Sarah unterdrückte ein Schmunzeln angesichts der erregten Diskussion in ihrem Hörsaal. Die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik führte jedes Mal dazu, dass sich die Studenten ereiferten. Aufmerksam hörte sie den verschiedenen Argumentationen zu. In ihren Gedanken tauchte kurz die Erinnerung an die Pressekonferenz auf, bei der sie von ihrem Amt als Bundesaußenministerin zurückgetreten war. Für sie war dieser Rücktritt eine Frage der Ethik gewesen, nicht der Moral, entgegen den Äußerungen der Pressemedien, die wochenlang über die Hintergründe debattiert und jede Menge falsche Informationen und Aussagen publiziert hatten. Aber nicht nur den Medien fiel die Differenzierung zwischen Ethik und Moral schwer, auch die Philosophen stritten darüber. Deshalb liebte sie ihre Vorlesung zur Entwicklung neuer, alternativer politischer Leitkulturen, zu der auch eine Auseinandersetzung mit dem Manifest des Evolutionären Humanismus gehörte.
Die Tür wurde leise geöffnet, und eine attraktive Endfünfzigerin in marineblauem Kostüm und weißer Bluse schlüpfte zum Hörsaal herein. Sie setzte sich auf einen freien Platz in der oberen Reihe und nickte Sarah kurz zu als Zeichen, dass sie ihre Vorlesung einfach fortsetzen sollte.
Nur langsam fasste sich Sarah. Der Anblick der Frau hatte ein Gefühl in ihr hervorgerufen, gegen das sie schwer ankam. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Studenten zu, die im Eifer des Wortgefechts den Neuankömmling gar nicht bemerkt hatten.
»Ich denke, die Diskussion hat eine Menge unterschiedlicher Positionen aufgedeckt«, unterbrach sie den Wortwechsel. »Als nächste Aufgabenstellung formulieren Sie bitte die bisherigen Argumente und stellen sie tabellarisch einander gegenüber. Auf diese Weise bekommen wir eine Struktur in Ihren Meinungsaustausch. So können Sie sich besser in den Gedankengang Ihrer Kommilitonen mit der jeweils anderen Auffassung hineinversetzen. Sina, sind Sie so lieb und verbinden Ihren Laptop mit dem Beamer?«
»Ich?«
»Nun, ich nehme an, dass Sie sich bereits einige Gedanken gemacht haben. Sie haben nicht nur aufmerksam zugehört, sondern sich auch viele Notizen zu den Äußerungen Ihrer Kommilitonen gemacht. Das ist eine gute Ausgangsbasis für die strukturierte Zusammenfassung, oder irre ich mich?«
Sina lief feuerrot an. Die Studentin erinnerte Sarah oft an sie selbst in jungen Jahren.
Sie hatte auch eher zugehört als sich an Diskussionen zu beteiligen. Es dauerte lange, bis sie sich eine Meinung bildete. Hatte sie sich jedoch eine geformt, brauchte es stimmige Argumente, wenn man sie davon abbringen wollte. Sie hatte in ihren Aussagen schon immer eine klare Linie erkennen lassen, die sie auch politisch verfolgt hatte. Das hatte dazu geführt, dass die Presse sie als eine integre, verlässliche Person ansah. Man hatte sie durch den Kakao gezogen, sie kritisiert, als überheblich und arrogant bezeichnet oder auch als naiv und feige, je nachdem, welche Zeitung man las oder welche Sendung man schaute. Doch am Ende war etwas anderes in der öffentlichen Meinung haften geblieben – eine Art Bewunderung für ihre Geradlinigkeit, mit der sie ihrem Gewissen trotz aller damit einhergehenden Konsequenzen gefolgt war. Deshalb war sie auch heute noch eine beliebte Gesprächspartnerin bei politischen Talkshows. Ihr wacher, analytischer Verstand, die ethische Sichtweise, mit der sie die Konflikte betrachtete – das hatte innerhalb der deutschen Regierung mehr als einmal eine Eskalation unter den verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen verhindert. Die Parteien zogen sie gern als Mediatorin bei Interessenskonflikten hinzu, weil sie grundsätzlich Lösungen suchte, die von allen Beteiligten als fair erachtet wurden. In der Öffentlichkeit sprach sie nicht über ihre Arbeit. Es frustrierte sie, dass man in der Politik weiterhin davon ausging, dass Menschen vorrangig über ihren Eigennutz und von außen gesteuerte Motivationen – wie Belohnungen in Geldform – zum Handeln gebracht wurden. Sie hingegen glaubte an das Gute im Menschen, an sein Mitgefühl, den Gemeinsinn und die Solidarität, womit man sozialere Wirtschaftsformen und eine sozialere Politik würde entwickeln können, auch ohne dass das Wirtschaftssystem zusammenbrach. Die Herausforderung bestand darin, es zu wagen.
