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Die Bundespräsidentin

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
496 Seiten

Zusammenfassung

Es ist das höchste Amt in Deutschland. Sie ist die erste Bundespräsidentin. Es ist die größte Herausforderung ihres Lebens. Völlig überraschend wird Sarah Heitkamp, eine parteilose Außenseiterin, zur ersten Bundespräsidentin in Deutschland. Kaum im Amt, muss sie ihre Krisenfestigkeit unter Beweis stellen. Ihr Wille, Konflikte mit zivilen Mitteln, statt mit militärischer Härte zu lösen, schafft ihr innenpolitisch viele Feinde. Je erfolgreicher sie ist, desto mehr verhärtet sich die Front ihrer Gegner. Doch wie wird man eine Bundespräsidentin los, die gegen keine Gesetze verstößt? Kriminalhauptkommissar Oliver Lindner, Leiter der Sicherungsgruppe für das Bundespräsidialamt, bekommt mit der frisch gewählten Bundespräsidentin alle Hände voll zu tun. Wie lassen sich Gefahren auf das Leben einer Person abwenden, wenn sich diese ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit in jede Krisensituation stürzt? Doch auch Oliver gerät in den Bann von Sarah und ihrem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft des Menschen. Mit jedem vereitelten Anschlag wächst seine Entschlossenheit sie zu beschützen. Ein schier aussichtloser Kampf beginnt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Sarah unterdrückte ein Schmunzeln angesichts der erregten Diskussion in ihrem Hörsaal. Die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik führte jedes Mal dazu, dass sich die Studenten ereiferten. Aufmerksam hörte sie den verschiedenen Argumentationen zu. In ihren Gedanken tauchte kurz die Erinnerung an die Pressekonferenz auf, bei der sie von ihrem Amt als Bundesaußenministerin zurückgetreten war. Für sie war dieser Rücktritt eine Frage der Ethik gewesen, nicht der Moral, entgegen den Äußerungen der Pressemedien, die wochenlang über die Hintergründe debattiert und jede Menge falsche Informationen und Aussagen publiziert hatten. Aber nicht nur den Medien fiel die Differenzierung zwischen Ethik und Moral schwer, auch die Philosophen stritten darüber. Deshalb liebte sie ihre Vorlesung zur Entwicklung neuer, alternativer politischer Leitkulturen, zu der auch eine Auseinandersetzung mit dem Manifest des Evolutionären Humanismus gehörte.

Die Tür wurde leise geöffnet, und eine attraktive Endfünfzigerin in marineblauem Kostüm und weißer Bluse schlüpfte zum Hörsaal herein. Sie setzte sich auf einen freien Platz in der oberen Reihe und nickte Sarah kurz zu als Zeichen, dass sie ihre Vorlesung einfach fortsetzen sollte.

Nur langsam fasste sich Sarah. Der Anblick der Frau hatte ein Gefühl in ihr hervorgerufen, gegen das sie schwer ankam. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Studenten zu, die im Eifer des Wortgefechts den Neuankömmling gar nicht bemerkt hatten.

»Ich denke, die Diskussion hat eine Menge unterschiedlicher Positionen aufgedeckt«, unterbrach sie den Wortwechsel. »Als nächste Aufgabenstellung formulieren Sie bitte die bisherigen Argumente und stellen sie tabellarisch einander gegenüber. Auf diese Weise bekommen wir eine Struktur in Ihren Meinungsaustausch. So können Sie sich besser in den Gedankengang Ihrer Kommilitonen mit der jeweils anderen Auffassung hineinversetzen. Sina, sind Sie so lieb und verbinden Ihren Laptop mit dem Beamer?«

»Ich?«

»Nun, ich nehme an, dass Sie sich bereits einige Gedanken gemacht haben. Sie haben nicht nur aufmerksam zugehört, sondern sich auch viele Notizen zu den Äußerungen Ihrer Kommilitonen gemacht. Das ist eine gute Ausgangsbasis für die strukturierte Zusammenfassung, oder irre ich mich?«

Sina lief feuerrot an. Die Studentin erinnerte Sarah oft an sie selbst in jungen Jahren.

Sie hatte auch eher zugehört als sich an Diskussionen zu beteiligen. Es dauerte lange, bis sie sich eine Meinung bildete. Hatte sie sich jedoch eine geformt, brauchte es stimmige Argumente, wenn man sie davon abbringen wollte. Sie hatte in ihren Aussagen schon immer eine klare Linie erkennen lassen, die sie auch politisch verfolgt hatte. Das hatte dazu geführt, dass die Presse sie als eine integre, verlässliche Person ansah. Man hatte sie durch den Kakao gezogen, sie kritisiert, als überheblich und arrogant bezeichnet oder auch als naiv und feige, je nachdem, welche Zeitung man las oder welche Sendung man schaute. Doch am Ende war etwas anderes in der öffentlichen Meinung haften geblieben – eine Art Bewunderung für ihre Geradlinigkeit, mit der sie ihrem Gewissen trotz aller damit einhergehenden Konsequenzen gefolgt war. Deshalb war sie auch heute noch eine beliebte Gesprächspartnerin bei politischen Talkshows. Ihr wacher, analytischer Verstand, die ethische Sichtweise, mit der sie die Konflikte betrachtete – das hatte innerhalb der deutschen Regierung mehr als einmal eine Eskalation unter den verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen verhindert. Die Parteien zogen sie gern als Mediatorin bei Interessenskonflikten hinzu, weil sie grundsätzlich Lösungen suchte, die von allen Beteiligten als fair erachtet wurden. In der Öffentlichkeit sprach sie nicht über ihre Arbeit. Es frustrierte sie, dass man in der Politik weiterhin davon ausging, dass Menschen vorrangig über ihren Eigennutz und von außen gesteuerte Motivationen – wie Belohnungen in Geldform – zum Handeln gebracht wurden. Sie hingegen glaubte an das Gute im Menschen, an sein Mitgefühl, den Gemeinsinn und die Solidarität, womit man sozialere Wirtschaftsformen und eine sozialere Politik würde entwickeln können, auch ohne dass das Wirtschaftssystem zusammenbrach. Die Herausforderung bestand darin, es zu wagen.

»Stimmt, ich habe mir Notizen gemacht«, gab Sina zu, »aber ich bin unsicher, ob ich alle Argumente erfasst und auch verstanden habe. Ich finde die Differenzierung sehr schwer.«

»Dann ist es in jedem Fall eine Basis, die wir bei Bedarf ergänzen, verfeinern oder – wenn nötig – konkretisieren können, einverstanden?«

»Los, Sina, mach schon, umso schneller sind wir fertig und können ins Wochenende«, ermunterte ihr Sitznachbar sie.

»Tobias, kann es sein, dass Sie den Sinn eines Studiums missverstehen?«, rügte Sarah den jungen Mann.

»Inwiefern, Frau Professor Heidkamp?«

»Dies hier ist eine freiwillige Angelegenheit. Niemand zwingt Sie, an meiner Vorlesung teilzunehmen.«

»Aber Ihre sind die interessantesten. Wussten Sie, dass die Fakultät sie deshalb gern in die letzte Vorlesungsstunde am Freitag legt? Schauen Sie sich um. Der Hörsaal ist voll, das ist ein Kompliment für Sie. Heute steht ein langes Wochenende an, und Sie wissen genau, dass wir es alle kaum erwarten können. Und aus dem Grund möchten Sie Sina nach vorne holen – weil wir mithilfe ihrer Aufzeichnungen rascher ans Ziel kommen. Oder sehe ich das falsch?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sehen Sie, Tobias, es ist allzu leicht, die eigene Meinung ganz subjektiv auf einen anderen Menschen zu projizieren. Ich habe Sina gewählt, weil ich davon ausgehe, dass sie die Differenzierung in ihrer Argumentation wahrgenommen hat und ihre Wahrnehmung deshalb ein gutes Fundament bildet, um über die feinen Unterschiede zwischen der Ethik und der Moral Klarheit zu erhalten.«


Sie schloss die Tür hinter sich. Der Raum, den ihr die Fakultät zur Verfügung stellte, war klein. Katharina Leopold zuckte nicht mit der Wimper, als sie sich auf dem Besucherstuhl niederließ. Die Beine elegant zu einer Seite gelegt strich sie den Rock ihres Kostüms glatt und entfernte einige imaginäre Fussel – das einzige Zeichen ihrer Nervosität.

Mit offener Neugierde ließ sich Sarah auf ihren Bürostuhl plumpsen. Die Beine in der beigen Cargohose legte sie übereinandergeschlagen auf den einzigen freien Platz auf ihrem Schreibtisch, der den winzigen Raum fast vollständig ausfüllte. Neben dem Computerbildschirm stapelten sich dort Bücher, Abhandlungen, Hefte und Seminararbeiten ihrer Studenten.

»Also Katharina, was führt dich nach all den Jahren des Schweigens in meine kleine Welt?«

»Du bist viel unterwegs, auch international.«

»Das bringt meine Arbeit mit sich.«

»Ich hörte, dass du vor Kurzem eine Fortbildung für die Weltbank gegeben hast.«

»Viele Wirtschaftsunternehmen und internationale Organisationen interessieren sich für eine soziale Wirtschaftsreform. Der reine Kapitalismus ist im Scheitern begriffen, genauso wie der reine Kommunismus. Da ist der Bedarf an neuen Theorien und Ansätzen groß.«

»Du warst letzten Monat in Princeton.«

Sarah nahm die Füße herunter, beugte sich nach vorn und legte die Arme auf den Tisch.

»Small Talk war noch nie unsere Stärke, Katharina. Sag einfach, was du willst. Soll ich vielleicht auf dem kommenden Parteitag einen Vortrag halten?« Sie grinste amüsiert über ihren eigenen Scherz. Sie beide wussten, dass das nicht infrage kam.

Die Fraktionsvorsitzende zupfte wieder an ihrem Rock. So langsam versetzte dieses Verhalten Sarah in eine neugierige Anspannung. Als sie sich für die Politik entschieden hatte, war Katharina lange ihre Mentorin und Freundin gewesen. Erst als Sarah ihr Amt als Bundesaußenministerin niederlegte und damit nach Katharinas Ansicht die Partei in eine Krise steuerte, war es zum Bruch zwischen ihnen gekommen. Darum war Sarah aus der Partei ausgetreten. Sie hatte es auf sich genommen, den Fokus der Medien ganz auf sich zu lenken. Seitdem herrschte zwischen ihnen absolute Funkstille, obwohl sie mehr als einmal über verschiedene Kanäle versucht hatte, mit Katharina Kontakt aufzunehmen. Vergeblich – bis zum heutigen Tag, als sie wie aus dem Nichts in ihre Vorlesung geplatzt war.

Sarah wurde ernst. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich dich nicht nur maßlos enttäuscht, sondern auch zutiefst verletzt habe. Ich hätte dir gern persönlich meine Beweggründe erklärt. Ich wusste, dass du es mir niemals verzeihen wirst, doch vielleicht hättest du mich besser verstanden.«

Katharina sah sie mit dem frostigen Blick aus ihren blauen Augen an, den ihre Parteigenossen so fürchteten. Der kurze, praktische Pagenschnitt setzte ihr ovales Gesicht vorteilhaft in Szene. Mittlerweile färbte sie ihre Haare nicht mehr kastanienbraun, sondern in einem dunkelbraunen Ton mit helleren Strähnen. Ihre vollen Lippen waren in einem dezenten Rotton gehalten. Sie sah wesentlich jünger aus als achtundfünfzig Jahre, fand Sarah und wünschte sich, dass ihr das Alter einmal ebenso gut stehen würde.

»Enttäuscht? Es hat zwei Wahlperioden gedauert, bis wir uns aus der Krise gearbeitet hatten. Du hast deinen Stolz über das Wohl der Partei und unserer Wähler gestellt. Du hast uns alle hängenlassen, als du ausgetreten bist.«

Sarah atmete tief durch. Die Schärfe in Katharinas Stimme zeigte ihr, wie viel Überwindung es die Fraktionsvorsitzende gekostet haben musste, ihr heute gegenüberzutreten.

»Du hättest wenigstens in der Partei bleiben und deine Loyalität zeigen können«, setzte Katharina eine Spur ruhiger hinzu.

»Ich dachte damals, dass du genau das von mir erwartest – dass ich austrete, damit meine persönliche Entscheidung, so wie ich es immer betonte, keine Auswirkung auf die Partei hat.«

Ihrer Meinung nach hatten die internen Querelen in der Partei diese in die Krise gestürzt, weil sie in der Regierung gegenüber dem großen Partner kein Rückgrat gezeigt hatte. Ihr Rücktritt hatte ein konstruktives Misstrauensvotum der Opposition ausgelöst, und nach Helmut Kohl kam so nun zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte der Bundeskanzler durch das Votum anstatt durch eine Wahl an die Macht. Daraus war eine überparteiliche Diskussion zum Thema politische Integrität aufgekommen, eine in ihren Augen längst fällige Debatte und das einzig Gute, was aus ihrem Rücktritt entstanden war. Koalitionsverhandlungen wurden im Hinblick auf die getroffenen Wahlversprechen intensiver geführt. Doch was ihr weiterhin fehlte, war die Offenheit im Umgang mit unbequemen, aber notwendigen Entscheidungen für den Staat. Solange Wähler auf ihren Eigennutz reduziert wurden, würde sich das nicht ändern.

Katharina machte eine knappe Handbewegung, als würde sie das Argument beiseitewischen. »Deine Zusage humanitärer Hilfe für ein terroristisches Land war ein Schlag ins Gesicht unserer Verbündeten. Aus Eitelkeit, weil du unbedingt beweisen wolltest, dass wir die Vorreiter für die zivile Konfliktbearbeitung sind, und am Ende mussten die Opfer des Anschlags im Fußballstadion – sieben Menschen – auf deutschem Boden den Preis für deine Fehleinschätzung zahlen.«

Sarah spürte einen scharfen Schmerz in ihrem Herzen. Ja, sie fühlte sich verantwortlich dafür, dass diese Menschen gestorben waren, als hätte sie selbst das Attentat verübt.

»Es wurde nie bewiesen, dass die Selbstmordattentäter mit der Gruppierung um den sogenannten Islamischen Staat im Zusammenhang standen.«

»Dem Daesh«, korrigierte Katharina.

Sarah wusste, dass sie oft kritisiert wurde, weil sie die Gruppierung bei deren selbst gewähltem Namen nannte. Aber Dialoge zu führen, indem man den einen Gesprächspartner mit einem herablassenden Wort bezeichnete, führte in dieser kulturellen Umgebung zu nichts. Die Franzosen hatten das arabische Akronym Daesh aufgebracht, was »Islamischer Staat im Irak und der Levante« bedeutete – verkürzt auch ISIL im Deutschen. Die Anfänge der Organisation gingen auf den irakischen Widerstand zurück, der unter dem Namen al-Qaida im Irak zweifelhaften Ruhm errang. Daraus wurde 2007 der »Islamische Staat im Irak«, abgekürzt ISI, später, von 2011 bis 2014, der »Islamische Staat im Irak und in Syrien«, ISIS oder eben ISIL, da als Levante das historische Syrien bezeichnet wird. Parallel zu dieser Entwicklung blieb der Name al-Qaida im Irak bestehen. Das arabische Akronym Daesh wurde jedoch von den Anhängern des IS abgelehnt, da das Wort unterschiedlich verwendet werden konnte. Damit bezeichnete man jemanden als Fanatiker oder als ›jemand, der anderen seinen Willen aufzwingt oder Zwietracht sät‹, und natürlich hörten das die Anführer der Organisation nicht gern.

»Wir geben dem Terror nach, geben ihm eine öffentliche Bühne für seine Ideen, wenn wir uns der Angst beugen. Jede Verschärfung der Gesetze, jede Einschränkung der bürgerlichen Freiheit ist ein Erfolg für den Terror.«

»Deshalb müssen wir mit aller Härte zurückschlagen, mit Sanktionen und gegebenenfalls auch mit militärischem Einsatz.«

»Wie kannst du mit jemandem verhandeln, wenn du ihm eine Waffe an die Schläfe hältst?«

»Wie kannst du mit jemandem verhandeln, der aus dem Hinterhalt agiert und die Zivilbevölkerung angreift – wie demjenigen humanitäre Hilfe anbieten?«

»Weil wir nur dann den Strom der Sympathisanten unterbrechen können, wenn wir der Zivilbevölkerung in diesem Land zeigen, dass wir anders sind.«

»Du hast das alles auf eigene Faust in die Wege geleitet, und wir mussten dafür geradestehen«, warf ihr Katharina verbittert vor.

»Es war mit dem Staatssekretär des Bundeskanzlers abgesprochen. Auch wenn sich der Bundeskanzler am Ende aus der Krise herauswand, indem er seinen Sekretär zum Bauernopfer machte.«

»Nenn mir einen Grund, weshalb der Bundeskanzler dich damals hätte beauftragen sollen, Syrien die Zusage zu geben, ohne es zuvor wenigstens mit den USA oder Russland abzusprechen?«

Sarah lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Der Grund ist derselbe, aus dem ich mich bereit erklärte, die Aufgabe zu übernehmen. Es hätte den Grundstein für einen Dialog mit den unterschiedlichen Gruppierungen legen können, die in dieser Region agieren. Ein erster Schritt in Richtung einer zivilen Konfliktbearbeitung im Nahen Osten. Ein Samenkorn der Vernunft, das die Hoffnung geborgen hätte, auf diesem Pfad weiter zu wandeln. Glaubst du denn ernsthaft, wir könnten mit militärischer Intervention, Waffenlieferungen und Drohnenangriffen die Konflikte auf dieser Welt lösen?«

»Nein«, seufzte Katharina. »Du weißt, dass auch ich ein Befürworter der zivilen Konfliktbearbeitung bin. Aber ich bin auch Realist. Die Zunahme von terroristischen Anschlägen in den westlichen Ländern trägt in der öffentlichen Meinung dazu bei, dass man nach Sanktionen und einer militärischen Intervention ruft. Hast du ernsthaft geglaubt, die anderen Länder würden uns auf die Schulter klopfen, wenn du einem totalitären Regime wirtschaftliche und finanzielle Hilfe zusagst? Wenn du riskierst, dass diese Gelder in falsche Hände geraten und womöglich neue Anschläge damit finanziert werden?«

»Jede finanzielle Hilfe war an ein klar vorgegebenes Vorhaben gekoppelt. Die Bereiche wurden in langen Gesprächen mit den Hilfsorganisationen abgesprochen. Es wäre kein Bargeld geflossen, stattdessen hätte man mit Gütern, Maschinen, Bildung, Manpower geholfen, die Region wieder bewohnbar zu machen. Genau das, was die Amerikaner uns nach dem Zweiten Weltkrieg haben zuteilwerden lassen. Sag mir, wie man dem Hass den Boden entziehen soll, wenn die Menschen immer damit rechnen müssen, Opfer einer Drohne zu werden, sobald sie ihre Häuser verlassen. Und das ist nur eines von vielen Beispielen. Wann soll ein solches Land wieder zu einem Ort werden, an dem Menschen leben, ihrem Beruf nachgehen und ihren Lebensunterhalt verdienen können, wenn man dort permanent den Tod vor Augen hat? Wie löst du einen Konflikt, der von mehreren Seiten mit unterschiedlichen Interessen geschürt wird?«

»Manchmal ist eine harte Linie die bessere.«

»Ich kannte einst eine Politikerin, die ich absolut bewunderte, und die hätte gesagt, dass wir Konflikte nur lösen können, wenn wir die Kontrahenten an einen Tisch bekommen.

»Aber nur gemeinsam mit unseren Verbündeten.«

Sarah hob die Hände in einer hilflosen Geste. Sie hatte noch immer keine Ahnung, weshalb Katharina sie aufgesucht hatte. Um ihr Vorwürfe zu machen? Sie an ihre Schuld zu erinnern?

»Wenn du glaubst, Sarah, ich wäre gekommen, um dir die Absolution für dein damaliges Handeln zu erteilen, hast du dich geirrt. Du hast in deiner Arroganz und Selbstherrlichkeit einen unverzeihlichen Fehler begangen. Du hättest den Schritt wenigstens mit dem Fraktionsvorstand abstimmen müssen. Aber nein, auch dazu warst du nicht bereit.«

»Weil mich der Bundeskanzler um vollkommene Verschwiegenheit bat.«

»Der Staatssekretär, nicht der Bundeskanzler. Arroganz und Naivität. Hast du einmal darüber nachgedacht, dass es eine Falle für dich und uns gewesen ist, in die du nur allzu bereitwillig tapptest? Du warst der Liebling der Presse, die Vorzeigepolitikerin unserer Partei. Ja, im Grunde hätte es dein Sprungbrett für das höchste Regierungsamt in Deutschland werden können, eine zweite weibliche Bundeskanzlerin – nach Angela Merkel.«

»Den Ehrgeiz habe ich nie besessen.«

»Nein. Hättest du ihn gehabt, wäre dir dieser Fehler nicht unterlaufen.«

»Wir können die Vergangenheit nicht rückgängig machen.«

»Nein.«

Sie schwiegen beide, musterten sich. Schließlich rang sich Katharina zu einer Entscheidung durch.

»Ginge es nach mir, wäre ich heute nicht zu dir gekommen.«

»Weshalb bist du gekommen?«

»Ich möchte dir ein Angebot unterbreiten.«

»Du – mir? Ein Angebot? Warum?«

»Weil es in der Politik nicht um persönliche Befindlichkeiten geht, sondern darum, was das Beste für unser Land ist.«

»Und wie um alles in der Welt könnte ich nach dem, was du mir vorgeworfen hast, dabei eine Rolle spielen?«

»Indem wir dich als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt zur Wahl stellen.«

»Das ist ein Scherz?«

»Sehe ich aus, als würde ich scherzen? Glaub mir, auf meiner Liste bist du die Letzte.«

»Zu Recht. Die Linie, die unser aktueller Bundespräsident Jens Richter verfolgt, steht völlig konträr zu allem, woran ich glaube. Er verkörpert den Typus der starken Hand. Mehr Polizei, mehr Militärintervention und mehr Gesetze, die die persönliche Freiheit einschränken.«

»Du könntest das Thema der zivilen Konfliktbearbeitung in den Mittelpunkt deiner Arbeit stellen.«

»Ach, auf einmal? Und was ist mit deinen Vorwürfen von eben?«

»Es ist ein repräsentatives Amt, kein Regierungsamt. Du könntest keine Hilfeleistungen zusagen.«

»Aber einem anderen Land den Krieg erklären«, konnte sich Sarah die sarkastische Anmerkung nicht verkneifen. In letzter Zeit hatte das unter der Bundespräsidentschaft von Jens Richter durchaus im Raum gestanden. Sie war froh, dass seine zweite Amtszeit nun zu Ende ging.

Katharina lächelte nur milde.

Sarah atmete tief durch. Manchmal übermannten sie einfach ihre Emotionen, und das ärgerte sie, aber immerhin wusste sie es besser.

»Stellt euch hinter Hendrik Raab. Er wird einen gemäßigten Kurs fahren und das Thema Familie in den Mittelpunkt seiner Amtszeit stellen, damit könnt ihr leben.«

»Und was, wenn Ulrich Uhland gewinnt?«

Sarah schwieg. Uhland galt als konservativ, war ein Ritter des Heiligen Grals und damit fest in der katholischen Kirche verwurzelt, durchaus ein kritisches Element in der aktuellen innenpolitischen und außenpolitischen Situation. Niemand mochte den erhobenen Zeigefinger der Deutschen.

