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Mama macht mal blau ...

von Mimi J. Poppersen (Autor:in)
205 Seiten

Zusammenfassung

Familie Schäfer hat für das kommende lange Wochenende so einiges Aufregendes geplant. Das heißt, jedes Familienmitglied hat etwas Spannendes vor, außer Sarah, der Mutter. Ihr Mann fährt auf seinen jährlichen Angeltrip an die Nordsee, ihre beiden Töchter im Teenageralter verbringen das Wochenende bei Freunden und auf dem Reiterhof. Dass sie so gar nichts für die nächsten Tage vorhat, wird Sarah erst klar, als sie bei ziemlich trübem Wetter in Heidelberg einen ihrer langweiligsten Arbeitstage hinter sich bringt. Spontan gibt ihr der Chef den Nachmittag frei und sie landet auf dem Nachhauseweg in einem kleinen Reisebüro. Fast magisch wird sie in das Geschäft gezogen und hält kurze Zeit später ein Flugticket nach Los Angeles in der Hand. Da wollte sie schon immer mal hin! Die folgenden Tage werden für Familie Schäfer in vieler Hinsicht einzigartig und unvergesslich, denn Mama macht mal blau…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tag fünf, Heidelberg, 16.15 Uhr

Die Wohnung von Familie Schäfer blitzte und glänzte so gut es ging unter den gegebenen Umständen. Noch vor ein paar Stunden hatte es hier ausgesehen, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Gerade hatte Stefan Schäfer die letzten Putzlumpen in die Waschmaschine geschmissen, die er aber vorsichtshalber nicht anstellen würde.

Auf dem Küchentisch standen frische Blumen und ein leckerer Apfelkuchen, den Sophie und Julia gerne selbst gebacken hätten, wegen des nicht mehr funktionierenden Backofens allerdings auf die Bäckerei um die Ecke zurückgreifen mussten. Auch hätten sich alle gerne noch einmal geduscht, nach den ganzen Aufräumarbeiten, was jedoch ein paar Tage warten musste, bis das Badezimmer wieder zu betreten war.

Zu gerne hätte Stefan seine Frau selbst vom Flughafen abgeholt, aber auch das Auto befand sich in der Werkstatt.

So standen die drei da, mit Gipsfuß, starker Erkältung, unglaublich schlechtem Gewissen und blickten immer wieder erwartungsvoll aus dem Fenster.

Sie alle waren furchtbar aufgeregt, denn jede Minute würde Sarah Schäfer zur Tür hereinkommen. Ihre Mama und Ehefrau, die gerade mal fünf Tage weg gewesen war.

Fünf verhängnisvolle, lange Tage…

Tag null, Heidelberg, 14.00 Uhr

Ein anderes Wort für regenarmes Gebiet, las Sarah Schäfer gerade in ihrem Kreuzworträtsel und blickte hinaus auf den menschenleeren Marktplatz von Heidelberg, auf den der Regen in Strömen niederprasselte.

„Nicht Heidelberg“, sagte sie halblaut zu sich selbst und trug etwas lustlos „Wüste“ als gesuchten Begriff ein. Nun konnte sie das Lösungswort ausfüllen und eine Reise in die Karibik gewinnen.

Das wär´s doch! Jetzt eine Reise in den Süden gewinnen, dachte Sarah und betrachtete erneut das trübe Wetter vor der Tür.

Ihre Gedanken wurden jäh durch die fünf Kuckucksuhren zerstört, die in dem Moment alle gleichzeitig ertönten. Sarah zuckte zusammen und verschüttete einen gehörigen Schwall von ihrem frisch gebrühten Kaffee, den sie in der Hand hielt. Wütend betrachtete sie die reichlich verzierten Schwarzwalduhren, die etwas gedrängt an der Wand hingen und von denen sie eine kitschiger als die andere fand. Bei den Touristen waren diese allerdings sehr beliebt.

Erst eine halbe Stunde war seit ihrer Mittagspause vergangen? Das konnte unmöglich sein.

Fast schien die Zeit heute stehenzubleiben in dem Antikladen, in dem sie arbeitete. Dieses Gefühl hatte sie in den letzten Wochen leider immer öfter.

Sage und schreibe einen Kunden hatte sie an diesem Tag bisher gehabt. Einen Kunden!

