskristalle die Zwischenräume schlossen, weshalb der herbe, verrauchte Duft einer frischeren Note wich. Es folgte das staubige, leicht verbrannte Aroma des Gesteins, an dieser Stelle vermischt mit einer Essenz, die sie in vergossenem Tierblut noch viel intensiver wahrnahm, die hier jedoch eine mildere, etwas saure Prägung besaß. Zuletzt folgte der urtümliche Charakter dieses Fleckchens Erde: geschmolzene Steine, Hitze, die aus der Tiefe des Katakmas zu ihr hochkroch und in ihre Adern floss, in Form flüssiger Glut wie der Stab aus Eisen, den man ihr auf die Haut gedrückt hatte. Doch statt der brennenden Schmerzen, die ihr damals das Bewusstsein raubten, vereinigte sich hier die Kraft des Bergmassivs mit ihr und löste sie als Mensch in sich auf. Der Beginn dieses Prozesses verwirrte sie anfangs völlig. Es war, als zerfiele ihr Körper in winzige Staubkörner, um zu einem Teil dessen zu werden, was sie berührte. In ihr Bewusstsein fluteten die Geräusche all der Geschöpfe, die sich in und auf der Erde bewegten. Jetzt, am Ende des Winters, waren nur die kleinsten Wesen in den tieferen Ebenen des Erdreichs unterwegs, dort, wo die Eiskristalle zu Wasser zerschmolzen und die Wärme des inneren Berges ihnen die Bewegung im Gestein ermöglichte. Vier Mutaks stapften vorsichtig am Rand des Waldes entlang, der die Grenze zu den sich endlos aneinanderreihenden Schluchten und Spalten des Katakmas bildete.

Dann fand sie das, wonach sie suchte: die Reiter, die ihrer Fährte folgten. Geschickt blieben sie auf ihrer Spur und wichen nicht davon ab. Neun Mann waren sie, schwer beladen, sodass jeder Tritt der Tiere eine kräftige Vibration hervorrief. Wie Theona die Sinne im Erdreich ausgebreitet hatte, so begann sie sie wieder zurückzuziehen. Eine Melodie, die sie leise summte, half ihr, den Weg zurück in den Körper zu finden. Es fiel ihr nicht leicht, die Vollkommenheit und Weite aufzugeben. Jedes Mal bekam sie das Gefühl von Beklemmung, wenn sie ihre Sinne wieder in die menschliche Hülle zwängte. Sie machte einen letzten tiefen, erdverbundenen Atemzug, bevor sie die intensive Verbindung völlig löste und ihre Hände aus dem Schnee zog. Sie wusste, sie existierte nicht allein auf der Welt, sondern war nur ein winziges Bruchstück der Vollkommenheit. Als sie die Lider aufschlug, sah sie in das blasse Gesicht des Prinzen.

»Wir brechen auf.« Sie brauchte einen Ort, der besser geeignet war, um sich Kravos‘ Männern zu stellen. Es mussten sie sein, denn keiner sonst würde sie so hartnäckig verfolgen. Sie benötigte Bewegungsfreiheit und einen Schutz für den Prinzen, damit er eine Möglichkeit zur Flucht hatte, falls sie versagte. Sie schmeckte die Bitterkeit des Todes im Mund. Menschen zu töten, war ihr zuwider. Sie hatte gehofft, das dem Gebirge überlassen zu können, doch ihre Gegner ließen ihr keine Wahl.

6

Kampf

Farin zog seine Kreise dichter über Theonas Kopf. Sie parierte Tiela durch, die unwillig schnaubend stehen blieb. Das Pferd witterte die herannahende Gefahr ebenfalls.

Theona streckte die Hand aus und verlagerte ihr Gewicht auf die andere Seite des Sattels. Es wunderte sie immer, wie ein Tier, das so elegant den Himmel entlangglitt, so schwer sein konnte. Nur selten ließ sich der Raubvogel dazu herab, körperlichen Kontakt mit ihr aufzunehmen. Meistens bevorzugte er Bäume oder einen Felsen, um sich niederzulassen.

»Was willst du mir so Dringendes berichten, Farin?«

Sie hatte die Worte gesungen, und ihm dabei sachte über das dichte Federkleid seiner Brust gestrichen. Ein Nevarn zog den Gesang dem gesprochenen Wort vor.

Er antwortete ihr mit einer tiefen, kontrastreichen Melodie, die ihre Sinne für einen Moment vernebelte. Woher der Vogel die Vielfalt der Töne hervorzauberte, blieb ihr ein Rätsel. Mit dem Gesang wiegte der Nevarn sonst seine Beute in Sicherheit. So brachte er einen angenehmen Tod, weil die Opfer nicht mitbekamen, dass es um ihr Leben geschehen war. Ein weiteres Mal begann der Raubvogel, das Lied zu singen. Diesmal ließ sie es zu, dass die Melodie in ihren Kopf drang und dort Bilder entstehen ließ.

Der Blick auf die Menschen erschien ihr oval und verzerrt. Erst sah sie die Gruppe im Gelände aufgereiht. Wie die Perlen einer Kette folgten sie einer nach dem anderen der Spur. In einer kreisenden Bewegung konzentrierte sich der Blickwinkel auf den Anführer der Verfolger, der an der Spitze ritt. Dessen Blick richtete sich nach oben in den Himmel. Mit der Hand schirmte er die Augen vor der Sonne ab, parierte sein Pferd durch und ergriff seinen Bogen. Theonas Herzschlag begann zu rasen, während sich der Mann in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit in einen Punkt verwandelte. Der Pfeil verfehlte den Nevarn nur, weil er blitzschnell die Flugbahn wechselte.

Das Lied verstummte.

»Er hat dich erkannt«, summte sie leise.

Statt ihr zu antworten, tippelte der Raubvogel von einem Bein auf das andere. Sie verstand, streckte den Arm aus und hob ihn an. Er spannte die Flügel, stieß sich schwungvoll ab, trudelte kurz nach unten, bevor er mit kräftigen Schlägen in die Lüfte stieg. Erst weiter oben fand er einen Luftstrom, auf dem er mit ausgebreiteten Schwingen in den Himmel emporglitt.

Theona rief sich das vermummte Gesicht in Erinnerung. Viel hatte sie nicht sehen können, da der Mann gegen die Kälte ein Tuch vor sein Antlitz geschlagen hatte. Aber seine ungewöhnlichen Augen verrieten ihn, die dunkelblaue Iris mit dem hellgrünen Kreis um die Pupille. Das war Denos, der erste Offizier des Heerführers von Nordin – der Wächter ihres Gefängnisses, Hüter ihrer Qualen und Erniedrigungen. Sie hatte ihn angefleht, ihm ihren Körper angeboten, aber er hatte sie verächtlich abgelehnt. Diesmal machte das Schicksal ihr ein Geschenk. Sie verzog lächelnd die Lippen. Es war an der Zeit, die offene Rechnung mit dem Offizier zu begleichen.

»Ihr redet mit Pferden, Raubkatzen und Raubvögeln, Ihr beherrscht meine Sprache als wäre sie Eure eigene. Wer in Lethos‘ Namen seid Ihr?«

»Denkt Ihr, dass Ihr ein zügigeres Tempo durchhaltet?«

»Weshalb?«

»Wir werden verfolgt.«

»Und das hat Euch der Vogel vorgesungen?«

»Nein, das wusste ich bereits.«

»Was hat er Euch dann erzählt?«

»Wer uns verfolgt.«

»Kravos von Nordin?«

»Nein. Er ist zu feige, um sein Leben auf dem Gipfel des Katakmas zu riskieren.«

»Wer dann?«

»Das spielt keine Rolle. Schafft Ihr ein schärferes Tempo?«

»Was habt Ihr vor?«

»Sie zu einem Platz zu locken, wo ich sie töten kann.«

»Er schickt nicht irgendwelche Krieger seiner Armee hinter mir her. Ihr werdet es mit den Besten zu tun bekommen, und ich bin Euch keine Hilfe. Das, was Ihr vorhabt, ist Wahnsinn.«

»Lasst das meine Sorge sein.«

»Ohne Euch bin ich hier oben verloren.«

»Ich habe nicht vor zu sterben.«

Er sah in das ebenmäßige Gesicht der Frau, aus deren Miene er keine Empfindungen lesen konnte. Nur in den Augen, die jede Wärme verloren hatten, sah er kalte Entschlossenheit.

»Ja, ich halte ein höheres Tempo durch.«


Nach einem zweistündigen scharfen Ritt im Trab, der seine letzte Kraft verbrauchte, ließ sich Thelos von Atantuchs Rücken gleiten. Die Beine knickten unter ihm weg und er krallte seine Hände in die Mähne, dankbar für die Gelassenheit des Tieres, das die rüde Behandlung stoisch aushielt. Seine Bewunderung für den kleinen, kräftigen Wallach stieg mit jedem Tag, den dieser ihn trug. Seine Gestalt besaß nichts Edles, sein Fell war so dicht, dass er struppig wirkte, doch verfügte er über Ausdauer, einen willigen, zuverlässigen Charakter und Trittsicherheit. All diese Eigenschaften wusste Thelos in diesem Bergmassiv zu schätzen, denn er hätte sich nicht imstande gefühlt, selbst die Führung des Pferdes zu übernehmen.

Sie hatten eine Ebene erreicht, die von Felsen in verschiedener Höhe umrahmt war. Auf der einen Seite ging es steil aufwärts zum Gipfel des Katakmas. Es gab in dieser Höhe keine Bäume mehr, die Schutz boten, nur knorrige Büsche, die vom Wind geformt in eine Richtung wuchsen. Der Schnee reichte hoch bis zu Thelos‘ Wade.

Sie führten die Pferde um einen massigen Felsen herum, und vor ihnen lag eine offene Ebene.

»Hier wollen wir uns den Verfolgern stellen?« Thelos‘ Hände zitterten, und obwohl er die strategische Lage des Ortes verstand, hatte er wenig Hoffnung. Ein Kampf im Schnee mit den besten Kriegern aus Kravos von Nordins Heer grenzte an Selbstmord. Er verdrängte den Gedanken, dass ihn schon ein Schritt durch den Schnee zu Fall bringen würde. Er müsste stehen bleiben und den Angreifer abwehren, hoffen, dass sie zu ihm kamen und sich ihm im Zweikampf stellten.

»Nicht wir – ich.«

»Ich werde Euch nicht allein lassen in diesem Kampf.«

»Und ich will mir nicht während eines Kampfes Gedanken machen, wie ich Euch schützen kann.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch, ließ den Blick über ihn wandern. Er spürte, wie er vor Erschöpfung zitterte, und knirschte wütend mit den Zähnen.

Die Frau, die sich Kilihael nannte, zupfte noch immer wortlos an den Zügeln ihrer Stute und führte sie zu dem schmalen Pfad, der, so weit sein Auge reichte, eng an den Fels geschmiegt zum Gipfel hochkroch. Der Weg machte eine Biegung um einen Felsbrocken, der so hoch wie die Reittiere in die Landschaft ragte. Dahinter nahm sie Tiela Sattel und Zaumzeug ab, legte es ordentlich im Schutz des Felsens, wo kein Schnee lag, auf den Boden. Sie zog den Umhang aus und wickelte sich das Tuch vom Kopf, prüfte den Sitz ihres Schwertgurts. Den Köcher mit den Pfeilen nahm sie vom Sattel und befestigte ihn an ihrem Rücken. Zuletzt griff sie nach dem Bogen, schob aber zuvor den Dolch ebenfalls in den Taillengurt. Eingeübte, reflexartige Bewegungen waren das, die der Frau flüssig von der Hand gingen. Sie machte es nicht zum ersten Mal.