»Stimmt, ich habe mir Notizen gemacht«, gab Sina zu, »aber ich bin unsicher, ob ich alle Argumente erfasst und auch verstanden habe. Ich finde die Differenzierung sehr schwer.«
»Dann ist es in jedem Fall eine Basis, die wir bei Bedarf ergänzen, verfeinern oder – wenn nötig – konkretisieren können, einverstanden?«
»Los, Sina, mach schon, umso schneller sind wir fertig und können ins Wochenende«, ermunterte ihr Sitznachbar sie.
»Tobias, kann es sein, dass Sie den Sinn eines Studiums missverstehen?«, rügte Sarah den jungen Mann.
»Inwiefern, Frau Professor Heidkamp?«
»Dies hier ist eine freiwillige Angelegenheit. Niemand zwingt Sie, an meiner Vorlesung teilzunehmen.«
»Aber Ihre sind die interessantesten. Wussten Sie, dass die Fakultät sie deshalb gern in die letzte Vorlesungsstunde am Freitag legt? Schauen Sie sich um. Der Hörsaal ist voll, das ist ein Kompliment für Sie. Heute steht ein langes Wochenende an, und Sie wissen genau, dass wir es alle kaum erwarten können. Und aus dem Grund möchten Sie Sina nach vorne holen – weil wir mithilfe ihrer Aufzeichnungen rascher ans Ziel kommen. Oder sehe ich das falsch?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sehen Sie, Tobias, es ist allzu leicht, die eigene Meinung ganz subjektiv auf einen anderen Menschen zu projizieren. Ich habe Sina gewählt, weil ich davon ausgehe, dass sie die Differenzierung in ihrer Argumentation wahrgenommen hat und ihre Wahrnehmung deshalb ein gutes Fundament bildet, um über die feinen Unterschiede zwischen der Ethik und der Moral Klarheit zu erhalten.«
Sie schloss die Tür hinter sich. Der Raum, den ihr die Fakultät zur Verfügung stellte, war klein. Katharina Leopold zuckte nicht mit der Wimper, als sie sich auf dem Besucherstuhl niederließ. Die Beine elegant zu einer Seite gelegt strich sie den Rock ihres Kostüms glatt und entfernte einige imaginäre Fussel – das einzige Zeichen ihrer Nervosität.
Mit offener Neugierde ließ sich Sarah auf ihren Bürostuhl plumpsen. Die Beine in der beigen Cargohose legte sie übereinandergeschlagen auf den einzigen freien Platz auf ihrem Schreibtisch, der den winzigen Raum fast vollständig ausfüllte. Neben dem Computerbildschirm stapelten sich dort Bücher, Abhandlungen, Hefte und Seminararbeiten ihrer Studenten.
»Also Katharina, was führt dich nach all den Jahren des Schweigens in meine kleine Welt?«
»Du bist viel unterwegs, auch international.«
»Das bringt meine Arbeit mit sich.«
»Ich hörte, dass du vor Kurzem eine Fortbildung für die Weltbank gegeben hast.«
»Viele Wirtschaftsunternehmen und internationale Organisationen interessieren sich für eine soziale Wirtschaftsreform. Der reine Kapitalismus ist im Scheitern begriffen, genauso wie der reine Kommunismus. Da ist der Bedarf an neuen Theorien und Ansätzen groß.«
»Du warst letzten Monat in Princeton.«
Sarah nahm die Füße herunter, beugte sich nach vorn und legte die Arme auf den Tisch.
»Small Talk war noch nie unsere Stärke, Katharina. Sag einfach, was du willst. Soll ich vielleicht auf dem kommenden Parteitag einen Vortrag halten?« Sie grinste amüsiert über ihren eigenen Scherz. Sie beide wussten, dass das nicht infrage kam.