Dies war ein Japaner gewesen, der einen winzig kleinen Scherenschnitt mit Heidelberger Motiv für zwölf Euro gekauft hatte. Das würde dann wohl ihr Tagesumsatz von heute sein: Zwölf Euro.

Wahrscheinlich wollte sich dieser einzige, traurige Kunde auch nur kurz ins Trockene stellen und etwas aufwärmen. Auf Sarahs nette Frage hin, wie sie ihm helfen konnte, fühlte sich dieser dann wohl verpflichtet, etwas zu kaufen. Also hatte er sich das Billigste im ganzen Laden ausgesucht: Ein Scherenschnitt kaum größer als eine Briefmarke, der das Heidelberger Schloss darstellen sollte. Das Motiv hätte allerdings auch als irgendeine Märchenszene oder das Haus vom Nikolaus durchgehen können.

Zwei Stunden musste Sarah sich hier nun noch um die Ohren schlagen. Sie könnte ja etwas die Antiquitäten abstauben. Oder hatte sie das schon gemacht? Eigentlich konnte sie auch schon mit der Abrechnung beginnen. Es würde sowieso kein Käufer mehr den Laden betreten.

Wer machte sich bei solch einem Sauwetter schon auf die Socken, um einen Stadtbummel zu unternehmen? Niemand.

Außer vielleicht ein paar Touristen, die von ihren Reiseveranstaltern dazu genötigt wurden, in zehn Minuten einmal über die alte Brücke, durch die Altstadt und bis hoch zum Schloss zu rennen und mindestens fünfzig Bilder zu schießen, um abends das gleiche in München oder Leipzig zu tun.

Wieder solch ein Tag, an dem sie gar nicht dran denken durfte, wie viel der Besitzer des Ladens, der gutmütige Herr Graf, für ihr Gehalt drauf legte.

Vor sieben Jahren hatte Sarah in dem schmucken Geschäft angefangen zu arbeiten, das der zwar schon etwas betagte, aber durchaus noch rüstige Herr Graf von einem Buchantiquariat nach und nach in einen hochwertigen Antikladen umgewandelt hatte.

Damals war dies genau das richtige für Sarah gewesen. Ihre Töchter waren mit acht und zehn Jahren schon recht selbständig und sie suchte nach einer neuen Aufgabe, die sie halbtags beschäftigte. Das reine Hausfrauendasein war ihr zu langweilig geworden und in ihren stressigen, früheren Job als Investmentbankerin wollte sie nicht wieder zurückkehren. Da kam das „Aushilfe gesucht“-Schild im Fenster des Buchantiquariats genau richtig. Mit Herrn Graf verstand sie sich auf Anhieb und gleich am nächsten Tag konnte sie dort anfangen. Das Geld brauchte Familie Schäfer nicht wirklich, Stefan Schäfer verdiente als Oberarzt in der Heidelberger Radiologie genug.

In den ersten Jahren hatte Sarah ihre neue Aufgabe wahnsinnigen Spaß gemacht. Sie war mit Herrn Graf richtig auf Schnäppchenjagd gegangen. So hatten sie nach und nach den Antikladen mit Kostbarkeiten bestückt. Darüber hinaus hatte Sarah unglaublich viel dazu gelernt, was alte Möbelstücke, Bilder, Kunstwerke und deren Restauration betraf. Auch ihre Wohnung schmückten einige besondere Schätze.

Allerdings musste sie zugeben, dass auch sie sich gerade letztes Wochenende mit den Menschenmassen durch IKEA gekämpft hatte, um dort neue Möbel für ihr Schlafzimmer auszusuchen. Ein Heidengeld war sie für billigste Möbelstücke und unnötigen Schnick Schnack losgeworden. Daher konnte sie es den Leuten noch nicht einmal übel nehmen, wenn diese einen Bogen um den Antiquitätenladen machten.

„Die Leute zieht es in der heutigen Zeit einfach zu Billigware. Das sieht man ja an den ganzen neuen Billigläden in der Hauptstraße“, prophezeite Herr Graf schon seit Längerem. Damit schien er leider recht zu haben, denn dass der Umsatz in den letzten Monaten rapide bergab gegangen war, merkte man auch ohne Taschenrechner.