»Bei den Umfragen liegt er weit vorn.«

»Die Opposition fährt eine smarte Werbekampagne. Stellt euch hinter Raab, bringt einen Social-Media-Experten rein, das ist eure einzige Chance. Mich jetzt in der kurzen Zeit, die noch verbleibt, als weitere Kandidatin ins Rennen zu schicken, kann das Lager nur weiter spalten.«

»Und was, wenn wir wüssten, dass wir mit dir als Kandidatin viele Abgeordnete aus der Opposition und auch Landtagsabgeordnete auf unsere Seite bekämen?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht die Lösung, Katharina. Ich habe einmal meine Ehe für ein politisches Amt riskiert. Ich werde das kein zweites Mal tun.«

Katharina betrachtete sie einen Moment lang schweigend.

»Denk über meinen Vorschlag nach. Besprich dich mit deinem Mann. Es ist das höchste Amt, das der Staat zu vergeben hat, mit der größten politischen Freiheit. Keine Regierungsverantwortung, keine Wahlversprechen, keine Parteilinie. Du könntest gesellschaftlich wichtige Themen aufgreifen, Gespräche leiten und mit jedem Staat auf der Welt Kontakt aufnehmen, um unserer Regierung den Weg zu ebnen. Sei nicht dumm, Sarah, das ist deine große Chance, um wiedergutzumachen, was du neun Jahre zuvor verbockt hast.«

Katharina erhob sich, ging zur Tür, ergriff die Klinke und verharrte. »Du wärst die erste Frau auf diesem Posten, und das Amt würde dir all das bieten, wovon du träumst.«

Sie saß nur da und starrte die Tür an. Erst als die Putzfrau ihren Kopf hereinsteckte und fragte, wie lange sie noch bleiben wollte, erhob sie sich, schaltete ihren Computer aus und packte zwei Bücher und einen Stapel Seminararbeiten in ihre Tasche.

Wollmütze, Fleecehandschuhe und ihre Daunenjacke machten die Kälte, die draußen auf sie wartete, erträglich. Langsam ging sie zur S-Bahn-Haltestelle, setzte sich auf die Bank. In einem seltsam entrückten Zustand betrachtete sie von dort aus das Treiben der Menschen um sie herum. Wie durch Watte nahm sie die Geräusche in ihrer Umgebung wahr, die einfahrende S-Bahn, die aussteigenden Menschen. Gleichzeitig gab es Szenen, die gestochen scharf in ihren Gedanken ankamen. Der alte Mann, dessen Hand mit dem Stock zitterte, während er seinen Fuß über die Schwelle setzte. Die Mutter mit ihren zwei Kindern und dem Kinderwagen, die gehetzt angerannt kam und der eine junge Frau beim Einsteigen half.

Bundespräsidentin.

Sarah schüttelte langsam den Kopf, als könnte es das Taubheitsgefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, vertreiben. Erst als die S-Bahn losfuhr, wurde ihr bewusst, dass es ihre gewesen war, in die sie hätte einsteigen sollen.

2

Katharina fuhr die Auffahrt zu der alten Villa ihres Bruders hoch, die früher ihr Elternhaus gewesen war. Das Gespräch mit Sarah hatte sie emotional völlig erschöpft. Ihre Begegnung hatte sie mehr aus der Bahn geworfen als erwartet. Bei Gott, diese Frau hatte auch mit 45 Jahren nichts von ihrem jugendlichen Charme verloren. In der Runde ihrer Studenten musste man schon genau hinsehen, um in ihr die Professorin zu erkennen, was nicht nur an ihrem jungen Aussehen lag, sondern an ihrer sorglosen, fröhlichen Art, der Offenheit, mit der sie mit Menschen umging. Die Frau hatte weder Klasse noch Stil. Das war schon damals schwierig gewesen, weshalb sie ihr eine Stylistin empfohlen hatte. Schließlich konnte sie als Außenministerin nicht in Cargohose, Lederjacke und Turnschuhen zu Staatsbesuchen aufbrechen.

Die Haushälterin ließ Katharina ins Haus. Ihre Schwägerin war mit den Kindern in Sankt Moritz, in dem Schweizer Chalet, das Andreas dort gekauft hatte. Er wollte erst am Wochenende nachreisen. Er besaß viele Immobilien in den Steueroasen der Welt.

Er war nicht allein in seinem Büro. Ein Mann in einem eleganten Anzug – keine Markenware, sondern handgefertigt – erhob sich, als sie hereinkam. Er überragte sie um mehr als einen Kopf, was bedeutete, dass er an die eins neunzig groß sein musste. Sein dunkelbraunes, dichtes Haar war mit viel Gel aus dem Gesicht gestylt, und sein Bart verlief in einem dieser modernen Schnittformate nur die Kinnkante entlang sowie in einer schmalen Linie von der Mitte des Kinns zur Lippe. Das gab seinem jungen Gesicht eine männliche Note und betonte die Lippen. Ein überhebliches Lächeln glitt über sein Gesicht. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen sichtlich bewusst.

»Guten Abend, Frau Leopold. Wolfram Fastabend. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er reichte ihr eine feingliedrige Hand.

Die Augenbrauen hochziehend übersah sie sie demonstrativ und wandte sich ihrem Bruder zu. »Dauert es noch lange?«

»Nein, wir sind fertig. – Ich erwarte dann Ihren Vorschlag, Wolfram.«

»Er wird morgen früh pünktlich um acht Uhr auf Ihrem Tisch liegen«, versicherte der Lackaffe und verließ sie.

Katharina ging an den Tisch, auf dem die alkoholischen Getränke standen, und schenkte sich einen Sherry ein.

»So schlimm?«

Sie kippte das erste Glas hinunter und schüttete sich ein zweites ein, bevor sie auf dem Besucherstuhl Platz nahm. Ihr Bruder war hinter seinem wuchtigen alten Eichenschreibtisch sitzen geblieben.

»Es ist ein Fehler«, seufzte sie.

»Sie weiterhin jungen Leuten Flausen in die Köpfe setzen zu lassen und sie weiterhin auf Symposien und internationalen Kongressen sprechen zu lassen, wäre ein Fehler.«

Katharina schnaubte. »Es ist das höchste Amt. Du gibst ihr damit eine noch größere Reichweite.«

»Und jede Menge Konflikte, an denen sie sich die Zähne ausbeißen wird. Ein weiterer Anschlag auf deutschem Boden, und sie verliert ihr Gesicht. Egal ob es eine Amtszeit dauert oder sie schon nach einer kurzen Zeit zurücktritt, es wird uns reichen, um eine Alternative aufzubauen.«

»Wen?«

»Wir sind dran.«

»Was passt euch an Uhland nicht?«

»Du kennst unseren Konflikt mit Uhland. Er ist ein Moralapostel, ein Saubermann, der am liebsten jeden Waffenhandel unterbinden möchte. Das können wir nicht zulassen. Das Liefern von Waffen ist ein wichtiger Baustein zur Destabilisierung der östlichen und afrikanischen Länder. Also, wird sie das Angebot annehmen?«

»Keine Ahnung.«

»Du solltest es ihr schmackhaft machen.«

»Sie ist nicht blöd. Sie hätte es mir niemals abgekauft, wenn ich so getan hätte, als wären wir wieder beste Freundinnen.«

»Du magst sie immer noch, obwohl sie mit ihrem Handeln eine ganze Regierung in die Knie gezwungen hat.«

»Ich hasse sie.«

»Also gut, dann werde ich wohl doch Volker ins Spiel bringen müssen.«

Katharina seufzte. »Wie du meinst.«


Nervös wischte sich Sarah die Hände ab und öffnete die Haustür, um rasch die Männer einzulassen, bevor neugierige Nachbarn die Besucher identifizieren konnten. Ein schwarzer Audi mochte in der Gegend vielleicht nicht auffallen, aber wenn mehrere Anzugträger ausstiegen, einem anderen die Wagentür öffneten und ihm Geleitschutz gaben, kapierte jeder, dass es sich nicht um einen alltäglichen Besuch handelte.

Die zwei Security-Beamten – einer davon eine Frau – blieben drinnen an der Haustür stehen. Sie hatte darum gebeten, dass sie hereinkamen und nicht draußen blieben. Immerhin hatten sie ein ziviles Kennzeichen verwendet, nicht die 0-2, das offizielle Kennzeichen des Bundeskanzlerfahrzeugs.

»Herr Bundeskanzler, ich fühle mich geehrt durch Ihren Besuch.«

Ein amüsiertes Lächeln lief über die Gesichtszüge des Mannes, den sie seit einer Ewigkeit kannte und der die Partei sicher aus der Krise manövriert hatte, was sie ihm offen gestanden nie zugetraut hätte. Volker Balkenhol. Er hatte Gewicht zugelegt, die Falten in seinem Gesicht waren tiefer und vor allem mehr geworden. Unter seinen Augen lagen Schatten, die von mangelndem Schlaf zeugten. Graue Strähnen durchzogen sein lockiges, schwarzbraunes Haar. Die dunklen Augen wurden von buschigen Augenbrauen überdeckt. Seine Wangen hingen herab, und auch sein Doppelkinn kam stärker als früher zum Vorschein.

»Sarah, es gibt keinen Grund für eine formelle Anrede. Wir beide kennen uns seit über fünfzehn Jahren, und das hier ist ein inoffizielles persönliches Treffen in deinem Haus.«

»Es ist das erste Mal, dass wir uns sehen, seit du im Amt bist. Du siehst müde aus. Möchtest du einen belebenden Kräutertee?«

»Wie wäre es mit Kaffee?«

»Um die Uhrzeit? Das ist schlecht für deine Gesundheit.«

»Du hast dich kein bisschen verändert. Immer noch die Gesundheitsfanatikerin. Gib mir was von deinem Kräutertee.«

Sie sah zu den beiden Beamten hinüber. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Überrascht sah der Mann sie an, seine Kollegin antwortete knapp: »Nein, danke.«

»Ähm.« Ihr Kollege räusperte sich. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich dem Bundeskanzler anschließen.«

Er bekam einen scharfen Blick von seiner Kollegin, den er mit treudoofem Hundeblick und einem Achselzucken abtat.

»Es macht mir überhaupt nichts aus.«

Nachdem sie den Sicherheitsbeamten versorgt hatte, setzte sie sich mit Balkenhol im Wohnzimmer an den Kamin, in dem ein Feuer brannte.

»Sarah, ich bin gekommen, um mit dir über den Vorschlag zu sprechen, den Katharina dir unterbreitet hat.«

»Das dachte ich mir beinah. Wusstest du davon?«

Er trank einen Schluck vom Kräutertee und verzog das Gesicht. »Eigene Mischung?«

»Nein, von meiner Mutter.«

»Hätte ich mir denken können. Du kennst die politische Situation, in der wir uns befinden. Jens Richter ist ein Bundespräsident, der zwar gern militärische Stärke demonstriert, doch Uhland mit seiner moralischen Kampagne würde ständig versuchen, sich in die Regierungsangelegenheiten einzumischen. Das kann ich mir nicht leisten. Hinter Hendrik Raab werden wir keine Mehrheit vereinen können. Bei dir hingegen sieht es anders aus. Du wärest die erste Frau in dem Amt. Schon bei der letzten Wahl wurden Rufe laut, dass es Zeit für eine Bundespräsidentin sei. Ich möchte dich gern als Kandidatin vorschlagen.«

»Versteh mich nicht falsch, Volker. Natürlich würde mich das Amt reizen, und ich fühle mich geehrt, dass ihr mich nach allem, was geschehen ist, ernsthaft in Betracht zieht. Aber es geht nicht nur um mich.«

»Du denkst, Dirk hätte etwas dagegen?«

»Seine Affäre wurde in der Presse wochenlang breitgetreten. Es war für uns nicht leicht, unsere Ehe zu retten.«

»Aber ihr habt es geschafft. Ich schätze, dass Dirk hinter dir stehen würde. Frag ihn.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das Amt ist mit vielen Reisen verbunden. Genau wie das der Bundesaußenministerin.«

»Er könnte sich für die Dauer deiner Amtszeit aus dem aktiven Business zurückziehen. Elke Bündenbender hat sich auch entschieden, ihren Posten beim Verwaltungsgericht während der Amtszeit ihres Mannes ruhen zu lassen.«

»Na wunderbar, und du glaubst, sein männliches Ego würde es verkraften, als Gatte der Bundespräsidentin zu gelten?«

Er kniff die Augen zusammen und musterte sie. »Sarah, soll das heißen, du stellst deine eigene Karriere zugunsten der Befindlichkeiten deines Mannes zurück? Hast du mal darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten dir dieses Amt bietet? Willst du dir das wahrhaftig entgehen lassen? Ich hatte dich bisher immer für eine mutige Frau gehalten, die ihre Visionen in die Realität umzusetzen versucht, kein braves Hausmütterchen, das hin und wieder eine Vorlesung hält.«

»Es kostet auch Mut, eine Hausfrau zu sein, vielleicht heutzutage sogar mehr als früher.«

»Es sollte keine Beleidigung sein.«

Zur Antwort lächelte sie ihn lediglich an. Sie wussten beide, dass es genau so gemeint war und dass er bewusst ihre Arbeit als Professorin diskreditierte. Sie verstand seine Beweggründe einfach nicht. Volker hatte schon immer den Hang gehabt, überall seinen Vorteil zu suchen. Als Bundeskanzler machte er einen guten Job, ohne Frage, aber er liebte seine Macht und würde sie nur widerwillig hergeben. Wie viele Bundeskanzler vor ihm achtete er in der eigenen Partei tunlichst darauf, dass ihn niemand vom Thron stieß. Es war in ihren Augen ein Fehler, dass nur die Amtszeit der Bundespräsidenten auf zwei Legislaturperioden begrenzt war. Auch für das Bundeskanzleramt wäre das eine sinnvolle Beschränkung gewesen.

»Wieso glaubt ihr, dass ausgerechnet ich die Stimmen der Opposition gewinnen kann?«

»Seit wann bist du auf Komplimente aus? Du kennst deine Stärken. Du bist eine gefragte Sprecherin auf Kongressen, genießt Ansehen, ein internationales Netzwerk durch deine Projektarbeiten, und die Medien lieben dich. Selbst der Fakt, dass du dein Amt als Bundesaußenministerin niedergelegt hast, gilt als persönlicher Pluspunkt, weil es deine Integrität bewiesen hat. Uns hingegen hat es als Partei den Sitz in der Regierung gekostet.«

»Und heute, neun Jahre später, bist du Bundeskanzler.«

»Es war knapp.«

»Wo ist das Haar in der Suppe?«

»Es gibt kein Haar.«

»Bitte, Volker.«

»Du weißt selbst, was passiert, wenn Uhland gewählt wird. Ich habe an genügend Fronten zu kämpfen und brauche nicht noch einen Bundespräsidenten, der mich wie ein kleiner Junge strammstehen lässt.«

»Wie ich Katharina bereits vorschlug – stellt euch hinter Hendrik Raab, peppt sein Image auf, und ich bin sicher, dass er eine Chance hat.«

»Mag sein.«

»Es passt dir nicht, dass er ein Parteimitglied eures Koalitionspartners ist.«

Der Bundeskanzler nippte abermals an seinem Tee, verzog das Gesicht und stellte den Becher auf dem Wohnzimmertisch ab.

»Ich meine, dass du die bessere Alternative bist, und dein Name wurde mehr als einmal von verschiedenen Seiten ins Spiel gebracht.«

»Du würdest mit mir ein großes Risiko eingehen, Volker. Du weißt, woran ich glaube und wofür ich stehe.«

Als Antwort erschien ein feines Lächeln auf seinen Lippen, das sie eher abschreckte als einlud.

»Ja, ich weiß, woran du glaubst. Weißt du, Sarah, es ist leicht, sich hinter seinem Titel zu verstecken und gute Ratschläge zu erteilen. Es ist hingegen etwas ganz anderes, wenn du Tag für Tag mit der realen Welt konfrontiert wirst und gezwungen bist zu handeln. Ich gebe dir eine Chance zu beweisen, dass du mehr bietest als schöne Worte. Doch ich sehe, du bist zu feige, die Chance, die ich dir auf einem Silbertablett präsentiere, zu ergreifen.« Er seufzte. »Danke für den Tee.«


Sarah zog die Kopfhörer von ihrer Mütze. Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend stieg sie in den obersten Stock. Das Joggen hatte ihr wie immer gutgetan. Endlich fiel die Anspannung der letzten Tage von ihr ab. Sie hatte weder Dirk noch Fabian oder Wiebke von Katharinas Besuch oder dem von Volker am selben Abend erzählt. Sie wusste, dass ihre Tochter mit heller Begeisterung reagiert hätte und die Gefahr bestand, dass sie sich von ihrem Enthusiasmus anstecken ließ. Schon allein aus der Tatsache heraus, dass es bisher keine Frau in das Amt geschafft hatte. Fabians Kommentar hätte gelautet: Mach es, wenn es dir Spaß macht. Dirk hingegen würde ihr die Pistole auf die Brust setzen mit den Worten: Entweder ich oder das Amt. Sie würde ihre Ehe kein zweites Mal riskieren. Wofür auch? Politische Macht bedeutete ihr nichts. Sie wollte das Bewusstsein der Menschen verändern, und dafür war sie bereits genau an der richtigen Stelle. Die Studenten und Studentinnen der Hertie School of Governance kamen aus der ganzen Welt und stellten die wirtschaftliche und politische Elite der Zukunft dar.


In T-Shirt und bequemer Jogginghose, die nassen Haare in ein Handtuch geschlungen, ging sie nach dem Duschen in die Küche und blieb verblüfft auf der Schwelle stehen.

»Hi, Mama.«

Wiebke sprang auf und drückte ihr mit strahlenden Augen einen Kuss auf die Wange. Fabian, der gerade von seinem Brötchen abgebissen hatte, hob lediglich die Hand.

Sarahs Verblüffung wandelte sich in Freude. »Na das nenne ich ja mal eine gelungene Überraschung. Ich dachte, ihr hättet beide feste Pläne für dieses Wochenende. Ist nicht heute der Energiekongress hier in Berlin, der von Greenpeace organisiert wird?« Sie schlang den Arm um die Taille ihrer Tochter, während sie darauf wartete, dass Fabian den Bissen hinunterschluckte, um ihr antworten zu können.

»Papa wollte dringend, dass ich komme. Ich kann noch später zu dem Kongress. Also, was ist los?«

»Dringend?« Ihr Herz machte einen Satz. Nach all der Zeit, die vergangen war, nach all der mentalen Arbeit, die sie investiert hatte, schaffte sie es nicht, ihre Angst zu verbergen. Er hatte sie einmal tief verletzt und enttäuscht.

»Guten Morgen, meine zwei Hübschen.« Dirk, der die Kälte von draußen mitbrachte, schob sich von hinten zwischen sie und Wiebke, die sich direkt an ihren Papa lehnte.

Egal wie gut sich Sarah mit ihrer Tochter verstand, gegen die Liebe zwischen den beiden kam sie nicht an. Es war auch in der Therapie eine Erkenntnis für sie gewesen, dass sie eifersüchtig auf ihre Tochter war. Sie löste sich von den beiden und setzte sich an den reich gedeckten Frühstückstisch. Dirk füllte die Brötchen aus der Tüte in den Korb, stellte sie auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. Wiebke ging zur Kaffeemaschine, um zwei Kaffee zu machen, während Sarah nach der Kanne griff, in der Fabian Tee gemacht hatte. Sie liebte es, wenn ihre Kinder zu Besuch kamen. Egal wie lange sie bereits aus dem Haus waren, sie fanden ohne Weiteres wieder in den alten Familienrhythmus zurück. Plätze am Esstisch wurden wieder getauscht, so wie es gewesen war, als die Kinder noch bei ihnen wohnten. Dirk hielt ihr den Brötchenkorb hin. Zögernd nahm sie sich ein Körnerbrötchen.

»Alles in Ordnung?«, hakte Dirk nach.

»Ich bin nur etwas überrascht.«

Er grinste sie an, gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Ich hoffe, im positiven Sinne.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Je älter Dirk wurde, desto interessanter sah er aus. Jede Falte, jedes graue Haar gab ihm ein bisschen mehr Sex-Appeal. Früher war ihm sein Körper nicht wichtig gewesen. Zwanzig Kilo Übergewicht und Bauch hatten für sie nie eine Rolle gespielt. Sie liebte ihn für seinen analytischen Verstand und für das, was er in ihrem Leben darstellte – den Ruhepol. In jungen Jahren war sie eine echte Rebellin gewesen, und er hatte sie geerdet. Inzwischen ging Dirk täglich ins Fitnessstudio, hatte einen Personal Coach, der ihn in Form hielt, und der Bauch war straffer Muskulatur gewichen. Sein Äußeres und der Umstand, dass er eine Koryphäe in seinem Beruf war, machten ihn zu einem attraktiven Ziel für Avancen seiner Kolleginnen und Kundinnen.

»Nun spuck’s schon aus, Dirk.« Fabian nannte seinen Vater meistens beim Vornamen. »Weshalb hast du uns zu einem Familientreffen zusammengetrommelt?«

»Familientreffen?«, echote Sarah.

Dirk sah sie mit seinen kaffeebraunen Augen amüsiert an. »Fragt eure Mutter.«

»Mich?«

»Sarah, wann wolltest du mit uns darüber sprechen? Wenn du dich dafür oder dagegen entschieden hast? Meinst du nicht, es betrifft uns alle?«

Verwirrt sah sie ihn an. Konnte es sein, dass er es wusste? Nein, auf keinen Fall. Woher auch?

»Katharina hat mich gefragt, wie ich dazu stehen würde. Ich muss gestehen, dass sie mich kalt erwischt hat, weil du mir kein Sterbenswörtchen erzählt hast.«

»Könnte einer von euch mal endlich sagen, worum es geht?«, mischte sich Wiebke ein. »Das ist ja Folter. Ich male mir gerade zig Szenarien aus. Moment – Katharina? Die Katharina?«

»Ja, die ehemalige Parteikollegin und Freundin von Mama.«

Ihre Tochter kniff die Augen zusammen. »Die, die sie am ausgestreckten Arm hat verhungern lassen, als sie damals ihr Amt niederlegte?«

»Sie hat mich nicht am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Sie war enttäuscht von mir und wütend, und beides zu Recht.«

Sie hob die Hand, bevor Wiebke protestieren konnte. Es war toll, wenn die eigene Tochter einen verteidigte, doch sie wusste, dass Katharina recht gehabt hatte. Sie hätte es nicht für sich behalten dürfen, und rückblickend betrachtet war sie nicht sicher, ob sie in derselben Situation noch einmal genauso handeln würde. Auf der anderen Seite hatte es ihre Ehe gerettet.

»Katharina kam zu mir in die Vorlesung und fragte mich dann, ob ich eine Nominierung als Bundespräsidentschaftskandidatin annehmen würde.«

Fabians Hand mit der angebissenen Brötchenhälfte blieb vor seinem Mund stehen. Wiebke riss die Augen auf, ihr Mund klappte herunter.

»Es ist absurd, ich weiß. Deshalb habe ich es abgelehnt.«

Noch immer sagte keiner etwas. Sarah sah Dirk an, der ihren Blick erwiderte. Unlesbar für sie. War er enttäuscht? War er erleichtert?

