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Sommernachtsküsse

von Lisa Schubert (Autor:in)
109 Seiten

Zusammenfassung

WICHTIGER HINWEIS: Bereits veröffentlicht als "Sommernachtsküsse" von Kerstin Liebert Hi! Mein Name ist Milly, eigentlich Camilla und damit sind wir auch schon bei der größten Katastrophe meines Lebens. Meine Mom ist so verrückt nach England, dass sie mich nach Herzogin Camilla benannt hat und wir jetzt auch noch mit ihrem englischen Freund zusammenziehen. Das wäre ja nicht so schlimm, wenn der nicht einen gutaussehenden, aber unausstehlichen Sohn hätte. Englischer Gentleman? Fehlanzeige! Komischerweise finden alle Mädchen in der Schule Jason total süß. Sogar meine beste Freundin Nadja. Ach ja, und da ist auch noch die Aufführung von Shakespeare's Sommernachtstraum, in der es zu einigen Katastrophen kommt ... Kurze Teenie-Novelle für alle England-Fans!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sommernachtsküsse

Ein bedeutender Umzug

Konnte mein Leben noch schlimmer werden? Seufzend hob ich den letzten Karton hoch und pustete mir eine rote Locke aus der Stirn. Meine Mutter liebte meine Haare. Sie meinte, ich sähe mit meiner leuchtenden Mähne und meinen Sommersprossen wie eine echte Engländerin aus. Aber sie hatte gut reden! Ich war schließlich diejenige, die sich im Sommer (manchmal auch schon im Frühling) mit Lichtschutzfaktor 50 eincremen musste. Lange Zeit war ich total unzufrieden mit meinem Äußeren gewesen, aber gutes Zureden meiner Mutter und meiner besten Freundin Nadja hatte mich schließlich überzeugt, dass ich wunderhübsch war (das kam von Mama) und ellenlange-Modelbeine-zum-Neidisch-Werden hatte (und das von Nadja). Meine Mutter war übrigens auch Schuld am Rest meines verkorksten Lebens. Wenn man seine Tochter Camilla nennt, jawohl, Camilla, nach der zweiten Frau von Prinz Charles, dann sind Tragödien ja wohl vorprogrammiert. Und nun hat ihr England-Fanatismus seinen absoluten Höhepunkt namens Charles Millerloo erreicht. Das ist ihr neuer Freund, mit dem sie, ach nein, WIR zusammenziehen. Nicht nur, dass der Typ mit Nachnamen Müllerklo heißt, nein, er kommt auch gleich mit Sack und Pack nach Deutschland ausgewandert. Mit Sack und Pack sind übrigens seine zwei Kinder gemeint, die kleine Amy, 4, und der nicht ganz so kleine Jason, 16. Jason blieb noch für eine Woche in einem Internat für jugendliche Schnösel, aber seine kleine Schwester und Charles lernte ich an diesem Tag kennen – am Umzugstag wohlgemerkt.

„Camilla“, rief meine Mutter panisch von unten. Sie ist die Einzige, die mich so nennt. Für alle anderen bin ich Milly.

„Wir müssen los. Wo bleibst du denn?“

Ich seufzte noch einmal, warf einen letzten Blick in mein gemütliches, kleines Zimmer mit den Dachschrägen, das ohne die ganzen Poster gar nicht mehr so gemütlich wirkte, und ging die Treppe hinunter. Meine Mutter sprach gerade mit einem muskelbepackten Mann mit einem Bulldoggen Tattoo auf dem Arm, der meinen Karton mit einer Hand anhob, als wären darin nur Federn und Watte. Ich schnaufte noch leicht vom Kistenschleppen, als wir in das alte Klappergestell, das meine Mutter Auto nannte, einstiegen.

„Freust du dich schon?“, fragte meine Mutter aufgeregt, während wir hinter dem Umzugswagen her zockelten.

„Ja, total!!!“

„Ich mich auch!“

Meiner Mutter war mein Sarkasmus offensichtlich entgangen. Ich sah sie von der Seite an. Sie grinste von einem Ohr zum anderen und sang zwischendurch den Refrain im Radio mit. So ausgelassen hatte ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Ihre goldblonden Haare standen wirr vom Kopf ab und sie trug eine merkwürdige Kombination aus zarter Blümchenbluse im England-Stil und einer robusten Latzhose für den Umzug. Zumindest hatte sie vor einem Jahr damit aufgehört, ihre Haare mit Henna rot zu färben. Durch ihren verrückten Kleidungsstil hatte sie schon immer jünger gewirkt und mit den roten Haaren waren wir schon oft darauf angesprochen worden, Schwestern zu sein. Ich meine, ich liebe meine Mom, aber wer will schon für die kleine Schwester seiner Mutter gehalten werden?! Charles hatte zum Glück etwas Ruhe in ihre quirlige Art gebracht (er war auch verantwortlich dafür, dass sie endlich die Finger von dem stinkenden Hennazeug ließ, weil er ihre blonden Locken ‚ganz darling‘ findet).

„Du wirst unser neues Zuhause lieben!“, riss Mom mich nun aus meinen Gedanken. „Charles wird unseren Garten in eine wahre Pracht verwandeln und ihr Kinder habt jeder euer eigenes Zimmer und sogar ein eigenes Bad. Charles und Amy freuen sich bereits riesig, dich endlich kennenzulernen.“

Wir hielten vor einem viktorianischen Backsteinhaus, das aussah, als habe man es in England aus dem Boden gerissen und in Oberuntermühl wieder eingepflanzt. Ich hatte jedoch kaum Zeit es zu bewundern, weil meine Mutter mich zum Kistenschleppen zwischen Haus und Auto hin und her scheuchte. Zum Glück waren die Möbel bereits vor Ort, sonst hätte es noch einen Puzzle- und Zusammenschraubmarathon à la Ikea gegeben. Als ich endlich völlig verschwitzt den letzten Karton in mein neues Zimmer gebracht hatte, schaute ich mich gründlich um. Mein Zimmer hatte pastellgrüne Tapeten mit kleinen Blümchen und eine breite Fensterbank mit Kissen, auf der ich mich bereits gemütlich schmökern sah. Ansonsten war es etwas altmodisch, aber nichts, was sich nicht mit ein paar Postern aufpimpen ließe. Das Badezimmer, das ich mir ausgerechnet mit meinem Stiefbruder teilen musste (To-Do: post-its aufkleben, dass er seine Haare aus der Dusche wegmachen soll), lag zwischen meinem und seinem Zimmer. Das Schlafzimmer von Mom und Charles war eine Etage höher genau wie Amys Kinderzimmer. Ich lief die Treppe herunter in den geräumigen Küchen- und Wohnbereich, der durch eine lange Essinsel voneinander abgetrennt wurde. Und durch eine Stufe, die ich prompt übersah und mir fast das Genick gebrochen hätte. Seit meinem letzten Wachstumsschub war ich bedauerlicherweise ein kleines bisschen tollpatschig geworden. Im Wohnbereich standen eine riesige Couch und die alte Flimmerkiste, wie ich unseren Fernseher spöttisch nannte. Mom war in diesem Punkt leider etwas zurückgeblieben und fand, dass Fernsehen dumm machte und nicht mit einem guten Buch vergleichbar sei. Ich las zwar auch gern, hätte aber gegen einen Flachbildfernseher nichts einzuwenden gehabt. Stattdessen hatten wir ein Ungetüm von Fernseher mit Riesengehäuse aber einem im Vergleich eher kleinen Bildschirm. Hinter dem Küchenbereich lagen eine Veranda und der Garten. Bis jetzt war es eine große Rasenfläche mit einem Apfelbaum, aber Mom versicherte mir erneut, dass Charles ein „wahres Paradies - einen Garten Eden“ (ihre Worte, nicht meine) daraus schaffen würde. Charles war Gärtner, äh Landschaftsarchitekt, und hatte mit seinen Gärten schon zahlreiche Preise gewonnen. Kaum hatte ich einen ersten Eindruck von unserem neuen Zuhause gewonnen, da ging auch schon die Haustür auf und man hörte englisches Geschnatter. Besonders oft kamen die Worte „lovely“, „charming“ und „just darling“ vor, aber ich hörte auch einmal ein „absolutely dashing“ und musste mir ein Grinsen verkneifen. Dann kam Mom ins Zimmer, gefolgt von einem Mann mit schütterem, rotem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Er trug ein kleines, rotblondes Mädchen auf dem Arm und versuchte mir trotzdem die Hand zu schütteln, was gründlich misslang.

„Ich bin Charles“, stellte er sich auf Englisch vor.

„Milly“, sagte ich und stellte fest, dass ich ein kleines bisschen nervös war. Das hielt jedoch nicht lange an. Charles setzte Amy ab und im nächsten Moment hatte ich einen kleinen Klammeraffen an den Beinen - höher kam sie nämlich nicht.

„Schüchtern ist sie nicht gerade“, meinte ich und Charles gluckste. Er schien zu meinem großen Ärger ziemlich nett zu sein. Bis auf die Tatsache, dass er Mom in einen verliebten Zombie verwandelt hatte. Und unser gemütliches Mutter-Tochter Leben gründlich auf den Kopf gestellt hatte. Mom hatte auf dem Weg noch Pizza geholt und die aßen wir nun an der Essinsel. Mom fragte Charles ausführlich nach seinem Flug und dem Wetter in England aus und guckte ihm dabei die ganze Zeit so verliebt in die Augen, dass mir beinahe der Appetit verging. Und Charles turtelte natürlich zurück. Dann jedoch wandte er sich an mich und fragte mich über meine Hobbys aus.

„Sie liest gern“, antwortete meine Mutter für mich. „Vor allem Harry Potter und Shakespeare.“

„Eine echte kleine Engländerin also“, gluckste Charles.

Ich verdrehte genervt die Augen. Eine echte kleine Engländerin wollte ich ganz bestimmt nicht sein und bis aufs Schreiben hatten diese Inselnarren meiner Meinung nach nicht viel drauf. Was sie dadurch ersetzten, alles komplett anders als der Rest der Welt machen zu müssen. Nein, sie wollten nicht den Euro (und neuerdings nicht einmal mehr zu EU gehören), ja sie bestanden darauf, auf der linken Seite Auto zu fahren und nein, sie würden die Monarchie die nächsten paar Jahrhunderte bestimmt nicht abschaffen. Nachdem sie endlich fertig waren, über meine angebliche England-Leidenschaft zu reden, widmeten sich Mom und Charles ihrem Lieblingsthema: unserem Garten. Ich führte derweil eine weitaus bedeutendere, wenn auch nonverbale Konversation mit Amy.