»Egal was passiert, Ihr bleibt hinter dem Felsen.«

Mit ihrer leisen Stimme erteilte sie gebieterisch ihm, Thelos, Prinz von Eldemar, Thronfolger von König Shaid, einen Befehl. Glaubte sie ernsthaft, er würde sich hinter einer Frau verstecken und sie den Kampf austragen lassen, der ihm galt, nur weil sie sich verantwortlich fühlte – ihm half?

Ihr Angriff kam für ihn völlig überraschend. Mit einem Stoß brachte sie ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er mit Kreuz und Schultern gegen den Felsen prallte. Auf der Stelle schoss ein brennender Schmerz seine Wirbelsäule entlang bis in den Kopf und lähmte seine Muskeln. Mit ihrem zierlichen Körper übte sie eine derartige Kraft aus, dass es ihn an der Felswand festnagelte. Der Dolch lag an seinem Hals und ihr warmer Atem streifte die Haut unter seinem Kinn.

»Wagt es nicht, Euer Leben in Gefahr zu bringen, nach allem, was ich für Euch getan habe. Verstanden?«

Er schwieg, und die Schneide des Messers ritzte seine Kehle.

»Ich kann mich unmöglich vor diesem Kampf drücken, es wäre gegen meine Ehre«, stieß er trotzig hervor. Sollte sie ihn töten. Besser so sterben, anstatt als Feigling leben.

»Oh doch, das könnt und werdet Ihr. Außerdem leistet Ihr mir jetzt einen Schwur.«

Wortlos funkelte er sie an.

»Schwört bei Lethos und Lishar, dass Ihr unseren Weg fortsetzt und verhindert, dass es einen weiteren Krieg zwischen Eldemar und Tarieken gibt!«

In jedes Wort legte sie eine Entschlossenheit, die ihren unbestechlichen Willen ausdrückte, ihn notfalls mit Gewalt zu diesem Schwur zu zwingen.

»Schwört es!«

Der Boden unter ihm begann zu vibrieren, der Felsen in seinem Rücken bebte. Erschrocken sah er sie an, doch ihr Gesicht zeigte auch diesmal keine Regung. War sie das gewesen?

Er hatte von Sonas, der mit Prinz Tarkan in den Krieg gezogen war, die Geschichten von der Mintranerin gehört, die die Erde zum Beben brachte, Feuer und Sturm heraufbeschwor, der die Kämpfenden auseinanderriss, und dann den heilenden Regen, der die Wunden der Verletzten geheilt hatte. Die Schilderungen waren ihm übertrieben vorgekommen. Zwar gab es in der weiblichen Ahnenreihe der Bersaken, mehr als ein Kind der Elemente, doch waren ihre Fähigkeiten nicht mit denen zu vergleichen, die er soeben verspürte.

Nichts deutete darauf hin, dass Kilihael das Grollen des BergeEr schluckte, den Hals noch immer unter der Dolchklinge.

»Ich schwöre bei Lethos und Lishar, dass ich einen Krieg zwischen Eldemar und Tarieken verhindern werde, soweit es in meiner Macht liegt.«

Für einen kurzen Augenblick verschwand die Welt um ihn herum, tauchte er mit Kilihael gemeinsam ein in ein Licht voller Wärme. Der Moment war genauso rasch vorüber, wie er gekommen war. Boden und Fels hörten auf zu grollen.

Sie nickte, wich von ihm zurück und steckte den Dolch an seinen ursprünglichen Platz in den Gurt.s ausgelöst hatte, aber die Aura der Frau sprach Bände: ihre Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen und Pfade zu finden, die sich dem bloßen A ht bricht.« Sie rieb dem Wallach die Stirn, und er stellte sich dicht zu ihm.

Es machte Thelos keine Angst, steigerte aber den brodelnden Zorn, der in ihm tobte.

»Tiela! Auf, lass uns den Männern zeigen, was es heißt, sich mit uns anzulegen.«

Gemeinsam gingen Frau und Pferd zurück auf die Ebene, während über ihm der Gesang des Nevarn ertönte. Als der Vogel schlagartig verstummte, erschien es ihm, als hielte die Erde die Luft an.


Theona schickte Tiela hinter einen anderen Felsen auf der Ebene, sodass die Ankömmlinge sie nicht direkt sehen konnten. Sie musste jeden Vorteil nutzen, der sich ihr bot, denn sie wusste, wem sie gegenübertrat. Eine Gefahr zu unterschätzen war der erste Schritt in den Tod. Sie trampelte einen Kreis flach, der ihr für das Gefecht Spielraum gab, aber den Gegnern wenigstens zu Anfang keinen Nutzen verschaffte. Der wadenhohe Schnee schränkte die Feinde in ihrer Beweglichkeit ein. Das würde ihr hoffentlich die Zeit geben, deren Anzahl in solchem Maß zu dezimieren, dass es ihre Überzahl ein wenig ausglich.

Stille umgab sie, seit Farins Gesang verstummt war. Sie lauschte, schärfte ihre Sinne und machte sich mental bereit für den Kampf.

Nicht Denos tauchte als Erster auf der Ebene auf, sondern einer seiner Männer. Theonas Pfeil traf ihn zielsicher in den Hals. Mit einem Röcheln glitt er vom Pferd und starb, bevor er den Boden berührte. Ein Gegner tot – acht blieben.

Rasch sprengten sie hinter dem Gefallenen hervor und verteilten sich. Im Nu hatten drei weitere Pfeile ihr Ziel gefunden, aber nur zwei der Angreifer wurden tödlich getroffen. Achtlos ließ Theona den Bogen fallen und zog das Schwert aus der Scheide.

»Was für ein Tag. Ich kann mein Glück kaum fassen, obwohl ich mir fast sicher war, wem ich folgte, nachdem dieser Vogel aufgetaucht ist.«

»Genießt Eure Freude, bevor Ihr dem, der alles erschaffen hat, gegenübertreten und schmoren werdet im Feuer der ewigen Verdammnis.«

Denos lachte dieses demütigende, verachtende Lachen, mit dem er sie bedacht hatte, als sie sich ihm damals anbot. In ihrer Erinnerung blitzte sein angewiderter Blick auf, den er über ihren geschändeten Körper hatte gleiten lassen. Die Worte von damals hallten in ihren Gedanken wider: »Was habt Ihr mir zu bieten? Nichts, nur beschädigte Ware, der ich mich jederzeit bedienen könnte, wenn ich wollte. Seht Euch an, Ihr seid erbärmlich.« Er hatte sie angespuckt und sich von ihr abgewandt.

Sie vermied den Fehler, sich den aufkeimenden Gefühlen hinzugeben. Genau das beabsichtigte er. Wachsam behielt sie die Männer im Auge und wartete auf eine Chance.

»Wisst Ihr was? Ich werde heute gnädig mit Euch sein und Euch am Leben lassen.«

»Ach ja?«

»Ja, ich kann sowieso nicht nachvollziehen, weshalb Euch Kravos zurückhaben will. Er hat seinen Spaß mit Euch gehabt, was könnt Ihr ihm noch bieten? Ach halt, ich vergaß – das Vergnügen, Euch langsam die Haut von den Knochen zu ziehen, dafür, dass Ihr seinen einzigen Sohn getötet habt.«

Ja, sie wusste, was ihr blühte, bekäme Kravos von Nordin sie je lebend zwischen die Finger. Eher würde sie selbst Hand an sich legen, als das zuzulassen.

»Aber wisst Ihr was, Theona von Akliet? Hoppla, mein Fehler – diesen Namen dürft Ihr ja nicht mehr tragen. Ich verschone Euer Leben und verschweige unser Zusammentreffen, sofern Ihr mir den Mann aushändigt, der mit Euch reist und der ohnehin schon so gut wie tot ist.«

»Und Ihr glaubt ernsthaft, ich wäre so einfältig, Euch dieses Angebot abzukaufen? Dass Ihr mein Leben verschont? Wisst Ihr, Denos, Ihr steckt so tief im Hintern von Kravos, dass Ihr den Blick für die Wirklichkeit verloren habt. Es ist im Grunde ein Akt der Gnade, wenn ich Eurem armseligen Leben heute ein Ende bereite. Dann braucht Ihr nie wieder Angst vor Eurem Herrn zu haben.«

Das widerwärtige Lachen ertönte erneut, brach aber abrupt ab.

»Schluss jetzt! Übergebt mir Thelos von Bersaken, jetzt und sofort. Das ist Eure letzte Chance auf einen gnädigen Tod.« Sein Gesicht hatte sich zu einer bösartig verzerrten Maske verwandelt, und Theona erkannte dies als eindeutiges Zeichen für das Ende des Wortgefechts. Die Männer hatten ihre Stellung auseinandergezogen, bildeten einen Kreis um sie, wobei der eine viel zu dicht an den Felsen kam, hinter dem Thelos, geschützt von Atantuchs Körper, verborgen stand. Ihn musste sie als Ersten ausschalten.

Noch bevor sie den Gedanken in die Tat umsetzen konnte, stürmten die Reiter auf ein nicht wahrnehmbares Zeichen hin gleichzeitig auf sie zu. Ohne ein Reittier unter sich hatte sie die strategisch ungünstigere Position inne, die sie aber bewusst gewählt hatte, damit die Aufmerksamkeit aller auf ihr lag. Sie ließ sich auf ein Knie nieder und schwang ihr Schwert einmal über den Kopf, woraufhin die heranstürmenden Pferde einen Satz zurücksprangen. Sie erwischte ein Tier mit der Schwertspitze an der Stirn. Es wieherte grell, stieg in Panik, dann lag der Reiter am Boden und Theonas Schwert fuhr durch seine Brust.

Mit einem Sprung rettete sie sich vor dem Schwerthieb eines anderen Angreifers und stieß einen Pfiff aus. Aus ihrem Versteck heraus fegte Tiela mit schrillem Trompeten zwischen die anderen Reittiere. Die Ohren flach angelegt, teilte sie Bisse aus, zerrte einen der Soldaten vom Pferd, der noch versuchte, vor den wirbelnden Hufen zu fliehen – vergebens. Mit einem knirschenden Geräusch zerbrach sein Schädel unter dem Vorderhuf der Stute.

Die Männer hatten Probleme, ihre in Kampf und Tumult erfahrenen Reittiere zu kontrollieren. Schließlich gaben sie auf und sprangen ab auf den Boden, dorthin, wo Theona sie von Anfang an hatte sehen wollen. Drei aufgebrachte Soldaten näherten sich ihr durch den Schnee.

Sie atmete tief durch, warf einen hastigen Blick herum, um die Position des Vierten festzustellen. Er hatte einen Pfeil in der Schulter stecken und hielt sich etwas abseits, spannte aber seinen Bogen.