»Bist du wahnsinnig geworden?«, explodierte es schließlich aus Wiebke heraus. »Wie kannst du so etwas ablehnen? Du wärst die erste Frau im höchsten Amt von Deutschland.«

»Ein repräsentatives Amt«, bremste Fabian seine Schwester.

»Ist doch schnurzpiepegal. Moment, nein, ist es nicht. Es ist sogar viel besser, weil das Amt sozusagen parteineutral ausgeübt wird.«

»Eben. Du gehst auf Reisen, unterschreibst Gesetze, vereidigst den Bundeskanzler, bestätigst die Regierung, und was noch alles dazugehört. Das war’s. Mehr nicht.«

»Mehr nicht? Sag mal, wie bist du denn drauf?«, fauchte Wiebke ihren Bruder an. »Du kannst gesellschaftspolitische Themen in den Fokus bringen, Stiftungen unterstützen … Ist dir klar, was passieren würde, wenn Mama als Bundespräsidentin euren Verein ›Humantechnology‹ unterstützt? Auf einmal würde jeder euren Namen kennen.«

»Langsam, Wiebke«, bremste Dirk sie aus. »Erstens scheint Mama es uns nicht erzählt zu haben, weil sie sich dagegen entschieden hat, und zweitens – selbst wenn, müsste sie im ersten Schritt erst von der Bundesversammlung gewählt werden.«

»Mama!« Wiebke warf ihr einen flehentlichen Blick zu.

Sarah legte eine Hand auf die ihrer Tochter.

»Ich weiß, was du denkst und dass du all die Möglichkeiten siehst, die mir das Amt geben könnte.«

»Möglichkeiten? Du könntest all das, worüber du schreibst und Vorträge hältst, in die Realität umsetzen. Kriegerische Konflikte statt mit Waffengewalt mit ziviler Konfliktbearbeitung deeskalieren. Projekte unterstützen, die Länder entwickeln, statt zu zerstören oder bewusst zu destabilisieren. Du sagst, die Wirtschaft ist der Schlüssel dafür. Ist dir klar, dass wir in der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit versuchen, deine Konzepte umzusetzen? Hey, meinst du, es ist lustig, ständig zu hören: ›Wie, du bist Wiebke Heidkamp, die Tochter von Professor Dr. Heidkamp?‹.«

»Ich glaube, es gibt durchaus noch viele weitere Konzepte, die ihr bei der GIZ aufgreift und umsetzt. Und bevor du weiter auf mich einredest, überleg dir nur mal, welche Auswirkungen es auf dein Leben hätte, wenn ich tatsächlich Bundespräsidentin würde. Du könntest nicht mehr einfach mal zu einem Hilfsprojekt in den Senegal aufbrechen.«

»Wieso? Was hat das mit mir zu tun? Von mir aus können alle Medien darüber berichten, wohin ich reise, umso besser. Aber ich habe noch nie mitbekommen, dass die Kinder der Bundespräsidenten in den Medien präsent waren. Höchstens die Ehefrauen.«

»Deine Mutter hat das nicht auf die Medien, sondern auf den möglichen Personenschutz bezogen. Das war damals nicht anders, als sie Bundesaußenministerin gewesen ist. Wir alle hatten Personenschutz. Auch du.«

Wiebkes Augen leuchteten auf und sie grinste. »Mit einem großen Unterschied. Heute bin ich nicht mehr fünfzehn. Oliver war ein echtes Schnuckelchen. Nur schade, dass er Mama zugeteilt war und nicht mir. Aber Thomas war auch echt nett.«

»Ach ja?« Dirks freudiger Gesichtsausdruck wandelte sich. Oliver und er waren von Anfang an wie Hund und Katze gewesen. Dass Wiebke für den smarten Polizeibeamten schwärmte, hatte das Verhältnis zwischen den beiden noch verschlechtert, obwohl Oliver auch nicht ansatzweise auf die Schwärmerei des Teenagers eingegangen war. »Ich erinnere mich nur daran, wie du mir die Ohren vollgejammert hast. Von wegen, du seist die Einzige, die keinen Alkohol trinken darf und die ständig um elf Uhr zu Hause sein muss.«

»Oh Mann, Fabian, jetzt sag du doch auch mal was!«

Ihr Bruder rieb sich mit der Hand übers Kinn und sah ihre Mutter an.

»Weshalb hast du es abgelehnt, zu kandidieren?«

Sie schwieg, musste nachdenken. Alles, was ihr zuvor klar gewesen war, löste sich in nebulösen Schwaden auf. Sie suchte nach einer ehrlichen Antwort für sich und ihre Familie.

»Du hast recht, Wiebke, dass das Amt parteilos ist. Ich gehöre auch keiner Partei mehr an. Es stellt mich in die Öffentlichkeit, doch vermutlich nicht mehr wie bisher in meiner Tätigkeit als Sprecherin.«

»Dein letzter Talk vor dem Wirtschaftsforum der Vereinten Nationen ist acht Millionen Male in YouTube angeklickt worden, und du hast über eine Million Likes darauf.«

Verblüfft sah sie ihre Tochter an. »Ehrlich?«

»Ehrlich, Mama. Es ist wirklich eine Schande, dass du nie darüber nachdenkst, welche Wirkung du hast.«

»Was ist es dann?«, hakte Fabian wieder nach.

Sie sah ihn an. »Angst. Angst, dass mir die Zeit für meine Familie fehlen wird, für euch.« Sie mied bewusst den Blick auf Dirk. »Ein solches Amt frisst einen auf, mit Haut und Haar. Man trägt Verantwortung, und die würde ich ernstnehmen. Jedes Wort von mir bekäme Gewicht. Jede Handlung von mir wäre ein Symbol.«

»Jetzt übertreibst du, Sarah.«

Sie hob den Blick und sah Dirk an. »Tu ich das?«

»Ja. Denk an die bisherigen Bundespräsidenten. Sie sind Menschen geblieben, haben Fehler gemacht. Es ist wahrhaftig mehr eine repräsentative Aufgabe. Du hast nichts mit der Regierung zu tun, anders als damals als Außenministerin.«

»Und warum möchtest du, dass ich mich zur Wahl stelle?«

»Aus denselben Gründen, die Wiebke genannt hat, und weil du das Amt ausfüllen kannst. Du besitzt Integrität, Vision, betrachtest die Welt nie nur in Schwarz und Weiß. In deiner Arbeit verbindest du die Wissenschaft mit der Wirtschaft und der Politik. Die Regierungen anderer Länder schätzen dich, und in deinen Projekten bist du international unterwegs. Nenn mir einen anderen der infrage kommenden Kandidaten, der all das in sich vereint.«

»Hat Katharina das gesagt?«

»Ja, aber ich denke genauso wie sie.«

»Sie hat mit dir mittaggegessen, um über mich zu reden?«

»Ja, und ich gebe zu, dass du mich enttäuscht hast, indem du mir von ihrem Besuch und ihrem Vorschlag nichts erzählt hast.«

»Es tut mir leid.«

»Schwamm drüber.«

»Nein. Hätte ich es dir erzählt, so hätte sie dich nicht damit überraschen können.«

Dirk nahm ihre Hand und küsste die Innenfläche. »Mag sein, aber das ist nicht wichtig. Ich finde, du solltest die Kandidatur antreten. Du wärst eine tolle Repräsentantin unseres Volkes.«

»Darf ich dann noch Mama sagen oder muss ich dich als Frau Bundespräsidentin ansprechen?«

Sie musste über Wiebkes Gesicht lachen, das pure Freude und Aufregung ausstrahlte. Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, da war auch sie voller Idealismus gewesen.

3

Sarah versuchte, ihre Aufregung zu verbergen. Konzentriert hörte sie den Abgeordneten zu, die zu ihr kamen. Sie war zu ihrer ehemaligen Stylistin gegangen, die Katharina ihr damals aufgehalst hatte, als sie zu einem Teil der Regierung geworden war. Helena, inzwischen 62 Jahre alt, erklärte sich bereit, sich um sie zu kümmern, obwohl sie nur noch wenige exklusive Kundinnen betreute. Tatsächlich hatte sie es geschafft, ihr einen anthrazitfarbenen Hosenanzug herauszusuchen, in dem sie sich zu ihrer eigenen Überraschung superwohl fühlte. Die fließend fallende schlichte Bluse, graublau, satiniert, brachte ihre hellblauen Augen regelrecht zum Leuchten. Ihre langen, dichten blonden Haare waren zu einem seitlichen Dutt hochgeschlungen, der ebenfalls zu dem lockeren, sportlichen Stil des Hosenanzugs passte. Schicke braune Sneaker, in denen sie bequem hätte joggen können, rundeten ihr Outfit ab. Sie trug keinen Schmuck, außer ihrem goldenen Ehering. Dirk an ihrer Seite trug einen mitternachtsblauen Anzug mit einem Hemd in einem helleren Blauton und eine blaugraue Krawatte, und so bildeten sie zusammen eine harmonische Einheit. Dass sie sich an ihm festhielt, merkte sie erst, als ein Kameramann ihre verschlungenen Hände in Großaufnahme brachte. Sie ließ ein paar Minuten verstreichen, bevor sie dezent ihre Hand aus seiner löste. Es war wichtig, dass sie Souveränität ausstrahlte, egal wie aufgeregt sie war.

Sie war erstaunt, wie viele ehemalige Kollegen und Kolleginnen das Gespräch mit ihr suchten. Sie hatte in gewisser Weise erwartet, dass sie einen Bogen um sie machen würden. Es gab neben ihr, Ulrich Uhland und Hendrik Raab noch zwei weitere Kandidaten. Die Bundesversammlung setzte sich aus den Mitgliedern des Bundestags sowie einer Anzahl von Landtagsabgeordneten aus den Parteien zusammen, die die gewählte Mehrheit im Landtag widerspiegelte. Teilweise entsandten die Landtagsabgeordneten andere in den Medien bekannte Personen wie Schauspieler, Medienleute, Unternehmer oder Sportler in die Versammlung. Sarah war nicht nur die einzige Frau unter den Kandidaten, sondern auch die einzige Parteilose. Joachim Gauck war bisher der einzige Bundespräsident ohne Parteimitgliedschaft gewesen, der in das Amt gewählt worden war.

Der Gong ertönte, und alle, die noch standen, nahmen ihre Plätze ein. Die Bestuhlung für die Bundesversammlung war für die Bediensteten des Bundestags eine echte Herausforderung gewesen. Die Menge der Anwesenden sprengte die Raumkapazitäten. Der Bundestagspräsident betrat den Plenarsaal. Dirk drückte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er in die hinteren Reihen verschwand. Alle, die im Raum herumliefen, sortierten sich rasch und nahmen ihre Plätze ein. Die gesamte Bundesversammlung stand, bis der Bundestagspräsident Georg Fuhrmann vor seinem Stuhl stand und das Wort ergriff.

»Bitte setzen Sie sich.«

Für die Masse an Menschen erstaunlich leise ließen sich alle auf ihren Plätzen nieder. Sarah saß in der vordersten Reihe des Blocks ihrer ehemaligen Partei zwischen den zwei Fraktionsvorsitzenden, wie es bei ihnen üblich war. Georg Fuhrmann begann mit seiner Einführungsrede. Sie erinnerte sich daran, dass sie in ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete viele Debatten mit Fuhrmann geführt hatte. Eine Zeit lang hatten sie zusammen im Unterausschuss »Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln« gearbeitet, der zum auswärtigen Ausschuss gehörte und damit aufgrund der Sensibilität der Inhalte der Geheimhaltung unterlag. Im Gegensatz zu dem, was die öffentliche Meinung annahm, war die überparteiliche Zusammenarbeit in den Ausschüssen durchaus konstruktiv. Gegensätzliche Meinungen und Ansichten wurden angehört und diskutiert. Oft kam man am Ende zu denselben Schlussfolgerungen, auch wenn es seine Zeit dauerte. Es war keine leichte Aufgabe für Fuhrmann gewesen, das Amt von Norbert Lammert, dem vorangegangenen Bundestagspräsidenten, zu übernehmen, hatte dieser doch einen außerordentlichen Humor besessen, der Fuhrmann fehlte. Er war ein ernster, bürokratischer Mensch, der alle dazu anhielt, die Formalitäten exakt zu wahren.

In seiner Rede dankte der Bundestagspräsident dem bisherigen Bundespräsidenten Jens Richter für seine Arbeit und hob ein paar besondere Ereignisse aus dessen Amtszeit hervor. Fuhrmann machte auf die aktuelle gesellschaftspolitische Lage im Land aufmerksam. Die AfD gehörte inzwischen in vielen Landtagen zu den festen Parteien, und auch in den Bundestag war sie mit 8,9 Prozent der Stimmen vertreten, zum Glück nicht auf Kosten der anderen kleinen Parteien, denn vor allem die großen Parteien hatten Stimmen eingebüßt. Er ermahnte alle dazu, miteinander im Dialog zu bleiben, Toleranz gegenüber den anderen Parteien zu üben und das Gespräch zu suchen, auch wenn die Gegensätze unüberbrückbar erschienen. Immerhin wären alle Mitglieder der Landtage und des Bundestags vom Volk gewählte Abgeordnete. Die Zusammensetzung spiegelte den demokratischen Willen der Menschen, und das hätte ein jeder von ihnen zu respektieren. Dahingegen hob er hervor, dass es nicht ausreiche, gegen alles zu sein, sondern dass es Diskussionen geben und Kompromisse gefunden werden müssten.

Einigermaßen überrascht von seiner mahnenden Ansprache zur Toleranz, die viel Beifall fand, beobachtete Sarah den weiteren Ablauf der Versammlung. Seltsam distanziert nahm sie alles wahr. Die Aufregung von zuvor war von ihr abgefallen, kaum dass Fuhrmann den Saal betreten hatte. Zu lange war der Bundestag ein Teil ihres Lebens gewesen, und der vertraute Ablauf beruhigte ihre Nerven. Sie betrachtete die anderen Kandidaten. Die Anzahl von insgesamt sechs war ungewöhnlich hoch und zuletzt bei der Wahl von Theodor Heuss vorgekommen. Für sie spiegelte es die gespannte politische Lage im Land wider. Da waren Ulrich Uhland, der Kandidat der CDU, Olaf Wittgenstein, Kandidat der SPD, Hendrik Raab, Kandidat der FDP, Siegfried Ebert, Kandidat der Freien Wähler, und Alfons Himmelreiter, Kandidat der AfD. In den Umfragen lag Ulrich Uhland weiterhin vorn, sie und Hendrik Raab lagen dagegen Kopf an Kopf. Mit ihren 45 Jahren war sie die Jüngste unter den Kandidaten. Bei einem Wahlsieg wäre sie nicht nur die erste Frau, sondern auch die Jüngste, die das Amt je innehatte. Es würde im Gegensatz zum Vorjahr, als der Sieger bereits vor der Wahl festgestanden hatte, ein spannendes Wettrennen geben. Die Tatsache, dass sich die Regierungskoalition nicht auf einen Kandidaten geeinigt, sondern zwei ins Rennen geschickt hatte, sorgte dafür, dass die Drähte heißliefen. Wählten alle Abgeordneten und Wahlleute ihrer Partei entsprechend, würde es keine absolute Mehrheit für einen Kandidaten geben. Deshalb spekulierten die Medien auf einen zweiten, ja womöglich sogar einen dritten Wahlgang. Bei jenem reichte dann eine relative Mehrheit. Kam es zu drei Wahlgängen, würde es ein langer Tag für alle werden.

Sarah hatte die Aufmerksamkeit der Medien genutzt und reichlich Interviews gegeben. Dabei stellte sie ihre Forschungsarbeit zum Thema zivile Konfliktbearbeitung an der Universität in den Vordergrund. Egal ob sie am Ende die Wahl gewann oder nicht, so hoffte sie, auf diese Weise das Thema eine Weile in den Medien präsent zu halten. In nächster Zeit würden einige Entscheidungen zur Fortführung des militärischen Engagements anstehen. Das Thema Türkei hatte sich in den letzten Jahren verschärft. Aber das waren nicht die einzigen diplomatischen Herausforderungen. Seit der zum Glück nur eine Amtszeit andauernden Präsidentschaft von Donald Trump waren alle westlichen Länder damit beschäftigt, die Risse in den Beziehungen zu kitten, die entstanden waren.

Natürlich kam bei den Interviews ihre Arbeit als Außenministerin zur Sprache, die Niederlegung ihres Amtes sowie die daraus entstandene Krise der Partei. Ihre Argumentationslinie hatte sie mit Volker Balkenhol, dem Bundeskanzler, abgestimmt. Ein paarmal waren sie zusammen vor der Kamera aufgetreten. Es war Sarah leichtgefallen, sich wieder in einen gemeinsamen Diskurs mit ihm einzufinden. Zuvor hatte sie sich intensiver mit seiner bisherigen Arbeit und den Positionen, die er vertrat, auseinandergesetzt. Geschickt umschiffte sie die kritischen Themen, bei denen sie seine Meinung nicht teilte. Es war von Vorteil, dass sie sich im Gegensatz zu den anderen Kandidaten über neun Jahre aus dem Politikfeld zurückgezogen hatte. Das verschaffte ihr emotionale Distanz und einen Hauch mehr Objektivität bei den gesellschaftlichen Fragestellungen. Sie hatte ihre Sprachgewandtheit auch nicht eingebüßt, mit der sie es schaffte, die jeweiligen Moderatoren auf die ihr wichtigen Themen umzuleiten, bis die Zeit der Sendung abgelaufen war. Sie wusste, dass sie durch ihr attraktives Äußeres, ihren Humor und ihre Offenheit ein Liebling der Medien war und die Einschaltquoten erhöhte.

Aufmerksam betrachtete sie nun die disziplinierte Vorgehensweise, mit der der Bundestagspräsident Georg Fuhrmann die Formalien der Wahl erläuterte. Schließlich war es so weit, die Wahl konnte beginnen. Wie immer ging man beim Wahlvorgang nach dem Alphabet vor. Die Wahlberechtigten nahmen ihren Wahlschein mitsamt Umschlag entgegen und verließen den Plenarsaal, um in einem der Räume, die als Wahlkabinen dienten, einen der Kandidaten anzukreuzen. Danach kamen sie zurück, gaben ihren Wahlberechtigungsschein an den Schriftführer, traten an die Wahlurne, ein Plexiglasgefäß, das in der Mitte des Plenarsaals aufgebaut war, und ließen den geschlossenen Umschlag hineinfallen. Die Anonymität dieser Vorgehensweise machte es möglich, dass sich jeder frei entscheiden konnte, ob er der Parteilinie folgte oder einem anderen Kandidaten seine Stimme gab.

Die Presse nutzte den langwierigen Prozess, um mit Abgeordneten und Wahlleuten Interviews über die Wahl und ihre Einschätzungen zu führen. Da die Kandidaten nicht vorgestellt wurden und innerhalb der Wahlversammlung auch keine Diskussion geführt wurde, war der Bedarf an Meinungsäußerungen der Wahlberechtigten groß. Parteispitzen, hochrangige Landtagsabgeordnete und Prominente wurden befragt. Sarah bekam es nur mit, weil Dirk auf seinem Tablet mit Ohrstöpseln die Sendung der ARD zur Wahl verfolgte. Sie hielt es für besser, im Plenarsaal zu bleiben, anstatt in den Fluren des Bundestags herumzulaufen und von den Medien abgefangen zu werden.

Volker Balkenhol, der derzeitige Bundeskanzler aus der Partei »Bündnis zukunftsorientierte Gesellschaft (BzG)« hatte von Anfang an viel Medienrummel verursacht. Innerhalb des letzten Jahres war seine Popularität enorm angestiegen. Seine Politik fand Widerhall in der Bevölkerung. Klare Worte, das Einhalten seiner Wahlversprechen, die unbequemen, aber notwendigen Änderungen im Land durchzusetzen, dafür liebten ihn seine Wähler. Für Sarah verkörperte Volker den Gegenpart zum »Homo Oeconomicus«, wie ihn Tania Singer in ihren Studien dargestellt hatte. Dem hatte die Forscherin das Bild eines Staatsbürgers gegenübergestellt, dem das Wohlergehen des Landes sowie die Gemeinschaft wichtig sind. Ein Bürger, der in der Lage ist, altruistisch zu handeln, selbst wenn es für ihn einen Nachteil mit sich bringt. Es waren vereinzelte Unternehmer, die Widerstand leisteten und den Untergang der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands prognostizierten. Tatsächlich war der Exportumsatz gestiegen, und es gab einen Boom an jungen Start-ups im Land, nicht nur von Deutschen, die sich vor allem in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt und Dresden ansiedelten.

Nach ihren Gastauftritten mit einer Fragestunde bei den zwei größten Parteien war der gestrige Tag mit einem gemütlichen Abendessen im Kreis der BzG zu Ende gegangen. Volker hatte sie gebeten, am heutigen Tag an seiner Seite zu bleiben, deshalb auch ihr Platz neben ihm, obwohl sie kein Parteimitglied mehr war. Er wollte, dass sie eine geschlossene Front abgaben. Sie hatten sich dagegen entschieden, sich auf die Liste der Wahlberechtigten der Partei setzen zu lassen. Und so war sie die einzige Kandidatin, die kein Recht zur Stimmabgabe besaß. Es überwältigte sie, wie viele der Wahlberechtigten sie ansprachen.

»Frau Heidkamp, Sie sind bestimmt aufgeregt. – Ines Diepholz, Bundesministerin der Verteidigung.«

Lächelnd nahm Sarah die dargebotene Hand an und war erstaunt über deren festen Griff. Kurze, weißblond gefärbte Haare, ein durchtrainierter Körper und breite Schultern spiegelten die Lebensweise der Frau wider. Sie war eine bekannte Biathletin mit Gold-, Silber- sowie Bronzemedaillen in den Olympischen Spielen, eine Soldatin in der Bundeswehr, die es bis zum Rang eines Feldwebels gebracht hatte, bevor sie sich in die Politik stürzte. Dunkelgrüne Augen musterten sie wachsam, sie hatte ein kräftiges, kantiges Gesicht mit schmalen Lippen, die kaum sichtbar waren.

»Frau Diepholz, ich freue mich, dass ich heute Gelegenheit habe, Sie persönlich kennenzulernen. Ich versuche schon seit einiger Zeit, mit Ihrem Ministerium in Kontakt zu treten, leider bisher nur mit mäßigem Erfolg.«

»Wie Sie sich bestimmt vorstellen können, hegen wir gewisse Bedenken gegenüber Ihren Studien zur zivilen Konfliktbearbeitung.«

»Ich erlebe Sie bei Ihren Auftritten als eine Frau, die über den Tellerrand hinwegschaut. Mich würden Ihre persönlichen Erfahrungen und Eindrücke interessieren, lediglich als eine Art Gedankenaustausch über unterschiedliche Herangehensweisen gegenüber Konflikten.«

Ines Diepholz schmunzelte, was ihrem Gesicht gleich die Strenge und Härte nahm.