„Camilla, Darling, du solltest Amy wirklich nicht noch zum Fratzenschneiden ermutigen“, sagte meine Mutter streng.

Ich seufzte genervt und rollte mit den Augen. Amy machte es mir sofort nach und spätestens da stand fest, dass die Kleine echt cool war.

Den nächsten Tag verbrachten wir die meiste Zeit mit dem Auspacken und Einrichten. Charles erklärte mir, dass seine Royal-Tea-Cup Kollektion von unschätzbarem Sammelwert war und deshalb nicht in den Küchenschrank, sondern die Vitrine gehörte und stritt sich mit meiner Mutter, die trotz ihres England-Fanatismus eine sehr deutsche Einstellung zu Gartenzwergen hatte.

„Aber das zerstört das Gesamtbild des Gartens“, sagte er verzweifelt.

„Zerstört?“ Meine Mutter stemmte ihre Hände in die Hüften. „Du meinst wohl verschönert, oder?“

Sie fanden schließlich einen Kompromiss und die Gartenzwerge landeten im Vorgarten, wo sie immerhin zur Einbrecher-Abschreckung dienen konnten (meine Einstellung zu Gartenzwergen ist eher weniger deutsch). Am Abend bahnte sich bereits die nächste Katastrophe an. Das Telefon klingelte und als wir es endlich zwischen einer Packung Scones und einem Manchester-United Schal gefunden hatten, telefonierte Charles sehr lange. Er fluchte dabei zwischendurch so sehr, dass ich Amy die Ohren zuhielt, während ich selbst gar nicht fassen konnte, dass Charles, der gutmütige und schrullige Royal-Teetassen Sammler, solche Worte überhaupt kannte.

„Es gibt Probleme mit unserem alten Haus“, sagte Charles mit düsterer Miene, nachdem er aufgelegt hatte. „Der Makler hat es wohl aus Versehen zwei Familien versprochen, weil beide O‘Keefe heißen und nun drohen sie mit dem Rechtsanwalt.“

Er fuhr sich durchs spärliche Haar. „Es tut mir furchtbar leid, Susanne, aber ich glaube, ich muss hinfahren und das selbst regeln.“

„Aber-“ Ich hatte meine Mutter selten sprachlos erlebt, aber jetzt stand sie einfach nur da und öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch.

„Du bist doch gerade erst gekommen“, sagte sie schließlich und ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Charles ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und flüsterte tröstende Worte in ihr Ohr. Das war mir dann doch zu viel Herumgeturtel und ich hob Amy hoch.

„Komm, wir gehen in den Garten“, sagte ich und ließ die beiden Liebeszombies allein. Für eine Vierjährige konnte Amy verdammt schnell rennen und hatte die Ausdauer einer Marathon-Läuferin. Wenig später bereute ich es, zum Fangen Spielen zugestimmt zu haben.

„Du kriegst mich nicht“, rief die Kleine mit einem süßen Lispeln und ich stimmte ihr aus vollem Herzen zu. Japsend und mit Grasflecken auf der Jeans kam ich wieder in die Küche um mir ein Glas Wasser zu holen.

„Aber sie ist doch noch viel zu jung“, sagte Mom gerade.

„Meinst du Milly oder Amy?“, fragte Charles belustigt. Als Mom sah, dass ich wieder im Haus war, winkte sie mich heran.

„Wir müssen etwas besprechen, Große“, sagte sie. Große – oh je - das verhieß Schlimmes.

„Du verstehst dich ziemlich gut mit Amy oder?“, fragte Charles. Ich zuckte mit den Schultern.

„Für eine Vierjährige ist sie ziemlich cool!“

Charles strahlte wie ein Weihnachtsbaum mit zehn Lichterketten.

„Siehst du?“, sagte er zu Mom.

„Darling“, sagte Mom zögernd, „was hältst du davon, drei Tage auf Amy aufzupassen, während Charles und ich nach England fahren, um die Sache mit dem Haus klären und Jason abzuholen?“

Mir fiel die Kinnlade herunter.

„Drei Tage?“, fragte ich mit weit aufgerissenen Augen.

„Siehst du?“ Meine Mutter klang verzweifelt. „Das ist zu viel Verantwortung für Camilla. Ich bleibe hier und-“

„Kein Problem“, unterbrach ich sie schnell (drei Tage sturmfrei und so viel Fernsehen wie ich wollte, wer sagte da schon nein?).

„Fahr ruhig mit. Amy und ich kommen schon klar.“

Ich grinste und versuchte so verantwortungsbewusst wie möglich auszusehen.

„Sie kann schon allein aufs Töpfchen oder?“, setzte ich an Charles gewandt noch hinzu.

Eine (un)gestörte Nacht

Als meine Mutter und Charles am nächsten Morgen Hals über Kopf abreisten, war mir aber doch etwas mulmig zumute. Charles hatte mir zwar unzählige Sachen aufgezählt, auf die ich aufpassen sollte (es fing an mit: Lass sie nicht allein im Garten spielen, sie könnte über eine Wurzel stolpern und sich das Genick brechen, bis hin zu: Was gibt es in Deutschland eigentlich für gefährliche Tiere? Gibt es hier Vogelspinnen? Wölfe?) und das Gleiche nochmal auf ellenlange Listen geschrieben, so dass ich für jede Eventualität gewappnet war, aber trotzdem! Ich hatte schließlich noch nie auf eine Vierjährige aufgepasst. Und dann gleich für drei Tage? Mom hatte mir außerdem sämtliche Telefonnummern ihrer Freundinnen aufgeschrieben, die ich anrufen konnte, wenn ich Hilfe brauchte, aber ihre schrulligen Hippie-Tanten würde ich nur im äußersten Notfall um Hilfe bitten. Zum Glück regnete es draußen und ich verbrachte den Vormittag mit Amy auf dem Fußboden. Sie wurde nicht müde, ein Memory zu spielen, dessen Pärchen aus Prinzessinnen in rosa-glitzer, regenbogen-glitzer und andersfarbigen Kleidern (alle mit Glitzer, wohlgemerkt) bestanden. Charles hatte dieses Spiel nur aufgehoben, weil Amy es so sehr liebte, obwohl er gar nicht mit dem Frauenbild einverstanden war, das so vermittelt wurde. Er hatte mir eingeschärft, es irgendwo vor Amy zu verstecken und ja nicht mit ihr zu spielen. Nach einer Stunde war ich so geblendet von dem vielen Glitzer, dass ich das Spiel am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte … oder darauf rumgetrampelt wäre … oder es das Klo hinuntergespült hätte.

„Du bist dran“, riss Amy mich aus meinen puzzle-mörderischen Gedanken und klatschte begeistert in die Hände, weil ihr Turm an gesammelten Pärchen viel höher war als meiner.

„Bist du nicht langsam hungrig?“, fragte ich verzweifelt.

„Nein!“ Sie schüttelte energisch den Kopf. Keine fünf Minuten später wurde sie weinerlich und ihre Laune besserte sich erst wieder beim Anblick der Spaghetti, die ich kochte. Kinder! Am Abend fiel ich todmüde und völlig erschöpft ins Bett. Wie schafften Erwachsene das nur? Und dann noch jeden Tag? Ich ließ Amy in dieser Nacht in Jasons Zimmer schlafen, damit ich hören würde, wenn sie wach wurde. Ich betete, dass sie genauso erschöpft war wie ich und nicht nach einer 4. Gute-Nacht-Geschichte, einem 15. Gute-Nacht-Lied oder einem 20. Gute-Nacht-Kuss fragen würde, sondern am besten bis morgen Mittag durchschlief. Mhmmmm, endlich Ruhe und hoffentlich ungestörte 8 Stunden Schlaf. Ich seufzte erleichtert, schloss die Augen und war sofort eingeschlafen.

KLIRR! Ich schreckte hoch. Amy, dieser kleine Teufelsbraten! Aber das Geräusch kam von unten, nicht von nebenan. Einbrecher, fuhr es mir durch den Kopf. Ich stieg leise aus dem Bett und zog meinen mit Kirschblüten bestickten Bademantel an. Vielleicht würde er mir ja Ninjakräfte gegen den Einbrecher verleihen. In wacherem Zustand wäre ich vielleicht auf die geniale Idee gekommen, die Polizei von meinem Handy aus anzurufen, aber in meinem Gehirn war immer noch Sendepause. Das heißt, ich hatte einen Ohrwurm von „Schlaf Amy, schlaf nur ein, bald kommt der Mond“, der als Dauerschleife in meinen Gehirnwindungen herumdudelte, aber logisches Denken war in meinem Zustand nicht möglich. Also schlich ich die Treppe herunter und lugte um die Ecke. Ein Schatten bewegte sich im Küchenbereich und ich hörte leises Fluchen. Mhm, eine Leuchte schien dieser Einbrecher ja nicht zu sein, sonst wüsste er, dass es zu seiner Jobbeschreibung gehörte, leise zu sein. Ich suchte in der Garderobe nach etwas, das ich als Waffe verwenden könnte, aber da war nur der geblümte Knirps von meiner Mutter. Besser als gar nichts! Ich zog ihn leise vom Haken und steuerte auf die Essinsel zu. Der Einbrecher hatte mir den Rücken zugewandt und schien irgendetwas zu suchen. Ob er es auf Charles Teetassensammlung abgesehen hat?, schoss es mir durch den Kopf. Dann rief ich mich zur Ordnung. Konzentration! Wenn ich ihn angreifen wollte, dann jetzt, wo ich das Überraschungsmoment noch auf meiner Seite hatte. Ich atmete tief durch. Dann stieß ich einen ninjawürdigen Kampfschrei aus und stürzte mich auf den Einbrecher. Wir gingen beide zu Boden und ich landete auf ihm. Sofort begann ich mit dem Knirps auf die Stelle einzudreschen, wo ich seinen Kopf vermutete. Es war wirklich verdammt dunkel!