Die Fraktionsvorsitzende zupfte wieder an ihrem Rock. So langsam versetzte dieses Verhalten Sarah in eine neugierige Anspannung. Als sie sich für die Politik entschieden hatte, war Katharina lange ihre Mentorin und Freundin gewesen. Erst als Sarah ihr Amt als Bundesaußenministerin niederlegte und damit nach Katharinas Ansicht die Partei in eine Krise steuerte, war es zum Bruch zwischen ihnen gekommen. Darum war Sarah aus der Partei ausgetreten. Sie hatte es auf sich genommen, den Fokus der Medien ganz auf sich zu lenken. Seitdem herrschte zwischen ihnen absolute Funkstille, obwohl sie mehr als einmal über verschiedene Kanäle versucht hatte, mit Katharina Kontakt aufzunehmen. Vergeblich – bis zum heutigen Tag, als sie wie aus dem Nichts in ihre Vorlesung geplatzt war.
Sarah wurde ernst. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich dich nicht nur maßlos enttäuscht, sondern auch zutiefst verletzt habe. Ich hätte dir gern persönlich meine Beweggründe erklärt. Ich wusste, dass du es mir niemals verzeihen wirst, doch vielleicht hättest du mich besser verstanden.«
Katharina sah sie mit dem frostigen Blick aus ihren blauen Augen an, den ihre Parteigenossen so fürchteten. Der kurze, praktische Pagenschnitt setzte ihr ovales Gesicht vorteilhaft in Szene. Mittlerweile färbte sie ihre Haare nicht mehr kastanienbraun, sondern in einem dunkelbraunen Ton mit helleren Strähnen. Ihre vollen Lippen waren in einem dezenten Rotton gehalten. Sie sah wesentlich jünger aus als achtundfünfzig Jahre, fand Sarah und wünschte sich, dass ihr das Alter einmal ebenso gut stehen würde.
»Enttäuscht? Es hat zwei Wahlperioden gedauert, bis wir uns aus der Krise gearbeitet hatten. Du hast deinen Stolz über das Wohl der Partei und unserer Wähler gestellt. Du hast uns alle hängenlassen, als du ausgetreten bist.«
Sarah atmete tief durch. Die Schärfe in Katharinas Stimme zeigte ihr, wie viel Überwindung es die Fraktionsvorsitzende gekostet haben musste, ihr heute gegenüberzutreten.
»Du hättest wenigstens in der Partei bleiben und deine Loyalität zeigen können«, setzte Katharina eine Spur ruhiger hinzu.
»Ich dachte damals, dass du genau das von mir erwartest – dass ich austrete, damit meine persönliche Entscheidung, so wie ich es immer betonte, keine Auswirkung auf die Partei hat.«
Ihrer Meinung nach hatten die internen Querelen in der Partei diese in die Krise gestürzt, weil sie in der Regierung gegenüber dem großen Partner kein Rückgrat gezeigt hatte. Ihr Rücktritt hatte ein konstruktives Misstrauensvotum der Opposition ausgelöst, und nach Helmut Kohl kam so nun zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte der Bundeskanzler durch das Votum anstatt durch eine Wahl an die Macht. Daraus war eine überparteiliche Diskussion zum Thema politische Integrität aufgekommen, eine in ihren Augen längst fällige Debatte und das einzig Gute, was aus ihrem Rücktritt entstanden war. Koalitionsverhandlungen wurden im Hinblick auf die getroffenen Wahlversprechen intensiver geführt. Doch was ihr weiterhin fehlte, war die Offenheit im Umgang mit unbequemen, aber notwendigen Entscheidungen für den Staat. Solange Wähler auf ihren Eigennutz reduziert wurden, würde sich das nicht ändern.
Katharina machte eine knappe Handbewegung, als würde sie das Argument beiseitewischen. »Deine Zusage humanitärer Hilfe für ein terroristisches Land war ein Schlag ins Gesicht unserer Verbündeten. Aus Eitelkeit, weil du unbedingt beweisen wolltest, dass wir die Vorreiter für die zivile Konfliktbearbeitung sind, und am Ende mussten die Opfer des Anschlags im Fußballstadion – sieben Menschen – auf deutschem Boden den Preis für deine Fehleinschätzung zahlen.«
Sarah spürte einen scharfen Schmerz in ihrem Herzen. Ja, sie fühlte sich verantwortlich dafür, dass diese Menschen gestorben waren, als hätte sie selbst das Attentat verübt.