»Der Gedankenaustausch mit Ihnen, Frau Heidkamp, hat, mit Verlaub, einen gewissen Ruf.« Sie wurde wieder ernst. »In der breiten Öffentlichkeit wird gern ignoriert, dass deutsche Soldaten überall auf der Welt im Einsatz sterben, um den Menschen hier in Deutschland ein sicheres Leben zu ermöglichen. Stattdessen werden wir verbal angegriffen, bezichtigt, selbst die Aggressoren zu sein, oder noch schlimmer, Mörder, nicht zuletzt wegen Ihrer Arbeit. Eine meiner Aufgaben sehe ich darin, meine Leute zu schützen.«

»Ich schätze die Arbeit der Frauen und Männer im Dienst unseres Landes, und mir ist bewusst, dass sie im Dienst für die Bundesrepublik ihr Leben riskieren. Genau deshalb ist mir der öffentliche Dialog zwischen beiden Seiten wichtig. Ich könnte mir vorstellen, dass beide Seiten durch den Austausch von Wissen und das Verständnis der Arbeit des anderen enorm profitieren können. Denken Sie darüber nach.«

»Sie sind eine wahre Politikerin.«

Sarah lachte. »Ich dachte, den Ruf hätte ich verspielt, als ich von meinem Regierungsamt zurücktrat.«

»Sie mögen andere täuschen können, doch ich verspreche Ihnen, ich werde Sie im Auge behalten. Egal wie der Tag heute zu Ende geht.«

Ein kurzes Nicken, und Ines Diepholz wandte sich ab und verschmolz mit der Menge. Sarah überlegte, wie die Worte gemeint waren.

»Ich bin erstaunt, dass du noch lebst«, merkte Volker amüsiert an.

»Sie hat eine klare Meinung, die sie offen äußert, das gefällt mir.«

»Ihre Stimme bekommst du jedenfalls nicht.«

»Ich weiß. Es ist schon seltsam, das ich damals glaubte, das Amt als Bundesaußenministerin ausfüllen zu können. Ich hätte wissen müssen, dass es mich über kurz oder lang in einen Gewissenskonflikt stürzen würde.«

»Du hast gute Arbeit geleistet, egal wie du es im Nachhinein betrachtest. Militärischen Einsätzen einen Endzeitpunkt und eine klare Zielsetzung vorzugeben, ist meines Erachtens weiterhin die Basis für eine militärische Intervention in einem anderen Land.«

Dirk gesellte sich zu ihr. Mit dem Kinn deutete er vage auf die in die Menschenmenge eingetauchte Bundesverteidigungsministerin.

»War das nicht Ines Diepholz, die du seit zwei Jahren für einen offenen Diskurs zu begeistern versuchst?«

»Genau die.«

»Was wollte sie von dir?«

»Fragen, ob ich aufgeregt bin.«

Er hob beide Augenbrauen und sah sie amüsiert an. »Und – bist du es?«

»Im Moment? Nein.«

»Keine Sorge, das kommt noch, wenn die Stimmen ausgezählt sind«, meinte Volker trocken. »Los, ich stelle dir noch ein paar wichtige Meinungsmacher vor. Wenn wir sie nicht für diesen Wahlgang gewinnen können, dann vielleicht für den nächsten.«

Gemeinsam mit dem Bundeskanzler frischte sie, wie bereits in den letzten Wochen, ehemalige Kontakte auf und wurde weiteren Wahlleuten vorgestellt. Ohne zu zögern ging sie auch auf Olaf Wittgenstein zu, begrüßte ihn und sprach ihn auf seine Frau an, die sich zu einer Operation am Hüftgelenk im Krankenhaus befand. Sie musste ihm zugestehen, dass er sich erstaunlich schnell von der Überraschung über ihr Wissen um die Gesundheit seiner Frau erholte. Als er sie fragte, ob sie Kinder habe, musste sie sich beherrschen, das aufkeimende Lachen in ein strahlendes Lächeln abzuwandeln. Ganz offensichtlich hatte er sich mit ihrem Hintergrund nicht beschäftigt. Geschickt umschiffte sie die Klippe, ohne ihm das Gefühl zu geben, dass er sich mit seinem Unwissen eine Blöße gab.

Dirk blieb an ihrer Seite und versprühte seinen Charme bei den weiblichen Delegierten. Hendrik Raab schien sich ausgiebig mit ihrem Lebenslauf und ihrer Familie auseinandergesetzt zu haben. Er fragte sie nach Fabians Arbeit und ob es ihr keine Angst mache, dass er sich derzeit im Sudan aufhielt. Ulrich Uhland gesellte sich zu ihnen. Bald waren drei Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten in ein angeregtes Gespräch miteinander vertieft. In familiärer Hinsicht repräsentierte Hendrik Raab eine moderne Konstellation: drei Kinder aus erster Ehe, zwei aus der zweiten, die inzwischen ebenfalls geschieden war. Seine zwanzig Jahre jüngere Lebensgefährtin war gleichzeitig seine PR-Sprecherin. Auf seinem Programm stand vor allem die Stärkung der Kleinunternehmer. Ulrich Uhland hingegen hatte vor Kurzem erst seine Goldene Hochzeit gefeiert. Für Sarah repräsentierte er die alten Werte der Ehe, Stabilität und Seriosität. Viele junge Menschen sehnten sich wieder danach, weshalb er sehr populär war.

Schließlich strömte alles wieder in den Plenarsaal, ein sicheres Zeichen, dass die Stimmenzählung abgeschlossen war. Sarah schaute kurz auf die Uhr und war überrascht. Die Schriftführer mussten die Stimmzettel unter der Aufsicht des Bundestagspräsidenten dreimal zählen, ein Vorgehen, das nach einem Stimmzählungsfehler bei der Wahl von Horst Köhler eingeführt worden war. Sie schienen eine effiziente Methode zum Zählen entwickelt zu haben.

Georg Fuhrmann betrat wieder den Saal. Alle nahmen rasch ihre Plätze ein. Die Anspannung im Saal war greifbar.

»Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Ruhe.«

Die Lautstärke der Geräuschkulisse nahm minimal ab.

»Nach der Verkündung des Wahlergebnisses haben Sie genügend Zeit für Diskussionen. Also bitte ich Sie erneut um Ruhe.«

Keine Reaktion. Die Miene des Bundestagspräsidenten verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Mit mehr Kraft und einer gewissen Schärfe hob er erneut an: »Meine Damen und Herren! Ruhe.«

Diesmal kam er durch. Die Stimmen verebbten, die Anwesenden konzentrierten sich auf den Bundestagspräsidenten, der den Blick über die Abgeordneten und Wahlleute schweifen ließ. Die Kameras richteten sich abwechselnd auf die Kandidaten. Mehr neugierig als aufgeregt wartete Sarah auf die Verkündung der Wahlergebnisse.

»Die Anzahl der abgegebenen Stimmen beträgt 1.257, die der ungültigen Stimmen 16, damit ist die Anzahl der gültigen Stimmen 1.241. Es gab 103 Enthaltungen.« Fuhrmann räusperte sich, trank einen Schluck. »Alfons Himmelreiter erhielt 12 Stimmen.« Einige Parteimitglieder der AfD standen auf und applaudierten. Sarah atmete erleichtert auf. »Siegfried Ebert erhielt 23 Stimmen. Olaf Wittgenstein erhielt 189 Stimmen, auf Hendrik Raab entfallen 208 Stimmen.«

Nach dem Applaus der jeweiligen Wähler der Kandidaten erfolgte eine kurze Stille, eine Schrecksekunde lang. Auch Hendrik Raab hatte flüchtig einen geschockten Ausdruck im Gesicht, bevor er sich zu einem Lächeln zwang. Sarah blinzelte. Zählte der Bundestagspräsident die Stimmen von den wenigsten hin zu den meisten auf, so bedeutete es, dass sie mehr Stimmen als Raab erhalten haben musste, die Frage war nur, wie viel mehr. Sie spürte, wie sich ihr Plusschlag beschleunigte, achtete jedoch darauf, dass ihr Gesicht keine Emotionen widerspiegelte. Kurz blickte Fuhrmann sie an, bevor er weitermachte.

»Sarah Heidkamp erhielt 348 Stimmen, Ulrich Uhland 358.«

Da er beide Ergebnisse rasch hintereinander vorbrachte, konnte Sarah nicht einordnen, wem der anschließende Applaus galt. Sie war überrascht von lediglich zehn Stimmen Differenz zwischen ihnen. Egal was Volker und Katharina im Vorfeld behauptet hatten, sie war davon nicht überzeugt gewesen.

»Damit hat keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht, sodass ein weiterer Wahlgang notwendig wird. Die Stimmzettel für den zweiten Wahlgang werden jetzt ausgeteilt. Der Ablauf bleibt derselbe.« Irritiert hielt der Bundestagspräsident inne, als Hendrik Raab sich erhob, fasste sich aber wieder. »Ich erteile Hendrik Raab das Wort.«

»Ich möchte all meinen Wählern für ihre Unterstützung und das Vertrauen danken, das Sie in mich setzen. Angesichts der Verteilung der Stimmen ziehe ich meine Kandidatur zurück. Ich denke, dass zum Ausdruck gekommen ist, welche zwei Kandidaten favorisiert werden.« Er richtete seinen Blick auf Sarah, der fast das Herz stehen blieb, und lächelte. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir in Deutschland auch für das höchste Amt eine neue Ära einläuten.«

Applaus aus den Reihen der Abgeordneten und Wahlleute. Viele Frauen, egal welcher Fraktion sie angehörten, standen auf. Sarah blieb keine Zeit zu antworten, da der Bundestagspräsident das Wort wieder übernahm.

»Möchte sonst noch ein Kandidat von der Wahl zurücktreten?«

Er ließ einen Moment verstreichen, dann begann er mit den Formalitäten für den nächsten Wahlgang. Er erklärte, dass Stimmen für Hendrik Raab im zweiten Wahlgang ungültig seien, sodass alle darauf achten sollten, an welche Stelle sie ihr Kreuz setzten. Ein weiteres Mal wurde jeder einzelne Wahlberechtigte aufgerufen, zuerst seinen Wahlzettel mitsamt Umschlag zu erhalten und dann in einer Wahlkabine seine Stimme abzugeben.

Sarah stand auf und näherte sich Hendrik Raab, der von Mitgliedern seiner Partei umringt war. Kaum bemerkte man ihre Anwesenheit, öffnete sich der Ring. Sie trat zu ihm, reichte ihm die Hand.

»Es ist schade, dass Sie von Ihrer Kandidatur zurückgetreten sind. Ihre Worte und Ihr Handeln beweisen Weitsicht und dass Sie Ihre eigenen Ambitionen hintanstellen. Das ist eine Eigenschaft, an der sich viele ein Beispiel nehmen können – und ich rede nicht ausschließlich von Politikern.«

»Es ist nett, dass Sie mir dieses Motiv unterstellen und es nicht auf gekränkte Eitelkeit zurückführen.«

Sie schmunzelte. »Ich bin mir sicher, dass Sie mit Letzterem zurechtkommen. Mir haben viele bei meinem Rücktritt vorgeworfen, es aus Selbstsucht und verletztem Stolz getan zu haben. Für mich standen hingegen das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit im Vordergrund. Nach einiger Zeit begriffen die Bürger das auch.«

»Nicht nur die, schauen Sie sich die Anzahl der Stimmen an. Niemand hat damit gerechnet, trotz Ihrer medienwirksamen Auftritte. Eine Frau im Amt des Bundespräsidenten – ich denke, es wäre ein Gewinn für Deutschland.«

Gefühlsmäßig zogen sich der zweite Wahlgang und die Auszählung der Stimmen länger hin. Ob das mit ihrer steigenden Aufregung zusammenhing? Sie bemerkte, dass Uhland sowohl Hendrik Raab als auch sie mied. Es war für ihn bestimmt schwer zu schlucken, dass Raab ausgerechnet sie unterstützte. Immerhin bildeten CDU und FDP in einigen Landtagen die gemeinsame Regierung.

Schließlich war auch die zweite Stimmauszählung beendet.

»Das Ergebnis des zweiten Wahlgangs«, verkündete Fuhrmann, »1.257 abgegebene Stimmen, 4 ungültige, 1.253 gültige Stimmen, davon 42 Enthaltungen.«

Das war in Sarahs Augen eine überraschend geringe Anzahl Enthaltungen, nachdem einer der Kandidaten seine Kandidatur zurückgezogen hatte.

»Kommen wir nun zum Wahlergebnis. Alfons Himmelreiter: 6 Stimmen, Siegfried Ebert: 13 Stimmen, Olaf Wittgenstein: 133 Stimmen.« Fuhrmann legte eine Pause ein. Sarahs Pulsschlag erhöhte sich. Locker und entspannt lehnte sich Uhland in seinem Stuhl zurück, ein siegessicheres Lächeln im Gesicht. Fuhrmann erwiderte es, allerdings wirkte es bei ihm ein wenig süffisant. »Ulrich Uhland: 369«, begann er, sah sie direkt an und nickte kaum merklich, »und Sarah Heidkamp 690 Stimmen.«

Nach einer ersten Schockstille begann der Applaus.

Volker beugte sich vor. »Du hast es geschafft. Im zweiten Wahlgang. Unglaublich.«

Georg Fuhrmann wartete, bis wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war. Blumensträuße tauchten im Plenarsaal auf.

»Ich stelle fest, dass nach Artikel 54 Absatz 6 des Grundgesetzes derjenige gewählt ist, der in der Bundesversammlung die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereint. Rechnerisch bedeutet das bei einer Zahl von 1.260 Mitgliedern der Bundesversammlung 631 Stimmen. Mit 690 Stimmen ist damit Sarah Heidkamp gewählt. Frau Heidkamp, nehmen Sie die Wahl zum Amt des Bundespräsidenten …« Der Bundestagspräsident hielt inne, räusperte sich. »Verzeihung, der Bundespräsidentin an?«

In ihren Ohren rauschte das Blut. Sarah nahm die Menschenmenge nur noch verschwommen wahr. In ihrem Kopf hallte die Frage von Bundestagspräsident Georg Fuhrmann wider.

»Frau Heidkamp, ich frage Sie nochmals, nehmen Sie die Wahl zur Bundespräsidentin an?«

»Ja, ich nehme die Wahl an.«

4

Mit dem Ohr am schnurlosen Telefon öffnete Sarah die Haustür. Seit der Wahl stand ihr Telefon nicht mehr still. Sie hatte unterschätzt, welche Welle über sie hereinbrechen würde, nachdem sich die erste überwältigende Freude gelegt hatte. Noch immer erschien es ihr unwirklich, dass sie in Kürze das höchste Amt der Bundesrepublik bekleiden würde. Überrascht sah sie die zwei Männer an, die vor ihrer Tür standen, der eine freundlich lächelnd, der andere mit missbilligend gerunzelter Stirn.

»Ich melde mich gleich noch mal bei dir, und danke, dass du meine zwei Doktoranden übernimmst, Susanne. Du hast echt etwas gut bei mir.«

Sie beendete das Gespräch, trat von der Tür zurück.

»Wenigstens unsere Ausweise sollten Sie sich zeigen lassen«, bemerkte Oliver Lindner vorwurfsvoll.

»Wieso haben Sie Ihren Beruf gewechselt, Herr Lindner?«

Statt einer Antwort kam von ihm lediglich ein Brummen. Er schloss die Tür hinter sich. Sein Stirnrunzeln ging nur minimal zurück.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Herr …?« Sie sah zu Olivers Partner hinüber, dessen Blick alles auf einmal zu erfassen schien. In ihrem Magen bildete sich ein Klumpen. Sie hatte verdrängt, dass auch das zum Amt einer Bundespräsidentin gehörte – der totale Verlust der Privatsphäre im Hinblick auf ihre Sicherheit.

»Brast, Kriminaloberkommissar Nicolas Brast, Abteilungsleiter des Referats ›Sicherungsgruppe Einsatz eins‹, womit mir die Koordinierung der Schutzaufgabe für den amtierenden Bundespräsidenten sowie der Bundespräsidenten a. D. obliegt. Und nein danke, wir kommen direkt von einer Besprechung und sind bestens versorgt. Entschuldigen Sie, dass wir Sie so unangemeldet überfallen.« Er deutete auf das Telefon in ihrer Hand, das einen Anruf signalisierte. »Es ist schwer, zu Ihnen durchzukommen.«

Sie erwiderte sein Lächeln, zuckte mit den Schultern, ging zu der Ladestation des Telefons und zog kurzerhand das Stromkabel.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich erst nach dem Ablegen des Amtseides mit Ihnen gerechnet.«

Irgendwo in der Tiefe ihrer vielen Hosentaschen machte sich ihr Smartphone bemerkbar. Bei der dritten – der mit dem Reißverschluss an ihrem Oberschenkel – hatte sie Erfolg. Aus Gewohnheit schaute sie auf die Nummer, während sie eigentlich schon die Bewegung fürs Anrufablehnen ausführen wollte.

»Oh, tut mir leid, das muss ich kurz annehmen.«

Indem sie die zwei Beamten im Flur stehen ließ, sprintete sie die Treppen in die zweite Etage hoch.


»Ich glaube, ich verstehe langsam, was du damit meintest, dass Sarah Heidkamp ein komplizierter Fall wird«, wandte sich Brast an Oliver.

»Komplizierter Fall? Sicherheitstechnisch betrachtet ist diese Frau eine einzige Katastrophe.«

»Du hast es schon einmal hervorragend bewältigt.«

»Siehst du die grauen Haare an meinen Schläfen? Ich schwöre dir, an jedem einzelnen«, er deutete mit dem Finger auf die Treppen nach oben, von wo er dumpf Sarahs Stimme vernahm, »ist sie schuld.« Ihre Stimme ließ ihm einen warmen Schauer über den Rücken laufen. Die letzten neun Jahre schienen spurlos an ihr vorübergegangen zu sein. Nun ja, nicht ganz spurlos, eher andersherum – das reifere Alter stand ihr. Die Mühelosigkeit, mit der sie die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hochgesprintet war, ließ vermuten, dass sie ihr Sportpensum aufrechterhalten, wenn nicht gar erhöht hatte. Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken, dass sie womöglich auch die ausgedehnten Joggingrunden beibehalten hatte. Sie würde sich in Zukunft auf den Schlosspark beschränken müssen. Ihre Haare waren in diesem unmöglichen, fusseligen Dutt hochgesteckt gewesen. Die schlammfarbene Cargohose und das hellblaue, weiblich geschnittene T-Shirt hatten ihre Augen noch heller in dem runden Gesicht leuchten lassen. Barfuß. Sie liebte es, im Haus barfuß herumzulaufen.

Sein Vorgesetzter gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Du kannst nicht alles haben.«

»Ich habe mich nicht um den Posten geschlagen.«

»Du warst es, der in seinen Berichten immer wieder betont hat, wie schwer sie sich mit den Sicherheitsvorkehrungen und dem damit einhergehenden Verlust der Privatsphäre tut. Meinst du nicht, es ist für sie leichter, wenn sie ein paar bekannte Gesichter um sich herum hat?«

Die Frage war, wie er damit zurechtkommen würde, ihr wieder so nahe zu sein und sein zu dürfen. »Wir sollten ihren Wunsch berücksichtigen.«

Mit einem breiten Grinsen kam sie die Treppe herunter. Oliver konnte nicht anders, als es zu erwidern. Sein Blut begann rascher zu zirkulieren. Das war der wahre Grund gewesen, weshalb er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um den Posten abzulehnen. All die Jahre hatte er versucht, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Vergebens. Bereits beim ersten Anblick waren seine Gefühle für sie wieder da gewesen. Stärker denn je. Auch wenn sein Job die Koordinierung und Einteilung des Personenschutzes sein würde, bedeutete das viel gemeinsam verbrachte Zeit. Zeit, in der er seine Distanz wahren und sein Bedürfnis, nur einmal in diese schwer zu bändigende Haarmähne zu greifen, unterdrücken musste.

»Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Das war Fabian, mein Sohn. Er kann sich nur ab und an melden. Aber jetzt haben Sie meine volle Aufmerksamkeit.«

Sie folgten ihr ins Wohnzimmer und setzten sich auf die Couch. Sarah setzte sich ihnen gegenüber und faltete die Beine neben sich auf die Sitzfläche. Er wusste, das machte sie gern, wenn sie es sich zu Hause gemütlich machen wollte – ein Zeichen, dass sie sich in ihrer Gegenwart wohlfühlte. Brast warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

»Für die Schutzaufgabe an den Bundespräsidenten gibt es wirklich ein eigenes Referat im BKA? Ich dachte, es zählte zu dem Bereich der Bundesminister.«

Es war typisch für sie, dass sie versuchte, eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Sie gab ihren Gegenübern das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Ihr intensiver Blick ruhte vor allem auf seinem Kollegen, was Oliver mehr als recht war. Ein paar tiefe Linien um ihre Augen gaben ihrem Gesicht mehr Reife. Diese weichen, vollen Lippen, die beständig zu lächeln schienen …

»Oliver?«

Abrupt kam er in die Wirklichkeit zurück. Der Blick seines Vorgesetzten als auch der von Sarah lag mit einem fragenden Ausdruck auf ihm. Er hatte keine Ahnung, worum es gerade ging. Er sah einen Anflug von Irritation bei Nikolas.

»Tut mir leid, ich war gerade kurz mit den Gedanken woanders.«

»Ich habe Frau Heidkamp gerade erklärt, dass das Amt des Bundespräsidenten im besonderen Fokus der Öffentlichkeit steht und damit ein symbolträchtiges Angriffsziel darstellt. Genau deshalb sehen wir es im BKA als gerechtfertigt an, ein eigenes Referat dafür abzustellen. Du hast einige Punkte herausgearbeitet, die wir vor dem Amtseid klären wollten, damit wir Vorbereitungen treffen können.«

»Frau Heidkamp, aus Ihrer Zeit als Außenministerin sind Sie ja bereits mit den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen und den damit einhergehenden Einschränkungen für Ihr Privatleben vertraut. Wir werden versuchen, Ihnen so viel Freiraum wie möglich zu gewähren. Ist es Ihnen recht, wenn ich die Aufgabe als leitender Beamter für Ihre Sicherheit übernehme oder möchten Sie lieber mit einem anderen Beamten zusammenarbeiten?«

Diese Frage war nicht mit seinem Vorgesetzten abgesprochen gewesen. Wenn sie verhindern wollte, dass er ein weiteres Mal in ihr Leben trat, dann war jetzt der beste Zeitpunkt, es zu tun.

Sarah runzelte die Stirn und hielt ihren intensiven Blick auf ihn gerichtet.


Er hatte sich kein bisschen verändert. Oliver Lindner strahlte dieselbe ruhige Gelassenheit aus wie damals, als er zum Stab ihrer Personenschützer gehörte. Der ernste Ausdruck in seinen graublauen Augen, an den Schläfen erste Ansätze von Grau in seinen dunkelbraunen Haaren, die millimeterkurz geschnitten waren, das kantige Gesicht, das zu den breiten Schultern passte – all das vermittelte ihr Geborgenheit. Er war wie ein Fels in der Brandung, und sie würde ihm bedenkenlos ihr Leben anvertrauen. Sie wusste, es war bei ihm in sicheren und kompetenten Händen. Er neigte zur Perfektion, trieb sich selbst immer wieder über die Grenze seiner körperlichen Leistungsfähigkeit und sah alles. Er ging jedes Detail hundertmal durch und hatte damit nicht nur ihre Geduld, sondern auch die seiner Kollegen auf eine harte Probe gestellt. »Korinthenkacker« hatten sie ihn hinter seinem Rücken genannt, nicht boshaft, sondern resigniert, freundschaftlich. Diese Eigenschaft hatte ihnen allen bereits einmal das Leben gerettet. Ohne zu zögern hätte sie seine Frage mit Ja beantwortet, doch aus der Art, wie er sie aussprach, hörte sie beinahe ein Flehen heraus, ihn abzulehnen. Gern hätte sie gefragt wieso, doch auch sie war eine geschulte Beobachterin, und die minimale Verengung von Kriminaloberkommissar Brasts Augen zeigte ihr, dass diese Frage mit seinem Vorgesetzten nicht abgesprochen war.