„Autsch!“ Jep, Volltreffer. Ich freute mich einen Moment zu lang, denn der Einbrecher entwand mir blitzschnell den Knirps und schleuderte ihn weg. Dann stieß er mich von sich runter und sprang auf. Ich folgte seinem Beispiel, aber da hatte er mich bereits gepackt und grob gegen die Wand gestoßen, an der sich glücklicherweise der Lichtschalter befand. Mit meiner freien Hand tastete ich danach, während der Einbrecher versuchte, meine Hände zu packen. Gefunden! Das Licht ging an und ich musste blinzeln. Als ich die Augen wieder öffnete, stellte ich fest, dass der Einbrecher überraschend jung war. Auch er musterte mich überrascht.

„Du bist ja noch ein Mädchen“, sagte er auf Englisch. Auf ENGLISCH! Was machten die ganzen Engländer hier? Mal ehrlich! Bekamen die langsam Platzprobleme auf ihrer Insel oder warum lief ich denen jetzt überall über den Weg?

„Jason?“, piepste da ein dünnes Stimmchen. Amy stand vor uns, den Teddy fest im Arm, und schaute uns mit großen Augen an.

„Amy!“, rief der Einbrecher und lief auf sie zu. Mein erster Impuls war es, meine neue kleine Schwester vor diesem Kriminellen zu schützen, aber dann sickerte langsam etwas in mein verschlafenes Gehirn ein. Amy hatte ihn Jason genannt.

„Du bist Jason?“, fragte ich (ja, ich war in dieser Nacht nicht besonders helle, aber daran waren bestimmt die Glitzerprinzessinnen Schuld, die dümmer machten als jede Hartz IV Sendung im Fernsehen). Jason sah nicht aus wie Charles oder Amy. Er hatte nicht Amys rotblonde und natürlich auch nicht Charles rot-graue Haare, sondern dunkelbraune. Seine Augen hatten die Farbe von flüssigem Bernstein und leuchteten förmlich aus seinem gebräunten, kantigen Gesicht heraus. Er sah überhaupt nicht Englisch aus!

„Und du musst Camilla sein“, holte er mich mit spöttischer Stimme aus meinen Gedanken und zog meinen Namen dabei in die Länge.

„Netter Regenschirm!“

Er deutete mit einem Kopfnicken auf Moms Knirps, der auf der Essinsel gelandet war. Ich wurde rot.

„Nenn mich Milly. Und sorry für die Schirmattacke.“

Ich deutete auf sein rechtes Auge, das etwas angeschwollen war und morgen bestimmt ein hübsches Veilchen abgeben würde. Jason zuckte mit den Achseln, aber er musterte mich etwas besorgt.

„Hab ich dir weh getan? Ich wollte nicht – ich wusste nicht, dass du ein Mädchen bist. Ich dachte du wärst ein Einbrecher.“

Er wirkte etwas verlegen.

„Nein, bei mir ist alles okay“, sagte ich.

Jason musterte mich abschätzend. In dem Moment wurde mir peinlich bewusst, dass mein Bademantel während unseres Kampfes aufgegangen war und nun mein knielanges Schlafshirt mit der Aufschrift „Keep calm and trust Snape“ enthüllte. Vor einem Jahr hatte ich das Shirt super cool gefunden, aber in der Schule hatten mich alle ausgelacht und so hatte ich mir das Sport T-Shirt von Nadja für den Rest des Tages ausleihen müssen. Die ist blöderweise einen Kopf kleiner als ich, also sah ich in ihrem T-Shirt aus wie eine Presswurst. Seitdem trage ich das Snape-Shirt nur noch zum Schlafen. Blitzschnell zog ich den Bademantel eng um mich und verschränkte die Arme.

„Was machst du überhaupt hier? Ich dachte du wärst noch im Internat“, sagte ich, etwas schroffer als beabsichtigt. Jason wandte den Blick von der Stelle, wo eben noch die Aufschrift des Shirts zu lesen gewesen war und erwiderte meinen Blick.

„Ich bin ein paar Tage früher abgehauen“, meinte er nur schulterzuckend. „Die Hintertür war auf, aber ich hab den Lichtschalter nicht gefunden.“

„Du hättest klingeln können“, fauchte ich. „Oder hier anrufen können. Oder bei deinem Vater anrufen.“

„Ich wollte euch überraschen.“ Jetzt grinste Jason auch noch frech.

„Überraschung“, rief Amy, die Jason inzwischen hochgehoben hatte. Jetzt zappelte sie in seinem Arm hin und her und er stöhnte leise. Ich war ein bisschen schadenfroh. Der Blümchenknirps schien doch mehr Schaden angerichtet zu haben, als man sah.

„Amy, du solltest längst schlafen“, meinte Jason nun und an mich gewandt, „Du könntest meinen Koffer aus dem Regen holen, während ich Amy ins Bett bringe.“

Das fehlte ja gerade noch! Ich war doch nicht sein Packesel.

„Und denk diesmal dran, die Hintertür abzuschließen“, rief er noch, während er mit Amy die Treppe hochging. Arrogantes Arschloch! Ich holte den Koffer dann aber doch herein, ließ ihn jedoch direkt an der Tür stehen, die ich zweimal abschloss und dann noch dreimal an der Klinke rüttelte um sicherzugehen, dass sie auch wirklich verschlossen war.

Ein großzügiger Deutschunterricht

Am nächsten Morgen war ich wild entschlossen, Jason eine zweite Chance zu geben. Er hatte sich gestern nur auf Englisch mit mir unterhalten und nächste Woche fing das neue Schuljahr an. Ich würde ihm also, großzügig, selbstlos und herzensgut wie ich nun einmal war, Deutschunterricht geben. Als ich in die Küche kam, stand er bereits am Kühlschrank, nur in Jogginghose bekleidet, und trank Orangensaft. Direkt aus dem Tetrapack. Ich war einen Moment lang sprachlos. Erstens hatte er einen wirklich tollen Oberkörper. Schlank und zugleich muskulös und nicht so käseweiß wie die meisten Engländer (so stellte ich sie mir zumindest vor), sondern knackig gebräunt. Zweitens trank er O-Saft DIREKT AUS DER TÜTE!

„Hallo, geht’s noch? Das ist voll ekelig!“

So viel zu meinen guten Vorsätzen und seiner zweiten Chance. Jason funkelte mich an. Sein rechtes Auge war, wie ich befürchtet hatte, lila umrandet.

„Guten Morgen, Schwester“, sagte er nun mit Betonung auf dem Wort Schwester. Ich atmete tief durch. Zweite Chance, zweite Chance, … Das war mein inneres Mantra.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte ich auf Deutsch, während ich gleichzeitig mit einer einfallsreichen Pantomime das „Schlafen“ andeutete. Jason sah mich mit hochgezogenen Brauen an, als wäre ich ein bisschen bescheuert. Also fing ich an, mit dem Finger auf verschiedene Gegenstände im Wohnzimmer zu zeigen und sie dabei zu benennen. „Couch – Teppich – Flimmerkiste, äh, Fernseher – Tisch – WAS GIBT ES DA ZU LACHEN?“

Jason hatte sich an den Kühlschrank gelehnt und schmiss sich quasi weg vor Lachen. „Nichts, mach ruhig weiter“, feixte er.

„Ich versuche dir Deutsch beizubringen“, sagte ich erbost und stemmte die Hände in die Hüften. Er stellte den O-Saft zurück in den Kühlschrank (mentale Notiz: Morgens nur noch Tee trinken) und kam auf mich zu. Ich schluckte. Er hatte den Blümchenknirps von der Essinsel aufgehoben.

„Was ist das?“, fragte er.

„Ein Knirps oder ein Regenschirm.“

„Eine tödliche Waffe“, sagte er auf Englisch.

Zum Glück tapste in diesem Moment Amy die Treppe herunter und lief dann freudestrahlend auf Jason zu. Gut! Sollten die zwei sich doch gegenseitig beschäftigen. Ich schnappte mir mein Müsli und verzog mich in mein Zimmer, wo ich auf der Fensterbank mit Shakespeares „Sommernachtstraum“ anfing. Ich wünschte immer noch, die letzte Nacht wäre ein Alptraum gewesen und Jason noch in seinem Internat. Wobei ich dann heute wieder Glitzerprinzessin-Memory mit Amy hätte spielen müssen. Jason war zugegebenermaßen ein guter Babysitter. Bei ihm machte Amy sogar freiwillig ein Mittagsschläfchen und ging um 8 Uhr ins Bett. Zeit für meine Lieblingsserie im Fernsehen. Jason hatte mit einem fassungslosen Blick auf unser Monstrum von Fernseher reagiert, deswegen hoffte ich, es sei unter seiner Würde, darauf einen Film schauen zu wollen. Jetzt kam er jedoch mit einer Schüssel Popcorn zum Sofa und machte sich neben mir breit.

„Heute spielt England gegen Deutschland“, sagte er und machte Anstalten, die Fernbedienung hochzuheben. Ich stieß ungeduldig seine Hand weg.

„Und heute kommt zufällig meine Lieblingsserie“, sagte ich streng.

Er guckte neugierig auf den Bildschirm und zog dann verächtlich die Nase kraus.

„Das guckst du? Diesen Schund für kleine Teenie-Mädchen?“ Er sah an mir herunter. „Ach ja, stimmt, du bist ja ein kleines Teenie-Mädchen.“

„Hey!“ Ich knuffte ihn grob in die Seite. „Ich bin 1,68 groß. Und Pech für dich, ich war als Erste hier. Du kannst also „Pretty Bitches“ mit mir gucken oder es sein lassen.“

„Ach ja?“ Er sah mich schelmisch an. Dann griff er blitzschnell nach der Fernbedienung und schaltete um. Ich versuchte sie ihm aus der Hand zu reißen, aber er hielt das Ding außerhalb meiner Reichweite. Ich pikste und knuffte ihn in die Seite, in der Hoffnung, dass er kitzelig war. Volltreffer. Ich schnappte mir die Fernbedienung, aber bevor ich umschalten konnte, warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich. Ich drückte die Fernbedienung an meine Brust und drehte mich auf den Bauch. Jason versuchte mit seinen Armen um mich herum zu greifen.