»Es wurde nie bewiesen, dass die Selbstmordattentäter mit der Gruppierung um den sogenannten Islamischen Staat im Zusammenhang standen.«
»Dem Daesh«, korrigierte Katharina.
Sarah wusste, dass sie oft kritisiert wurde, weil sie die Gruppierung bei deren selbst gewähltem Namen nannte. Aber Dialoge zu führen, indem man den einen Gesprächspartner mit einem herablassenden Wort bezeichnete, führte in dieser kulturellen Umgebung zu nichts. Die Franzosen hatten das arabische Akronym Daesh aufgebracht, was »Islamischer Staat im Irak und der Levante« bedeutete – verkürzt auch ISIL im Deutschen. Die Anfänge der Organisation gingen auf den irakischen Widerstand zurück, der unter dem Namen al-Qaida im Irak zweifelhaften Ruhm errang. Daraus wurde 2007 der »Islamische Staat im Irak«, abgekürzt ISI, später, von 2011 bis 2014, der »Islamische Staat im Irak und in Syrien«, ISIS oder eben ISIL, da als Levante das historische Syrien bezeichnet wird. Parallel zu dieser Entwicklung blieb der Name al-Qaida im Irak bestehen. Das arabische Akronym Daesh wurde jedoch von den Anhängern des IS abgelehnt, da das Wort unterschiedlich verwendet werden konnte. Damit bezeichnete man jemanden als Fanatiker oder als ›jemand, der anderen seinen Willen aufzwingt oder Zwietracht sät‹, und natürlich hörten das die Anführer der Organisation nicht gern.
»Wir geben dem Terror nach, geben ihm eine öffentliche Bühne für seine Ideen, wenn wir uns der Angst beugen. Jede Verschärfung der Gesetze, jede Einschränkung der bürgerlichen Freiheit ist ein Erfolg für den Terror.«
»Deshalb müssen wir mit aller Härte zurückschlagen, mit Sanktionen und gegebenenfalls auch mit militärischem Einsatz.«
»Wie kannst du mit jemandem verhandeln, wenn du ihm eine Waffe an die Schläfe hältst?«
»Wie kannst du mit jemandem verhandeln, der aus dem Hinterhalt agiert und die Zivilbevölkerung angreift – wie demjenigen humanitäre Hilfe anbieten?«
»Weil wir nur dann den Strom der Sympathisanten unterbrechen können, wenn wir der Zivilbevölkerung in diesem Land zeigen, dass wir anders sind.«
»Du hast das alles auf eigene Faust in die Wege geleitet, und wir mussten dafür geradestehen«, warf ihr Katharina verbittert vor.
»Es war mit dem Staatssekretär des Bundeskanzlers abgesprochen. Auch wenn sich der Bundeskanzler am Ende aus der Krise herauswand, indem er seinen Sekretär zum Bauernopfer machte.«
»Nenn mir einen Grund, weshalb der Bundeskanzler dich damals hätte beauftragen sollen, Syrien die Zusage zu geben, ohne es zuvor wenigstens mit den USA oder Russland abzusprechen?«
Sarah lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Der Grund ist derselbe, aus dem ich mich bereit erklärte, die Aufgabe zu übernehmen. Es hätte den Grundstein für einen Dialog mit den unterschiedlichen Gruppierungen legen können, die in dieser Region agieren. Ein erster Schritt in Richtung einer zivilen Konfliktbearbeitung im Nahen Osten. Ein Samenkorn der Vernunft, das die Hoffnung geborgen hätte, auf diesem Pfad weiter zu wandeln. Glaubst du denn ernsthaft, wir könnten mit militärischer Intervention, Waffenlieferungen und Drohnenangriffen die Konflikte auf dieser Welt lösen?«
»Nein«, seufzte Katharina. »Du weißt, dass auch ich ein Befürworter der zivilen Konfliktbearbeitung bin. Aber ich bin auch Realist. Die Zunahme von terroristischen Anschlägen in den westlichen Ländern trägt in der öffentlichen Meinung dazu bei, dass man nach Sanktionen und einer militärischen Intervention ruft. Hast du ernsthaft geglaubt, die anderen Länder würden uns auf die Schulter klopfen, wenn du einem totalitären Regime wirtschaftliche und finanzielle Hilfe zusagst? Wenn du riskierst, dass diese Gelder in falsche Hände geraten und womöglich neue Anschläge damit finanziert werden?«