Theonas Bestürzung lenkte sie nur einen Augenblick ab. Auch Tiela erkannte die Gefahr und wechselte ihre Richtung von den Pferden weg, die sie in die Wälder des Katakmas zurückgejagt hatte. Sie warf sich über die Hinterhand herum und stürmte auf den Bogenschützen zu.

Zu spät. Der Pfeil löste sich von der Sehne und sirrte direkt auf Thelos von Bersaken zu, der hinter dem Felsen hervorgetreten war.


Atantuch schüttelte benommen den Kopf. Thelos hatte ihm einen Faustschlag auf die Stirn gegeben, weil das sture Pferd ihn nicht vorbeigelassen hatte.

Thelos konzentrierte sich auf das Kampfgeschehen um die Tariekin herum und bemerkte den Pfeil erst, als er sich in seine Brust bohrte. Überrascht sackte er zusammen, fiel auf die Seite. Das Schwert glitt ihm aus der Hand. Er hörte Triumphgeschrei und den verzweifelten Aufschrei von Kilihael, bevor die Welt vor ihm in Dunkelheit versank.


Theona ließ die Verzweiflung nicht die Oberhand gewinnen. Sie musste die Kontrolle über ihre Gefühle bewahren. Der Grundbaustein der Kampfausbildung durch den Großvater lautete: Niemals die Kontrolle über die Gefühle verlieren. Er hatte ihr wieder und wieder eingebläut, welche Gefahr es bedeuten konnte – für sie, für ihre Seele und das Gleichgewicht der Natur. Niemand durfte sterben, indem sie eine Verbindung mit der Erde einging. Der Berg unter ihr bebte bereits zornig, brachte die Angreifer kurz ins Schwanken, dann gewann ihre Disziplin die Oberhand. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Tiela erneut eine Wende vollführte und den Mann mit der Hinterhand so traf, dass er weggeschleudert wurde, bevor er einen weiteren Pfeil in den Bogen einlegen konnte.

Ein Schwert durchbrach ihre Deckung, ritzte ihr Wams und die Haut darunter auf. Sie parierte, wirbelte herum, ließ die Schneide flach über die Schulter des Angreifers gleiten, der zu spät bemerkte, was sie tat. Die Schneide durchtrennte seinen Hals, sein Kopf rollte weg und sein Körper brach zusammen.

Denos und der verbliebene Soldat setzten Theona jetzt unter Druck. Sie parierte, sprang zur Seite und duckte sich. Keiner von beiden gab ihr Raum, um durchzuatmen und nachzudenken. In einem tödlichen Tanz bewegten sie sich im Kreis, trieben Theona zurück in den tieferen Schnee. Sie sackte ein, deutete ein Stolpern an und erreichte, was sie beabsichtigt hatte. Die Krieger nahmen ihr die Finte ab, witterten eine Chance, den Kampf endgültig für sich zu entscheiden.

Theona vollführte aus der Bewegung heraus eine Rolle rückwärts, kam leichtfüßig wieder in den Stand und rammte dem Angreifer die Schwertspitze durch die Rippen ins Herz. Mit mehr Glück als Verstand entging sie Denos‘ Schwert, als der Mann zur Seite kippte. Tödlich getroffen lenkte der Soldat den Schwerstreich seines Offiziers ab, der dadurch nur ihren Schwertarm erwischte. Theonas Blut tropfte in den Schnee, und sie fühlte, wie die Kraft in gleichem Maße aus dem Arm herausfloss.

Denos starrte sie über den Leichnam hinweg an. Auf dem wutverzerrten Gesicht erschien ein triumphierendes, überhebliches Grinsen.

Theona atmete tief ein, ergriff mit der linken Hand das Schwert, das nutzlos von der blutenden Rechten herabhing.

Denos reagierte verblüfft auf den Wechsel der Schwerthand und auf die Kraft, mit der sie angriff. Erst in letzter Sekunde wehrte er den ersten Schwerthieb ab. Sie gewährte ihm keine Zeit, um sich auf die veränderte Situation einzustellen. Auch jeden Rachegedanken an einen langsamen, qualvollen Tod ließ sie fallen. Sie wollte nur noch, dass dieser Kampf ein Ende fand.

Mit raschen rechten und linken Paraden trieb sie den Feind vor sich her. Dann traf sie präzise seine Klinge an der entscheidenden Stelle. Das Schwert flog ihm aus der Hand, und Theona stieß zu, stach ihm die Klinge mitten durch den Hals.

Mit einem gurgelnden Laut und erstaunt aufgerissenen Augen ging Denos in die Knie. Sie trat näher auf ihn zu, wollte genau sehen, wie das Leben aus ihm wich. Bevor er nach vorn kippte, zog sie ihr Schwert aus seiner Kehle, sprang einen Satz zurück, und dann lag er mit dem Gesicht nach unten vor ihr im Schnee.

Der Schnee begann sofort unter der warmen, roten Flüssigkeit zu schmelzen. Ihre Knie zitterten, und diesmal ließ sie die Schwäche zu. Sie sank in die Hocke und atmete tief ein und aus, bis ihr Herzschlag anfing, sich zu beruhigen.

»Verzeih, Lishar, dass ich deine Erde, die das Lebendige hervorbringt, mit Blut tränkte.«

Sie wartete auf das Gefühl des Triumphs, weil sie einem ihrer Peiniger, denen sie Rache geschworen hatte, den Tod gebracht hatte, aber das Gefühl blieb aus. Stattdessen breitete sich der schale Geschmack von Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit in ihrem Mund aus.

Den eigenen Schmerz der zwei Verletzungen ignorierend wuchtete sie sich auf das Schwert gestützt hoch. Dankbar fühlte sie die Wärme ihrer treuen Stute im Rücken. Sie strich dem Pferd über den Hals, lehnte kurz ihre Wange an das weiche, seidige Fell, das sich oberflächlich verklebt und nass, aber dafür innen um so trockener und tröstender anfühlte.

Gemeinsam gingen sie zurück zu dem Felsen, wo Thelos, geschützt von Atantuch, auf dem Rücken lag. Der Pfeil ragte aus seiner Brust.

7

Gipfel

»So also haltet Ihr Euer Versprechen, Prinz von Eldemar.«

»Ich habe Euch – nicht versprochen – mich aus dem Kampf herauszuhalten.«

Sie glaubte die brüchige Stimme nur in Gedanken gehört zu haben, doch dann sah sie das Zittern der Augenlider, bemerkte die winzigen Atemwolken vor seinem Mund. Vorsichtig schob sie den Umhang und die Jacke um den Pfeil herum beiseite, bis sie die Einschussstelle genauer betrachten konnte. Nur die Spitze des Pfeils steckte in seiner Brust. Dieser Mann hatte mehr Glück als Verstand, oder Lethos persönlich hielt seine schützende Hand über ihn. Die vielen Schichten aus Fell, Leder und Stoffen hatten die Wucht des Geschosses gebremst. Eine Rippe hatte verhindert, dass die Spitze ins Herz des Prinzen eindrang. Mit ihrer rechten Hand drückte sie die Kleidung um die Verwundung herunter und zog mit der unverletzten linken den Pfeil aus dem Körper.

Thelos bäumte sich stöhnend auf und ließ sich dann kraftlos in den Schnee zurückfallen. Sie öffnete Jacke, Wams und die Hemden, schob sie beiseite, bis sie die Wunde sehen konnte. Die Haut klaffte auseinander, wo sie die Pfeilspitze herausgezogen hatte. Sie stand auf, ging zu dem Felsen, hinter dem Sättel und Taschen lagen, nahm Moos und eine Bandage heraus.

Sie presste das Kraut auf die Verletzung, was die Blutung rasch stillte. Tiela half ihr, indem sie mit den Zähnen Thelos‘ Kragen packte, um ihn so weit aufzurichten, dass Theona mit dem Stoff um seine Brust kam.


Sie machte sich nicht die Mühe, ihn erst zu entkleiden, das musste sie aufschieben, bis sie die Höhle erreichten, die Theona für heute Nacht als Schlafquartier eingeplant hatte. Diese Höhle war der letzte Unterschlupf vor einer zweitägigen Gebirgswanderung auf den Gipfel des Katakmas und wieder hinunter. Wie sie die Strecke mit dem menschlichen Flickwerk schaffen sollte, den Gedanken schob sie beiseite. Zunächst musste sie dafür sorgen, dass der Mann noch einmal überlebte, damit er sein Versprechen ihr gegenüber halten konnte.

Auf ihr Zeichen ließ sich Atantuch auf den Boden sinken. Sie zerrte mit Tielas Hilfe den Körper auf den Rücken des Wallachs, der daraufhin das Gewicht auf die Hinterhand verlagerte, die Vorderbeine hochdrückte und wieder auf allen Vieren stand. Gemeinsam umrundeten sie den Fels. Theona warf einen letzten Blick zurück auf das blutgetränkte Schlachtfeld.

Farin hatte sich auf Denos gesetzt und pickte an dessen Ohr. Sie wandte sich ab. Darum würde sie sich später kümmern. Es fiel ihr schwer, den Sattel auf Tielas Widerrist zu hieven. Erst jetzt erinnerte sie sich an ihre eigene Verletzung. Auch diese Sache musste sie auf später verschieben.

So wie sie den Eldemarer auf den Rücken des Pferdes gebracht hatte, holte sie ihn in der nahe gelegenen Höhle wieder herunter. Sie befreite beide Tiere von ihren Sätteln, nahm Getreide aus einem Sack und mischte es mit dem Fett, das sie aus den Mutaks gewonnen hatte. Gierig stürzten sich die Pferde darauf.

Bevor Theona ihre Wunde in Augenschein nehmen und versorgen konnte, entzündete sie ein Feuer aus dem Holz, das sie während des Sommers aus den tieferen Ebenen des Katakmas hochgebracht und hier gelagert hatte.

Hier jagte sie im Winter die Mutaks, die Tiere mit den dichtesten, seidigsten und wertvollsten Fellen, die ihr viel Geld einbrachten.

Sie zog sich bis auf das lederne Hemd aus, schnürte es vorne so, dass es an den Schultern durch zwei schmale Bänder Halt fand. Obwohl die Kälte den Blutfluss verlangsamte, quoll weiterhin Blut aus der Wunde. Sie holte Schnee von draußen und säuberte den Arm damit. Da der Schnitt zu tief war, um ihn so heilen zu lassen, fädelte sie einen dünnen Sehnenstrang durch eine Nadel und nähte die Wunde mit wenigen Stichen zu. Mit links fiel ihr das schwer, aber sie legte keinen Wert auf Schönheit. Viele Narben zeichneten ihren Körper bereits. Als sie fertig genäht hatte, presste sie Moos auf die Naht und verband die Wunde.

Sie fühlte die Erschöpfung in allen Knochen und hätte ihr am liebsten nachgegeben, doch sie wusste, es gab noch eine Aufgabe, die sie zu erledigen hatte.