„Das ist unfair. Ich habe heute den ganzen Tag auf Amy aufgepasst. Dafür sollte ich entscheiden, welchen Kanal wir einschalten.“

„Dafür hab ich gestern den ganzen Tag auf sie aufgepasst“, keuchte ich, während ich versuchte, mich zu einer kleinen Kugel zusammenzurollen. Da schlang sich ein muskulöser Arm um meinen Bauch und hob mich hoch, während der andere Arm nach der Fernbedienung griff. Ich war kurz abgelenkt, weil mir auffiel, dass mein Rücken an seinen durchtrainierten Waschbrettbauch gepresst war. Außerdem duftete er so gut. Irgendwie – männlich halt. Da ließ Jason mich grob aufs Sofa plumpsen und ich kam wieder zur Besinnung. Den Kampf um die Fernbedienung hatte ich wohl verloren. Na ja, ich konnte morgen um 6 Uhr in der Früh immer noch die Wiederholung anschauen … als ob ich so früh aus dem Bett kommen würde!

„Wie kann es nach 5 Minuten schon 1:0 für Deutschland stehen?“, sagte Jason fassungslos. Er hatte mich bereits komplett vergessen. Immerhin hatte unser Kampf ihn auch etwas angestrengt. Sein Gesicht war gerötet und seine dunklen Haare standen wirr vom Kopf ab. Er sah schon verdammt gut aus. Ich griff nach einer Handvoll Popcorn, lehnte mich zurück und schaute abwechselnd auf den Bildschirm und zu ihm. Zur Halbzeit stand es 2:0 für Deutschland und ich war unendlich schadenfroh, dass der Sieg um die Fernbedienung ihm zu keinem schönen Abend verholfen hatte. Zwei Elfmeter später sah die Sache schon ganz anders aus.

„Du Vollpfosten von Schiri, das war kein Foul! Und wo ist Neuer, wenn man ihn mal braucht? Was macht dieser Anfänger im Tor? Der kann doch nichts halten!“

Jason sah mich verwundert an. So viel Begeisterung für Fußball hätte er mir wohl nicht zugetraut. Vielleicht beeindruckten ihn aber auch nur meine Fachkenntnisse.

„Ja, mach ihn rein! Links in die Ecke“, rief ich, als sich ein Stürmer dem Tor näherte.

„Dir ist schon klar, dass du gerade England anfeuerst oder?“, fragte er belustigt.

„Aber die waren doch eben noch auf der anderen Seite.“

„Sie haben nach der Halbzeit, also bereits vor 20 Minuten, die Seiten gewechselt!“ Jason warf mich mit einem Popcorn ab. „Hast du jemals ein Fußballspiel geguckt?“

„Die WM vor 3 Jahren“, sagte ich stolz.

„Ah, da warst du wie alt? Neun?“

„Elf“, korrigierte ich ihn missmutig.

Zu meinem Ärger gewann England das Spiel dann auch noch in der Nachspielzeit. Jason gluckste und strich mir dann über den Kopf, als wäre ich Amy.

„Nicht traurig sein, kleine Milly. Ich hatte eine Menge Spaß. Wir sollten öfter zusammen Fußball gucken. Vor allem, wenn wir euch Deutschen dabei haushoch schlagen.“

Ich knuffte ihn in die Seite, aber er hob nur das Popcorn hoch und brachte es in die Küche. In dieser Nacht träumte ich, dass ich gegen eine Mannschaft, die aus 11 Jason bestand, Fußball spielte. Bloß war der Fußball ein riesiges Popcorn und wenn ich am Ball war, hob mich einer der Jasons einfach hoch, während sich ein anderer Jason den Popcornball schnappte. Ich wollte gerade den Schiri, der aussah wie eine von Amys Glitzerprinzessinnen, zu mir rufen um mich zu beschweren, als eine riesige Fernbedienung aufs Spielfeld fiel und es zertrümmerte, wodurch ich in einen gähnenden Abgrund fiel und schreiend aufwachte.

Der letzte elternfreie und vorletzte schulfreie Tag verging wie im Fluge, wie es die letzten Tage der Ferien immer tun. Ich überließ Jason die O-Saft Packung, aber dafür ließ er die Finger von der Milch und benahm sich auch sonst recht ordentlich. Er kümmerte sich um Amy, die ständig nach ihrem Memory fragte, das ich wohlweislich in den Manchester-United Schal eingewickelt hatte, den ich wiederum unter die Sammlung Manchester-United Tassen und Gläser gelegt hatte, die ihren Platz ganz oben in der Vitrine gefunden hatten. Was die Queen wohl dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie (bzw. ihre Teetasse) im Rang der Vitrinen-Hierarchie unter kitschigen Glitzerprinzessinnen lag? Ich nutzte den Tag, indem ich versuchte, mich im Schatten mit dicker Schicht Sonnencreme zu bräunen. Jason lachte mich zwar aus, aber ich schwöre, dass ich mindestens fünf Sommersprossen auf jedem Arm dazu bekam und ich nicht mehr so weiß wie mein Bettlaken war (nicht, dass ich ein Beweis-Selfie mit der Bettdecke geschossen hätte oder so). Am Nachmittag musste ich dann wieder auf Amy aufpassen, weil Jason joggen gehen wollte. Ich brachte ihm noch schnell einige nützliche Redewendungen bei (Asthmaanfall, Kreislaufzusammenbruch, Umknicken, Bänder zerren), nur für den Fall …

Ich hielt nicht viel vom Joggen oder von Sport allgemein, wenn es kein Tanzen war. Ich tanzte seit ungefähr einem Jahr in der Tanzschule von Nadjas Mutter. Ballett, Modern und Musical. Okay, zugegeben, Modern war ein einmaliger Wochenendworkshop gewesen. Aber man soll ja nicht übertreiben, wenn es um den Sport geht. Das Tanzen war übrigens auch daran schuld, dass ich Nadja vier superlange Wochen nicht gesehen hatte. Sie war fast die ganzen Sommerferien mit ihrer Mutter in Russland gewesen, bei einem Elite-Ferienkurs für Jugendliche, den ein alter Freund ihrer Mutter leitete. Nadja hat getanzt, bevor sie laufen konnte und neben ihr sehe ich ungefähr so grazil aus wie ein Nilpferd. Ich vermisste sie schrecklich. Amy riss mich aus meinen Gedanken, indem sie mir ins Ohr trompetete, dass sie Verstecken spielen wollte und ich bis 100 zählen sollte. Ich nahm mir stattdessen den Sommernachtstraum vor und entschied, dass zehn Seiten lesen bestimmt genauso lange dauern würden. Ich war gerade an einer spannenden Stelle. Oberon und Titania, also Feenkönig und –königin stritten sich heftig und ein paar Szenen später plante Oberon dann mit seinem Helfer Puck, der Königin einen Streich zu spielen. Ich wollte unbedingt wissen, wie dieser Streich aussah. Die Eingangstür ging auf und ich hörte Jason schnaufen.

„Hey Milly, hey Amy“, rief er zwischen zwei Schnaufern. Wie konnte ein Junge mit 16 schon so eine tiefe, sexy Stimme haben? Moment mal! Amy? Ich sprang wie von der Hummel gebissen hoch. Die Kleine hatte ich ja ganz vergessen. Jason betrat das Wohnzimmer. Die Haare hingen ihm ins Gesicht und selbst total verschwitzt sah er gut aus, worauf ich in dem Moment allerdings nicht achtete.

„Wo ist Amy“, fragte er.

Das war eine gute Frage.

Ich errötete.

„Wir spielen gerade Verstecken.“

Seit einer knappen halben Stunde, aber das sagte ich natürlich nicht. Sein Blick fiel auf den aufgeschlagenen Sommernachtstraum und er zog finster die Augenbrauen zusammen. Dann fiel unser Blick gemeinsam auf die offene Hintertür. Wir rannten nach draußen und riefen nach Amy. Keine Antwort! So langsam wurde mir richtig mulmig zumute.

„Du suchst im Haus, ich draußen“, sagte Jason barsch. Ich schluckte und nickte. Ich schaute in jedem Winkel des Hauses. Selbst auf dem Dachboden, obwohl die Kleine wohl kaum die Luke öffnen konnte und im Keller, obwohl sie sich (wie ich mich auch) vor Spinnen fürchtete. Gerade als ich eine kleine Panikattacke bekam, öffnete sich die Hintertür und Jason kam mit Amy auf dem Arm herein. Er war wirklich sehr verschwitzt vom Joggen, es tropfte ja sogar auf den Boden! Im nächsten Moment sah ich, dass das Wasser nicht von ihm, sondern von Amy kam.

„Sie ist in den Bach gefallen“, sagte Jason, während er eilig die Treppen hochstieg. Ich blieb einen Moment lang geschockt stehen, dann rannte ich ihnen nach. Jason trug Amy ins Badezimmer, zog ihr die nassen Sachen aus und rubbelte sie ab.

„Amy, du weißt doch, dass du das Grundstück nicht verlassen sollst“, sagte ich erschrocken. Der Bach verlief hinter unserem Grundstück, das mit einem Zaun abgegrenzt war. Amy musste das Gartentor geöffnet haben, obwohl Charles ihr das strengstens verboten hatte. Der Bach war nicht einmal knietief, aber Amy ging mir ja auch nur knapp bis zur Hüfte und wenn sie in den Bach gefallen und bewusstlos geworden wäre – Ich mochte den Gedanken gar nicht zu Ende denken.

„Du machst IHR Vorwürfe?“, fuhr mich Jason nun an. Er sah so wütend aus, dass ich beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. „Wenn du dich nützlich machen willst, kannst du unten eine Wärmflasche machen und eine heiße Suppe kochen.“

Amy hatte inzwischen an meiner Stelle angefangen zu weinen und Jason beachtete mich nicht weiter. Ich ging wie in Trance nach unten, setzte den Wasserkocher auf und suchte nach der Wärmflasche. Wie sie zwischen die Erbsendosen geraten war, ist mir bis heute ein Rätsel. Beinahe hätte ich später die Tomatensuppe in die Wärmflasche gefüllt, so geschockt war ich. Jason brachte eine trockene, sehr stille Amy nach unten. Sie war in eine dicke Decke eingepackt und Jason hatte ihr sogar eine Mütze aufgesetzt. Ich stellte eine Schüssel dampfender Suppe vor ihr auf den Tisch und versuchte Jason zu ignorieren, der mich mit seinen Blicken zu durchbohren schien.