Sie erinnerte sich, dass Dirk und Oliver einen unterkühlt höflichen Umgang miteinander gepflegt hatten, wann immer sich ein Kontakt nicht hatte vermeiden lassen – keine echte Feindseligkeit, eher ein Revierabstecken. Dirk neigte in seiner Gegenwart beständig zu besitzergreifenden Gesten. Das hatte sich erst viel später geändert. Es war das erste Anzeichen gewesen, das hatte sie im Nachhinein bei der Therapie deutlich herausgearbeitet. Der Beginn seiner außerehelichen Affäre … War dies der Grund für Olivers Frage? Sein Schuldgefühl? Weil er davon gewusst haben musste und es ihr nie gesagt hatte? Doch genau das war es, was sie an ihm schätzte: die Wahrung ihrer Privatsphäre, auch wenn es bedeutete, sie in ihrer Blindheit und der Verdrängung der Wahrheit zu belassen.

»Nein, Oliver, um ehrlich zu sein, freue ich mich, dass Sie die Aufgabe übernehmen. Sie kennen mich und meine Familie, und ich habe volles Vertrauen in Ihre Kompetenz. Wie könnte ich auch nicht? Immerhin haben Sie mir bereits einmal das Leben gerettet. Ehrlich gesagt hatte ich an diese Einschränkung bisher keinen Gedanken verschwendet. Irgendwie habe ich vermutlich gehofft, dass es in diesem Amt anders sein würde.«

»Sie wollen aber deshalb keinen Rückzieher machen?«, scherzte Brast.

Sie sah ihn nur an, dann wieder Oliver, dessen Gesicht keine Emotionen verriet. »Das wäre vermutlich das erste Mal, dass ein gewählter Kandidat nachträglich doch nicht den Amtseid ablegt, weil er den Preis der Einschränkung seines Lebens unerträglich findet.«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Was ist mit Fabian und Wiebke?«, fragte sie dann.

»Unsere Schutzperson sind Sie, Frau Heidkamp«, antwortete der Amtsleiter in klaren Worten. »Sie verkörpern das Amt, was bedeutet, dass unsere Aufgabe genau genommen auf Ihre Sicherheit beschränkt ist. Allerdings treffen wir auch gewisse Vorkehrungsmaßnahmen für die Mitglieder Ihrer Familie. Außerdem ist es sinnvoll, wenn wir ein Sicherheitstraining für alle durchführen, das gern hier in Ihrem Haus stattfinden kann. Ihre beiden Kinder sind in Krisengebieten unterwegs, weshalb ich annehme, dass sie bereits einiges an Vorwissen mitbringen.«

Oliver dachte an den Teenager, der ihn einst angeschmachtet hatte. Inzwischen musste Wiebke Mitte zwanzig sein. Er fragte sich, ob sie ihr temperamentvolles Wesen inzwischen in produktivere Bahnen gelenkt hatte. Kam sie nur ansatzweise nach ihrer Mutter, so würde sie ihnen in nächster Zeit jede Menge Kopfschmerzen verursachen. Im Nachhinein war er froh, dass Sarah ihn nicht abgelehnt hatte. Es würde kein einfacher Job werden, und er traute ihn niemand anderem zu.

»Sie wissen, dass Sie als Bundespräsidentin Anspruch auf eine Dienstwohnung haben«, begann er mit dem ersten Punkt, den er ansprechen wollte. »Die Villa Wurmbach liegt im Stadtteil Dahlem. Herr Richter und seine Frau werden in nächster Zeit ausziehen.

»Können wir nicht hier in unserem Haus bleiben?«, wandte Sarah ein.

Er hatte nichts anderes von ihr erwartet, deshalb war er vorbereitet. »Selbstverständlich können Sie in Ihrem Haus bleiben.«

Sie grinste freudig, bis sie in seinen Augen ein kurzes Aufleuchten bemerkte.

»Die Türen werden ausgetauscht, genauso die Fenster. Wir installieren ein Videoüberwachungssystem und holen uns die Genehmigung der Nachbarn ein, da wir auch einen Teil von deren Grundstücken erfassen müssen. Den Bereich vor Ihrem Haus werden wir für die restlichen Anwohner sperren, weil wir auch Platz für die Einsatzfahrzeuge benötigen. Nicolas, meinst du, dass sporadische Polizeikontrollen reichen? Nein, wohl besser nicht, wir sollten generell eine Zugangskontrolle mit Schranke installieren.«

Sie hob die Hand. Er sah sie fragend an.

»Okay, okay, ich habe verstanden. Entweder ziehe ich in die Villa um oder ich mache meinen Nachbarn das Leben zur Hölle, mit dem Effekt, dass sie in kürzester Zeit einen Antrag stellen, um uns loszuwerden.«

»Wie gesagt liegt die Entscheidung bei Ihnen. Wir würden es selbstverständlich überaus schätzen, wenn Sie unsere Arbeit so weit wie möglich unterstützen, indem Sie umziehen. Die Villa ist dafür vorbereitet, ihren Bewohnern den größtmöglichen Schutz zu bieten.«

»Das war ein rhetorischer Trick. Sie wussten genau, dass ich niemandem Umstände bereiten möchte, weder Ihnen noch meinen Nachbarn.«

Er hütete sich, darauf zu antworten. Sie war selbst viel zu gut mit Worten und Formulierungen unterwegs.

»Sie erhalten ein Dienstfahrzeug. Zum Amtseid begleiten wir Sie mit einem gepanzerten Fahrzeug aus unserem Fuhrpark zum Reichstag. Anschließend bringen wir Sie mit Ihrer Dienstlimousine zur Villa.«

»Und der Umzug soll bereits vor dem Amtseid über die Bühne gehen?«

»Natürlich nur, wenn Sie das zeitlich schaffen. Ansonsten verstärken wir den Personenschutz, um die baulichen Schwachstellen so gut wie möglich auszugleichen.«

Sarah stieß einen Laut zwischen Lachen und Verzweiflung aus. Innerlich spürte sie, wie sich Widerstand in ihr aufbaute. Sie liebte ihre Freiheit und hatte auch als Bundesaußenministerin den Personenschützern oft genug das Leben schwer gemacht. Erst nach dem Bombenattentat bei den Gesprächen in Bagdad, das nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das aller ihrer Personenschützer in Gefahr brachte, hatte sie sich zähneknirschend in die Empfehlungen des BKA bei allen öffentlichen Auftritten und Reisen gefügt.

»Joggen Sie noch regelmäßig?«

»Ja, und das werde ich auch weiterhin. Ich brauche es zum Ausgleich, vor allem, wenn mir in Zukunft die Rückzugsmöglichkeiten fehlen. Sie haben den Sachverhalt damals gelöst, und ich bin mir sicher, Sie werden auch diesmal eine Lösung dafür finden. Immerhin gehört regelmäßiger Sport zu Ihrer Arbeit, wenn ich mich recht entsinne.«

»Ich denke, die Details können wir auch später noch durchgehen«, mischte sich Brast ein. »Uns war es wichtig, zu klären, ob Sie bereit sind, in die Dienstvilla umzuziehen, denn damit erleichtern Sie uns unsere Arbeit enorm, Frau Heidkamp.«

Feigling, dachte Oliver. Je mehr sie im Vorfeld an Regeln festlegten, desto leichter war später das Handling. Sarah hielt sich an eine einmal getroffene Vereinbarung und an das Wort, das sie gab. Sie hatte sogar dafür ihre Karriere geopfert – oder auch nicht. Er hatte sie in der Zwischenzeit nicht ganz aus den Augen verloren, war hin und wieder auf einer ihrer Veranstaltungen gewesen. Er hatte erlebt, wie sie das Publikum mit ihrer Leidenschaft mitriss. Wenn ihre Augen strahlten, der ganze Körper vor Energie vibrierte und sie komplizierte Sachverhalte für jeden verständlich rüberbrachte, indem sie Geschichten erzählte, war es schwer, sich ihrer Ausstrahlung zu entziehen. Seiner Ansicht nach war ihr Einfluss auf die Gesellschaft nach ihrem Parteiaustritt noch gewachsen.

»Zwei Beamte, die Sie in Ihrer Zeit als Außenministerin begleitet haben, gehören auch zum jetzigen Team. Die Berliner Polizei fährt seit der Bundesversammlung regelmäßig Streife an Ihrem Haus vorbei. Ich würde gern bereits jetzt den Schutz erhöhen und die zwei Beamten abstellen. Sind Sie damit einverstanden?«

Sarah stellte ihre Füße auf den Boden. Ihre Zehen sanken in den weichen Teppich ein. Oliver sah, wie sie ihre Haltung straffte. »Nein, tut mir leid. Noch bin ich Professor Dr. Heidkamp, eine ganz normale deutsche Staatsbürgerin. Sie sagten, mein Tod wäre ein Symbol. Ein Symbol wofür sollte es sein, mich zu töten, bevor ich den Eid ablege?«

»Vielleicht möchte manch einer keine Frau an der Spitze des Landes sehen?«

»Sie vergessen, dass ich nicht die erste Frau in Deutschland bin, die eine Spitzenposition in der Politik oder der Wirtschaft, was oft noch mehr Einfluss mit sich bringt, bekleidet.«

Nein, dachte er, aber eine Frau, die unter meinem Schutz steht und auf die bereits ein Attentat verübt wurde. Aber er verkniff sich die Antwort und verschwieg auch, dass laut den Analysten das Risikolevel bei ihr aktuell noch höher lag als beim Bundeskanzler. Er wollte ihr keine Angst machen, doch sollte es notwendig werden, würde er auch dieses Mittel schamlos einsetzen.

»Ein Beamter«, schlug er als Handel vor.

»Ich …« Sie hielt inne. »Nein – wir brauchen Zeit, um uns an den Gedanken zu gewöhnen.«

»Ich glaube, die können wir Ihnen geben.« Brast versuchte offensichtlich, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Er schaute Oliver eindringlich an.

Er nickte, was blieb ihm anderes übrig? Letztlich war er auf Sarahs Mitarbeit angewiesen.


Oliver lenkte den BKA-Dienstwagen, einen VW-Passat, so geschickt er konnte durch den Nachmittagsverkehr.

»Ich gebe zu, du hattest recht«, sagte sein Vorgesetzter. »Es wird eine Herausforderung sein, diese Bundespräsidentin zu schützen. Du solltest versuchen, sie zu mehr Mitarbeit zu bewegen, und zwar nicht, indem du ihr das Gefühl gibst, dass sie bald eine Gefangene sein wird.«

Er warf Nikolas Brast einen bitterbösen Blick zu. »Sie kann unglaublich naiv sein, denkt immer nur an das Gute im Menschen und begreift einfach nicht, dass es Menschen geben könnte, die ihr etwas Böses wollen. Du weißt schon, welchen Schwerpunkt sie sich in ihrer Amtszeit vornehmen wird?«

Brast seufzte. »Zivile Konfliktbearbeitung. Ich bin schon gespannt, wie sich das Verhältnis zwischen ihr und unserer Bundesverteidigungsministerin wohl entwickelt.«

»Ich dachte, du hättest dir die Übertragung der Bundesversammlung angeschaut. Sie haben eine Nahaufnahme gezeigt, als die beiden sich die Hand gaben.«

»Du machst das schon, Oliver. Gib ihr einfach das Gefühl, an der langen Leine zu sein.«

»So lang kann keine Leine sein«, brummte er.

5

Die Koffer waren gepackt. Alles andere würde Sarah in der Villa Wurmbach ohnehin vorfinden, die komplett ausgestattet war, einschließlich einer Haushälterin, die sich dort um ihr Essen und die Sauberkeit der Räumlichkeiten kümmern würde. Gertrud war seit fünfzehn Jahren im Amt und hatte bereits zwei Bundespräsidenten versorgt. Ein wenig streng hatte sie gewirkt, und als sie erfuhr, dass sie für sie vegan kochen sollte, für Dirk allerdings nicht, der gern ein Stück Fleisch aß, hatte sie erst einmal die Nase gerümpft. Ihre Meinung behielt sie jedoch für sich.

Das Kochen war auch etwas, was sie in ihrem Alltag vermissen würde. Sie liebte ihren Kräutergarten und die Kochexperimente, die manchmal etwas Schmackhaftes, manchmal etwas Ungenießbares hervorbrachten.

Bevor es ans Umziehen ging, genoss Sarah noch die Stunde am frühen Morgen, zu der sie in ruhigem Tempo durch den Park joggte. Frost knirschte unter ihren Schuhen, die Luft war eisig. Obwohl es um halb sechs in der Frühe noch dunkel war, reichte ihr die Sicht, sodass sie die Stirnlampe zu Hause gelassen hatte. Um diese Zeit war sie die einzige Joggerin – normalerweise. Das BKA hatte ihr Raum gelassen, was ihr Haus betraf, doch sobald sie die Schwelle übertrat, folgten ihr zwei Beamte, dezent und mit Abstand, solange der Bereich weiträumig überschaubar war, dichter auf, wenn mehr Menschen um sie waren. Am dritten Abend nachdem die Temperatur gefallen war, kam sie sich richtig mies vor. Sie war mit einer Thermoskanne voll Tee zu dem Fahrzeug der Beamten gegangen. Ihr Angebot, in ihrem Wohnzimmer kampieren zu dürfen, wurde höflich abgelehnt, der Tee als freundliche Geste angenommen, allerdings mit dem Hinweis, dass es den Leuten lieber wäre, sie würde sich abends nicht mehr auf der Straße aufhalten, da es ihnen die Arbeit erschwere. Oh ja, Oliver hatte sein Team geimpft.

Der hinter ihr laufende Beamte wahrte Abstand. Sie fragte sich, welche Chance der Mann überhaupt hatte, wenn ihr in diesem Waldgebiet, das sich bis zum großen Müggelsee hinzog und den Charme von Köpenick ausmachte, tatsächlich jemand auflauerte. Es wäre ein Leichtes, sie abzuschießen. Am Ende gab es keine vollkommene Sicherheit vor jemandem, der ihr schaden wollte. Das Risiko ließ sich nur mindern. Vor allem, indem sie Vorhersehbares und Regelmäßigkeiten in ihrem Leben vermied. Sie verdrängte den Gedanken, beschloss, die letzten Stunden in Freiheit zu genießen.

Ihre Stretch-Übungen absolvierte sie im Garten. Noch war alles trist und grau, mit Ausnahme der Wintergräser und immergrünen Büsche. Doch schon bald würde der Frühling den Garten zum Leben erwecken. Sie brauchte einen Gärtner, der sich in den nächsten fünf Jahren um ihre Pflanzen kümmerte. All die vielen Kleinigkeiten, an die sie nicht gedacht hatte, als sie das Amt annahm …

Für Sonntag war sie zu einem Abschiedsessen des scheidenden Bundespräsidenten und seiner Frau auf Schloss Bellevue eingeladen gewesen. Damit fand die offizielle Übergabe des Amtes an sie als seine Nachfolgerin statt. Es war ihr erster persönlicher Kontakt mit dem Ehepaar Richter. Das Hauptanliegen des scheidenden Präsidenten war es während seiner Amtszeit gewesen, die innere und äußere Sicherheit zu stärken. Für ihn war das vor allem damit einhergegangen, militärische Stärke zu zeigen. In den letzten Jahren hatte die Waffenindustrie einen Boom erlebt. Neue digitale Technologien wurden entwickelt, die das Risiko für die Soldaten minderten und die Kriegsführung aus einem Computerraum heraus realisierten. Diese Form der Abstraktion sah sie als gefährlich an. Fabian hatte es als Junge geliebt, Onlinespiele zu spielen, und diese neuen Form der Kriegsführung ähnelte diesen doch sehr, nur dass echte Menschen ihr Leben ließen.

Sie hatte viele Gespräche mit ehemaligen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, dem Jemen, Iran und Irak geführt, mit Männern und Frauen, die in Deutschland ihr Abitur gemacht und ein Studium absolviert hatten und heute einen wertvollen Beitrag zu Wirtschaft, Wissenschaft und Handwerk leisteten. Jeder Einzelne von ihnen war traumatisiert hier angekommen. Einige besaßen eine Energie, die sie beeindruckte. Sie nahmen jeden Tag an, lebten ihn voll aus, als wäre es ihr letzter. Sie strahlten Lebensfreude aus. Andere wiederum waren Überlebende mit einem übergroßen Schuldgefühl, die glaubten, sie hätten das Leben, das sie jetzt führten, nicht verdient.

Diese Begegnungen ließen sie nicht los, die Schilderungen des Alltags in einem Land, das ihre Heimat gewesen war, in dem sie gehungert und nie gewusst hatten, ob sie die nächste Stunde überleben würden. Dabei kam der Terror von allen Seiten, von oben die Bombardierung mit Drohnen, von verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen und vom Staat. Leise und dann immer lauter hatte sie in ihren Gedanken die Frage gehört: Wo liegt für die zivile Bevölkerung der Unterschied zwischen Terrorismus und den Angriffen der westlichen Länder? Am meisten beschäftigte sie die Geschichte von Zahira, einem Mädchen, das mitansehen musste, wie sein Vater vom IS erschossen wurde, das zusammen mit der Familie und anderen in einem der wenigen noch intakten Gebäude etwas zum Frühstück gegessen hatte, als die amerikanische Bombe einschlug. Vierzehn Stunden verbrachte sie bei vollem Bewusstsein unter Steinen begraben, bevor Helfer sie ausgruben und ihre Verletzungen behandelten. Eine Schwester ihres Vaters finanzierte Zahiras Flucht, um ihr eine Zukunft zu verschaffen. Mithilfe von Schleppern kam sie nach Europa. In Deutschland gehörte sie zu den allein reisenden Kindern, die in Pflegefamilien aufgenommen wurden, bis sie zwei Jahre später achtzehn wurde. Innerhalb kürzester Zeit lernte sie Deutsch. Dreimal war sie operiert worden, aber noch immer zog sie ihr rechtes Bein leicht nach.

Sie hatte darum gekämpft, dass das Mädchen in Deutschland bleiben durfte. Zahira studierte Medizin und kehrte mit »Ärzte ohne Grenzen« in ihr Heimatland zurück, um den Menschen zu helfen, die sie einst aus den Trümmern geholt hatten. Wie fand ein Mensch, der so Schlimmes erlebt hatte, die Kraft, in ein Land zurückzugehen, in dem der Konflikt weiterhin schwelte? Wo niemand mehr sagen kann, was Wahrheit und was Propaganda ist?

Auf einem Kongress in den USA hatte sie Esther Perel kennengelernt, die ebenfalls als Sprecherin eingeladen war. Als Kind jüdischer Überlebender aus deutschen Konzentrationslagern war sie in Belgien aufgewachsen und arbeitete nun als Paartherapeutin in New York. In ihrem Vortrag stellte sie ihre Arbeit der »International Trauma Studies« der Universität Columbia vor, deren Fakultät sie angehörte. Esther hatte ihr eine Perspektive zu ihrem Bestreben eröffnet, die These zu untermauern, dass Gewalt sich nicht durch Gegengewalt aus der Welt schaffen lässt. Wenn ein Überlebender aus einem Konzentrationslager den Deutschen vergeben kann, warum sollte dasselbe nicht auch in anderen Ländern möglich sein? Was Sarahs Leben jedoch grundlegend änderte, war Esther Perels Bestseller »Wild Life: Die Rückkehr der Erotik in die Liebe«, in dem es darum ging, in einer langjährigen Partnerschaft die Erotik wiederzufinden.

Beim Abendessen mit Jens Richter, der damit in den Status des Bundespräsidenten a. D. rutschte, hatte sie sich auf die Themen konzentriert, die sie beide einten. Alles rund um die Bundeswehr war ausgeklammert gewesen. Egal wie sehr sie sich bemühte, sie fand keinen Zugang zu dem Mann. Nicht nur im Fernsehen wirkte er kalt, distanziert und patriarchalisch. Seine Frau war still, hing immer an seinen Lippen und trug nichts zur Unterhaltung bei. Erst als sie das Gespräch auf die Kinder lenkte, kam sie aus sich heraus. Die Richters hatten drei Söhne – zwei davon verheiratet – und waren zweifache Großeltern. Nur der mittlere Sohn trat in die Fußstapfen seines Vaters und engagierte sich in der Politik. Der Älteste arbeitete in einer Marketingagentur und lebte überall auf der Welt, während der Jüngste eine Mechatronikerlehre abgeschlossen hatte, auf die später eine Ausbildung zum Techniker und ein Masterstudiengang folgten. Inzwischen arbeitete er in der Entwicklungsabteilung von Daimler Benz, wie Frau Richter mit viel Stolz berichtete.

Sie dachte an ihre Kinder, die nie konform gewesen waren. Kein Elternsprechtag war vergangen, an dem sie sich nicht hatte anhören müssen, welche Fehler ihre Kinder aufwiesen. Fabian galt als egozentrisch und sozial inkompetent, Wiebke als zu rebellisch. Sie hatten von Sechsern bis Einsern jede Note mit nach Hause gebracht. Fabian schaffte mit Ach und Krach das Abitur und blühte erst im Studium der Sozialwissenschaften auf, als er seinen Schwerpunkt auf die Entwicklungshilfe legte. Wiebkes Kehrtwende in der Schule kam durch die Freundschaft mit Zahira. Sie studierte zunächst in Münster Arabisch-Islamische Kultur und arbeitete jetzt bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Berlin. Es hatte eine Weile gedauert, bis Dirk es verkraftet hatte, dass keines seiner Kinder in seine Fußstapfen treten wollte.

Montag war ihr erster Arbeitstag im Amt gewesen, ohne dass sie vereidigt war. Ihr Terminkalender war voll mit bereits zugesagten Terminen sowie den Antrittsbesuchen in den sechzehn Bundesländern, den Partnerländern der Europäischen Union, dem Europäischen Parlament sowie den Vereinen, deren Schirmherrschaft sie allein durch ihr Amt übernahm. Es stand die Akkreditierung von Botschaftern an, Eröffnungen von kulturellen Veranstaltungen, die der Pressesprecher Eric Dahlheim für sie zugesagt hatte.