»Jede finanzielle Hilfe war an ein klar vorgegebenes Vorhaben gekoppelt. Die Bereiche wurden in langen Gesprächen mit den Hilfsorganisationen abgesprochen. Es wäre kein Bargeld geflossen, stattdessen hätte man mit Gütern, Maschinen, Bildung, Manpower geholfen, die Region wieder bewohnbar zu machen. Genau das, was die Amerikaner uns nach dem Zweiten Weltkrieg haben zuteilwerden lassen. Sag mir, wie man dem Hass den Boden entziehen soll, wenn die Menschen immer damit rechnen müssen, Opfer einer Drohne zu werden, sobald sie ihre Häuser verlassen. Und das ist nur eines von vielen Beispielen. Wann soll ein solches Land wieder zu einem Ort werden, an dem Menschen leben, ihrem Beruf nachgehen und ihren Lebensunterhalt verdienen können, wenn man dort permanent den Tod vor Augen hat? Wie löst du einen Konflikt, der von mehreren Seiten mit unterschiedlichen Interessen geschürt wird?«
»Manchmal ist eine harte Linie die bessere.«
»Ich kannte einst eine Politikerin, die ich absolut bewunderte, und die hätte gesagt, dass wir Konflikte nur lösen können, wenn wir die Kontrahenten an einen Tisch bekommen.
»Aber nur gemeinsam mit unseren Verbündeten.«
Sarah hob die Hände in einer hilflosen Geste. Sie hatte noch immer keine Ahnung, weshalb Katharina sie aufgesucht hatte. Um ihr Vorwürfe zu machen? Sie an ihre Schuld zu erinnern?
»Wenn du glaubst, Sarah, ich wäre gekommen, um dir die Absolution für dein damaliges Handeln zu erteilen, hast du dich geirrt. Du hast in deiner Arroganz und Selbstherrlichkeit einen unverzeihlichen Fehler begangen. Du hättest den Schritt wenigstens mit dem Fraktionsvorstand abstimmen müssen. Aber nein, auch dazu warst du nicht bereit.«
»Weil mich der Bundeskanzler um vollkommene Verschwiegenheit bat.«
»Der Staatssekretär, nicht der Bundeskanzler. Arroganz und Naivität. Hast du einmal darüber nachgedacht, dass es eine Falle für dich und uns gewesen ist, in die du nur allzu bereitwillig tapptest? Du warst der Liebling der Presse, die Vorzeigepolitikerin unserer Partei. Ja, im Grunde hätte es dein Sprungbrett für das höchste Regierungsamt in Deutschland werden können, eine zweite weibliche Bundeskanzlerin – nach Angela Merkel.«
»Den Ehrgeiz habe ich nie besessen.«
»Nein. Hättest du ihn gehabt, wäre dir dieser Fehler nicht unterlaufen.«
»Wir können die Vergangenheit nicht rückgängig machen.«
»Nein.«
Sie schwiegen beide, musterten sich. Schließlich rang sich Katharina zu einer Entscheidung durch.
»Ginge es nach mir, wäre ich heute nicht zu dir gekommen.«
»Weshalb bist du gekommen?«
»Ich möchte dir ein Angebot unterbreiten.«
»Du – mir? Ein Angebot? Warum?«
»Weil es in der Politik nicht um persönliche Befindlichkeiten geht, sondern darum, was das Beste für unser Land ist.«
»Und wie um alles in der Welt könnte ich nach dem, was du mir vorgeworfen hast, dabei eine Rolle spielen?«
»Indem wir dich als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt zur Wahl stellen.«
»Das ist ein Scherz?«
»Sehe ich aus, als würde ich scherzen? Glaub mir, auf meiner Liste bist du die Letzte.«
»Zu Recht. Die Linie, die unser aktueller Bundespräsident Jens Richter verfolgt, steht völlig konträr zu allem, woran ich glaube. Er verkörpert den Typus der starken Hand. Mehr Polizei, mehr Militärintervention und mehr Gesetze, die die persönliche Freiheit einschränken.«
»Du könntest das Thema der zivilen Konfliktbearbeitung in den Mittelpunkt deiner Arbeit stellen.«
»Ach, auf einmal? Und was ist mit deinen Vorwürfen von eben?«
»Es ist ein repräsentatives Amt, kein Regierungsamt. Du könntest keine Hilfeleistungen zusagen.«
»Aber einem anderen Land den Krieg erklären«, konnte sich Sarah die sarkastische Anmerkung nicht verkneifen. In letzter Zeit hatte das unter der Bundespräsidentschaft von Jens Richter durchaus im Raum gestanden. Sie war froh, dass seine zweite Amtszeit nun zu Ende ging.