„Ich wollte gar nicht nach draußen“, sagte Amy kleinlaut. „Ich habe mich hinter dem Busch versteckt, aber dann ist mir langweilig geworden. Und ich dachte, vielleicht gibt es in dem Bach Fische und da bin ich nur ein ganz kleines bisschen in den Bach gegangen und auf einem Stein ausgerutscht und-“

„Schon gut, Amy“, unterbrach Jason ihr Gebrabbel. „Ich mache dir keine Vorwürfe.“

Dabei sah er mich mit einem Blick an, der klar machte, wem er hier Vorwürfe machte. Als Amy mit der Suppe fertig war, brachte Jason sie nach oben. Ich legte die Wärmflasche zu ihr ins Bett und versuchte dann mich in meinem Zimmer unsichtbar zu machen. Eine halbe Stunde später kam Jason ohne zu klopfen zu mir. Er stellte das Babyphone ab, weil er als guter älterer Bruder natürlich an Dinge wie das Babyphone dachte und baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf. Ich fand meine Socken, auf denen lauter kleine Big Bens drauf waren, auf einmal unheimlich interessant.

„Sieh mich an“, sagte Jason streng.

Wie viele Big Bens wohl auf den Socken waren? Fünf auf der Vorderseite und dann noch eins, zwei-

„Ich sagte, sieh mich verdammt noch mal an!“

Ich hatte ihn noch nie fluchen hören. Zögernd sah ich hoch. Er hob mein Buch vom Bett auf.

„Der Sommernachtstraum“, las er. „Spannend, mhm?“

Ich nickte zögernd und rechnete damit, dass er mir das Buch um die Ohren hauen würde.

„So spannend, dass du es nicht schaffst, zwei Minuten auf meine kleine Schwester aufzupassen?“

„Es tut mir leid!“, flüsterte ich.

„Das reicht bloß leider nicht“, schrie er. „Sie hätte tot sein können, ist dir das klar?“

Mir stiegen die Tränen in die Augen. Das war ohne Abstand der schlimmste Augenblick in meinem Leben. Schlimmer als damals, als Nadja und ich uns gestritten hatten und ganze 45 Minuten keine Freundinnen mehr gewesen waren. Sogar schlimmer als die Trennung meiner Eltern.

„Wag es nicht zu heulen“, fuhr er mich jetzt an. „Du hast keinen Grund zu heulen. Dir sind Bücher doch eh wichtiger als Menschen, du verwöhnte-“ Er riss eine Seite aus meinem Buch, „verantwortungslose“, RATSCH, die nächste Seite fiel, „selbstverliebte, kleine Bitch!“

Er riss das Buch entzwei und warf es mir in den Schoß.

„Da, werd glücklich mit deinen Büchern, aber halt dich bloß von mir und Amy fern!“

Mit den Worten rauschte er aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Ich freute mich richtiggehend auf die Heimkehr von Mom und Charles am späten Abend. Einerseits fürchtete ich mich zwar vor der Strafe, die sie mir für meine Nachlässigkeit aufbrummen würden, aber andererseits brauchte ich eine Umarmung von meiner Mom. Und ich vermutete, dass sie sich ebenso viele Vorwürfe machen würden wie mir, da sie mich mit Amy allein gelassen hatten, deswegen hoffte ich auf Milde. Um kurz nach Sechs klingelte das Telefon. Da sich im Haus nichts rührte, kroch ich aus meiner Decke und verließ meinen Zufluchtsort, aka mein Zimmer, und ging dran.

„Camilla?“

Meine Mutter klang sehr aufgebracht.

„Ja“, sagte ich tonlos.

„Wir waren eben im Internat um Jason abzuholen, aber der Direktor meinte, er wäre bereits abgeholt worden und nach Deutschland gefahren und-“

In diesem Moment schwanden meine Schuldgefühle kurz und wurden durch Wut ersetzt. Jason war kaum verantwortungsvoller als ich! Ich war fest davon ausgegangen, dass er seinen Vater angerufen hatte, damit er und Mom nicht umsonst zum Internat fuhren und sich Sorgen machten.

„Er ist hier“, unterbrach ich Mom.

„WAS?“

„Er ist hier angekommen. Ich dachte, er hätte Charles Bescheid gesagt“, sagte ich.

Ich hörte, wie Mom sich kurz mit Charles im Hintergrund unterhielt.

„Kannst du mir Jason geben?“, hörte ich kurz darauf Charles besorgte Stimme. Ich seufzte.

„Ja, einen Moment.“

Mit seltsam weichen Knien schlich ich die Treppe hoch und klopfte bei Jason.

„Verpiss dich!“

Ich öffnete die Tür. Bevor er mich anschreien konnte, deutete ich aufs Telefon.

„Dein Dad will mit dir sprechen“, sagte ich schnell.

„Ich aber nicht mit ihm“, sagte Jason.

Er klang trotzig, aber in seinen Augen meinte ich, so etwas wie Unbehagen lesen zu können.

„Er, er, kann gerade nicht“, sagte ich ins Telefon.

„Du gibst mir jetzt sofort Jason, Milly, auch wenn er mich nicht sprechen will.“

Charles klang ungewöhnlich streng. Ich hielt Jason bittend den Hörer hin, aber er verschränkte die Arme.

„Er ist gerade ins Bad verschwunden“, sagte ich verzweifelt in das Telefon. „Jetzt höre ich, wie er die Dusche anmacht.“

Charles seufzte.

„Gut Milly. Richte meinem Sohn bitte aus, dass wir seinetwegen unseren Flug verpasst haben und erst morgen kommen werden. Und dass wir darüber noch reden werden.“

Nach einer kurzen Pause hörte ich wieder die Stimme meiner Mom.

„Ihr kommt doch für eine Nacht länger klar, oder? Mit Amy, meine ich.“

„Ja klar“, sagte ich so fröhlich wie möglich. Was für eine andere Wahl hatte ich auch schon?!

Ein nicht sonniger Sonntag

Am nächsten Morgen traute ich mich kaum in die Küche. Aber da ich am vorigen Tag das Abendessen ausgelassen hatte, knurrte mir der Magen. Als ich nach unten kam, saß Amy bereits am Tisch und aß Müsli. Jason lehnte wie immer am Kühlschrank und trank dieses Mal meine Milch leer. Ich schluckte, sagte aber nichts. Zaghaft ging ich zur Küchenzeile, aber Jason machte keine Anstalten, sich vom Kühlschrank wegzubewegen und ich traute mich nicht, ihn darum zu bitten. Seufzend griff ich nach der Müslipackung. Dann würde ich mein Müsli eben trocken essen. Die Packung war leer. Jason sah mich herausfordernd an, aber ich schluckte meinen aufkeimenden Ärger herunter und warf die leere Packung weg. Eine Scheibe Brot ohne Aufstrich war doch auch ganz lecker, oder? Dazu noch eine Banane und man hatte ein perfektes, gesundes Frühstück. Und vor allem überlebte man sein Frühstück dann, weil man nicht an seinem mörderisch guckenden Stiefbruder vorbei musste.

„Glaubst du, Papa schimpft, wenn ich ihm sage, dass ich in den Bach gefallen bin?“, fragte Amy ängstlich.

„Natürlich würde Papa schimpfen“, sagte Jason zögernd und schien kurz zu überlegen. „Deswegen bleibt es unser Geheimnis. Nur du, Camilla und ich wissen, was gestern passiert ist, und keiner von uns verrät ein Sterbenswörtchen an Papa oder Susanne, ja?“

Amy nickte ernsthaft.

„Ein Geheimnis. Ein grooßes Geheimnis.“

„Genau, ein großes Geheimnis“, wiederholte Jason und sah mich kurz an. Ich nickte und fragte mich für einen Moment, warum er die Gelegenheit nicht nutzte und mir für den Rest des Jahres Hausarrest einhandelte. Aber vermutlich würden unsere Eltern uns beiden die Schuld daran geben und gleich schwer bestrafen, so von wegen geschwisterlicher Gerechtigkeit oder so. Außerdem hatte ich ihn gestern nicht gezwungen, mit seinem Vater zu sprechen. Vielleicht rechnete er mir das ja an.

Den restlichen Vormittag behandelte mich Jason wie Luft, na ja, eher wie verpestete, stinkende Luft. Ich bemühte mich, die Küche und das Wohnzimmer aufzuräumen, damit Mom und Charles nicht vor Schreck in Ohnmacht fielen, wenn sie das Chaos sahen. Auf der Couch fand ich noch Popcornkrümel und dachte wehmütig an die Zeit zurück, in der Jason mich noch nicht gehasst und stattdessen liebevoll mit Popcorn beworfen hatte. Ich saugte, wischte, räumte die Spülmaschine aus und brachte den Müll nach draußen, während Jason im Garten mit Amy Fußball spielte. Das heißt, sie kickte den Ball, der fast so groß war wie sie, vor sich her und Jason tat so, als könne er ihn nicht halten, wenn sie auf das Tor schoss. Ich fühlte mich ein bisschen wie Aschenputtel, aber als verantwortungsloseste Stiefschwester der Welt hatte ich es schließlich nicht besser verdient. Den Sommernachtstraum hatte ich übrigens in den Müll geworfen und statt abends etwas zu lesen hatte ich mich selbst damit bestraft, Löcher in die Decke zu gucken, mich schuldig zu fühlen und zu langweilen. Am Nachmittag war ich echt erleichtert, als Charles und meine Mutter zurückkamen. Jasons Strafpredigt fürs aus-dem-Internat-Abhauen fiel milder aus, als ich gedacht hatte. Meine Mom musste beschwichtigend auf Charles eingeredet haben. Auch jetzt meinte sie mit einem gequälten Lächeln, es sei doch schön, dass er mit 16 bereits so selbständig sei. Schleimerin! Charles kürzte Jason zur Strafe das Taschengeld, bis die extra Flugtickets bezahlt waren, was vermutlich bis zu Jasons 30. Geburtstag dauern würde und das war es dann auch schon zu dem Thema. Ein kleiner, böser und schadenfroher Teil in mir wünschte sich, dass Charles Jason etwas strenger bestraft hätte, aber immerhin kam ich auch ungeschoren davon. Amy verplapperte sich nicht und mein Versagen als große Schwester blieb ein Geheimnis unter uns Geschwistern.

„Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert?“, fragte Charles schließlich und betrachtete prüfend das blasse Veilchen, das immer noch zu sehen war.