»Tiela und Atantuch, kommt, wir müssen die Toten beerdigen.«


Sie starrte auf die Ebene und in die untergehende Sonne, die ihr Licht in goldorangeroten Strahlen auf die Spitzen der Felsen scheinen ließ. Ein Pferd stand neben seinem verstorbenen Reiter und scharrte mit den Hufen auf der Suche nach etwas Essbarem. Theona hoffte, dass die anderen Tiere den Weg zurück gefunden hatten. Sie wollte nicht auch noch den Tod unschuldiger Lebewesen an ihren Händen kleben haben. Mithilfe ihrer Pferde begann sie, den ersten toten Körper an den gegenüberliegenden Rand der Ebene zu zerren, bis hin zu einem Felsen, der wie ein Gesicht geformt war. Vorsichtig schob sie ihn über eine unsichtbare Grenze hinweg, ein Stück weiter, noch ein kleines Stück, und dann gab der Boden nach, und die Leiche fiel in einen tiefen Spalt.

Ein Toter nach dem anderen fand seinen Weg in das Innere des Katakmas. Für jeden von ihnen sprach sie das Gebet, das ihr Großvater ihr beigebracht hatte, den Dank an das Leben, die Bitte um Verzeihung für den Tod, den sie gebracht hatte.

Zuletzt blieb noch der Tote, bei dem das Pferd stand. Einer Eingebung folgend, strich sie dem Tier über die Stirn und sprach es an.

»Du möchtest deinem Herrn einen allerletzten Dienst erweisen und ihn nach Hause tragen?«

Das Pferd rieb seine Stirn an ihrer Schulter.

»Dann musst du uns helfen.«

So wie sie Thelos auf Atantuchs Rücken gezogen hatte, machte sie es nun bei dem treuen Tier mit Denos, dem ein Ohr fehlte. Sie verstand, was ihr Farin damit sagen wollte. Es war eine Botschaft, die auch Kravos begreifen würde und die er hoffentlich als Warnung verstand, ihnen nicht weiter zu folgen. Sie band den Toten am Sattel fest, gab dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe, und mit seiner Last auf dem Rücken verschwand es um den Felsen.


Zurück in der Höhle füllte Theona einen eisernen Topf mit frischem Schnee, gab Kräuter hinein sowie eine Handvoll Fett.

Sie legte die Felle aus und rollte den immer noch bewusstlosen Thelos auf eines davon, löste den Verband und zog ihm die Oberbekleidung aus. Auch hier musste sie zur Nähnadel greifen und gab sich diesmal mehr Mühe, um eine ordentliche Naht hinzubekommen. Sie säuberte seinen Oberkörper, der von getrocknetem Schweiß verklebt war, legte frisches Moos darauf und verband ihn. Statt ihn anzuziehen, deckte sie ihn mit den Fellen zu.

Inzwischen brodelte der Sud über dem Feuer. Nachdem sie den Kopf des Eldemarers auf ihren Schoß gebettet hatte, flößte sie ihm mit einem sauberen Tuch die Flüssigkeit ein – ein unendlich umständlicher, langwieriger Prozess. Schließlich gönnte sie sich selbst den Rest des Suds. Fast noch heiß durchströmte das Getränk sie wohlig, verbreitete sich bis in ihre Adern hinein, wie es ihr schien, und nährte die müden Muskeln und Glieder.

Nachdenklich betrachtete sie Thelos, der sich mit flachem Atem und ungesunder Blässe unruhig unter den Decken bewegte. Er war viel zu erschöpft, sein Körper zu beschäftigt damit, die zahlreichen Verwundungen zu heilen, als dass er noch hätte reisen können.

Sie seufzte tief, kannte sie doch nur eine Möglichkeit, ihm zu helfen. Ein letztes Mal kontrollierte sie die Pferde. Tiela lag in einer Mulde im Schnee, Atantuch döste.

In der Nacht erklang ein kurzes Lied von Farin; so wusste Theona, dass sie beruhigt schlafen konnte, beschützt von ihren Gefährten. Sie entkleidete ihren Oberkörper und schlüpfte unter die Felle zu dem Prinzen. Ein wenig musste sie schieben, bis er sich auf die Seite rollte. Sie schmiegte sich eng an seinen verletzten Rücken, legte die Wange an seine Schulter und schob die Hand über seine Hüfte hoch an die Stelle, wo sein Herz pochte. Dann leerte sie ihr Bewusstsein, ging eine Verbindung mit der Erde ein, von der sie Kraft schöpfte, und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


Thelos träumte von einer blühenden Wiese inmitten eines Blätterwaldes. Der zarte Duft von Lilien, Iris und wilden Orchideen erfüllte die Luft, zusammen mit dem würzigen Geruch von Eichenmoos und Wacholder. Ein Mädchen mit langen, lockigen, blonden Haaren saß auf einem umgestürzten Baum und sah aufmerksam einem alten Mann zu, der mit einem Messer sorgfältig an einem langen Stück Holz schnitzte, das den Ast noch deutlich erkennen ließ, von dem es stammte. Nach und nach nahm der Ast unter den lang durchziehenden Schnitzbewegungen die Form eines Bogens an. Die Sonnenstrahlen, in deren Licht eingetaucht die beiden Gestalten friedlich beieinandersaßen, wärmten Thelos‘ Haut. An seinem Rücken stieg die Hitze auf, wechselte in ein anderes Gefühl.

Dunkelheit umgab ihn. Er spürte die weiche Erhebung einer Frauenbrust eng an seine Wirbelsäule geschmiegt. Er griff nach hinten, ließ seine Hand von der Schulter herunter zur Taille seiner Bettgefährtin gleiten, knurrte, drehte sich um und stellte fest, dass niemand da war, der das Bett mit ihm teilte.

Erneut wechselte der Traum. Er lag auf dem Boden, auf weichem Gras. Warm nieselte Sommerregen auf ihn nieder. Seine Finger gruben sich in den Schmutz, wühlten den Untergrund auf. Das Gefühl von unendlicher Weite erfüllte ihn, ließ die unruhigen Gedanken und die Ängste in ihm versiegen. Von der Erde kam er und dorthin würde er zurückkehren, wenn die Zeit gekommen war. Langsam versank er im Erdreich. Als ihm die Luft wegblieb, riss er erschrocken die Augen auf.

Ein niedriges Feuer erhellte die Höhle. Er lag auf dem Rücken. Seine Hand wanderte über die Felle, und er nahm die abklingende Wärme eines anderen Menschen wahr, der neben ihm gelegen haben musste. Sicher war das nur ein wirrer Traum gewesen. Auf einer Schulter liegend, ließ er den Blick in die Umgebung schweifen. Ihm fehlte jede Erinnerung, wie er hierher gelangt war, aber eines wurde ihm klar: Es war lange her, dass er sich so kräftig gefühlt hatte. Sein Blick erfasste seine Reisegefährtin, die eben ihr Hemd zuknöpfte und dann das Wams darüberzog. Eine tiefe Röte lag auf ihren Wangen. Im Gegensatz zu der selbstbewussten Aura, die sie sonst umgab, wirkte sie jetzt unsicher, hob schüchtern den Blick und sah ihn an.

»Ihr seid wach.«

»Wie bin ich hierher gekommen?«

»Atantuch.«

Die Erinnerung kam zurück, und er griff sich an die Brust, die verbunden war.

»Ihr solltet Euch jetzt etwas anziehen, damit Ihr Euch nicht erkältet. Ihr habt Eurem Körper genug Strapazen zugemutet.«

Ihre Augen wanderten scheu über seinen nackten Oberkörper hinweg zurück zum Feuer. Beschämt von der Erregung, die ihr Blick in ihm verursachte, setzte sich Thelos auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte Haar. Es musste an den Träumen liegen. Er versuchte, die wirren Gedanken zu sortieren, aber es misslang, und lebhaft spürte er wieder den warmen, nackten Frauenkörper an seinen Rücken geschmiegt.

Hastig griff er die Kleidungsstücke, die ordentlich gefaltet neben der Schlafstätte lagen. Kilihael ging mit dem Eisentopf nach draußen. Er war froh über den Moment des Alleinseins, der ihm Zeit gab, sich zu fangen, und knöpfte schon etwas entspannter das Hemd zu. Erneut war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Ein weiteres Mal verdankte er sein Leben dieser ungewöhnlichen Frau.

Er hatte gesehen, wie sie unter den Kriegern gewütet hatte, in einem todbringenden Tanz, der ihn an Sonas erinnerte. Auch er dachte bei einem Kampf nicht nach, sondern bewegte sich zielsicher und tödlich durch die Reihen der Feinde.

Die Stute – sie war eine Bestie gewesen, hatte mit eng angelegten Ohren und hochgezogenen Lippen eher einem angreifenden Raubtier geglichen. Und er war mit der Stute zum Pinkeln gegangen! Nachträglich lief ihm ein Schauer über den Rücken. Die Aura von Helligkeit, die Kilihael umgab, als sie in den Kampf zog, kannte er nur von einem Menschen, den er mit der silberleuchtenden Aura in der Schlacht erlebt hatte. Krieger des Lichts wurde er genannt. Den Namen hatten die Tarieken ihm – er stockte. Konnte es sein? Nein!

Oder doch? Konnte der Krieger des Lichts eine Frau sein? Er hatte eine Schwadron Reiter in Auriel von Akliets Legion angeführt – Sonas von Bersakens Eroberungsfeldzug gestoppt.

Theona von Akliet. Da war er wieder, der Name. Hatte er ihn nicht selbst deutlich aus dem Mund des Offiziers vernommen? Die Frau, für die er heimlich nach Tarieken gezogen war, um sich mit ihrem Bruder zu treffen – Theona von Akliet – der Krieger des Lichts? Wie konnte das sein? Das alles ergab keinen Sinn.

Er wandte ihr den Kopf zu, als sie wieder in die Höhle trat. Schneeflocken bedeckten ihren Umhang. Sie hockte sich ans Feuer und hängte den Topf in ein Gestell aus Holz. Gemeinsam sahen sie zu, wie der Schnee schmolz. Sie stand auf, holte aus der Satteltasche einige Tücher und einen Beutel. Aus dem einen wickelte sie getrocknetes, gesalzenes Fleisch aus und reichte es ihm.

»Hier nehmt das und esst. Ihr müsst Hunger haben.«

Er nahm einen Streifen und begann auf dem Stück herumzukauen, während er aufmerksam beobachtete, wie sie eine Handvoll Kräuter und etwas Fett ins Wasser gab.

»Ihr seid Theona von Akliet, die jüngste Schwester von Auriel von Akliet.«

Sie hielt nur kurz in ihrer Tätigkeit inne.

»Ich bin Kilihael.«

»Der Krieger des Lichts – eine Frau!«

Ihre glühenden Augen erwiderten seinen Blick. »Mein Name ist Kilihael! Theona von Akliet und der Krieger des Lichts sind vor langer Zeit gestorben.«

»In der Folterkammer des Kravos von Nordin?«

»Nein. Nur der Krieger starb dort. Sie aber wurde vor dem königlichen Gerichtshof von Baaren zum Tode verurteilt.«

»Warum sucht Auriel von Akliet dann Unterschlupf für Theona in Eldemar?«

»Seid Ihr deshalb nach Tarieken gereist?«

»Ja.«

»Weshalb? Was habt Ihr mit ihr zu schaffen?«

»Es spricht die edle Seite eines Mannes an, wenn es darum geht, eine Frau zu retten, deren Schönheit und Anmut selbst in Eldemar gepriesen werden.«

Theona konnte es nicht verhindern. Ihr Mund klappte auf, sie setzte zu einer Antwort an, zögerte, schüttelte schließlich den Kopf und schnaubte verächtlich. »Dann seid Ihr ein noch gewaltigerer Narr, als ich es gedacht habe, und Euer Land wäre besser ohne Euch dran.«

»Und deshalb rettet Ihr mir ständig das Leben und begleitet mich nach Eldemar?«

Dieser intensive, fokussierende Blick aus den glühenden Augen, der sich in seine Seele brannte, ließ nicht nach.