An der Lokalität des Geschäfts konnte es nicht liegen. „Grafs Antiquitäten“ befand sich in der besten Lage, direkt an der Ecke des belebten Marktplatzes. Das war etwas, was Sarah an ihrem Job immer zu schätzen wusste. Von hier aus hatte sie einen Ausblick auf das Rathaus der Stadt, viele bunte Straßencafés und die berühmte Heiliggeistkirche. Sie war mittendrin im Leben der pulsierenden Altstadt, was allerdings an einem trüben Tag wie heute völlig egal war.

Französisch: Gute Reise, las sie als Nächstes in dem Kreuzworträtsel. „Bon Voyage“, trug sie mit geschwungenen Buchstaben ein und blickte erneut auf die kitschigen Uhren: 14.05 Uhr.

Tag null, Hollywood, 14.05 Uhr

„Die Nächste, bitte!“, rief Liam Baldwin mit einem leicht genervten Unterton.

Als kurz darauf eine völlig eingeschüchterte junge Frau auf die Bühne trat und verlegen in die hellen Scheinwerfer blinzelte, hob er sogleich die Hand, bevor die Kandidatin überhaupt ein Wort sprechen konnte.

„Danke. Die Nächste, bitte!“, mittlerweile konnte er seine Gereiztheit nicht mehr verbergen.

Mit hängenden Schultern und Tränen in den Augen ging die unerfahrene Schauspielerin wieder von der Bühne. Die nächste in der Reihe ließ Liam Baldwin wenigstens vorsprechen. Als diese allerdings den ersten Satz gesprochen hatte, hielt das ganze Team den Atem an, gefasst auf den nächsten Wutausbruch des bekannten Regisseurs.

Wie war eine komplett lispelnde Schauspielerin nur durch die Vorrunde gekommen? Das fragten sich in dem Moment wahrscheinlich alle Anwesenden im Raum.

„Danke. Das reicht“, brachte Liam gerade noch in relativ normalem Ton der unbedarften Schauspielerin gegenüber heraus. Als diese dann allerdings von der Bühne verschwunden war, drehte er sich zu seinem zehnköpfigen Casting-Team um, die alle schon ihre Köpfe einzogen.

„Sag mal, wollt ihr mich verarschen?“, brüllte er los.

„Es kann doch nicht so schwer sein, ein Kindermädchen zu finden, das nur drei Sätze sagen soll. Alles, was ich bisher gesehen habe, war Mist! Ganz großer Mist!“ Bei diesen Sätzen war er wütend aufgestanden und hatte das Skript zu seinem neuen Film auf den Boden geschmissen. Es hätte gerade noch gefehlt, dass er darauf herumtrampelte wie ein aufmüpfiges Kind.

„Ich hoffe, heute Nachmittag wird das besser. Um einiges besser, sonst Gnade euch Gott!“, drohend hielt er nun seine Faust in die Höhe und verließ das Pantages Theater am Hollywood Boulevard.

Als Liam Baldwin das kleine Theater verlassen hatte, das sie immer für ihre Castings nutzten, blickte sich sein Team etwas ratlos an.

Es war wieder soweit!

Sie alle wussten, dass sie jetzt machen konnten, was sie wollten, irgendetwas würde Liam immer finden, das ihm nicht passen würde. Die Schauspielerinnen waren zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, zu schrill, zu fade, zu vollbusig, zu flachbrüstig, oder alles zusammen… nichts konnte man ihm recht machen.

Meistens gab es während des Drehs eines Films etwa zwei bis drei Mal die Situation, wo dem hoch angesehenen Regisseur gar nichts mehr recht war und er sich an völligen Kleinigkeiten festnagelte, die ihm nicht passten. Das konnte eine kleine Requisite sein, die seiner Meinung nach nicht stimmte und dann noch extra aus Australien eingeflogen werden musste, ein kurzer Nebensatz, den er noch fünfzig Mal umformulierte oder eben diese Nebenrolle des Kindermädchens heute. Eine völlig unwichtige Nebenfigur, die nur einmal kurz auftauchte, musste nun mit der perfekten Person besetzt werden. Plötzlich war dies eine der Schlüsselszenen im ganzen Film. Warum, verstand zwar keiner, aber wenn der Meister sprach, kuschten alle.

„Ich glaube, die Brünette könnte ihm gefallen“, meldete sich nun mutig der Praktikant zu Wort.

„Die könnte ihm zu perfekt für ein Kindermädchen sein“, gab die Frau direkt neben ihm zu bedenken und alle mussten lachen.