„Bin über einen Schuh gestolpert und in einen Regenschirm gefallen“, log Jason ohne rot zu werden. Dann herrschte eine Weile ein unangenehmes Schweigen. So viel zur glücklichen Großfamilie, dachte ich düster.

„Wir haben euch auch etwas mitgebracht“, sagte meine Mutter schließlich. „Einmal für Jason“, sie drückte ihm ein dickes Päckchen in die Hand, „und für Camilla.“

„Ein Touristen-Shirt mit dem Union Jack und einem, äh, lustigen Spruch. Danke“, sagte Jason zweifelnd. Mit böser Vorahnung öffnete ich mein Päckchen.

„Und ich hab das Gleiche. ‚Meine Eltern haben mir nur dieses coole T-Shirt von ihrem Urlaub mitgebracht‘“, las ich laut.

„Für Amy haben wir auch eins besorgt“, sagte Mom freudestrahlend. „Wir fanden es so lustig und dachten uns, dann können wir Familienfotos für die Verwandten von euch machen, auf denen ihr im Partnerlook seid.“

„Im Partnerlook?“

Jason sah meine Mutter entsetzt an und machte einen großen Schritt von mir weg. So langsam wandelte sich mein Schuldbewusstsein in Ärger um. Klar, ich hatte großen Mist gebaut, aber deswegen musste er mich noch lange nicht wie eine Aussätzige behandeln. Oder glaubte er etwa, wenn er der „verantwortungslosen Bitch“ zu nahe kam, würde er sich bei mir anstecken? Mom und Charles scheuchten uns trotz Proteste unsererseits in den Garten und zwangen uns, die T-Shirts anzuziehen.

„So, Jason, leg doch einen Arm um deine neue Schwester“, wies Mom ihn an, während Charles seine Uraltkamera hervorzog, bei der man die Filme sicher noch zum Fotografen zum Entwickeln bringen musste.

„Und hebt Amy hoch!“

„Damit wir aussehen, als seien wir verheiratet und Amy unser Kind?“, fragte Jason entsetzt und verschränkte die Arme.

„Jason William Charles“, sagte sein Vater streng und ich prustete los.

„‘Camilla‘ ist ja wohl auch nicht besser!“, fauchte Jason mich an.

Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass die Familienfotos alles andere als schön und harmonisch wurden. Auf dem ersten hat Jason Amy auf dem Arm, weigert sich aber, näher als einen Meter an mich heranzukommen. Dann gibt es noch eins mit meiner Mutter, die versucht, mich zu Jason zu schieben und in die Kamera strahlt, während ich gequält grinse und Jason demonstrativ den Kopf von mir wegdreht. Amy hat im Moment der Aufnahme geniest, deswegen ist ihr Kopf total verwackelt. Das letzte zeigt uns alle, da Charles die Kamera irgendwie auf einem Ast des Apfelbaumes balanciert und den Selbstauslöser eingestellt hat. Er und Mom sind in der Mitte, beide mit einem Grinsen von einem Ohr zum anderen, Amy lacht und Jason und ich sehen aus wie missmutige, entflohene Sträflinge auf einem Fahndungsfoto. Am Abend pfefferte ich das T-Shirt mit der bescheuerten Aufschrift in die hinterste Ecke des Schrankes und packte meine Schultasche. Bis auf die Aussicht, Nadja endlich wieder zu sehen, hatte mein Leben nun wirklich seinen Tiefstand erreicht.

Ein Full English Breakfast

Es war nicht nur der erste Schultag sondern auch das erste gemeinsame Frühstück mit allen Mitgliedern unserer neuen Familie. Zu diesem besonderen Anlass hatte Charles es sich nicht nehmen lassen, ein „Full English“ zuzubereiten, also ein traditionelles englisches Frühstück, samt vor fett triefenden Würstchen. Zugegeben, das Rührei und die Kartoffelpuffer waren ganz okay und die Pilze schmeckten verdammt lecker, aber lauwarme Bohnen aus der Dose? Iiih Bäh! Anfangs lief alles noch ganz harmonisch. Mom hatte Charles mindestens hundert Mal fürs Kochen gedankt, und seine Rühreier gelobt, als seien sie der 8. Harry Potter Roman (bei Komplimenten denken Mom und ich manchmal in Harry Potter Einheiten, zum Beispiel: Deine Haare strahlen heute so schön wie zehn Weasleys zusammen). Jason und ich waren ziemlich einsilbig, weil wir um 6 Uhr für dieses Frühstück hatten aufstehen müssen, aber vielleicht hatte das auch was Gutes, da wir beide viel zu müde zum Streiten waren. Auf Mamas fröhliches: „Freut ihr zwei euch schon auf die Schule?“, hatten wir einstimmig mürrisch geknurrt, aber selbst zum Augenverdrehen war ich viel zu müde gewesen. Amy war wohl am wachsten von uns und freute sich mindestens so sehr wie meine Mutter über das Rührei, das sie mit ihrem Löffel durch die ganze Küche katapultierte. Ich duckte mich geschickt unter einem Rühreigeschoss weg, nahm einen Schluck Tee und spie ihn in weitem Bogen wieder aus. Es war nämlich kein Earl Grey Tea gewesen, sondern flüssige Seife, die sich in meiner Tasse befand. Der Inhalt meines Mundes war nun also unschön über den Tisch gesprenkelt, aber das Meiste hatte Jason, der mir direkt gegenüber saß, abbekommen. Er funkelte mich mit einer Mischung aus Wut und Ekel an, bevor er wortlos aufstand, um sich das Gesicht zu waschen und ein anderes T-Shirt anzuziehen. Seine Schwester dagegen wusste meine Showeinlage zu würdigen. Sie quietschte, lachte und klatschte in ihre Hände.

„Noch mal“, krakeelte sie begeistert und übertönte so zum Glück das entsetzte „CAMILLA!“ meiner Mutter.

„Was war das für ein Teufelszeug?“, keuchte ich. „Mischt ihr Engländer immer parfümierte Seife unter den Tee?“

Charles sah ehrlich betroffen aus.

„So schmeckt Earl Grey Tea nun mal“, sagte er kleinlaut.

„Der Tee ist fantastisch, Darling“, säuselte meine Mutter und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Camilla, räum bitte den Tisch auf und mach die Sauerei weg, die du veranstaltest hast!“

Das war nun wirklich unfair! Die meiste Sauerei hatte nicht ich, sondern Amy veranstaltet, aber schließlich sah ich ein, dass man die Kleine nicht mit einer so verantwortungsvollen Aufgabe wie dem Tischabräumen beauftragen konnte und machte mich seufzend an die Arbeit. Als alles weggeräumt und der Tisch von Amys Rühreigeschossen befreit war, musste ich mich beeilen um noch rechtzeitig zur Schule zu kommen. Jason, das wandelnde Gegenteil eines Gentlemans, hatte nicht auf mich gewartet, aber ich holte ihn japsend ein.

„Woher kennst du eigentlich den Schulweg?“, schnaufte ich.

„Google Maps“, sagte er kurz angebunden und deutete auf sein Smartphone, das er wie einen Kompass vor sich hielt.

Ich keuchte theatralisch auf und hielt mir gespielt erschrocken die Hände vors Gesicht.

„Aber Google ist doch bööööse!“

Meine Mutter und sein Vater waren sich einig, dass alles Amerikanische wie McDonalds, Apple und eben auch Google nur dazu da war, den Amis die Weltherrschaft zu sichern und die Erde in eine dystopische, vom Konsum beherrschte Zukunft zu stürzen. Jason rollte mit den Augen.

„Mein Vater hat mir dieses amerikanische (!) Handy selbst geschenkt, als er mich aufs Internat abgeschoben hat“, meinte er dann nur.

Abgeschoben. Aha. Ich hatte gar nicht gewusst, dass das Internat ein Streitthema zwischen den beiden war. Ich speicherte diese Information auf meiner inneren Liste mit Themen ab, die ich anschneiden konnte, wenn ich zum Beispiel von einer 2 in Englisch ablenken musste (meine Schulnoten waren meiner Mutter im Allgemeinen nicht wichtig, solange ich nicht irgendwo durchfiel, aber wehe ich hatte keine 1+ in Englisch. Da verstand sie keinen Spaß).

Auf dem Schulhof angekommen wandten sich alle Köpfe in unsere Richtung, beziehungsweise in die Richtung meines Stiefbruders. Die Mädchen begannen zu kichern und zu tuscheln und die Jungs sahen ihn an, als versuchten sie einzuschätzen, ob er eine Bedrohung ihrer (meist eh nur eingebildeten) Männlichkeit darstellte oder ein cooler Fußballkumpel werden konnte. Jason schien die Blicke jedoch gar nicht zu bemerken und lief lässig auf die Tür zu unserer Aula zu. Ein kleiner, blonder Schopf bewegte sich auf mich zu und ich quietschte laut „Nadja“ (wie es sich gehört, wenn man sich 4 Wochen nicht gesehen hat). Der Blick meiner allerbesten Freundin klebte allerdings auch auf meinem Stiefbruder, weswegen sie nichts zu meinem neuen und übertrieben coolen Top sagte, auf dem ‚Life is too short to wear boring clothes‘ stand. Ich war ein bisschen beleidigt.

„Ich wusste gar nicht, dass dein neuer Stiefbruder so heiß ist“, raunte sie mir zu.

„Ist er ja auch nicht“, rief ich entrüstet. „Er ist ein Arsch. Und übrigens hallo, ich freu mich auch, dich zu sehen.“

„Ein süßer Arsch“, stimmte Nadja mir gedankenverloren zu, während mein Stiefbruder mitsamt seinem angeblich so süßen Hinterteil in der Schule verschwand. Dann wandte sie sich endlich wieder mir zu.

„Milly, cooles Top“, rief sie, als würde sie mich jetzt erst richtig wahrnehmen. Wegen dem Kompliment verzieh ich ihr ihren Verrat – nachdem ich sie kräftig in die Seite geknufft hatte.