»Ja. Weil Ihr der einzige Mensch seid, der einen Krieg verhindern kann, noch bevor er ausbricht. Denkt an Euren Schwur. Hier, trinkt, damit Ihr zu Kräften kommt.«

Sie hielt ihm einen Becher hin, in den sie den Sud gefüllt hatte, und er nahm ihn entgegen.


»Wann brechen wir auf?«

Sie hatte ihn nach dem kargen Mahl in der Höhle zurückgelassen. Erst viele Stunden später kehrte sie mit einem Schneehasen zurück. Er hatte ihr geholfen, ihn zuzubereiten. Ein weiterer Sud und eine kräftige Hasenmahlzeit taten ihm gut, und er fühlte sich so satt wie nach einem Festmahl.

»Morgen bei Tagesanbruch.«

»Warum nicht jetzt? Das Tageslicht dürfte noch für ein paar Stunden ausreichen.«

»Dies ist vorerst der letzte Unterschlupf. Die nächste Etappe geht über zwei Tage. Erst auf der Seite von Eldemar werden wir wieder eine Pause einlegen können.«

»Und das heißt?«

»In Eurer Verfassung –«

»Es verschafft Euch Befriedigung, mir meine Schwäche unter die Nase zu reiben. Was ärgert Euch mehr? Dass ich ein Mann bin und Ihr eine Frau? Oder dass ich eines Tages der König von Eldemar sein werde, obwohl ich in Euren Augen kein wahrer Krieger bin?«

»Die Ungerechtigkeit, die es Euch ermöglicht, ein Leben frei von Eingrenzungen zu führen.«

»Ich habe mir mein Elternhaus nicht ausgesucht.«

»Das hat nichts mit der Familie zu tun, in die Ihr hineingeboren wurdet.«

»Also ist es die Tatsache, dass ich ein Mann bin.«

»Zweieinhalb Tage.«

»Und allein?«

»Eineinhalb Tage.«

Er stand auf, nahm ihren Becher und sammelte die Knochen auf, die sauber abgenagt neben ihr lagen.

»Was habt Ihr vor?«

»Aufräumen.«

Er grinste schelmisch und freute sich, als auch sie ganz kurz den Mund verzog.


Die Eintönigkeit der Landschaft raubte ihm jedes Zeitgefühl. Er saß auf den Wallach, der trittsicher und scheinbar mühelos den Pfad hinter Tiela hinaufstieg. An der Spitze lief Kilihael. Er hatte sich entschieden, diesen Namen weiterhin zu verwenden. Als sie es getan hatte, war auch er vom Pferd abgestiegen. Doch auf ihre Erklärung hin, dass er sie alle mit einem falschen Tritt gefährden würde, gab er sich geschlagen. Unermüdlich und langsam erklommen sie den Gipfel. Der Wind machte den Weg zusätzlich beschwerlich. Feine Eistropfen stachen ihm ins Gesicht, sodass er es unter einem Tuch bis auf die Augen verbarg. Waren sie zu Anfang noch einem sichtbaren Weg gefolgt, so schienen sie jetzt planlos über den Fels zu wandern. Er hatte jedoch gesehen, wie ein dampfendes Loch entstand, als Tiela stolperte und einen kurzen Ausweichschritt zur Seite machte.

»Haltet die Luft an, die Dämpfe sind tödlich!«

Er folgte ihren Worten, bekam dennoch einen leichten Hauch fauliger Gase mit, die ihm einige Zeit Übelkeit verursachten. Unermüdlich ging die Reise weiter.

Erst als ihm jemand eine Lederschlinge um das Handgelenk band, wachte er auf.

»Ihr seid eingeschlafen und fast vom Pferd gefallen.«

Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Er richtete sich auf. »Wie lange noch?«

»Sieht es aus, als hätten wir den Gipfel erreicht?«

Er ließ sich aus dem Sattel gleiten.

»Was habt Ihr denn vor?« Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

»Laufen.«

»Ich habe Euch gesagt ...«

Mit einer Handbewegung unterbrach er sie, erstaunt, dass er sie damit zum Schweigen brachte.

»Es ist gefährlicher, wenn ich einschlafe. Selbst wenn Ihr mich festbindet, wird Atantuch dazu genötigt, durch Schritte vom Pfad weg mein Schwanken auszugleichen.«

»Es ist dunkel. Seid vorsichtig und nehmt Tielas Schweif in die Hand.«

Skeptisch musterte er den Schatten des Pferdes vor ihm.

»Wird sie nicht nach hinten auskeilen?«

»Nein, nicht, solange ich es ihr nicht befehle.«

Hörte er eine Prise Humor aus ihrer Stimme? Bedächtig ließ er sich von der Stute mitziehen, versuchte, möglichst wenig Spannung an dem Schweif aufkommen zu lassen. Sicher war sicher. Er fing an, seinen Kopf mit Rechenaufgaben zu beschäftigen, damit die Müdigkeit von ihm abfiel. Wie machte diese Frau es nur, dass sie so beständig ihr Tempo halten konnte? Sie hatte keinen erschöpften Eindruck gemacht, als sie ihn vorhin gefesselt hatte.

Er hatte sie belogen, als er erzählte, der Ruf ihrer Schönheit und Anmut habe ihn dazu bewogen, dem Ruf Auriel von Akliets zu folgen. Obwohl er zugeben musste, dass ihr Äußeres außergewöhnlich war, kannte er vom Königshof viele attraktive und durchaus reizvollere Frauen als sie. Den wahren Grund hatte er ihr verschwiegen: die Verzweiflung und den Schmerz eines Tarieken, der sich seine Achtung verdient hatte.

Auriel von Akliet war ein Mann, der ein geschicktes politisches Spiel bei den Friedensverhandlungen zwischen den Ländern vollführte, der Kravos von Nordin gekonnt den Einfluss im tariekischen Königshaus beschnitt, der Eldemarisch beherrschte und ihnen als Zeichen des Friedens Menor von Bersaken, seinen Onkel, einen ehemaligen Heerführer der Eldemarer, wohlbehalten übergab. Selbst Sonas hatte er mit diesem unerwarteten Akt der Großzügigkeit dieses als barbarisch geltenden Volkes überrascht. Außerdem hatte er genug Vernunft und Weitsicht, um zu erkennen, dass nur ein Waffenstillstand sie davor bewahrte, die endgültige Niederlage einzustecken. Betrunken hatte Auriel von Akliet ihm dann von dem Opfer erzählt, das er hatte bringen müssen, und Tränen waren ihm dabei über die Wangen gelaufen.

Ein tariekischer Krieger weinte nicht.

In dem Brief hatte gestanden, dass Kravos von Nordin ein Kopfgeld auf Theona von Akliet ausgesetzt hatte, auf seine Schwester, die sich über die letzten Jahre so erfolgreich in Tarieken vor ihrem Schänder verbarg. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie dem Heerführer in die Hände fiele. Sie hatten einen Treffpunkt vereinbart, an dem Auriel Theona überreden wollte, sich in den Schutz des Königshauses von Eldemar zu begeben, aber niemand durfte davon erfahren. Zu hoch war das Risiko für den Tarieken, alles dabei zu verlieren.

Jetzt, mit größerem Abstand zur Folterkammer, zweifelte er schon daran, dass ihn Auriel wirklich verraten hatte. Das bedeutete wiederum, dass der Tarieke und seine Familie in ernster Gefahr schwebten. Sicher durfte er der Frau nichts von all dem offenbaren. Stattdessen musste er sie dazu bringen, dass sie mit ihm ging, vorausgesetzt, dass sie jemals von diesem verfluchten Berg herunterkamen. Das war er ihr schuldig.

Sie erreichten den Gipfel mitten in der Nacht. Wind und Schnee legten eine Pause ein, seine Führerin ebenso. Erschöpft ließ sich Thelos auf den Boden fallen. Er starrte in den sternenübersäten Himmel, den er noch nie als so nahe empfunden hatte.


Theona sattelte die Pferde ab, gab jedem von ihnen zwei Handvoll Samen, gemischt mit Fett. Das musste reichen. Selbst die unermüdliche Tiela zeigte keinerlei Interesse am Spielen, stattdessen suchten die Tiere sich einen Platz im Schnee und ließen sich nieder. Eine Stunde vielleicht, aber sicher nicht mehr als drei Stunden, und nur, solange das Wetter mitspielte, entschied sie.

Sie trat zu Thelos, der auf dem Rücken lag und schlief, die Hände über der Brust gefaltet. Sie breitete zwei Felle aus, bevor sie den Prinzen weckte, indem sie ihn unsanft an der Schulter rüttelte.

»Legt Euch auf das Fell!«

»Ich bin eingeschlafen.«

»Der Weg ist kräftezehrend für Euch.«

»Ihr habt die Pferde abgesattelt.«

»Auch sie verdienen eine Pause.«

»Das meine ich nicht. Woher nehmt Ihr Eure Kraft?«

»Ihr habt viel durchgemacht und solltet Eure letzte Wunde nicht vergessen.«

»Aber Ihr seid eine Frau.«

»Vergesst Euren Stolz. Auch in unverletztem Zustand würde meine Ausdauer die Eure übertreffen, glaubt mir.«

»Entweder seid Ihr nur übermäßig überzeugt von Euch selbst oder Ihr habt eine ziemlich armselige Meinung von mir.«

Sie reichte ihm einen Kanten Fladenbrot, einige Streifen Trockenfleisch und getrocknete Aprikosen, setzte sich im Schneidersitz auf das andere Fell und wickelte sich fest in den Reiseumhang ein. Sie biss ein Stück vom Fleisch ab und kaute es sorgfältig.

»Jeder, der die Folterkammer von Kravos von Nordin überlebt, erfährt meine Achtung. Ihr seid in meinen Augen kein Schwächling.«

»Also habt Ihr eine hohe Meinung von Euch selbst?«

»Was die Ausdauer anbetrifft, ja.«

Schweigend aßen sie zu Ende. Er musterte sie in ihrer aufrechten Haltung. Das Tuch, das ihr Gesicht verbarg, hatte sie zum Essen entfernt. Es würde eine große Herausforderung werden, diese Frau davon zu überzeugen, in Eldemar zu bleiben.


Während der Mann neben ihr schlief, starrte Theona in den Himmel. Sie konnte nicht schlafen. Einzigartig war die Nacht mit dem klaren Sternenhimmel auf dem Gipfel des höchsten Berges in Alurin. Mühelos erkannte sie das Bild des Drachen am Firmament, den Nevarn, die Raubkatze und den Delfin. Das kostbare Buch des Sternkundigen war wahrhaftig ein Schatz und jede der Goldmünzen wert, die sie dafür bezahlt hatte. In der Unendlichkeit des Firmaments schrumpften Ängste und Sorgen zur Belanglosigkeit. Was zählte ein Menschenleben, was zählte ein Volk in dieser Unendlichkeit? Niemand würde sich mehr an ihren Namen erinnern, niemand je eine Träne über ihren Tod vergießen. Warum wehrte sie sich? Warum nicht einfach heute und hier all dem ein Ende setzen? Was kümmerte es sie, ob ein weiterer Krieg ausbrach?