„Es könnte allerdings auch einfach an Liams fünfzigsten Geburtstag am kommenden Wochenende liegen. Vielleicht müssen wir den einfach abwarten. Also macht euch nicht allzu viel draus. Ihr habt alle gute Arbeit geleistet!“, sagte der Leiter vom Casting-Team aufmunternd und klopfte dem einen oder anderen auf die Schulter.

„Warten wir einfach ab und briefen unsere Kandidatinnen noch einmal gut vor der nächsten Runde“, wies er alle an, worauf sie sich hinter die Bühne begaben, wo noch etwa zwanzig aufgeregte Kindermädchen warteten.

Liam Baldwin hatte in der Zwischenzeit in seinem Lieblingsrestaurant „Food and Wine“ am Hollywood Boulevard Platz genommen, nippte an seinem doppelten Espresso und beobachtete die vorbeilaufenden Menschen. Gerne saß er hier am Fenster und beobachtete das Treiben auf dem Walk of Fame. Wie sich die Touristen neben den goldenen Sternen auf dem Boden fotografieren ließen, die Scientology Kirche im Hintergrund. Ab und an bekam man auch die eine oder andere Berühmtheit hier zu sehen, aber darum ging es Liam nicht. Das Café hatte den besten Espresso der ganzen Stadt und den brauchte er jetzt.

Ich muss diese Szene noch vor meinem Geburtstag im Kasten haben, sonst habe ich das ganze Wochenende über schlechte Laune, dachte er verdrossen. Hierauf kippte er das bittere Getränk in einem Schluck hinunter und beschloss schleunigst wieder zu seinem Team zurückzugehen, um dieses grauenvolle Casting schnell hinter sich zu bekommen.

Tag null, Heidelberg, 15.30 Uhr

Sarah sollte recht behalten: Kein einziger Kunde erschien mehr an diesem Tag in dem Antiquitätenladen. Dafür war das Wetter erheblich besser geworden, mittlerweile ließ sich sogar die Sonne noch einmal blicken und es war angenehm warm für Ende September.

Schönes Wetter wäre toll für das lange Wochenende, dachte Sarah gerade, als ihr Handy klingelte und sie sogleich die aufgeregte Stimme ihrer jüngeren Töchter Julia vernahm. Diese würde das lange Wochenende mit einer Freundin auf einem Reiterhof verbringen und fieberte diesem schon seit Tagen, wenn nicht Wochen, entgegen.

„Mama, Mama, hast du gesehen, was jetzt für ein Hammer-Wetter ist?“

Sarah wusste, dass Julia, die gerade aus der Schule gekommen war, sich erst einmal Luft machen musste und nun reden würde wie ein Wasserfall.

„Mama, ich habe mir gerade mit Emelie überlegt, dass ich doch schon heute bei ihr übernachten kann. Dann können wir morgen nach der Schule gleich zusammen los zum Reiterhof. Ihr Vater würde uns hinfahren, dann musst du das nicht machen.“ Es war rührend, wie ihre Tochter solche Sachen immer so auslegte, als wollte sie ihr einen Gefallen tun.

Eigentlich wirklich keine schlechte Idee, musste Sarah insgeheim zugeben.

„Ja, wenn das Emelies Eltern recht ist, können wir das so machen“, antwortete sie und hörte daraufhin nur noch hysterisches Geschrei der beiden Mädchen am anderen Ende.

„Aber…“ Sarah wartete, bis Julia wieder aufnahmefähig war. „Aber warte noch bis ich zuhause bin, damit wir uns noch sehen, bevor du wegfährst. Okay, Schatz?“

„Klar, Mama!“, kam es vernünftig zurück.

„Du kannst ja deine Sachen fertig packen und in spätestens einer Stunde bin ich auch zuhause und kann dich zu Emelie fahren.“

„Du bist die Beste, Mama!“, kam es euphorisch zurück und dann hatte Julia schon aufgelegt, um wahrscheinlich den nächsten Kreischanfall mit ihrer Freundin zu bekommen.

Gerade als Herr Graf den Laden betrat, fiel Sarah auf, dass alle Familienmitglieder etwas Spannendes vorhatten über das kommende lange Wochenende, außer ihr selbst.