„Meine Mom hat mir befohlen, meinen Stiefbruder zu Herrn Twick zu bringen und zu dolmetschen“, seufzte ich nun theatralisch und rannte so ladylike wie es mit Schulrucksack eben möglich ist, Jason nach. Der stand bereits vorm Lehrerzimmer, zusammen mit – grrr – meiner Erzfeindin Yvonne, die gerade ihre blonden, glatten Haare nach hinten warf und gekünstelt lachte. Um sie in 10 Worten kurz zusammen zu fassen: verwöhnte Arzttochter, beliebtestes Mädchen meiner Klasse, Lieblingskind der Lehrer (mehr ihrem Einschleimen als ihrem Köpfchen zu verdanken) und Körbchengröße C (deswegen verwandeln sich alle Jungs vor ihr in sabbernde Zombies). Okay, das waren vielleicht doch mehr als 10 Wörter. Beim Näherkommen hörte ich Jason gerade noch sagen: „Magst du mir vielleicht den Weg zeigen?“ Und das sagte er auf Deutsch! Da mühte ich mich tagelang damit ab, ihm nützliche Vokabeln und die Grundzüge der deutschen Grammatik zu erklären und er sprach bereits perfektes Deutsch mit einem Hauch von britischem Akzent. So ein verlogener, dreister – Jetzt hatte er mich auch entdeckt und besaß sogar die Frechheit, mich anzugrinsen.

„Hey, Camilla.“

Seit dem Vorfall mit Amy sprach er mich nur noch mit vollem Namen an.

„Woher kannst du Deutsch?“, fragte ich mit schneidender Stimme.

„Ich hatte mal eine deutsche Chatfreundin.“

Ja klar, als ob man durch eine ‚Chatfreundin‘ perfektes Deutsch lernte! Yvonne schien ihm allerdings zu glauben. Sie hing bei jedem seiner Worte an seinen Lippen. Wie eine Schmeißfliege.

„Wow“, hauchte sie jetzt. „Du musst wahnsinnig intelligent sein.“

Dabei bezeichnete sie sonst jeden, der besser in der Schule war als sie, als Streber, Freak oder Langweiler. Jason wandte sich nun wieder Yvonne zu und beachtete mich nicht weiter.

„Nicht halb so intelligent wie du schön bist“, hörte ich ihn im Weggehen noch sagen.

Kotz! Und wegen dem kam ich zu spät zum Unterricht. Und das am ersten Schultag nach den Ferien. Frau Klein sah das leider genauso. Sie war unsere Klassenlehrerin und konnte ganz nett sein, wenn man gut in Mathe war. Und pünktlich. Und wenn man im Unterricht nicht quatschte. Meine Mathekenntnisse schwankten zwischen grottig und sehr gut. Ich hatte im letzten Halbjahr erst eine 2, dann eine 4 und schließlich zu aller Erstaunen eine 1 geschrieben. Frau Klein war der Meinung, dass ich mir einfach nicht genug Mühe gab, aber durch die 1 war sie vor den Sommerferien etwas versöhnlich gestimmt worden. Heute aber durchbohrten mich ihre Blicke, als ich so unauffällig wie möglich die Klasse betrat und mich neben Nadja setzte. Es half nicht gerade, dass alle verstummten, mich ansahen und dann anfingen zu tuscheln. Ich schnappte verdächtig oft die Worte „Stiefbruder“ und „echt süß“ auf. Frau Klein räusperte sich und sofort verstummte das Gemurmel.

„Wie ich gerade sagte, bevor mein Unterricht unterbrochen wurde“, sie sah mich streng an. „Lasst uns alles Organisatorische möglichst schnell hinter uns bringen, damit wir gleich mit dem neuen Stoff anfangen können.“

Man könnte meinen, Mathe sei für sie so wichtig wie die Luft zum Atmen und sie würde ohne eine bestimmte Anzahl von Graphen und Exponentialgleichungen pro Tag sterben.

„Die Klassensprecherwahl dürfte kein langer Aufwand sein, da ihr euch alle seit fünf Jahren kennt. Kandidaten?“

„Yvonne Clemens“, sagte Yvonne, die nun die Klasse betreten hatte. „Ich habe einem neuen Schüler den Weg gezeigt“, sagte sie mit einem engelsgleichen Lächeln und setzte sich neben Ann-Christin. Wir hatten vier Mädchen mit Anna, Anne oder Ann im Namen in der Klasse.

„Du kannst dich genau wie im letzten und vorletzten Jahr auch nicht selbst als Kandidatin aufstellen“, sagte Frau Klein und ich hatte das Gefühl, sie unterdrückte nur mit Mühe ein Augenrollen. Yvonne funkelte Ann-Christin an, die sofort erschreckt die Hand hob und Yvonne als Kandidatin vorschlug. Ich seufzte. Damit hatte meine Erzfeindin schon so gut wie gewonnen und würde nun zum dritten Mal in Folge Klassensprecherin werden. Nadja stieß mich an und ich sah, dass sie etwas auf den Rand ihres Matheheftes gekritzelt hatte.

Nadja: Hast du schon den Aushang gesehen?

Ich: Welchen Aushang?

Nadja: Es gibt eine neue Theater-AG. Sie wollen dieses Jahr Shakespeares Sommernachtstraum aufführen.

Ich: WAS? Und das sagst du mir erst jetzt?

Nadja: Dachte mir, dass dir das gefällt, du Shakespeare-Freak :-P

Ich: Wann, wo, wie? Erzähl schon!

Nadja: Da du so freundlich fragst: Vorsprechen ist nächste Woche. Herr Michels und Frau Kohlemann leiten die Th-

„Nadja, Milly, würdet ihr bitte auch eure Stimmen abgeben?“

Frau Klein stand mit verschränkten Armen direkt vor uns. Wie schaffte sie das bloß immer? Aus dem Nichts aufzutauchen. Obwohl sie ihrem Namen alle Ehre machte, hätten wir sie doch bemerken müssen. Ich war noch so in Gedanken vertieft, dass ich zuerst ‚Shakespeare‘ auf meinen Stimmzettel schrieb. Nadja stöhnte ungeduldig und stupste mich in die Seite, bis ich meinen Fehler bemerkte und verbesserte.

„Nachdem diese Wahl ungültig ist, weil irgendein Scherzbold Emma Watson als Klassensprecherin gewählt hat“, Frau Klein musterte mich kühl, „verschieben wir die Klassensprecherwahl auf Freitag und ihr bekommt bis dahin so viele Hausaufgaben, dass euch das Scherzen schon vergehen wird.“

Ein aufregendes Vorsprechen

Der Rest der ersten Schulwoche verging ätzend langsam. Wie immer war die Vorfreude, die manche Idioten noch auf die Schule hatten, nach dem ersten Schultag verflogen und da die meisten Lehrer bereits am Freitag mit kommenden Klassenarbeiten, unangekündigten Tests und Referaten drohten, freuten sich alle aufs Wochenende. Alle außer mir. Ein Wochenende mit einem Jason, der mich weitestgehend ignorierte, wenn er nicht gerade ‚zufällig‘ meinen Lieblingsjoghurt aufaß und mich dabei herausfordernd anstarrte oder den Fernseher immer dann belegte, wenn meine Lieblingsserien kamen und sich über meine Fußballkenntnisse lustig machte – das war alles andere als spaßig. Meine Mom und Charles waren so verliebt, dass sie von uns nicht viel mitbekamen und sich wenn überhaupt um Amys Deutschkenntnisse und ihre Eingliederung in den Kindergarten sorgten. Nicht, dass sie dazu Grund gehabt hätten: Amy war bereits dieses Wochenende zu einem Sandkastendate mit einem zukünftigen Mädchenschwarm namens Jonas verabredet, der ausgerechnet Yvonnes kleiner Bruder war. Ich hatte gehofft, Zuflucht in der Tanzschule zu finden, aber Nadja schlug vor, einen Sleepover bei mir zu veranstalten. Ich hatte eine dunkle Vorahnung, dass sie dabei möglichst oft einem Engländer (und ich meine damit nicht Charles) über den Weg laufen wollte. Ich hatte Jason in der Schule diese Woche viel zu oft gesehen und zwar jedes Mal, weil Nadja zufällig an dem Bereich, wo die Oberstufler abhingen und Tischtennis spielten (oder heimlich rauchten oder trotz Handyverbot auf ihren Smartphones herumdrückten) vorbei gehen musste. Als es am Samstagnachmittag klingelte und ich öffnete, wunderte es mich also nicht wirklich, dass Nadja ein kleines bisschen enttäuscht aussah.

„Hattest du gehofft, Jason würde aufmachen?“, fragte ich direkt.

„Natürlich nicht!“, sagte sie und schob sich an mir vorbei ohne mir in die Augen zu sehen.

Jason fläzte sich auf der Couch und suchte nach einem Kanal, der englische Fußballspiele ausstrahlte. Da hatte er schlechte Chancen. Nadja stieß mich in die Seite. Ich räusperte mich.

„Jason, das ist meine beste Freundin Nadja. Der angehende Star am Balletthimmel.“

Nadja errötete. Jason sah kurz hoch, ließ seinen Blick dann aber etwas länger über Nadjas schlanken, kleinen Körper, ihr hübsches Gesicht und ihren blonden Pixie-Cut wandern.

„Wie kommt es, dass so ein hübsches, kluges Mädchen mit meiner Stiefschwester befreundet ist?“, fragte er dann grinsend.

Ich stemmte empört die Hände in die Hüfte, aber Nadja, die Verräterin blinzelte ihm zu.

„Ich hoffe immer noch, dass etwas auf sie abfärbt.“

Mir verschlug es glatt die Sprache und das kam nicht oft vor. Jason lachte laut auf.

„Du gefällst mir. Ich mag Mädchen mit Humor.“

Mir wurde es jetzt eindeutig zu viel.

„Wenn ihr dann fertig geflirtet habt, kannst du ja deine Sachen in meinem Zimmer abstellen“, giftete ich Nadja an, die den Anstand hatte, etwas schuldbewusst auszusehen.

„Ich komm ja schon“, sagte sie kleinlaut.

„Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Primaballerina“, rief Jason ihr noch hinterher.

„Ich glaube, er mag mich“, jubelte Nadja, als ich die Zimmertür hinter uns geschlossen hatte. Ich sah sie grimmig an.

„Ich mag ihn aber nicht. Und er hasst mich!“

„Ein bisschen kann ich ihn aber auch verstehen“, murmelte sie. Ich hatte ihr natürlich von dem Vorfall mit Amy erzählt.