Amelias weiches Kindergesicht überlagerte die Sterne. Der Hof von Burkas, auf dem Klas und Isiah stritten, während Lias, Finja und Amelia Fangen spielten. Burkas, wie er Riah in die Arme zog und sie zärtlich auf den Mund küsste. Das Lachen der Kinder hallte laut durch ihren Kopf.

»Genau deshalb«, vernahm sie eine warme Stimme in ihren Gedanken. Sie schloss die Augen und döste ein.


»Der Asambra ist der gewaltigste Berg, den du dir vorstellen kannst, aber sein Gipfel ist niemals mit Schnee bedeckt, denn in seinem Inneren glüht die heiße Erde. In ihr schmieden wir die Anhänger, deren Farbe sich nach dem Element richtet, das dich erwählt hat. Zahlreiche davon habe ich einst als heranwachsender Mann geschmiedet. Das ist wahre Kunst. Dagegen ist ein Schwert leicht zu erschaffen.«

»Aber verbrannte die Hitze dich nicht?«

»Wenn du unvorsichtig bist und es allein wagst, verbrennt sie dich. Vier Älteste, von jedem Element einer, sind außer dem Schmied notwendig. Feuer hält die Hitze unter Kontrolle. Erde steuert die Bewegung der Glut. Luft erhält dich am Leben, damit du in der Tiefe atmen kannst, und Wasser löscht zuletzt das Feuer, sodass du den Anhänger am Ende in deiner Hand hältst.«

»Schmiedest du mir auch einen Anhänger?«

»Das kann ich nicht. Aber keine Sorge – eines Tages bekommst auch du einen.«


Tielas weiche Nüstern, die ihr über die Nase strichen, weckten Theona. Erschrocken fuhr sie hoch. Die Nacht wechselte bereits in den Morgen. Die Gestalt neben ihr, vergraben in den Fellen, lag steif und bewegungslos da. Sie legte die Fingerspitzen an seinen Hals, beugte sich tief über ihn, bis sie das Pulsieren des Lebens wahrnahm und der Atem sanft ihre Wange streifte. Er schlug die Augen auf, und augenblicklich umspielte ein Lächeln seinen Mund.

»Mit diesem Anblick zu erwachen – daran könnte ich mich gewöhnen.«

Sie war froh, dass Thelos in der Morgendämmerung die Röte nicht sah, die ihr ins Gesicht schoss, und erhob sich abrupt.

»Macht Euch fertig, wir brechen auf.«


Der Weg ins Tal gestaltete sich weitaus schwieriger und gefährlicher als der Aufstieg. Ständig lösten sich Schneeplatten unter den Hufen der Pferde und sorgten für unfreiwillige Rutschpartien. Atantuch zeigte ein weiteres Mal, was für ein Geschick und welche Strapazierfähigkeit in ihm steckten. Es nötigte Thelos Bewunderung ab, wie er das Gewicht auf die Hinterhand legte, gelassen einen Halt suchte, im exakt richtigen Moment absprang und auf einen für ihn unsichtbaren Pfad kletterte. Der Wallach war nicht mit Gold aufzuwiegen in diesem Gelände.

Sie hatten die Positionen getauscht. Die Stute folgte gehorsam ihrem Gefährten. Gegen Mittag tauchte Farin am Himmel auf. Mehrmals hörte Thelos den schmeichelnden Gesang des Vogels. Als sie ihr Nachtlager auf einem schmalen Plateau aufschlugen, ließ der Raubvogel sich in der Nähe nieder, einen Fasan in den Krallen. Thelos hatte keine Ahnung, wo Kilihael das Holz gefunden hatte. Es war zwar nicht viel, aber genug, um eine Mahlzeit braten zu können.

»Wie kommt es, dass Euch dieser Nevarn begleitet? Ich habe noch nie von jemandem gehört, der es geschafft hat, den König der Lüfte zu zähmen.«

»Er ist auch nicht gezähmt.«

»Er hat Euch Beute gebracht.«

Sie zuckte die Achseln. »Auch ich teile mein Essen mit ihm. Heute lässt er uns an seinem Jagderfolg teilhaben.«

»Und dass er Euch vor unseren Verfolgern gewarnt hat oder auf Eurem Arm landete?«

»Er mag es nicht, wenn Menschen in sein Revier eindringen, deshalb hat er uns gewarnt.«

»Aber Ihr dringt genauso in sein Revier ein, wie unsere Verfolger es ...«

Sie grinste. »Ja, jedoch erweise ich ihm Respekt und teile mit ihm, was ich in seinem Revier erbeute.«

Der Vogel saß auf einem Felsen und hatte mit dem Putzen seines Gefieders aufgehört. Den Kopf schräg gelegt, schien er den Worten der Tariekin zu lauschen. Ein Nevarn wirkte aus der Nähe betrachtet erhabener und furchteinflößender als in der Luft. Thelos wusste, dass der spitze Schnabel, der so lang war wie sein Mittelfinger, mühelos das Vorderbein eines Hasen durchtrennen konnte. Am eindrucksvollsten jedoch waren die messerscharfen, gebogenen Krallen. Wie kleine Dolche hinterließen sie selbst auf Felsen Kratzspuren. Als würde der Nevarn seine Gedanken lesen, fixierte er ihn mit den schwarzen Knopfaugen, die ihm, seitlich am Kopf sitzend, einen Rundumblick gewährten. Egal was die Frau ihm erzählte – dieser Raubvogel wachte über sie.


Die rechte Seite, von der der Folterknecht ihm einen daumenbreiten Streifen Haut abgezogen hatte, verursachte Thelos Schmerzen. Auch schien ihm sein Gleichgewichtssinn abhandengekommen zu sein, was ihm heute beim Abstieg mehr zu schaffen gemacht hatte als beim Aufstieg. Er rollte sich in die Felle, nutzte Atantuchs Sattel als Stütze und suchte eine Position, in der die Schmerzen ihn nicht so quälten.

»Hier. Zerkaut das langsam. Schluckt die Blätter nicht runter, sondern spuckt sie aus, wenn sie die Bitterkeit verlieren.«

Er nahm die Blätter aus ihrer Hand. Sie zauberte einen kleinen tönernen Behälter aus einem Ledersack hervor. »Und reibt Euch mit dieser Salbe die Stelle ein, wo Euch die Haut abgezogen wurde.«

»Wird es jemals wieder zusammenwachsen?«

Ihr Gesichtsausdruck wurde undurchdringlich.

»Nein.« Sie wandte sich von ihm ab, rollte sich auf der anderen Seite des Feuers in ihre Felle. Er schob die Blätter in den Mund und musste den Reflex unterdrücken, sie direkt wieder auszuspucken. Die Bitterkeit zog die gesamte Flüssigkeit aus den Mundschleimhäuten. Nachdem er sich dreimal trotz Würgereiz gezwungen hatte, den Saft aus den zerkauten Blättern zu schlucken, nahm er zweierlei wahr. Die Schmerzen verblassten zu einem dumpfen, erträglichen Pochen, während sich im Mund eine Taubheit ausbreitete. Er zog den Korken von dem tönernen Gefäß, tauchte zwei Finger in eine Art dickflüssiges Fett. Damit strich er behutsam die Wunden ein. Als das Brennen und Ziehen nachließ, atmete er tief ein. Erst mit der Erleichterung bemerkte er, wie sehr ihm die Verletzungen zu schaffen gemacht hatten. Bevor ihn die Müdigkeit übermannte, spuckte er die letzten Blätter aus.


»Hier trennen sich unsere Wege.«

Am Fuß des Katakmas auf der Eldemarer Seite angelangt, ließen sie die Pferde an einem Bach trinken. Beide Tiere hatten dieselbe Zähigkeit bewiesen wie ihre Besitzerin. Der Nevarn war ihnen nicht bis ins Tal gefolgt.

Die letzten Tage hatte Thelos bereits auf diese Worte gewartet.

»Nein.«

»Keine Sorge, ich werde Euch Tiela mitgeben. Sie kann auf der Ebene mehr Tempo machen als Atantuch und wird Euch ohne Schaden nach Lithanos bringen.«

»Eure Stute wird sich niemals von Euch trennen, und ich werde kein weiteres Geschenk annehmen.«

»Wer sagt, dass ich sie Euch schenke?«

»Ich glaube nicht, dass ich allein den Weg über den Katakmas finde, und auf den normalen Handelswegen ...«

Ein glühender Blick traf ihn. »Ihr habt mir ein Schwur geleistet, vergesst das nicht, Prinz von Eldemar.«

»Ich halte meine Versprechen. Es wird keinen Rachefeldzug von unserer Seite geben, aber wir werden auch nicht zusehen, wie die Armee der Tarieken die Grenzen verletzt.«

»Lasst das meine Sorge sein.«

»Ich mache Euch einen anderen Vorschlag. Kommt mit mir nach Lithanos, dann nehmt Ihr selbst Eure Pferde mit und ich kann mich gebührend bei Euch bedanken.«

Entschlossen schüttelte sie den Kopf.

»Nein.«

»Es ist die vernünftigste Lösung, und Ihr erhaltet die Möglichkeit, vor dem König für Euer Volk zu sprechen.«

»Ich bin eine Frau und die Letzte, die für ihr Volk sprechen könnte.«

»Wie soll ich Euch sonst Tiela zurückgeben, wenn Ihr nicht mit mir kommt?«

»Ihr lasst sie frei. Sie findet den Weg zurück zu mir.«

»Und Euer Sattel, die Taschen und Felle?«

Ihre Brust hob und senkte sich in einem tiefen Atemzug. Wehmütig betrachtete sie den fein punktierten und verzierten Sattel, die dazu passenden Satteltaschen, eine Maßarbeit von einem Freund ihres Großvaters. Der Sattel passte nicht auf Atantuch, der einen viel breiteren Rücken als Tiela hatte. Die Taschen könnte sie tauschen. Die Unentschlossenheit spiegelte sich in ihrem Blick.

»Kommt mit mir – ich bitte Euch.«

»Bitte?«

»Ja.«

»Nach Lithanos?«

»Ja.«

»Ihr wisst, wer ich bin!«

Er musste schmunzeln. Sie hatte gesagt, dass der Krieger des Lichts tot wäre, aber er wusste, dass sie darauf anspielte.

»Ja.«

»Wie gedenkt Ihr, Eurem Bruder meine Anwesenheit zu erklären?«

Das war ein wunder Punkt. Sonas hatte bei den Gräbern seiner Männer einen Eid geschworen, den er niemals brechen würde.

»Ich werde Euch als Kilihael vorstellen.«

»Der Name ist ohne Bedeutung. Was ist mit Tiela?«

»Ich habe sie als sanftmütiges Pferd kennengelernt.«

»Und Ihr glaubt, Euer Bruder würde es einfach so akzeptieren, dass Ihr mit einem Ohr weniger aus der Folterkammer des Kravos von Nordin zurückkehrt? Mit einer Tariekin im Schlepptau? Ohne weitere Fragen zu stellen?«

»Ihr seid eine Frau.«

»Und das heißt?«

»Niemand wird in Euch den Krieger des Lichts vermuten.«

Schweigend musterte sie ihn.