Den ersten Tag im Präsidialamt, das direkt neben Schloss Bellevue, dem Amtssitz der Bundespräsidenten lag, verbrachte sie mit Zuhören und Fragenstellen. Sie versuchte, ein Gespür für den Tagesablauf zu bekommen, dafür, wer welche Aufgabe hatte und wie die Arbeitsprozesse abliefen. Erste Anfragen zu »privaten« Gesprächen mit der Bundespräsidentin gingen ein und mussten von ihr abgelehnt oder angenommen werden. Es war erschreckend, wie rasch sich ihr Kalender füllte, ohne dass sie selbst die Termine beisteuerte, die ihr am Herzen lagen. Ihr erster Lernprozess bestand darin, zu verstehen und damit umzugehen, dass sie nicht mehr selbst über ihren Tagesablauf bestimmte, dass es überall Schnittstellen gab, Abteilungen, die informiert sein wollten, und dass jeder Schritt, den sie machte, jedes Wort, das sie äußerte, eine Außenwirkung hatte. Das galt auch im Umgang mit den Mitarbeitern des Bundespräsidialamtes. Mit jedem der 172 Angestellten wechselte sie ein paar Worte, nachdem sie sich in der vorangegangenen Woche die Personalliste und das Organigramm einverleibt hatte. Selbst die Büros für die Bundespräsidenten a. D. besuchte sie. Der zweite Tag war von einer Zusammenkunft mit den Abteilungs- und Referatsleitern geprägt gewesen, später mit der Verwaltung und zuletzt mit den Stabsstellen. Sie hatte sich entschieden, keine Personalveränderungen vorzunehmen. Die Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes hatten gute Arbeit geleistet, und sie war auf ihre Erfahrungen angewiesen.

Sie streckte die Arme ein letztes Mal lang in den Himmel, nickte dem Beamten zu, zufrieden, dass auch er ins Schwitzen gekommen war, und ging ins Haus.

Dirk lag quer im Bett und schlief tief und fest. Ein kurzer Blick auf die Uhr – eine Dreiviertelstunde konnte sie ihm noch geben, zumal er wesentlich schneller aß als sie.

Sarah genoss die warme Dusche. Genüsslich rubbelte sie sich mit dem Sisalsäckchen, in das sie eine Zitronengrasseife gesteckt hatte, den Körper ab. Ihre Haut rötete sich von dem angeregten Blutkreislauf. Im Schlafzimmer hing der Hosenanzug mitsamt einer luftig-lockeren Bluse, diesmal in einem Lavendelton, der ihrer Hautfarbe schmeichelte, auf dem Bügel. Sie küsste Dirk wach, der vor sich hin brummte und sich das Kopfkissen überstülpte. Er gehörte zu den Langschläfern, dafür arbeitete er bis tief in die Nacht. Es dauerte eine Zeit, bis er morgens in Schwung kam. Gesprächig wurde er nie vor dem zweiten Becher Kaffee, außer sie wählte eine andere Form des Weckrituals.

Sie selbst brauchte seit Jahren keinen Wecker mehr. Ihr Körper war darauf trainiert, um fünf Uhr morgens aufzuwachen, egal an welchem Wochentag. Seit die Kinder aus dem Haus waren, ja eigentlich seit deren Teenagerzeit nutzte sie den frühen Morgen für ihren Sport, die Meditation und zum Lesen, alles Tätigkeiten, zu denen sie im Lauf des Tages durch die Hektik ihres Alltags nie kam. Irgendwie gab es immer noch etwas Dringendes, das sie erledigen musste.

Dirk bekam eine Vielzahl von Küssen auf jede freie Hautstelle, die sie entdeckte. Als sie sich vom Bett erhob, hielt er sie am Handgelenk fest – ungewöhnlich wach.

»Guten Morgen, Frau zukünftige Bundespräsidentin.«

»Guten Morgen, Herr zukünftiger First Man, oder wie es heißen mag. Hat dieses inoffizielle, eigentlich gar nicht existierende Amt überhaupt einen Namen?«

»Für die bisherigen Ehefrauen wohl schon: First Lady oder Erste Frau, was ziemlich dämlich klingt.«

»Wie kommt es, dass du schon Worte formulieren kannst?«, neckte sie ihn.

»Bei dem Anblick?«

Er ließ seinen Blick über die neue seidene Spitzenunterwäsche wandern, zu der sie sich hatte überreden lassen. Keine Ahnung, weshalb sie den unsichtbaren Teil ihrer Kleidung vom Style her dem sichtbaren anpassen sollte. Schließlich würde niemand außer Dirk ihn je zu Gesicht bekommen.

Die Antwort ihrer Stylistin, Helena, war mit einem vielsagenden Grinsen erfolgt. »Du wirst sehen«, hatte sie gesagt. »Es gibt dir ein anderes Gefühl beim Tragen. Es wird deine weibliche Seite zum Vorschein bringen, und es macht einen Riesenunterschied, ob du einen echten, passenden BH trägst oder einen deiner Sport-BHs. Der eine drückt den Busen weg, der andere bringt ihn richtig zur Geltung. Das gibt deinem Äußeren einen völlig neuen Touch, und irgendwann werde ich dich noch breitschlagen, und wir peppen deine Haare mit einem Stufenschnitt auf.«

»Auf keinen Fall.«

Sie fragte sich, wie lange es ihr gelingen würde, Widerstand zu leisten, bevor sie Helenas Überzeugungskraft unterlag.

Sie beugte sich zu Dirk hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Dafür, mein Lieber, ist es zu spät.«

»Wie viel Uhr ist es?«

»Halb acht.«

»Wann werden wir abgeholt? Um neun?«

»Ja, aber …«

Weiter kam sie nicht, weil er sie geschickt ins Bett zog und sie unter sich begrub.

»Ich muss noch …«

Er küsste sie auf die Augenlider. »Dann lassen wir einfach das Frühstück weg. Es gibt bestimmt einen kleinen Empfang, bevor der offizielle Teil losgeht.«

Sie gab auf. Auf der einen Seite war es schön, von ihrem Mann begehrt zu werden, auf der anderen Seite war es heute der absolut falsche Zeitpunkt für sie. Auf Dirk hingegen schien die ganze Angelegenheit wie ein Aphrodisiakum zu wirken. Es war leichter nachzugeben. Das Letzte, was sie heute gebrauchen konnte, war ein sexuell frustrierter Mann an ihrer Seite. So hatte am Ende alles begonnen – sie, ständig unterwegs und im Stress, keine Lust auf Sex, er, ständig allein, mit ungestilltem Appetit.

Er gab sich Mühe, streichelte sie, ließ seine Hand über den Seidenstoff und darunter gleiten. Sie musste Helena recht geben, es war ein erotisches Gefühl. Ihre Brustwarzen verhärteten sich, als Dirk seinen Daumen über ihnen kreisen ließ. Das weckte ihre Lust.

»Wusste ich doch, dass du es auch willst«, murmelte er an ihrem Ohr.

Sie biss sich auf die Unterlippe, schob die aufkeimenden Gedanken beiseite. Stattdessen versuchte sie, mit ihren Bewegungen, ihrem Stöhnen den Prozess zu beschleunigen. Erleichtert atmete sie auf, als er kam.

»Mhm, das war schön. Ich liebe diese Unterwäsche schon jetzt. Du auch?«

»Ja.« Im Stillen zählte sie bis zwanzig, dann küsste sie ihn auf die Stirn. »Nicht einschlafen.« Dann stand sie auf.

Sie hatten tatsächlich keine Zeit mehr für ein Frühstück. Selbst ihren Tee musste sie zur Hälfte stehen lassen. Das Schminken war ungewohnt, und sie brauchte zwei Anläufe, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Bei der Visagistin sah immer alles einfach aus. Die Option, jeden Morgen eine halbe Stunde für eine Visagistin zu opfern, lehnte sie jedoch ab. Abgesehen von der Zeit, um die es ihr zu schade war, war sie dafür zu geizig. Auch wenn ihr Gehalt in Zukunft höher ausfiele, erschreckte es sie, wie rasch es durch die notwendigen Ausgaben wieder zusammenschmelzen würde. Allein ihre Ausstattung mit neuer Gardrobe hatte ein Vermögen verschlungen. Und das, obwohl sie bewusst auf Designermarken verzichtet hatte. Für sie standen Nachhaltigkeit und faire Herstellung der Kleidung im Mittelpunkt. Es kamen Marken aus der ganzen Welt zum Zug, ein weiterer Punkt, der ihr wichtig war.


»Bist du nervös?«

Dirk drückte ihre Hand. Sie hatte aus dem Fenster des Fahrzeugs geschaut. Enrico, einer der Personenschützer aus ihrer Zeit als Außenministerin, manövrierte die Limousine durch den dichten Berliner Verkehr. Für das letzte Stück bekamen sie eine Polizeieskorte. Sie beneidete die Beamten um ihre Motorräder. Bis zu Fabians Geburt war sie stolze Besitzerin einer der ersten Yamaha-YZF-R-1-Maschinen gewesen. Zwei Jahre hatte es gedauert, bis die Vernunft siegte und sie das Motorrad verkaufte. Dirk war nie ein Fan davon gewesen, dass sie Motorrad fuhr. Doch erst mit ihrer Mutterrolle fruchteten seine Maßnahmen, ihr immer wieder Artikel über verunglückte Fahrer unter die Nase zu halten.

»Nein. Aufgeregt – ja, und doch auch ein Stück wehmütig, muss ich gestehen.«

Kurz traf sich ihr Blick im Rückspiegel mit dem von Manuel. Er lächelte ihr aufmunternd zu. Enrico, der zweite Beamte im Auto, deutete auf eines der Motorräder und drehte sich ein wenig zu ihr um, da sie hinter ihm saß.

»Das wäre vermutlich Ihr bevorzugtes Gefährt.«

Sie grinste. »Die sportlichere Variante wäre mir lieber.«

Es berührte sie, dass er sich daran erinnerte. Sie hatte damals auf einem Flug gesehen, dass er ein Motorradmagazin las, und daraus war eine angeregte Diskussion über die aktuellen Modelle entstanden.

6

Sie hatten das Reichstagsgebäude erreicht. Gewohnheitsmäßig ging Sarahs Hand an den Türgriff, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Manuel war bereits ausgestiegen und öffnete ihr. Sie stieg aus, vergaß, dass sie zwei Schritte vorgehen sollte, und verdankte es nur dem Geschick des Beamten, dass sie nicht kollidierten.

»Tut mir leid.«

»Macht nichts, das wird ganz schnell wieder zur Routine. Bitte gehen Sie weiter.«

Kameras waren auf sie gerichtet, ein Blitzlichtgewitter hielt jede ihrer Bewegungen fest. Zwei weitere BKA-Beamte, die sie nicht kannte, gesellten sich zu ihnen, die die zugelassenen Presseleute aufmerksam im Auge behielten.

»Dirk …«

»Bin schon da.«

Dirk ergriff ihre Hand, und sie betraten zusammen das Gebäude. Ihre Personenschützer überließen den Beamten der Sicherheitspolizei im Gebäude des Bundestages ihre Aufgabe und zogen sich diskret zurück. Stehtische mit weißen Hussen und wunderschönen bordeauxfarbenen Tulpen gaben ein elegantes Ambiente für den kleinen Empfang ab, den man im Bundespräsidialamt für alle anwesenden Gäste und Abgeordneten von Bundestag und Bundesrat vorbereitet hatte.

Sarah begrüßte Marlies Grasser, die Ministerpräsidentin von Thüringen, die aktuell die Position der Bundesratspräsidentin innehatte und somit ihre Stellvertreterin war. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch. Marlies Grasser stellte ihr das Programm für ihren Antrittsbesuch in Thüringen vor, unter anderem eine Wanderung durch das grüne Band, den ehemaligen Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik, das als nationales Monument erhalten wurde, und eine Diskussionsrunde mit der Urbanistik-Studentengruppe der Weimarer Universität mit dem Thema »Soziale Brücken schaffen durch urbane Umstrukturierungen«. Sarah musste sich regelrecht von dem Gespräch losreißen, denn als Gastgeberin oblag es ihr, ihre Aufmerksamkeit gleichmäßig auf alle zu verteilen. Sie kam sich vor wie ein Schwamm, der alle Gespräche in sich aufsaugte. Ihre Trübsal vom Morgen, der Abschied von ihrem Haus für die nächsten fünf Jahre waren wie weggeblasen. Das hier war besser als jede Diskussion mit ihren Studenten. Es eröffnete so viele Aspekte, auf die sie außerhalb ihres Fachbereichs kein Auge mehr geworfen hatte und die gleichzeitig eine Rolle bei dem Themenschwerpunkt spielten, den sie sich für ihre Amtszeit vorgenommen hatte. Ihr wurde regelrecht schwindelig bei dem Gedanken, auf welches Fachwissen sie in Zukunft zugreifen konnte, welche Türen sich durch ihr Amt für sie öffneten. Nun ja, vielleicht mit Ausnahme der des Verteidigungsministeriums. Andererseits würde sie in Zukunft die Offizierinnen und Offiziere ernennen sowie die Unteroffizierinnen und Unteroffiziere. Es wäre auf jeden Fall sinnvoll, die Beziehung zu Ines Diepholz zu pflegen.

Dann wurde es Zeit. Zusammen mit dem Bundespräsidenten a. D. Jens Richter, seiner Ehefrau, Dirk, dem Bundeskanzler und dessen Frau gingen sie in einen separaten Raum, während die übrigen beim Empfang Anwesenden ihren Sitzen im Plenarsaal zueilten, wo die Vereidigung stattfinden würde.

»Zivile Konfliktbearbeitung – ist Ihnen bewusst, welche Auswirkungen es auf unser Land haben wird, wenn Sie dies in Ihrer Amtszeit in den Vordergrund stellen?« Richter warf ihr einen Blick zu, an dem sie seine Ressentiments ihr gegenüber deutlich ablesen konnte.

»Nun, ich hoffe, dass es eine Auswirkung hat und wir einen Diskurs im Land erleben.«

»Wissen Sie, wie viele Terroranschläge es in den letzten Jahren in den EU-Ländern und auch in Deutschland gab?«

»Ich muss gestehen, nein, denn ich bin nicht bereit, mich von Terroristen zwingen zu lassen, ihnen meine Aufmerksamkeit zu schenken. Denn das ist es, was sie bezwecken.«

»Sie sind nicht nur eine Idealistin, sondern auch noch vollkommen naiv. Typisch Frau.«

»Jens, bitte«, kam es leise von seiner Frau.

»Sie sind eine Gefahr für unseren Staat.«

»Veränderung verursacht immer Angst. Militärische Einsätze zu forcieren, ohne eine Zielsetzung und einen Endtermin, das empfinde ich als gefährlich. Es wird Zeit, dass wir Alternativen ins Auge fassen, uns Gedanken über die Zukunft eines Landes und dessen Konflikte machen, bevor wir dort einen militärischen Einsatz planen. Wie wollen Sie Frieden in einem Land schaffen, wenn Sie ein politisches Vakuum erzeugen, das sich dann nur mit Gewalt füllt?«

»Terrorismus kann man nur mit voller militärischer Härte begegnen. Sie müssen Grenzen ziehen und zeigen, dass mit uns nicht zu spaßen ist.«

»Gewalt erzeugt Gegengewalt, und es entsteht eine Gewaltspirale. Sie zu durchbrechen kostet viel Mut und bedeutet auch jede Menge Rückschläge. Meines Erachtens ist es jedoch der einzige Weg, der uns offensteht, um auch die Demokratie in unserem Land und den Frieden zu erhalten.«

»Erzählen Sie das einer Mutter, die ihre beiden Kinder beim Anschlag auf das Konzert von Miandou in Hamburg verloren hat.«

»Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Selbstverständlich bedeutet zivile Konfliktbearbeitung nicht, dass wir die Augen vor dem Schmerz und dem Verlust verschließen. Im Gegenteil – genau das ist ein Antrieb für den Prozess, denn solange wir Tod mit Tod vergelten, wird es immer Mütter auf der Welt geben, die ihre toten Kinder betrauern.«

»Treten Sie nach einem Anschlag vor die Trauergemeinde. Versuchen Sie, Worte des Trostes zu finden. Spüren Sie die Ohnmacht, den Zorn über die Sinnlosigkeit, mit der das Opfer gebracht wurde. Dann verstehen Sie, weshalb wir kein Mitgefühl für unsere Gegner empfinden dürfen und mit eiserner Hand durchgreifen müssen.«

Sarah konnte seine Position verstehen. Auch sie hatte die Hilflosigkeit und auch den Zorn verspürt. Sie wusste nicht, wie sie mit dem gewaltsamen Tod eines ihrer Kinder zurechtkommen würde, und hoffte, dass sie niemals in diese Situation geraten würde. Sowohl Fabian als auch Wiebke kamen in den Ländern, in denen sie arbeiteten, in heikle Situationen, und sie war jedes Mal froh, wenn sie wieder heil in Deutschland ankamen.

»Und das Einzige, was Sie mit Ihrem Kurs bewirkt haben, ist, dass sich die Fronten verhärten und das Verständnis für die Gegenseite gestorben ist. Statt eine Brücke zu bauen, haben Sie eine Kluft geschaffen, aus der weitere terroristische Anschläge hervorgehen werden.«

Zornig ballte Richter seine Faust, und Sarah hätte sich die Zunge abbeißen können. Wie konnte sie sich ausgerechnet heute dermaßen provozieren lassen, dass sie, statt souverän damit umzugehen, den Bundespräsidenten a. D. verbal attackierte?

»Herr Balkenhol, Herr Richter, Frau Heidkamp und Begleitungen, würden Sie bitte mitkommen?«, forderte sie einer der Parlamentsbediensteten auf.

Sie atmete tief durch, Richter straffte sich und kehrte ihr den Rücken zu. Der Bundeskanzler führte die Gruppe an. Direkt hinter dem Pult für die Stenografen waren vier Stühle eigens für sie aufgestellt worden. Nachdem der Kanzler seinen Platz im Block der Regierung eingenommen hatte, setzten sich alle zusammen mit dem Bundestagspräsidenten auf ihre Stühle. Konzentriert schaute Sarah nach vorn und ignorierte Richter.

Die Feier begann mit einer kurzen Ansprache von Georg Fuhrmann, der im Anschluss Marlies Grasser in ihrer Funktion als Bundesratspräsidentin das Wort erteilte. Den ersten Teil ihrer Rede widmete sie der Amtszeit von Jens Richter, hob die Marksteine hervor, zitierte aus seiner Trauerrede für die Opfer des Anschlags. Der nächste Teil galt der First Lady. Sarah kam es vor, als hätte diese mit der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einen humanitären Gegenpol zu den Amtshandlungen des Bundespräsidenten a. D. gebildet. Ihre Bewunderung für die scheidende First Lady stieg enorm. Danach wandte sich Marlies Grasser ihr zu, hob ihre Verbindungen zu den Wirtschaftsunternehmen, den öffentlichen und nichtöffentlichen Organisationen hervor, von denen sie im Rahmen ihrer Veranstaltungen als Sprecherin engagiert wurde. Eine Aufzählung ihrer wissenschaftlichen Arbeiten folgte, und Meilensteine in ihrem Lebenslauf wurden genannt, darunter auch ihr Amt als Außenministerin.

»Es ist beachtlich, welche Spuren Sie in ihrem Leben bereits hinterlassen haben, und damit meine ich vor allem Ihre wissenschaftlichen Abhandlungen, bei denen es immer wieder um Toleranz, gegenseitiges Verstehen, die Akzeptanz kultureller Unterschiede und gewaltfreie Kommunikation geht. Sie selbst waren für Letzteres ein Vorbild, als nach Ihrem Rücktritt die Presseschlammschlacht über Sie hereinbrach. Fair, ehrlich und offen sind Sie auf die Anschuldigungen eingegangen. Einerseits stürzte Ihr Rücktritt die Partei in eine Krise, worüber vor allem wir in der FDP uns gefreut haben.« Marlies Grasser wartete das Ausklingen des Gelächters ab. »Doch andererseits hat die Art, wie Sie damit umgingen, das Gegenteil bewirkt. Immerhin stellt Ihre frühere Partei heute den Bundeskanzler. Wie ein Phönix aus der Asche erhob sie sich. Das ist auch Ihr Verdienst, denn wie keine andere Politikerin standen Sie für den Wert von Integrität.«

Applaus brauste auf. Einige der Anwesenden erhoben sich. Sarah kämpfte mit den Tränen. Wie ärgerlich, sie konnte doch jetzt, an ihrem allerersten Tag im Amt, unmöglich heulen. Die Schlagzeilen, die daraus resultieren würden – nein, daran durfte sie nicht denken. Tapfer drängte sie die Tränen zurück und zauberte ein strahlendes Lächeln hervor. Dirk ergriff ihre Hand, führte sie an seinen Mund und küsste sie. Pfiffe ertönten. Der Bundestagspräsident rief zur Ruhe auf. Langsam verebbte der Applaus.

»Was viele jedoch vergessen, sind Ihre anderen Lebensrollen, die der Hausfrau, Ehefrau und Mutter. Für mich waren Sie vor allem als Mutter ein großes Vorbild. Wie schafft man es, einen anspruchsvollen Job mit der Familie unter einen Hut zu bringen? In erster Linie, indem Sie mit Ihrem Mann eine partnerschaftliche Ehe führen. Wer nun glaubt, Dirk Heidkamp würde zu Hause sitzen, der irrt. Er betreibt mit drei Partnern eine angesehene Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. In zweiter Linie, indem Sie das, worüber Sie lehren, in die Realität übertragen, es sozusagen mit Herz und Verstand leben. Ihr Sohn engagiert sich als Entwicklungshelfer vor allem in Asien. Ihre Tochter arbeitet in der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Ich freue mich bereits jetzt auf Ihre Amtszeit und die gesellschaftlichen Signale, die Sie national und international setzen werden. Es ist nur schade, dass wir in Zukunft nicht mehr wie bisher eine First Lady haben werden, die mit dem Präsidenten gemeinsam die Bürden des Amtes trägt.«

Daran hatte Sarah auch schon gedacht. Dirk wäre der zweite Ehepartner an der politischen Spitze, der seinen Job beibehielt. Es hatte für ihn gar nicht zur Diskussion gestanden, seinen Job ruhen zu lassen – und in Zukunft was zu machen? Seine Frau auf ihren Reisen begleiten? Den Vorsitz in karitativen Einrichtungen übernehmen? Aber wer sagte, dass es der Ehemann sein musste, der Schirmherrschaften übernahm?

Als Nächstes kam der scheidende Bundespräsident zu Wort. Jens Richter nahm Bezug auf aktuelle Ereignisse, mahnte, dass eine klare Linie darüber nötig sei, wie man in Zukunft mit der Gefahr des Terrorismus umgehen würde. Diese Worte waren natürlich an sie gerichtet. Richter bedankte sich bei seinen Mitarbeitern, hob die gute Zusammenarbeit mit den Regierungs- und Verfassungsorganen hervor. Zuletzt bedankte er sich bei seiner Frau. Das Publikum spendete zurückhaltend Applaus. Konnte sie das als Indikator für ihre Pläne deuten? Bedeutete es, dass auch die politischen Strömungen zeigten, dass man begriffen hatte, dass man Terror nicht mit noch mehr Einschränkungen der persönlichen Freiheit begegnen konnte? Dass ein Überwachungsstaat nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bedeutete und eine Gefahr für die Demokratie darstellte?

Dirk tippte sie an. Sie erhob sich, folgte dem Parlamentsdienst, der sie die Stufen zwischen Regierungsblock und Verwaltungsblock hoch führte. Zwei Mikrofone waren einander gegenüberstehend aufgebaut. An dem einen stand Georg Fuhrmann mit der aufgeschlagenen Urschrift des Grundgesetzbuches. Die Bundesratspräsidentin Marlies Grasser stellte sich hinter sie.

»Frau Bundespräsidentin, ich halte in meinen Händen die Urschrift des Grundgesetzes und darf Sie bitten, den in der Verfassung vorgesehenen Eid zu leisten.«

»Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.«

Klar und tragend war ihre Stimme. Jedes Wort fand in ihr Widerhall. Sie konnte eine Gänsehaut nicht unterdrücken. Still setzte sie ein Gebet hintenan: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.