Katharina lächelte nur milde.
Sarah atmete tief durch. Manchmal übermannten sie einfach ihre Emotionen, und das ärgerte sie, aber immerhin wusste sie es besser.
»Stellt euch hinter Hendrik Raab. Er wird einen gemäßigten Kurs fahren und das Thema Familie in den Mittelpunkt seiner Amtszeit stellen, damit könnt ihr leben.«
»Und was, wenn Ulrich Uhland gewinnt?«
Sarah schwieg. Uhland galt als konservativ, war ein Ritter des Heiligen Grals und damit fest in der katholischen Kirche verwurzelt, durchaus ein kritisches Element in der aktuellen innenpolitischen und außenpolitischen Situation. Niemand mochte den erhobenen Zeigefinger der Deutschen.
»Bei den Umfragen liegt er weit vorn.«
»Die Opposition fährt eine smarte Werbekampagne. Stellt euch hinter Raab, bringt einen Social-Media-Experten rein, das ist eure einzige Chance. Mich jetzt in der kurzen Zeit, die noch verbleibt, als weitere Kandidatin ins Rennen zu schicken, kann das Lager nur weiter spalten.«
»Und was, wenn wir wüssten, dass wir mit dir als Kandidatin viele Abgeordnete aus der Opposition und auch Landtagsabgeordnete auf unsere Seite bekämen?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht die Lösung, Katharina. Ich habe einmal meine Ehe für ein politisches Amt riskiert. Ich werde das kein zweites Mal tun.«
Katharina betrachtete sie einen Moment lang schweigend.
»Denk über meinen Vorschlag nach. Besprich dich mit deinem Mann. Es ist das höchste Amt, das der Staat zu vergeben hat, mit der größten politischen Freiheit. Keine Regierungsverantwortung, keine Wahlversprechen, keine Parteilinie. Du könntest gesellschaftlich wichtige Themen aufgreifen, Gespräche leiten und mit jedem Staat auf der Welt Kontakt aufnehmen, um unserer Regierung den Weg zu ebnen. Sei nicht dumm, Sarah, das ist deine große Chance, um wiedergutzumachen, was du neun Jahre zuvor verbockt hast.«
Katharina erhob sich, ging zur Tür, ergriff die Klinke und verharrte. »Du wärst die erste Frau auf diesem Posten, und das Amt würde dir all das bieten, wovon du träumst.«
Sie saß nur da und starrte die Tür an. Erst als die Putzfrau ihren Kopf hereinsteckte und fragte, wie lange sie noch bleiben wollte, erhob sie sich, schaltete ihren Computer aus und packte zwei Bücher und einen Stapel Seminararbeiten in ihre Tasche.
Wollmütze, Fleecehandschuhe und ihre Daunenjacke machten die Kälte, die draußen auf sie wartete, erträglich. Langsam ging sie zur S-Bahn-Haltestelle, setzte sich auf die Bank. In einem seltsam entrückten Zustand betrachtete sie von dort aus das Treiben der Menschen um sie herum. Wie durch Watte nahm sie die Geräusche in ihrer Umgebung wahr, die einfahrende S-Bahn, die aussteigenden Menschen. Gleichzeitig gab es Szenen, die gestochen scharf in ihren Gedanken ankamen. Der alte Mann, dessen Hand mit dem Stock zitterte, während er seinen Fuß über die Schwelle setzte. Die Mutter mit ihren zwei Kindern und dem Kinderwagen, die gehetzt angerannt kam und der eine junge Frau beim Einsteigen half.
Bundespräsidentin.
Sarah schüttelte langsam den Kopf, als könnte es das Taubheitsgefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, vertreiben. Erst als die S-Bahn losfuhr, wurde ihr bewusst, dass es ihre gewesen war, in die sie hätte einsteigen sollen.