Er versuchte in ihrer Haltung oder in ihrem Gesicht zu lesen, welche Entscheidung sie treffen würde.

Ein abschätzendes Nicken – sie tauschte die Packtaschen der Pferde, befestigte Bogen und Schwert an Atantuchs Sattel.

»Heißt das nun ja oder nein?«

»Steigt auf, wir haben genug Zeit vergeudet.«

Er schwang sich auf die Stute. Sollte sie die andere Richtung einschlagen, wäre es ihm trotz allem ein Leichtes, sie zu Pferd aufzuhalten.

»Denkt an Euer Versprechen!« Sie wechselte in die Sprache der Tarieken. »Tiela – bring deinen Reiter ohne Schaden nach Lithanos. Los.«

Ehe Thelos ihre Worte für sich übersetzen konnte, legte die Stute eine Hinterhandwendung hin und startete mit einem Sprung direkt in den Galopp. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich festzukrallen, während der Wind an seinem Kopf vorbeipfiff. Als er die Zügel aufgenommen, sein Gewicht verlagert und das Tempo gemäßigt hatte, warf er einen Blick zurück. Theona von Akliet war in den Wäldern am Fuße des Katakmas verschwunden. Obwohl er wusste, dass er die Frau unmöglich aufspüren konnte, wenn sie nicht gefunden werden wollte, versuchte er Tiela zu wenden. Ihren Kampf – kurz, aber heftig – entschied das Tier für sich. Zähneknirschend ließ er sie weiter Richtung Lithanos laufen. Erst galt es, ein Versprechen einzuhalten und den Krieg zu verhindern. Er würde einen Weg finden, seine Lebensschuld gegenüber Theona von Akliet einzulösen, und sie nach Eldemar holen, und wenn er dafür die Unterstützung seines Bruders erstreiten musste.

8

Tinau

Obwohl Theona wusste, dass auf Tiela absoluter Verlass war, ritt sie eine Weile durch den Bach, um eine Verfolgung ihrer Spur zu erschweren. Nur zur Sicherheit, falls sie die Reitkünste des Eldemarer Prinzen unterschätzt hatte. Selbst sie könnte aber die Stute nie gegen deren Willen irgendwohin reiten, also würde es auch ihm nicht gelingen, sie zurückzuwenden. Waren Tiela und sie uneinig über den bestmöglichen Weg, so stieg Theona ab und wanderte stur die eingeschlagene Richtung weiter. Meist folgte ihr Tiela dann doch, nachdem sie ihren Missmut ausreichend kundgetan hatte. Atantuch hingegen überließ Theona grundsätzlich die Führung.

Jetzt verließ sie sich eine Weile auf Atantuchs Geschick, ließ ihn ein Stück die Ausläufer des Katakmas hochklettern, bevor sie den Wallach zu ihrem anvisierten Ziel Tinau hin lenkte. Nicht zum ersten Mal besuchte sie die Stadt, die dem Sonnengott Lethos geweiht war, einen der wenigen Orte, an denen sich niemand wunderte, wenn eine Frau allein unterwegs war. Tinau war eine Pilgerstadt, zu der auch Frauen kamen, um den Gott Lethos um einen Mann, um Schönheit oder Fruchtbarkeit zu bitten, und dafür Opfer darbrachten. Aber Theonas Besuch galt nicht diesem Zweck. Tinau war äußerst hilfreich in einer bestimmten Hinsicht: Es war neutral. Die Stadt gehörte weder den Tarieken noch den Forranern und auch nicht den Eldemarern, obwohl sie an der Küste auf deren Gebiet lag.

Die Tarieken erreichten den Pilgerort entweder über den Meeresweg oder mussten dafür von Eibalin, den Handelswegen folgend, vier Tage das Herrschaftsgebiet von Eldemar durchqueren. Auch von Forran aus erreichte man Tinau entweder auf dem Seeweg oder über den Weg den Fluss hinab. Letzterer führte von der Hauptstadt, dem Sitz des hohen Lords aus die Grenze entlang, dann ein Stück durch Forran und zuletzt durch Eldemar, bevor er bei Tinau ins Meer mündete.

Ein uraltes Gesetz, das in all den Jahrhunderten kein Herrscher je zu verletzten gewagt hatte, besagte, dass jedes Volk, einschließlich der Mintraner, diese Stadt als Pilgerstätte frei bereisen durfte. Niemand hatte es je gewagt, die Sonnenfahne des Pilgers für eine Kriegslist auszunutzen. Wer das Gesetz übertrat, beschwor den Zorn des Gottes Lethos und der Göttin Lishar herauf, und kein Herrschaftshaus würde deren göttlichen Zorn herausfordern.

In all den Jahren hatte sich nur in Tinau die Möglichkeit geboten, die Vertreter aller Völker zu treffen – einschließlich der der Mintraner. Deren Volk lebte vollkommen zurückgezogen in einer inzwischen zu Forran gehörenden, besonders unwirtlichen Region am Fuße des Asambra.

In Tinau bekam man jede Ware und jede Information über alles, was im Land vor sich ging. Entsprechend galt es, bei der Bewertung dessen, was man erfuhr, vorsichtig zu sein, da mit reichlich Würze aus allerlei Gerüchten zu rechnen war.

Je ein Botschafter jedes Volkes lebte in der Stadt. Friedensverträge wurden in Tinau ausgehandelt und im Tempel des Lethos von den Priestern unterschrieben und besiegelt. Auch der Friedensvertrag zwischen Tarieken und Eldemar war hier besiegelt worden.

In einer Geschichte wurde davon erzählt, dass Prinz Tarkan einst Lady Levarda, die Ehefrau von Lord Otis, dem ersten Gardeoffizier des hohen Lords, aus dem Tempel entführen ließ. Allerdings hatte sie damals nicht die Sonne der Pilgerin getragen. Dennoch war dem Leben des Prinzen durch göttlichen Zorn ein Ende gesetzt worden, und es gab wundersame Geschichten darüber, was in der darauf folgenden kurzen Schlacht passiert sein sollte. Theona empfand diese Berichte als übertrieben, aber tatsächlich achtete jeder seither gewissenhafter denn je darauf, dass der Frieden in Tinau gewahrt wurde.


Theona hielt Atantuch in einiger Entfernung von der Stadt an. Sie sattelte den Wallach ab, löste die Sehne vom Bogen und wickelte die Waffen sorgfältig in ein Fell ein. Die Hände in die Erde wühlend verschmolz sie mit dem Element, fand unter einem Felsen die Grube, die sie bei einem ihrer ersten Besuche im Gestein geformt hatte. Nur mit der Fokussierung ihrer Gedanken auf den Fels schob sie diesen beiseite. In der Grube bewahrte sie ein Bündel mit Kleidern auf. Kurze Zeit später stand anstelle des Kriegers eine einfache Frau aus dem Volk im Wald. Die Kleidung aus billigem Stoff, ganz schlicht gehalten, bestand aus einem sandfarbenen Unterkleid und einem weiten, braunen Obergewand, das sich vorne schnüren ließ. In der Taille saß ein geflochtener lederner Gurt, die einzige Eitelkeit, die sie sich erlaubt hatte. Daran befestigte sie ihren Geldbeutel sowie den Dolch in seinem ledernen Schaft. Keine Edelsteine, lediglich einfache, polierte Steine verzierten das Obergewand, sodass sie als Tochter eines Händlers durchging. Nach all den Jahren verfügte sie über reichlich Kenntnisse im Handeln, und darum standen ihr auch genug finanzielle Mittel zur Verfügung. Der Griff des Dolches bestand aus solidem Horn, so wie ihn die bessergestellte Bevölkerung auf Reisen in den Gaststätten zum Essen benutzte.

Sie zog noch eine wollene Strumpfhose an und wechselte ihre strapazierten Reitstiefel gegen weich gegerbte Lederschuhe, die ihr bis zu den Knöcheln reichten. Diese Schuhe passten nicht nur besser zum Kleid, sondern waren wunderbar geeignet für den Marsch in die Stadt, der ihr bevorstand. Doch erst löste sie den Zopf und kämmte sich das Haar. Sie suchte einige Steine zusammen, auf die sie ihre Konzentration lenkte. Kurze Zeit später hielt sie eine Handvoll fein gemahlenen Gesteinspuders auf den Handflächen und rieb es sich sorgfältig ins Gesicht. Eingenistet in jede Pore verwandelte das Pulver sie in eine ältere Frau. Sie verwendete es auch für die Haare, zwirbelte sie zusammen und schlang sie zu einem losen Dutt. Als Letztes nahm sie einen braunen Umhang mit Kapuze um die Schultern und befestigte daran ein Tuch, sodass ihr Gesicht wie bei allen Pilgerinnen verborgen lag und nichts außer den Augen hervorschaute. Um den Arm wand sie ein rotes Stoffband mit eingestickter goldener Sonne.


Der anbrechende Frühling trieb viele Menschen in die Stadt Tinau. Der erste Weg führte alle den Pfad hinauf in den Tempel von Lethos. Im Innern blieb dieser immer kühl, obwohl er dem Sonnengott gewidmet war. Theona liebte sogar seine verschwenderische Pracht, denn die passte ihrer Meinung nach zu dem Gott. In der Nähe der Statue von Lethos, in der Halle, zu der nur Männer Zutritt erhielten, brannte ohne Unterlass ein Feuer. Die in Marmor gehauene Figur, der Inbegriff von Männlichkeit, war nackt, nur das Geschlecht wurde von einem Schurz verborgen. Fein gemeißelt zeigte sich die Muskulatur der Arme und Beine und des Oberkörpers mit flachem Bauch. Welliges Haar reichte dem Gott bis zu den Schultern, sein Gesicht glich angeblich den männlichen Nachfolgern des Königsgeschlechts von Eldemar.

Die Legende besagte, dass einst Lethos selbst mit Hathra von Bersaken die Blutlinie der Könige begründete. Prinz Tarkan, den Theona nie gesehen hatte, sollte dem Standbild wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen sein. Doch auch Sonas von Bersaken, der Heerführer der Eldemarer, wies ihrer Meinung nach eine deutlich sichtbare Ähnlichkeit mit der Statue des Gottes Lethos auf. Seine Stirn war ein wenig flacher, die Nase länger und spitzer, aber ansonsten sah sie denselben harten, unnachgiebigen Ausdruck im Gesicht des Lethos. Und wenn sie den Legenden um den Gott Glauben schenkte, unterschied die beiden Männer auch nichts in ihrer Grausamkeit im Kampf.

Theona nahm einen Becher des Fruchtbarkeitstranks aus den Lenden des Lethos entgegen, um sich möglichst unauffällig zu verhalten und unsichtbar zu bleiben, und zog sich in eine stille Ecke des Raums für die Frauen zurück. Der kam ihr heute überfüllt, stickig und laut vor. Sie trank schlückchenweise das süßliche, kalte Getränk aus Bananenmark und gesegnetem Quellwasser, das die Priester dem Innern des Tempels entnahmen, das mit ein wenig Zitrone vermengt war. Die anderen Pilgerinnen respektierten Theonas Zurückgezogenheit. Sie hielten Abstand, und niemand sprach sie an.