„Schließlich hätte seiner Schwester was Schlimmes passieren können.“

Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, fügte sie jedoch schnell hinzu, „aber natürlich übertreibt er auch. Jungs, die nachtragend sind, sind echt unattraktiv!“

Nachdem wir das geklärt hatten, wurde es ein schöner Abend. Zuerst folgte das Pflichtprogramm, bei dem wir uns gegenseitig eine Mani-Pedi gaben, uns mit Gesichtsmasken und Smoothies verwöhnten und dabei so lange das Bad blockierten, bis Jason einen kleinen Tobsuchtsanfall bekam. Danach verzogen wir uns kichernd ins Wohnzimmer, schauten sämtliche Chick-Lits an, die ich besaß und Nadja erzählte mir dabei von ihrem Ballett-Camp in Russland.

„Die Mädchen dort trainieren bestimmt 6 Stunden am Tag und gehen nebenher natürlich noch zur Schule. Manche stehen sogar früher auf und üben eine Stunde vor der Schule. Und es hätte mich nicht gewundert, wenn Herr Romanov mit einem Rohrstock in den Unterricht gekommen wäre, so streng war der.“

„Wie könnt ihr beim Filmegucken nur so viel quatschen?“, meinte Jason fassungslos.

Nadja erschrak, weil sie ihn gar nicht die Treppe hatte runterkommen hören. Sie strich sich hektisch durch die Haare und flüsterte: „Hab ich noch was von meiner Erdbeermaske im Gesicht?“

„Nee, nur im Haaransatz“, beruhigte ich sie.

Am nächsten Morgen probten Nadja und ich fleißig für unser Vorsprechen für den Sommernachtstraum. Ich hatte sie dazu überredet, für Titania vorzusprechen, da Nadja in meinen Augen bereits aussah wie eine Elfe. Ich wollte für Hermia vorsprechen, das Mädchen um das sich anfangs beide Jungs streiten. Ich hoffte bloß, dass Oberzicke Yvonne nicht auch bei der Theater-AG mitmachte, denn das würde mir die Proben ganz schön vermiesen. Ich hatte meinen Sommernachtstraum zwar aus dem Mülleimer gerettet, aber weder zusammengeflickt noch aufgeschlagen. Für das Vorsprechen reichte es, ein Gedicht aufzusagen und in einer Minute zu erklären, warum man welche Rolle haben wollte und glaubte, dafür geeignet zu sein. Ich hatte mir natürlich ein Sonett von Shakespeare herausgesucht, mein Lieblingsgedicht von ihm. Nadja hatte sich überlegt, ihr kurzes Gedicht mit einem kleinen Tanz zu unterlegen, weil das bestimmt keine andere machen würde und tanzen zu Titania passte. Jason war von seiner morgendlichen Joggingrunde zurückgekommen, stand nun mit verschränkten Armen in der Hintertür und sah Nadja bei ihrem Elfentanz zu. Nadja sah ihn bei einer Drehung und erstarrte. Jason applaudierte und machte sogar eine lustige kleine Verbeugung vor ihr.

„Ich ziehe den Hut“, meinte er dann. „Du tanzt wirklich super. Und das ist für dieses Vorsprechen für das Schultheater?“

Sie nickte nur stumm.

„Dann hast du die Rolle so gut wie sicher.“ Er zwinkerte ihr zu.

Nach diesem Kompliment war Nadja natürlich zu nichts mehr zu gebrauchen und wir ließen das Proben sein.

Vorhang auf

Ich bin mir sicher, dass in der zweiten Schulwoche irgendetwas mit dem Raum-Zeit Kontinuum nicht stimmte (ich bin in Physik allerdings nicht bewandert genug, um das hier genauer auszuführen). Am Montag und Dienstag verging die Zeit so zäh wie ein alter Kaugummi, der die Zeiger der Uhren festgeklebt zu haben schien, am Mittwoch, dem Tag des Vorsprechens dagegen rasten die Stunden nur so vorüber. Kaum war ich verschlafen zur Schule getorkelt, weil ich am gestrigen Abend bis Mitternacht noch meinen Text geübt hatte (inzwischen beherrschte ich ihn flüssig auf Deutsch und Englisch), da klingelte es auch schon zur 7. Stunde. Nadja und ich trafen uns vor der kleinen Turnhalle, in der das Vorsprechen stattfand, und beäugten unsere Konkurrenz. Die Mädchen kannte ich größtenteils nicht, da sie aus der Oberstufe waren. Nur Yvonne und eine der vier Anna-Irgendwer aus unserer Klasse waren zum Vorsprechen gekommen. Yvonne und ich warfen uns giftige Blicke zu, bevor sie ihr blondes Haar in den Nacken warf und sich mit einem überheblichen Grinsen an Anna-Dingsbums wandte.

„Mir ist die Rolle der Hermia wie auf den Leib geschnitten“, sagte sie selbstgefällig. „Gutaussehend und von den Jungs umschwärmt.“

Anna-Sonstwer nickte wie ein Wackeldackel und sah Yvonne bewundernd an.

„Du wirst bestimmt eine tolle Hermia“, hauchte sie.

Ich stemmte die Hände in die Hüften.

„Und was für einen Text wirst du vorsprechen?“, fragte ich.

Yvonne fuhr zu mir herum und errötete leicht.

„Als ob ich dir das sagen würde, damit du mir meine Idee klaust“, sagte sie dann herablassend.

„Vermutlich hat sie gar keine Szene auswendig gelernt und hofft das mit ihrem Aussehen überspielen zu können“, stellte Nadja sich auf meine Seite.

Bevor der Streit ausarten konnte, ging die Tür auf und Yvonne wurde in die Sporthalle gerufen. Das Mädchen, das herauskam, war blaß und zitterte am ganzen Körper.

„Wie ist es denn gelaufen?“, fragte eine aus der Oberstufe, aber das Mädchen schüttelte bloß den Kopf und ging dann hastig davon. Ich sah aus dem Augenwinkel aber noch, wie sie sich die Tränen wegwischte. Danach war es ziemlich still vor der Turnhalle. Nadja ging im Kopf ihre Schritte durch, was ich an den kleinen Bewegungen ihrer Hände sah, die den Tanz markierten. Der Rest von uns wusste nicht, wohin er blicken sollte und deswegen starrten wir alle auf unsere Schuhspitzen. Als die Tür sich öffnete, schrak ich zusammen und als dann noch mein Name gerufen wurde, erstarrte ich vollends zur Salzsäule. Nadja musste mir einen kräftigen Schubs in Richtung Tür geben.

Ich kann dem Regisseur, Herrn Michels, unserem Englischlehrer, nicht wirklich verübeln, dass er lachen musste, als ich in die Turnhalle stolperte. Meine Beine fühlten sich taub an und ich klemmte mir zu allem Überfluss auch noch meinen Schulrucksack in der Tür ein. Frau Kohlemann, unsere Musiklehrerin, sagte theatralisch: „Willkommen im Zentrum der Kreativität. Stell dich bitte in die Mitte des Raumes, schließ deine Augen, versetz dich in die Welt deiner Szene und bezaubere uns mit deinem Talent.“

Die kleine Rede untermalte sie mit einigen Armbewegungen, wodurch ihre Armreifen klirrten und ihr Halstuch verrutschte, was den ganzen Auftritt etwas lächerlich machte. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass Frau Kohlemann eine leicht esoterische Ader hat und uns im Unterricht bereits mehrmals angeboten hat, Tarotkarten mitzubringen und unsere Zukunft vorherzusagen. Sie trägt immer wehende Gewänder, fünf Armreifen pro Arm und wickelt sich mindestens zwei Tücher um. Nadja sagt immer, es fehlt nur noch der Turban und die Glaskugel und sie wäre der genaue Klon der russischen Wahrsagerin, die ihrer Mutter eine schillernde Karriere am Nationalballett versprochen hatte. Ich legte meinen Rucksack ab, ging in die Mitte der Turnhalle, schloss kurz die Augen und holte tief Luft.

“My mistress' eyes are nothing like the sun”, deklarierte ich mit kräftiger Stimme.

“Coral is far more red than her lips' red;
If snow be white, why then her breasts are dun;
If hairs be wires, black wires grow on her head.

I have seen roses damasked, red and white,
But no such roses see I in her cheeks;
And in some perfumes is there more delight
Than in the breath that from my mistress reeks.

I love to hear her speak, yet well I know
That music hath a far more pleasing sound;
I grant I never saw a goddess go;
My mistress when she walks treads on the ground.

And yet, by heaven, I think my love as rare
As any she belied with false compare.”

Ich hatte Shakespeares Sonett 130 vorgetragen, jetzt allerdings war ich mir nicht sicher, ob es eine gute Wahl gewesen war. Ich blinzelte nervös und warf dann einen scheuen Blick auf Herrn Michels und Frau Kohlemann. Frau Kohlemann hatte die Augen weit geöffnet und ihr Mund bildete ein schockiertes „Oh“. Herr Michels hatte den Kopf zwischen seinen Händen vergraben und gab keinen Laut von sich. Mir wurde heiß und meine Hände begannen zu schwitzen. Wie hatte ich nur so dämlich sein können? Sie mussten ja denken, ich machte mich über sie lustig. Die Rolle der Hermia war mir so wichtig! Und nun würde ich vermutlich einen Baum spielen (wenn überhaupt) und Yvonne dabei zusehen dürfen, wie sie mit ihren Wimpern klimperte und alle ihr zu Füßen fielen. Frau Kohlemann räusperte sich.

„Werter Kollege, was sagen Sie zu diesem Auftritt?“

Herr Michels hob den Kopf und ich sah, dass seine Augen feucht waren. War ich so grausam schlecht gewesen, dass er geweint hatte?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752136197
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Schule Theater Freundschaft Shakespeare erste Liebe Patchworkfamilie England Stiefbruder Herzschmerz Humor Kinderbuch Jugendbuch Liebesroman Liebe

Autor

  • Lisa Schubert (Autor:in)

Lisa Schubert hat Anglistik, Germanistik und Literaturübersetzen studiert und widmet sich nun mit Herzblut dem Schreiben. Ihre ersten zwei Bücher "Sommernachtsküsse" und "Blutrausch und Besenstiel" sind in erster Linie für Jugendliche geschrieben worden, finden aber auch Anklang bei Erwachsenen. Prägend für ihren Schreibstil ist eine humorvolle Art, bei der selbst blutrünstige Vampire mit einem Augenzwinkern bedacht werden. Eine Prise Liebe darf in ihren Büchern auf keinen Fall fehlen.
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Titel: Sommernachtsküsse