Sie saßen in ihrem Amtszimmer in Schloss Bellevue. Von draußen hörte Sarah den Yorckscher Marsch, gespielt vom Stabsmusikkorps der Bundeswehr, von Ludwig van Beethoven 1809 für die böhmische Landwehr komponiert, heute der Marsch für das Wachbataillon des Bundesministeriums der Verteidigung, das für den protokollarischen Ehrendienst bei einem Staatsbesuch auf Schloss Bellevue eingeteilt war. Es bestand neben dem Stabsmusikkorps aus Repräsentanten aller drei Teilstreitkräfte des Militärs, des Heeres, der Marine und der Luftwaffe. Im Wachbataillon wurde strikt auf Äußerlichkeiten geachtet. Die Männer durften weder eine Brille, noch einen Bart tragen, und ihr Haar musste zwischen sechs und maximal zwölf Millimeter lang sein. Ines Diepholz als Bundesministerin der Verteidigung repräsentierte die höchste Kommandobehörde der Streitkräfte. In ihrer Begleitung würde Sarah die Ehrenformation abgehen, die heute Nachmittag nach dem Amtseid ihr zu Ehren angetreten war.

»Sind Sie so weit, Frau Bundespräsidentin?«

»Ja, Frau Diepholz.«

Die Frau stand da, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Es schien, als hätte sie sich von einer Politikerin in eine Soldatin zurückverwandelt. Selbst ihr Hosenanzug, glatt gebügelt und mit einer Falte, und die gestärkte weiße Bluse wirkten eher wie eine Uniform. Dagegen kam sich Sarah regelrecht leger angezogen vor, obwohl auch sie einen Hosenanzug trug. Sie gingen zum Eingangsportal. Ihre Personenschützer und die der Bundesinnenministerin hatten sich draußen verteilt. Nur je eine Kraft war mit ihnen im Haus verblieben.

»Darf ich fragen, mit welchem Dienstgrad Sie aus der Bundeswehr ausgeschieden sind?«

»Hauptfeldwebel.«

»Zu welcher Teilstreitkraft gehörten sie?«

Ein dünnes Lächeln erschien auf den Lippen der Bundesverteidigungsministerin. »Zum Heer, dem Militärischen Abschirmdienst, um genau zu sein, kurz MAD.«

»Sie haben das Bundesministerium der Verteidigung mit Nachrichten aus anderen Ländern versorgt?«

»Korrekt.«

Gemeinsam traten sie aus der Tür.

Ines Diepholz im Auge behaltend, ohne dass dies gar zu offensichtlich war, imitierte Sarah deren Haltung und Gestik. Beinahe hätte sie sogar ihre Handkante an die Stirn gebracht, bremste sich jedoch im letzten Augenblick. Zusammen mit dem Kommandeur, Oberstleutnant Geisler, schritten sie die Treppe hinunter. Er führte sie zu dem kleinen roten Podest, der Weg immer eine strikt eingehaltene gerade Linie mit rechtem Winkel. Auf das Kommando ihres Vorgesetzten wandten die Soldaten die Augen und präsentierten die Gewehre in einer raschen Abfolge. Die Gleichmäßigkeit des Klackerns der Gewehre zeugte von der Präzision, mit der das ganze Wachbataillon die Bewegungen absolvierte. Es war höchst beeindruckend, musste sich Sarah widerstrebend eingestehen. Der Offizier, der das Wachbataillon angeführt hatte, trat zu ihnen.

»Exzellenzen, ich melde die Ehrenformation der Bundeswehr zum Amtsantritt der Bundespräsidentin angetreten. Es meldet Oberst Wiezoreck.«

Es war das erste Mal, dass die deutsche Nationalhymne zu ihren Ehren gespielt wurde. In Gedanken sang Sarah den Text mit und bekam eine Gänsehaut. Ein ergreifender Moment, der ihr die Verantwortung für das deutsche Volk und die Worte ihres Amtseides ins Gedächtnis rief. Gemeinsam mit der Bundesministerin der Verteidigung trat sie vom Podium, schritt zum roten Teppich. Ein neuer Marsch wurde angespielt. Kaum hörte sie die ersten Töne, holte eine Flut von Kindheitserinnerungen sie ein. Das Lied gehörte zum Standardrepertoire auf Schützenfesten in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Als kleines Mädchen war sie oft neben dem Tambourmajor hermarschiert und hatte seine Bewegungen nachgeahmt. In ihrer Fantasie spielte die Musikkapelle dann nach ihren Vorgaben. Doch je älter sie wurde, desto mehr verlor das Schützenfest seinen Reiz für sie. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal auf einem gewesen war.

Gemessenen Schrittes gingen sie über den roten Teppich am Stabsmusikkorps vorbei, vollführten ein scharfes Linksum, das Ines Diepholz perfekt gelang, wohingegen es bei ihr eher einer Drehung glich. Sie neigte den Kopf. Diepholz als ehemalige Soldatin salutierte. Eine zweite Wendung, und sie schritten im Takt der Musik die restliche Ehrenformation, bestehend aus 220 Mann, aufgestellt in drei Reihen, ab. Als sie das Ende erreichten, wendeten sie, bevor sie den roten Teppich hinter sich ließen und gemeinsam zur Presse hinüberschritten, wo sich auch Dirk mit seinen und ihren Eltern sowie ein paar weiteren Gästen aufhielt. Ihre Personenschützer rückten dichter heran, kaum dass sie in die Nähe der Besucher und der Presse kam, obwohl alle handverlesen worden waren. Sie wusste, dass diese Wachsamkeit nicht allein ihr galt, sondern auch dem obersten Führungsstab des Militärs.

»Oberst Klaus Meissner ist Ihr Verbindungsoffizier und Berater in allen militärischen Belangen«, stellte ihr Ines Diepholz den Mann vor, der ihr die Hand reichte. »Er wird Sie auch auf Auslandsbesuchen begleiten.« Er überragte sie nur um wenige Zentimenter, war aber definitiv kleiner als Fabian mit seinen ein Meter achtzig. Die Uniform betonte seine breiten Schultern, ließ aber ansonsten wenig Schlüsse auf den darunter befindlichen Körper zu. Sein Gesicht war wie das aller Soldaten frisch rasiert, die Haare wenige Millimeter kurz geschnitten.

»Mir ist bewusst, dass mir vieles, was das Militär betrifft, fremd ist. Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass ich mich in Anwesenheit des Ehrenbataillons mit den zur Schau gestellten Waffen wohlfühle. Aber entgegen meiner Befürchtung fühle ich mich nicht bedroht, sondern respektiert. Ich denke, dass ich die Geste, die hinter der Symbolik liegt, zu begreifen beginne. Sie zeigt Stärke und Furchtlosigkeit, das Einstehen für unser Land, für die Demokratie. Wenn ich Ihnen in Zukunft viele Fragen stelle, dann geschieht es, weil ich alles verstehen möchte. Ich bitte Sie daher um Geduld mit mir.«

In seinen klaren blauen Augen sah sie Anerkennung, wenn auch gepaart mit einer gewissen Distanziertheit. Sarah konnte ihm das nicht verdenken. Immerhin trafen hier zwei Welten aufeinander. Sie hatte sich jedoch fest vorgenommen, keine Kluft entstehen zu lassen, sondern vielmehr eine Brücke zu bauen.

»Je mehr Fragen Sie stellen, desto bessere Antworten kann ich Ihnen liefern.«

»Ich würde gern den Wald der Erinnerung besuchen und am Ehrenmal einen Kranz niederlegen.«

»Ich werde einen Termin mit Ihrem Büro absprechen.«

»Vielen Dank.«

Während zwei ihrer Personenschützer vorausgingen, schlossen die anderen hinter ihr auf, als sie in Begleitung von Dirk und den militärischen Ehrengästen die Treppe zu ihrem Amtssitz hinaufging. Zeit, sich besser kennenzulernen.

7

Sie schlich auf Zehenspitzen über den Parkettboden. Es knarzte. Sie verharrte, hielt den Atem an.

»Sie können ruhig Licht machen und normal gehen, Frau Bundespräsidentin.«

Sarah hörte förmlich das Schmunzeln in der Stimme des BKA-Beamten. Sie seufzte. »Ich wollte niemanden wecken.«

»Wenn ich von Ihnen geweckt würde, bewiese das eine sträfliche Vernachlässigung meiner Aufgaben.«

»Wie heißen Sie?«

»Kriminalhauptkommissar Würth.«

»Ich meine mit Vornamen.«

Er zögerte. »Matthias.«

Sie ging zu ihm, reichte ihm die Hand. »Hallo Matthias, ich bin Sarah.«

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Frau Bundespräsidentin, aber …«

»Wir verbringen die nächsten fünf Jahre miteinander. Sie werden mehr Einblick in mein Privatleben erhalten als jeder andere, mit Ausnahme meiner Familie.«

»Worüber ich selbstverständlich Diskretion wahren werde.«

»Davon gehe ich aus, sonst hätte Oliver Sie nicht für den Posten ausgewählt. Aber wenn Sie mich schon mitten in der Nacht im Jogginganzug beim Herumschleichen erwischen, ist eine Anrede mit Vornamen doch zumindest außerhalb der Öffentlichkeit angebracht, finden Sie nicht?«

Er grinste und nickte.

»Darf ich Sie um Ihre Hilfe bitten?«

»Dafür bin ich hier.«

»Sie sind hier, um auf meine Sicherheit zu achten, nicht um mir den Weg zum Kühlschrank zu zeigen.«

»Ah.« Er hob vieldeutig die Augenbrauen.

»Nichts ›ah‹. Es ist normalerweise nicht meine Art, nachts in der Küche herumzuschleichen, aber heute brauche ich einfach noch etwas.«

»Zurück zur Treppe, die ins Erdgeschoss führt, den Flur rechts entlang und dann die zweite Tür auf der rechten Seite. Soll ich Gertrud wecken?«

»Auf keinen Fall!«, stieß Sarah entsetzt aus. »Ich kann mir selbst etwas machen.«

Matthias beugte sich ein Stück nach vorn. »Wenn Sie Gertrud glücklich machen möchten, lassen Sie sich von ihr verwöhnen«, sagte er, wobei er konspirativ die Stimme senkte. »Sie liebt das, aber dafür kann sie es gar nicht leiden, wenn jemand in ihrem Reich etwas umordnet. Ich schwöre Ihnen, sie merkt es sogar, wenn nur ein Zuckerklümpchen fehlt.«

»Wollen Sie mir sagen, dass Sie als mein Personenschützer alles sehen, aber nicht wissen, wie Sie unbemerkt ein Zuckerklümpchen stibitzen können?«

Das vielsagende Grinsen in seinem Gesicht brachte ein deutliches Grübchen in seiner linken Wange hervor.

»Danke für den Rat, ich werde ihn beherzigen.«

Sarah ging zurück zur Treppe und schlug den Weg zur Küche ein. In der fünften Schublade fand sie endlich den Honig. Sie nahm die Mandelmilch aus dem Kühlschrank und holte zielsicher einen Topf aus der Schublade unter dem Herd hervor. Für den Becher musste sie sich wiederum auf die Suche begeben.


Oliver beobachtete, wie Sarah das Dokument las und Stellen darin mit einem gelben Leuchtstift markierte. Sie bewies ein hohes Lesetempo, und er fragte sich, ob sie wirklich verstand, was er geschrieben hatte, oder es nur überflog. In ihrer Zeit als Außenministerin hatte sie die Leute um sich herum häufig mit ihrem Wissen überrascht, nicht nur, was die geschichtlichen und kulturellen Hintergründe von Ländern betraf, die sie besuchten, sondern auch den persönlichen Hintergrund des betreffenden Repräsentanten. Seiner Meinung nach war das einer der Gründe für ihren Erfolg als Bundesaußenministerin gewesen. Ihre Gesprächspartner fühlten sich von ihr wahrgenommen und wertgeschätzt. Auch heute, bei der Besprechung, war ihm aufgefallen, dass sie jeden einzelnen Teilnehmer mit Namen angesprochen hatte, und die Wirkung blieb nicht aus.

Ein paarmal blickte sie auf, sah ihn mit diesen leuchtend blauen Augen an, ohne ein Wort zu sagen. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Es war ihr erster Arbeitstag im Amt. Der Terminplan für die nächsten Wochen stand, und die Details zwischen BKA-Sicherungsgruppe und Bundespräsidialamt waren abgeklärt. Die betroffenen Polizeiämter befanden sich in der Vorbereitungsphase. Bei den Vor-Ort-Terminen waren Spezialisten des Bundeskriminalamts bereits dabei, die Örtlichkeiten zu besuchen. Fahrtrouten plus Alternativen wurden ausgearbeitet. Jede erhielt eine Risikoklassifizierung. Jede Person, die der Bundespräsidentin nahe käme, wurde im Vorfeld auf das Genaueste überprüft. Sie alle hatten aus der Vergangenheit gelernt. Bisher gab es keine Warnungen über eine Bedrohung ihrer Person, lediglich die allgemeinen, die für jede der Schutzpersonen galt. Er hoffte, dass es so bliebe. Allerdings befürchtete er, dass Sarah ihr Programm in die Realität umsetzen würde. Das bedeutete viele Reisen in die Krisengebiete der Welt. In dem Fall kam jede Menge Arbeit auf sie alle zu. Vorsicht war besser als Nachsicht, deshalb hatte er das Dokument zusammengestellt. Er hoffte, ihr damit eine klare Grenze zu setzen und ihr bewusst zu machen, welche Sicherheitsrisiken ihr Amt beinhaltete.

Andächtig legte sie den Leuchtstift beiseite, faltete die Hände und betrachtete ihn lange schweigend. Er erwiderte ihren Blick. Er würde den Teufel tun, sich von ihr verunsichern zu lassen. Immerhin war er der Profi.

Schließlich schenkte sie ihm ein Lächeln. »Ist das ein Standarddokument über Sicherheitsvorkehrungen, wie es jeder Bundespräsident bekommt?«

»Teils, teils.«

»Es steckt viel Arbeit darin.«

»Ihre Sicherheit ist mein Job.«

»Danke für die sensible Auswahl meiner Personenschützer.«

»Auch das ist mein Job.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Wäre es unverschämt, Sie um etwas zu bitten?«

Er rutschte zur Stuhlkante vor, wusste, dass er seine volle Konzentration brauchte, um nicht in eine ihrer verbalen Fallen zu tappen.

»Das kommt auf Ihre Bitte an.«

»Wäre es möglich, ergänzend einen weiblichen Personenschützer ins Team zu integrieren?«

»Es gibt nur wenige Frauen in unserer Gruppe. Darf ich fragen, weshalb? Fühlen Sie sich unwohl mit einem der Männer?«

»Nein. Wissen Sie, weshalb in Nordrhein-Westfalen und inzwischen auch in anderen Bundesländern bei Fußballspielen wieder die Reiterstaffel der Polizei etabliert wurde?«

In seinem Kopf ratterte es. Was beabsichtigte sie mit dieser Frage? Wo lag der Knackpunkt für die Beantwortung? Dann machte es Klick. Er lächelte, entschied, besser ihr die Antwort zu überlassen.

»Nein.«

In ihren Augen blitzte es vergnügt. Oh ja, sie wusste, dass er sie durchschaut hatte.

»In angespannten Situationen haben Pferde eine deeskalierende Wirkung. Im Gegensatz zu Hunden sind sie Fluchttiere, keine Raubtiere, weshalb sich Menschen von ihnen nicht bedroht fühlen. Dennoch erzeugen sie durch ihre Größe Respekt. Außerdem können Pferde noch viel sensibler als Hunde Körpersprache wahrnehmen. Sie reagieren rascher auf mögliche Gefahren und sind damit sozusagen ein Frühwarnsystem für die Person auf ihrem Rücken. Außerdem kommen manchmal Plaudereien und Gespräche auf, einfach durch die Anwesenheit der Pferde. Die Polizei wird eher als Freund und Helfer wahrgenommen.«

»Dann war das offensichtlich eine sinnvolle Entscheidung.«

»Weibliche Personenschützer sollen eine ähnliche Wirkung ausüben.«

»Auch unsere Beamtinnen sind ausgebildet und genauso fähig, in bedrohlichen Situationen die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.«

»Eben. Das wissen wir beide.«

»Ich schaue, was sich machen lässt. Gibt es von Ihrer Seite eine Präferenz, wen Sie im Team austauschen möchten?«

Ihr Lächeln verschwand. Sie seufzte. »Nein. Würde das einer Strafe gleichkommen?«

»Jeder im Team hat sich selbst für den Job gemeldet und ist Personenschützer mit Leib und Seele.«

»Das ist keine Antwort.«

»Was denken Sie?«, übernahm er die Gesprächsführung.

»Ich muss zugeben, ich hatte Sie nicht so wortgewandt in Erinnerung.«

Er schmunzelte. »Ich nehme das als Kompliment aus Ihrem Mund.«

»Das ist es auch. Versuchen Sie bitte, eine Frau zu finden, und ich werde mit demjenigen, den Sie austauschen, persönlich sprechen und ihm meine Gründe ausführen.«

»Das wird nicht nötig sein.«

»Ich möchte es aber.« Sie blätterte zurück auf die erste Seite, ließ ihre Schultern kreisen. »Ein paar Punkte, die Sie darlegen, verstehe ich nicht. Hätten Sie die Zeit, sie mir zu erklären?«

»Selbstverständlich. Ich stehe Ihnen jederzeit für alle Ihre Fragen zur Verfügung.« Er hob den linken Arm an, zog den Jackettärmel zurück, schaute auf seine Armbanduhr. »Ihre ist leider begrenzt. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie in einer knappen Stunde einen Termin mit den Richtern des Obersten Verwaltungsgerichts. Im Anschluss daran folgt ein Mittagessen mit dem Bundeskanzler und …«

»Dann sollten wir keine Zeit verschwenden. Was meinen Sie genau mit ›Liste aller persönlichen Kontaktpersonen, die Sie möglicherweise in der Villa besuchen wollen‹?«

Ab jetzt war Fingerspitzengefühl gefragt. Bewusst hatte er bei der Formulierung der Punkte darauf geachtet, alles aussehen zu lassen, als sei es reine Routine. Das war ganz und gar nicht der Fall. Ohne ihre Bereitschaft, mitzuspielen, und selbst mit ihr, bewegte er sich hart an der Grenze der Datenschutzbestimmungen.

»Die vorhergehenden Amtsinhaber stellten uns eine Besucherliste zur Verfügung. Es ist am einfachsten, wenn wir im Vorfeld wissen, wer Sie privat besuchen möchte und wann diese Besuche geplant sind.«

»Was ist mit spontanen Besuchen? Womöglich gar Überraschungsbesuchen?«

Er schwieg.

»Sie möchten neben den beruflichen Terminen wirklich jeden privaten wissen?«

»Anfangs kann es für Freunde und Verwandte etwas seltsam sein, wenn sie durch eine Kontrolle müssen, bevor sie die Villa betreten, oder es kann sie irritieren, dass sich immer einer von den Beamten im Haus aufhält. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir durch die Vorabklärung solche Unannehmlichkeiten in Grenzen halten können. Ja, die Prozesse finden dann sogar nahezu unsichtbar im Hintergrund statt.«

»Mhm. Das ist sicherlich eine sinnvolle Vorgehensweise. Ich gestehe jedoch, dass ich mich überaus gern überraschen lasse. Wenn mein Berufsleben in Zukunft durchstrukturiert und abgesprochen ist, wäre es für mich eine Wohltat, wenn Sie mir in meinem Privatleben ein wenig mehr Luft geben.«

»Fühlen Sie sich eingeschränkt?«

»Ja, absolut. Mir ist klar, dass Sie nur Ihren Job machen und Überraschungsbesuche als Risiko einstufen. Mir jedoch bereiten diese unglaublich viel Freude. Meine Kinder bringen oft Freunde und Freundinnen zu Besuch mit, die ich nicht kenne, und es wäre schade, wenn sie damit aufhören würden.«

Allein bei dem Gedanken bekam er schlechte Laune. Während Fabian nur wenige Freunde hatte, wechselte Wiebke ständig ihren Freundeskreis. Jedenfalls war es bei ihr als Teenager so gewesen, und die Rückmeldungen der Beamten ließen durchblicken, dass sich das nicht geändert hatte. Eher im Gegenteil. Social Engineering war das größte Sicherheitsrisiko, mit dem sie in ihrer Arbeit konfrontiert wurden, sei es, dass jemand über eine geschäftliche Beziehung im Unternehmen von Dirk Heidkamp Informationen zusammentrug oder über die Kinder. Wiebke mit ihrem wechselnden sozialen Umfeld bot dabei die größte Angriffsfläche, zumal bei dem nahen Verwandtschaftsverhältnis zur Bundespräsidentin. Würden sich Mutter und Tochter nicht verstehen, wäre es leichter. Das Gegenteil war der Fall. Wiebke arbeitete in der Abteilung »Ziviler Friedensdienst« und war in dieser Funktion bereits in Afghanistan, Israel und dem Jemen unterwegs gewesen.

Ihr Gespräch ging in gleicher Art weiter. Sarah nutzte jede Minute, pickte jeden kritischen Punkt heraus, den er sorgsam zu verbrämen versucht hatte. Sie verhandelte zäh, und er sah sich gezwungen, um jeden Zentimeter zu kämpfen. Er war froh, als es an der Tür klopfte und nach Sarahs Aufforderung ihre Staatssekretärin Katja Roth eintrat. Sie war als die Meisterin der Zeit bekannt. Schließlich hatte sie dafür gesorgt, dass Sarahs Vorgänger im Amt nie zu spät zu einem Termin gekommen war, obwohl er ein mangelhaftes Zeitgefühl besaß.

Brav erhob er sich von seinem Platz. »Frau Bundespräsidentin, Ihr nächster Termin.«

»Ja, ich weiß. Danke für Ihre Erinnerung. Da Sie gerade hier sind, Katja, wären Sie so lieb und würden Herrn Lindner in dieser Woche ein weiteres Zeitfenster von einer Stunde einräumen? Sie können es auch gerne nach der offiziellen Bürozeit planen, da mir Herr Lindner versicherte, er stehe mir jederzeit zur Verfügung.«

Er räusperte sich. »Ich denke, wir sind die meisten Punkte bereits durchgegangen. Wenn Sie unterschreiben, können wir die notwendigen Schritte einleiten.«

Sarah erhob sich, schenkte ihm ein charmantes Lächeln. »Tut mir leid, Oliver, aber das müssten Sie noch von früher wissen. Ich unterschreibe kein Dokument, solange mir nicht sein gesamter Inhalt mit allen Konsequenzen klar ist.« Sie nahm das Papier, wedelte kurz damit durch die Luft. »Und hier geht es immerhin darum, wie selbstbestimmt ich mein Leben in den nächsten fünf Jahren führen kann.«

»Wie Sie meinen. Frau Bundespräsidentin. – Frau Roth.«

Mist, Mist, Mist, fluchte er im Kopf vor sich hin. Er hätte es gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen anbringen müssen.

Sein Smartphone klingelte, und er nahm den Anruf an.

»Und? Hat Sie unterschrieben?«, wollte Nicolas wissen.