Theona gönnte sich eine Pause nach der langen, harten Reise, lauschte den Worten des Priesters unten im Tempel und den sanften Klängen der Musik, die so überhaupt nicht zu diesem Gott passen wollte. Bei dem Gedanken huschte ihr ein Lächeln übers Gesicht.

»Worüber lächelst du, meine Tochter?«

Erschrocken riss Theona die Augen auf und starrte den Mann an, der sich vor ihr auf den Boden gesetzt hatte. Er trug einen ähnlichen Umhang und ein Gesichtstuch wie sie, denn auch die Priester des Tempels zogen Kleidung in dieser Art an, sodass ihre eigene Gestalt nicht von der einzig wahren des Gottes ablenkte. Theona hatte noch nie erlebt, dass ein Priester im Raum der Frauen erschienen war oder unaufgefordert eine Pilgerin, die das Haus des Sonnengottes aufsuchte, angesprochen hatte. Sie errötete, löste sich vom Holzgitter, das den Raum zum Tempel hin abgrenzte und an dem sie gelehnt hatte, und setzte sich aufrecht hin.

»Verzeiht, ich muss eingeschlafen sein.«

Der Mann lachte, und seine Stimme klang in einem warmen, melodiösen Bariton. Schlanke Finger griffen nach dem Becher, der ihr aus der Hand gerutscht sein musste.

»Habe ich ..., ich meine ...«, Theona brach ab und räusperte sich. Noch mehr Blut schoss ihr heiß in die Wangen bei dem Gedanken, dass sie womöglich geschnarcht und die Messe gestört hatte. Hatte der Priester sich deswegen genötigt gefühlt, im Raum der Frauen nach dem Rechten zu sehen? Sie zog tief Luft ein. »... Missfallen geweckt?«

Er drückte ihr den Becher in die Hand, und seine Finger berührten dabei ihre Hand. Hitze strömte in sie ein, breitete sich in Windeseile in ihrem Körper aus, als durchfluteten sie plötzlich Sonnenstrahlen in ihrem Innern.

»Aber nein, wie könnte eine so reizvolle Frau wie Ihr jemals den Tempel stören, nur weil sie sich in dessen Obhut geborgen fühlt und in den unschuldigen Schlaf eines Kindes fällt?«

Sie starrte auf ihre Hand, die zitternd den Becher hielt, versuchte das innere Gefühlschaos zu sortieren.

»Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet. Weshalb hast du in deinem Traum gelächelt?«

»Die ..., die ...« Ihre Stimme erstarb. Sie sah in die blauen Augen, verlor sich darin, während er fragend die Brauen hob. Die Falten unterhalb seiner Schläfen zeigten ihr, dass er, verborgen unter dem Tuch, grinste. Etwas war anders an diesem Priester – ungewöhnlich. Es war, als hätte er sie in einen Bann gezogen, aus dem sie sich nicht befreien konnte. Er wusste um seine Wirkung, das erkannte sie in dem Wenigen, was sie von ihm erhaschte. Seine Körperhaltung konnte sie nur als arrogant und überheblich deuten.

Sie lehnte sich zurück, wollte Abstand von ihm gewinnen und bemerkte die hölzerne Abtrennung in ihrem Rücken. Keine Fluchtmöglichkeit, schoss es ihr durch den Kopf. Den kurzen Anflug von Panik unterdrückend schob sie eine Hand unter den Umhang, auf den Dolch zu.

»Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten. Ich würde dir niemals wehtun, Theona von Akliet.«

Sie schnappte nach Luft.

»Woher kennt Ihr meinen Namen?«

»Ich kenne jeden Namen. Niemand kann sich vor mir verbergen. Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.«

Etwas in seiner Stimme zwang sie zu antworten.

»Die Musik.«

»Die Musik brachte dich zum Lächeln?«

»Ja. Sie klingt so zart, weich und sanft.«

»Du meinst, nicht wie Musik für den Gott Lethos.« Sein Tonfall klang amüsiert.

»Nein, irgendwie nicht, und doch ...«

»Und doch?«

»Wenn es stimmt, dass er Lishars Liebe erwiderte ...« Sie verstummte, biss sich auf die Unterlippe, als sie sah, dass das Blau der Augen einen dunklen Ton annahm. Luft wirbelte durch den Raum. Theona presste den Rücken gegen das Holz, fühlte, wie der Wind an ihren Kleidern zerrte, und barg ihr Gesicht unter dem Gewand.

So urplötzlich der Sturm angefangen hatte, so unmittelbar verebbte er.


»Alles in Ordnung mit Euch?«

Eine Frau beugte sich über sie. Theona richtete sich auf, schaute herum, konnte den Mann aber nirgendwo entdecken.

»Wo ist der Priester?«

»Welcher Priester?«

»Der Priester, der hier bei mir saß. Wo ist er?«

»Priester haben keinen Zutritt zum Raum der Frauen. Bei Euch saß niemand.«

»Aber ...«

»Ihr seid eingeschlafen und habt angefangen, Euch ungestüm zu bewegen, wohl im Traum. Ich wollte nicht, dass Ihr die Messe stört, deshalb weckte ich Euch. Kommt, Schwester, steht auf, trinkt etwas Quellwasser, das wird Euren Verstand wieder wach machen.«

Folgsam ließ sich Theona von der Frau zu den anderen Pilgerinnen ziehen.


Sie hatte entschieden, dass ein wirrer Traum sie im Tempel heimgesucht hatte, durch die Musik ausgelöst, deren Klang sie so irritiert hatte, und durch das eingehende Vergleichen der Statue mit Sonas von Bersaken. Hinzu kam, dass sie befürchtete, er würde mit einem Heer gegen Tarieken ziehen, um seinen Bruder Thelos zu befreien. Sie hatte Angst, dass sie trotz ihrer Bemühungen, diesen Mann zu retten, versagte, weil sie zu spät kam. Das alles beschäftigte sie und hatte sich im Traum miteinander vermischt.

Tief durchatmend betrat sie das Wirtshaus am Fuße des Tempels, den Treffpunkt der Pilger, den inoffiziellen Handelsplatz für jede Information, die man suchte, sofern man mit Gold zahlte oder geduldig die Ohren offenhielt.

In dem Gasthaus herrschte reger Betrieb. Lange Tische reihten sich aneinander, Bänke statt Stühle luden die Reisenden, Pilger und Handelsleute zum Sitzen ein. Es wurde nur ein einziges Essen angeboten: eine Suppe mit zwei Stücken Fleisch sowie trockenem, hartem Brot, das nur einigermaßen genießbar wurde, wenn es in der Flüssigkeit der Suppe aufweichte.

Die Gäste hatten aber Auswahl zwischen drei Getränken: Bier, Wein und Wasser. Theona entschied sich für Bier, was die Bedienung kurz aufmerken ließ. Frauen wählten wahrscheinlich sonst eher Wein oder Wasser.

Um diese Tageszeit gab es ein ständiges Hin und Her der Gäste. Der Abend nahte, der Alkohol floss und so hoffte Theona, aufschlussreiche Informationen aufzuschnappen.

Sie zog ihren Reiseumhang aus, faltete ihn ordentlich und setze sich darauf. Sie hatte einen Tisch gewählt, von dem aus sie den Eingang des Wirtshauses beobachten konnte. Sie saß in der Nähe eines Fensters, am Rande des Geschehens, wo sie nicht ins Auge fiel, aber eine ausgezeichnete Lauschposition innehatte. Während sie einen kräftigen Schluck aus dem Becher nahm, achtete sie auf die Gespräche. Wenn Sonas von Bersaken in den Krieg zog, würde sie es hier erfahren, daran zweifelte sie nicht.

Der Lärm verstummte, und wie alle anderen Gäste sah Theona zur Tür. Eine Gruppe von vier Männern hatte das Wirtshaus betreten, und obwohl sie alle zivile Kleidung anhatten und den Gesetzen von Tinau folgend keine sichtbaren Waffen mit sich führten, umgab die Männer doch eine Respekt einflößende Aura. Alle maßen mehr als einen Meter achtzig und überragten damit die meisten Gäste. Die Haare trugen sie zu einem Zopf gebunden, ihre Bärte waren gepflegt und ordentlich gestutzt. Selbstbewusst bewegten die Krieger des Inneren Kreises sich durch das Wirtshaus, auf der Suche nach einem freien Platz, während die Stille im Raum wieder dem gewohnten Treiben wich.

Theona senkte das Haupt, vermied jeden Blickkontakt und unterdrückte ihren ersten Impuls zu flüchten.

»Verzeiht, ehrenwerte Dame, stört es Euch, wenn wir uns zu Euch setzen?«

Langsam hob sie den Kopf, starrte in die dunkelblauen Augen eines braunhaarigen Mannes. Die drei anderen Krieger standen hinter ihm und warteten auf ihre Antwort. Er lächelte sie freundlich an, wobei er eine Reihe schneeweißer Zähne entblößte, deren Ebenmäßigkeit sie an das Raubtiergebiss von Panalea erinnerte.

»Verzeiht, ehrenwerte Dame, stört es Euch, wenn wir uns zu Euch setzen?« Diesmal hatte er Forranisch gesprochen statt wie zuerst Eldemarisch.

Sie schaffte es nicht, ihre Augen von dem Mann abzuwenden, geschweige denn ihm zu antworten. Ein amüsierter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und er stellte die Frage ein drittes Mal, diesmal auf Mintranisch. Einige Frauen am Nachbartisch kicherten, doch deren Begleiter mahnten sie, sich zu benehmen. Eine Augenbraue des Kriegers ging in die Höhe, und sein Gesichtsausdruck spiegelte nun Interesse.

»Verzeiht, ehrenwerte Dame, stört es Euch, wenn wir uns zu Euch setzen?«

Dieser Mann beherrschte sogar Tariekisch. Hier bot sich ihr die einmalige Chance, Informationen aus erster Hand zu erhalten. Ohne nachzudenken, antwortete sie ihm diesmal: »Nein.«

»Euer Gemahl ...«

»... begleitet mich nicht.«

»Ihr seid verheiratet?«

»Nein.« Sie verfluchte ihr vorwitziges Mundwerk.

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Er nahm den Platz neben ihr ein, und der Rest der Gruppe setzte sich.

»Verzeiht meine Neugierde, aber eine Tariekin, die ohne Begleitung nach Tinau pilgert ...«

»Wer sagt, dass ich allein unterwegs bin?«

»Natürlich. Ihr habt recht – Eure Familie ... Verzeiht, braucht Ihr mehr Platz? Wir können ...«

»Nein. Schon gut.«

Diesmal biss sie sich auf die Lippe, ergriff den Becher und trank hastig einen Schluck. Der Alkohol beruhigte ihre Nerven ein wenig, die blank lagen.

Sie erkannte sie alle: Tomas von Morrad, der sie angesprochen hatte, Noah von Selrad neben ihm, auf der anderen Seite Rasmus von Morrad, der jüngere der Brüder, und zuletzt, am weitesten von ihr entfernt und in Gedanken versunken, Sonas von Bersaken.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752100464
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Heroric Fantasy Historische Fantasy Magie der Elemente Sword England Low Fantasy All Age Literatur Romantische Fantasy Mittelalter Romantasy Historisch Fantasy

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Licht und Dunkelheit: Theona