»Nein. Sie will vorher noch die offenen Fragen mit mir durchgehen.«

»Sie hat es sich durchgelesen?«

»Komplett, und jeden Satz gelb markiert, zu dem sie Fragen hat.«

»Jeden?«

»Jeden.«

»Zum Beispiel?«

»Alles, was uns das Leben zur Hölle macht.«

»Hat sie schon gesagt, welche Reisen sie plant?«

»Nein.«

»Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«

Oliver seufzte, rieb sich mit der Hand seinen kurzrasierten Nacken.

»Ich befürchte, ein schlechtes.«

»Was ist mit ihrer Tochter?«

»Darum kümmere ich mich als Nächstes. Ich habe sie zum Mittagessen eingeladen, um auf neutralem Boden zu sein.«

»Mach ihr klar, welches Amt ihre Mutter innehat und dass sie auch privat die Bundespräsidentin ist – wenn nicht für sie, dann für jeden anderen, den sie mit nach Hause bringt.«

»Das wird ihr nicht gefallen.«

»Setz deinen Charme ein und lass mich heute wenigstens eine gute Nachricht hören.«


Er war noch nie pünktlich empfangen worden. Eduard Graf wartete geduldig. Das war eine Form von Respekt, die ihm gegenüber der Stellung seines Gesprächspartners abverlangt wurde. Die Tür öffnete sich, und er wurde vom Sekretär hereingebeten. Mit ehrerbietiger Begrüßung trat er ein.

»Eure Exzellenz.«

Der Mann im schlichten, aber exklusiv angefertigten silbernen Anzug, der hinter seinem ausladenden Schreibtisch und den Fahnen beinahe unterging, winkte ab.

»Lassen wir die Höflichkeitsformeln für heute ruhen. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet.« Seine Stimme klang dunkel und tief. Sein Deutsch war akzentfrei mit Ausnahme des leicht gerollten »R«.

»Ich danke Ihnen, doch ist es nicht allein mein Verdienst, sondern unserer.«

Sein Gegenüber zeigte ein feines Lächeln. »Wie auch immer, wir haben uns große Sorgen um unsere Handelsbeziehungen gemacht. Sind Sie sicher, dass Frau Heidkamp nicht ebenfalls eine Gefahr darstellt? Ich kenne Sie von verschiedenen Symposien. Sie ist eine inspirierende Rednerin und kann ihre Thesen hervorragend veranschaulichen.«

»Im Gegensatz zu Uhland will sie Deutschland nicht international isolieren. Und die Freiheit der Bevölkerung, freier Handel und Datenschutz liegen ihr am Herzen. Das wiederum kommt uns zugute. Und um zu ihren Thesen Stellung zu nehmen – sie sind genau das: Thesen. Wir beide wissen, wie wir dafür sorgen können, dass die zivile Konfliktbearbeitung nicht funktioniert. Dafür liefern wir Ihnen die Waffen.«

»Es ist immer wertvoll, wenn eine Idealistin das Gefühl hat, sie trage dazu bei, die Welt ein Stück weit besser zu machen. Sie sollten mit viel Fingerspitzengefühl vorgehen. Wir beide sind daran interessiert, dass die Konflikte im Nahen Osten nicht entschärft werden. Ihre Industrie ist auf unsere Erdöllieferungen angewiesen.«

»Mit Verlaub, die COG hat Ihnen ein Angebot unterbreitet. Hatten Sie bereits Gelegenheit, es zu prüfen?«

»Alles zu seiner Zeit.«

Es kostete Eduard Graf viel Selbstbeherrschung, sein freundliches Lächeln beizubehalten. Es war immer dasselbe mit seinen Verhandlungspartnern. Man durfte ihnen nie über den Weg trauen. Nun, er würde eben den Preis für die nächste Lieferung um ein paar Prozentpunkte anheben.

»Wie haben Sie es geschafft, dass Hendrik Raab zurücktrat?«

Diesmal umspielte Grafs Lippen ein ehrliches Lächeln. »Er ist ein Mann mit speziellen Interessen. Wenn man versteht, was den anderen antreibt, welche Bedürfnisse er hat, ist es leicht, ihm das Gefühl zu geben, er träfe eine eigene Entscheidung, auch wenn es keine ist. Ich denke, Hendrik Raab fühlt sich in seiner Rolle als Märtyrer pudelwohl.«

»Ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass Geld auch in Ihrem Land am Ende die Politik bestimmt.«

8

Oliver tauschte den Anzug gegen Jeans und Sweatshirt. Er nahm auch gleich seine Sporttasche mit, kein Grund also, vom Restaurant aus noch einen weiteren Umweg über zu Hause einzulegen. Fünf Minuten vor der Zeit traf er ein. »Green Health« war eines dieser typischen kleinen Restaurants in Berlin Mitte und strahlte den Geschmack seiner passionierten Besitzerin aus. Die mit naturfarbenen Polstern ausgestatteten Euro-Paletten in Pastelltönen waren viel gemütlicher, als es erst den Anschein hatte. Blumen und Grünpflanzen setzten nicht nur Akzente, sondern trennten die einzelnen Sitzgelegenheiten voneinander. Ein angenehm frischer, zitroniger Duft lag in der Luft, der ihn direkt wacher werden ließ und die Erschöpfung der letzten Arbeitstage, die mal wieder lang gewesen waren, wegwischte. Das Publikum war bunt gemischt. Von Künstlern über Touristen bis zu Geschäftsleuten war alles vertreten. Mit seinen 42 Jahren zählte er hier zum älteren Publikum.

Eine Kellnerin mit langen schwarzen Haaren, die sie mit einer Klammerspange zu einem Pferdeschwanz hochgesteckt hatte, kam freundlich lächelnd zu ihm und legte ihm die Speisekarte hin.

»Darf ich dir etwas zu trinken bringen?«

»Was würdest du mir empfehlen?«

Es war typisch für diese Art von Restaurants, dass man die Gäste duzte. Berlin mit seinem internationalen Flair hatte ein paar angelsächsische Marotten übernommen. Trotzdem klang es in seinen Ohren seltsam, wenn er von einem jungen Mädchen geduzt wurde, das er nicht einmal kannte.

Die junge Frau betrachtete ihn prüfend. »Machst du heute noch Sport?«

»Sehe ich so aus?«

»Ja. In dem Fall würde ich dir den Mandelmilch-Chai empfehlen. Die Gewürze wärmen von innen, und die Mandelmilch liefert dir wertvolle Proteine.«

»Den nehme ich auch. – Hi, Oliver.«

Er stand auf. Bevor er reagieren konnte, hatte Wiebke ihn umarmt und drückte ihm rechts und links einen Kuss auf die Wange. Die Kellnerin verschwand.

»Eine ungewöhnliche Location-Auswahl für dich. Vegan? Warst du nicht immer ein erklärter Fleischfan?«

»Bin ich auch noch.«

»Oh, dann hast du die Auswahl für mich getroffen. Da sind deine Informationen aber falsch. Mama ist diejenige in der Familie, die auf vegan umgestellt hat.«

»Möchtest du woanders essen gehen?«

»Nein, ich mag das vegane Essen genauso wie chinesisches, mexikanisches, indisches und was es sonst noch alles in Berlin gibt.«

Wiebke nahm die bunte Strickmütze vom Kopf und zog ihre Daunenjacke aus. Das dunkelgrüne Strickkleid hing locker herab. Es ging ihr bis zu den Knien. Eine dicke, gemusterte Strickstrumpfhose und warme, braun gefütterte Winterstiefel ohne Absatz in rustikalem Stil rundeten ihr Outfit ab. Sie besaß das gleiche dichte blonde Haar wie ihre Mutter, nur eine Spur dunkler. Allerdings trug sie es kurz, was ihrem eckigen Gesicht einen frechen Anstrich gab. Die kaffeebraunen Augen blitzten noch ebenso lebhaft, wie er es aus ihrer Jugend in Erinnerung hatte. Dichte Wimpern und der volle Mund, beides von ihrer Mutter geerbt, gaben ihrem Gesicht weibliche Sinnlichkeit. Ein interessanter Kontrast. Wiebke war weder eine Schönheit, noch besaß sie Sex-Appeal, und doch hatte sie eine Ausstrahlung, die einem Mann das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Wie ihre Mutter trug sie keinerlei Schmuck.

»Du bist immer noch rot im Gesicht«, stellte sie amüsiert fest.

»Das kann passieren, wenn einen ein junges Mädchen unerwartet küsst.«

»Ich bin kein Mädchen mehr.«

»In meinen Augen schon.«

»Das liegt nur daran, dass du deinen Job viel zu ernst nimmst. Was sind heute schon achtzehn Jahre Altersunterschied?«

»Du solltest aufhören, mit mir zu flirten.«

»Warum?«

Er seufzte tief und war dankbar, dass ihm die Kellnerin, die den Tee brachte, eine Pause bescherte. Das Gespräch konnte schwieriger werden als erwartet.

»Habt ihr euch entschieden, was ihr essen wollt, oder soll ich später noch mal kommen?«

»Wiebke?«

»Ich nehme das Tagesgericht, die Gemüsequiche.«

»Für mich bitte die Pasta Alfredo.«

Die Kellnerin zog ab. Wiebke stützte das Kinn auf ihren Handballen und betrachtete ihn mit einem verschmitzten Grinsen.

»Also, welchem Umstand verdanke ich die spontane Einladung zum Essen? Sag nicht, du gehörst wieder zu Mamas Personenschützern.«

»Ich bin ihr Sicherheitschef und agiere im Hintergrund.«

Sie riss die Augen auf. »Ehrlich?«

Er nickte.

Sie lachte, fing sich wieder. »Du musst echt eine masochistische Ader haben.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, erklärte er würdevoll und fragte sich, wie es kam, dass er sich in der Defensive befand, statt die Unterhaltung zu führen.

»Okay, also ist das hier ein Arbeitsessen.«

»Sozusagen. Hast du das Sicherheitsdossier gelesen, das wir dir geschickt haben?«

»Selbstverständlich. Allein aus beruflichem Interesse. Immerhin beschäftigen wir uns in meinem Bereich auch mit der Sicherheit von Menschen, nur ohne dass Gewalt ins Spiel kommt.«

»Wir wenden auch keine Gewalt an.«

»Ihr tragt Waffen.«

»Und wir benutzen sie, wenn es notwendig ist – ja.«

»Wir nicht.«

»Was ich für bedenklich halte.«

»Also gehörst du zu denjenigen, die das Konzept der zivilen Konfliktbearbeitung ablehnen und stattdessen lieber mit Drohnen Bomben auf die Menschen fallen lassen.«

»Nein. Ich meine nur, dass es Situationen gibt, in denen das Leben meiner Schutzperson gefährdet ist, und meine einzige Chance, sie zu retten, darin besteht, die Waffe zu ziehen und zu gebrauchen.«

»Ich verstehe, warum Mama gerade in einer Krise steckt. Sie kann nicht verhindern, dass sie als Bundespräsidentin unter Personenschutz steht. Gleichzeitig widerspricht das dem Konzept, das sie den Entscheidungsträgern nahebringen möchte. Eine echte Zwickmühle.«

»Und dich betrifft das gar nicht?«

»Es ist ja das Amt, das Personenschutz erfordert. Er erstreckt sich nicht auf die Familienangehörigen. Ich bin vor langer Zeit von meinen Eltern weg in eine eigene Wohnung gezogen.«

»Du weißt, dass wir es ein wenig anders handhaben.«

»Ja, das stand in dem Dossier drin, und auch, dass wir nächstes Wochenende an einem Sicherheitstraining teilnehmen sollen. Wird bestimmt spannend, unsere Konzepte zu vergleichen.«

»Du wirst feststellen, dass es viele Parallelen gibt.«

»Ist das der Grund für dieses Essen? Du willst sicherstellen, dass ich daran teilnehme?«

»Nein.«

»Dann hängt es mit Samar zusammen?«

Oliver lächelte schwach.

Wiebkes Mitbewohnerin Samar Haddad war Syrerin und bekennende Muslimin. Sie engagierte sich in der JUMA, was für »jung, muslimisch, aktiv« stand, eine Gruppierung, die muslimisches gesellschaftliches Engagement sichtbar machte. Gleichzeitig war sie auch Wiebkes Arbeitskollegin.

»Deine Mitbewohnerin ist clean.«

»Langsam machst du mich wirklich neugierig.«

»Und hier sind die Pasta Alfredo und die Gemüsequiche. Darf ich euch dazu noch etwas Erfrischendes zu trinken bringen? Eine Ingwer-Zitronen- oder Holunderblüten-Schorle?«

»Ingwer-Zitrone hört sich lecker an, die nehm ich«, verkündete Wiebke.

»Ich schließe mich an.«

Das Essen sah lecker aus. Der Chai war aromatisch und wärmend gewesen. Oliver betrachtete die Frau, die ihm gegenüber saß und die ihm echtes Kopfzerbrechen bereitete. Auch wenn sie es nicht explizit gesagt hatte, war ihre Botschaft zwischen den Zeilen sehr deutlich gewesen: Keine Personenschützer für mich. Waren Wiebkes Wangen zuvor noch von der Kälte blassrosa gewesen, leuchteten sie jetzt kirschfarben. Das ließ ihre kaffeebraunen Augen noch intensiver leuchten. In ihnen lag ein leicht amüsierter Blick, als wüsste sie genau, was in seinem Kopf vorging. Sie war selbstbewusst, aufmerksam und ein Sturkopf. Das konnte ja heiter werden. Er widmete sich seinem Essen und ließ sie eine Weile zappeln. Der Teenager Wiebke war nie geduldig gewesen.

»Du lässt mich am ausgestreckten Arm verhungern.«

Er deutete mit der Gabel auf ihre Gemüsequiche. »Schmeckt es dir nicht?«

Sie verdrehte die Augen, schob sich einen Happen davon in den Mund. »Du weißt genau, was ich meine. Soll ich weiter raten?«

»Deine Mutter hat das höchste Amt im Staat inne …«

»Was? Ehrlich? Wie gut, dass du mir das sagst, ich hätte es sonst glatt übersehen.«

Er schaute sie lediglich an.

Sie kicherte. »Okay, okay, schon gut. Dein Humor hat in den letzten Jahren wirklich gelitten.«

»Es gibt pro Jahr zwischen einer und elf Drohungen gegen das Leben des Bundespräsidenten. In kritischen Zeiten kann die Zahl sprunghaft ansteigen.«

Wiebke hielt mit dem Essen inne. Sie legte langsam die Gabel nieder. »Ist das ein Trick von dir, um mich zu manipulieren?«

»Nein. Im Schnitt sind es pro Jahr vier. Es gab Jahre, da lagen wir bei über zwanzig.«

»Okay, und wie kann ich dir deinen Job erleichtern?«

Er musterte sie aufmerksam, erstaunt von ihrem raschen Einlenken. »Der größte Risikofaktor ist weiterhin der Mensch. Du und deine Mutter, ihr seid, weil ihr bei jedem Menschen immer von guten Absichten ausgeht, ein leichtes Ziel für Social Engineering. Sagt dir der Begriff etwas?«

»Klar. Es geht darum, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen oder die soziale Komponente zu nutzen, um darüber einen Zugang zu wertvollen Informationen oder Kontakt zu einer bestimmten Person zu erlangen. Auch wir nutzen das in der zivilen Konfliktbearbeitung, nur nicht zu Spionagezwecken oder um jemand Unliebsamen aus dem Weg zu räumen.«

»Immerhin hast du dich damit auseinandergesetzt. Dennoch bist du nicht bereit, in Betracht zu ziehen, dass dir jemand etwas antun will. Fabian und dein Vater sind anders gestrickt. Sie sind realistischer und vorsichtiger im Umgang mit Menschen. Vor allem Fabian ist ja eher ein Einzelgänger.«

Sie presste die Lippen zusammen. »Er ist derjenige, der nächste Woche aus Usbekistan zurückkommt.«

»Und du bist nächsten Monat drei Tage im Westjordanland, wo du einen Kurs in gewaltfreier Kommunikation leitest und Mediatoren ausbildest.«

»Woher weißt du davon? Ich habe erst gestern zugesagt, nachdem ich mit Mama …« Sie hielt inne. »Sie hat dir davon erzählt?«

Er schwieg. Natürlich hatte Sarah kein Wort darüber gesagt. Es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, die beruflichen Aktivitäten ihrer Kinder mit ihm abzusprechen. Auch das musste sie lernen.

»Du hast viele Kontakte, lernst ständig neue Leute kennen.«

»Das bringt mein Beruf mit sich. Es geht um Menschen, falls dir das entgangen ist.«

»Ist das ein Beispiel für gewaltfreie Kommunikation?«

Sie blitzte ihn an, dann schloss sie die Augen, atmete tief durch.

»Nein. Ich gebe die Kurse, weil es mir Schwierigkeiten bereitet. Je mehr ich es übe und praktiziere, desto leichter fällt es mir. Doch ich gebe zu, dass du gewisse Emotionen in mir weckst, die mich wieder in meine Teenagerzeit zurückkatapultieren.«

»Ich weiß, wie wichtig es dir ist, dass du deine Freiheit hast und dein Leben selbst kontrollierst. Dein Job ist nicht einfach nur ein Job, sondern deine Lebensaufgabe, in die du all deine Energie steckst. Ich bewundere deine positive Einstellung und was du mit deiner Arbeit bewirkst. Wir brauchen Menschen wie dich.«

Wiebke verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Ich wusste gar nicht, dass ihr auch in gewaltfreier Kommunikation ausgebildet werdet.«

Er schmunzelte. »Du siehst, man lernt nie aus. Verbrechen zu verhindern – Prävention – das ist ein fundamentaler Aspekt der Polizeiarbeit.«

»Ich merke, dass du dir ernsthaft Gedanken über Mama machst. Das verstehe ich, und ich möchte meinen Teil dazu beitragen. Auf der anderen Seite bin ich gerade mal vierundzwanzig, stehe am Anfang meiner beruflichen Karriere und möchte noch so vieles«, sie machte eine ausladende Geste mit den Armen, »in meinem Leben schaffen. Fünf Jahre, vielleicht zehn Jahre – das ist für mich eine Ewigkeit. Meine Eltern sind beide erfolgreich, da bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mein Bestes zu geben.«

Sie musterte ihn, nahm die Gabel und schob sich eine Portion Gemüsequiche in den Mund.

Er wartete, bis sie zu Ende gekaut hatte. »Das würde auch keiner von dir erwarten. Worum wir dich bitten, ist, dass du mir die Namen und Adressen der Freunde oder Freundinnen, die du mit zu deinen Eltern bringen möchtest, ein, zwei Tage im Voraus nennst, damit wir einen Background-Check machen können.«

Ihre Augen wurden groß. »Jeden?«

»Jede und jeden«, korrigierte er. Es war ihm schleierhaft, warum die meisten Menschen davon ausgingen, dass nur Männer gefährlich sein konnten. »Und melde bitte alles, was dir ungewöhnlich oder seltsam vorkommt. Vor allem Personen, die ein besonderes Interesse an dir und deiner Arbeit bekunden, solltest du fortan mit einer gewissen Skepsis betrachten. Auch da wäre es klasse, wenn du uns Namen und Adressen nennst, vielleicht sogar Fotos machst.«

»Sonst noch was? Möchtest du wissen, wann ich ausgehe, mit wem ich schlafe oder telefoniere? Ach, weißt du was, wir machen das viel einfacher. Du packst mir eine App auf mein Smartphone, die alles überwacht und mit der du meine Kamera aktivieren kannst. Die sendet dann ein Signal, damit ihr immer wisst, wo ich mit wem bin.«

»Jetzt bist du sarkastisch. Darauf bist du als Teenager ausgewichen, wenn du das Gefühl hattest, deine Eltern wollten dich an die kurze Leine nehmen. Nein, wir wollen möglichst wenig in dein Leben eingreifen und dir viel Freiraum geben, weil wir wissen, wie wichtig das in deiner momentanen Lebensphase ist. Du kannst nichts dafür, dass deine Mutter Bundespräsidentin ist. Doch wir können auch nicht verhindern, dass du einen Teil der Last trägst, die damit einhergeht. Auf der anderen Seite profitierst du von diesem Amt bei deiner Arbeit. Denk nur daran, wie viel Aufmerksamkeit du für deine Projekte bekommst. Außerdem glaube ich, dass du viel mehr Unterstützung erhalten wirst, und ich könnte mir auch vorstellen, dass die GIZ dir prestigeträchtige Projekte anbieten wird.«

Diesmal wahrte er sein Pokerface. Sabine, die für den Bereich Asien, Lateinamerika und Karibik zuständig war, war eine ehemalige Klassenkameradin und seine erste Freundin gewesen. Das freundschaftliche Band zwischen ihnen war seit jener Zeit nicht abgerissen. Ab und an trafen sie sich und tauschten sich aus. Immerhin hatte auch die GIZ jede Menge interessanter Hintergrundinformationen über die Länder gesammelt, in die sie Mitarbeiter entsandten.

»Nein.«

»Nein?« Er konnte ihr nicht folgen, hatte keine Ahnung, was sie damit meinte.

Wiebke seufzte abgrundtief. »›Nein‹ zu den prestigeträchtigen Projekten. Darauf pfeif ich. Ich möchte dorthin, wo ich etwas bewegen kann, und ich fürchte, genau das wird in Zukunft ein Riesenproblem für mich werden. Ich glaube, langsam verstehe ich, weshalb Mama die Kandidatur ablehnen wollte. Sie hat auch ohne Bundespräsidentin zu sein, erfolgreich ihr Konzept in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt.«

»Sie wollte die Kandidatur ablehnen?«

»Ja. Papa hat uns zu einem Familienessen zusammengetrommelt, damit Mama auch die Meinung der Familie hört. Sie hatte es bei keinem von uns auch nur mit einer Silbe erwähnt.«

»Und dein Vater wollte, dass sie die Kandidatur annimmt?«

»Ja, und ich auch. Ich weiß, was du jetzt denkst.«

»Tatsächlich? Was denn?«

»Dass es seltsam ist, nachdem ihre Ehe an ihrem ersten Regierungsamt beinahe zerbrochen wäre.«

Er hütete sich, auch nur einen Laut über seine Lippen kommen zu lassen.

»Es tut ihm unendlich leid, dass er sie damals betrogen hat. Vielleicht glaubt er, auf diese Weise wiedergutmachen zu können, was damals geschehen ist. Dabei hat sie ihm längst verziehen. Sie liebt ihn, egal was du denkst. Sie wird ihn niemals verlassen, dafür ist ihr die Familie viel zu wichtig. Du wusstest doch davon, oder?«

»Meinst du, du kannst deinen Teil dazu beitragen, dass wir das Leben deiner Mutter beschützen können?«, lenkte er das Gespräch zurück auf sicheres Terrain.

Ein wehmütiges Lächeln huschte über Wiebkes Gesicht.

»Ja.«

»Am Anfang würde ich ein wöchentliches Treffen an einem Ort deiner Wahl bevorzugen, bis sich alles ein wenig eingependelt hat. Sybille Vogt ist deine Kontaktperson. Sie ist zwei Jahre älter als du, und ich könnte mir vorstellen, dass du dich gut mit ihr verstehst.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739488318
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Terrorismus Polizeiarbeit Deutschland Spannungsroman starke Frauenfigur Politthriller Gesellschaft Verbrechen Lobbyismus

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Die Bundespräsidentin