Julia ging mit ihren fünfzehn Jahren auf ihr erstes Reiterhof-Wochenende. Sophie, gerade siebzehn geworden, hatte sich schon für das ganze Wochenende abgemeldet, da ihr Freund Geburtstag hatte und die beiden schon so gut wie verlobt waren.

Ihr Mann Stefan hatte seinen jährlichen Angeltrip mit Freunden an der Nordsee geplant, den sie ihm wirklich von Herzen gönnte. Er hatte viel Stress gehabt an der Uniklinik in letzter Zeit und nach ein paar Tagen Angeln war er immer wie ausgewechselt. Die Erholung hielt meist wochenlang an, wobei Sarah sich immer wunderte, woran das lag, denn sie wusste, dass die Männer oft nur ein paar Stunden Schlaf bekamen, dafür aber umso mehr tranken. Nicht selten kam Stefan auch noch mit einer dicken Erkältung zurück, das gehörte wohl auch dazu, zu dem Abenteuer auf hoher See. Wahrscheinlich war es einfach die gute Seeluft und das raue Männerleben, wovon er wochenlang noch zehrte.

Nun schaute sie zu ihrem Arbeitgeber, der langsam auf sie zu kam und sich umblickte.

„War wohl wieder nicht so ein guter Tag?“, konnte ihr Herr Graf anscheinend gleich ansehen.

„Ehrlich gesagt, war es ein ganz schlechter Tag, Herr Graf. Lag wohl am Wetter, denn ich hatte nur einen Kunden“, gab Sarah ehrlich zurück. Sie konnte die Situation einfach nicht schön reden.

„Jetzt machen Sie sich doch erstmal ein schönes langes Wochenende“, sagte Herr Graf hierauf väterlich. „Nehmen Sie sich Dienstag noch frei, unternehmen etwas Nettes mit Ihrer Familie und am nächsten Mittwoch besprechen wir mal die Lage. Aber keine Sorge, Frau Schäfer, ich möchte Sie weiterhin in meinem Laden beschäftigen.“

Instinktiv hatte Sarah das Gefühl, den alten Mann umarmen zu müssen, schüttelte ihm jedoch nur herzlich die Hand. Herr Grafs Vorschlag hörte sich wunderbar an. Heute war Donnerstag, freitags arbeitete Sarah nie und Montag war Feiertag. Wenn Sie Dienstag auch noch frei hätte, wäre das ja ein richtiger Mini-Urlaub. Dass ihre ganze Familie ausgeflogen war, musste sie ihrem netten Chef ja nicht gleich unter die Nase reiben.

„Gut, Herr Graf, wenn Sie meinen…“, antwortete sie nun noch etwas unsicher.

„Natürlich meine ich das! Und jetzt packen Sie Ihre Sachen, es ist traumhaftes Wetter draußen.“

Gesagt. Getan.

So stand Sarah am Donnerstagnachmittag schon um kurz nach halb vier auf dem Markplatz und verspürte ein gewisses Kribbeln im Bauch. Sie wollte etwas unternehmen, auch etwas Schönes an diesem Wochenende auf die Beine stellen. Nur was?

Gemütlich schlenderte Sarah Schäfer hierauf über den Marktplatz und holte sich eine große Portion Eis bei ihrer Lieblingseisdiele an der Heiliggeistkirche. Sie beschloss, bei dem herrlichen Wetter noch etwas spazieren zu gehen, und bummelte kurz darauf die Steingasse entlang, um über die Alte Brücke zu Fuß nach Hause zu gehen. Familie Schäfer war gerade vor einem Jahr in eine traumhafte Wohnung in einer der imposanten Villen an der Neuenheimer Landstraße auf der anderen Neckarseite gezogen. Lange hatten sie nach solch einer Wohnung gesucht und genossen nun den täglichen Ausblick auf die Alte Brücke und das Heidelberger Schloss, das erhaben über der Stadt lag. Meistens ging sie zu Fuß oder fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit. Heute wollte sie sich besonders viel Zeit lassen für ihren Heimweg und den sonnigen Herbstnachmittag noch etwas genießen.

Etwa auf der Mitte der Steingasse blieb sie vor einem Schaufenster stehen, um in ihrem Spiegelbild zu prüfen, ob sie noch Reste von dem Eis am Mund hatte. Erst jetzt merkte sie, dass sie vor einem winzig kleinen Reisebüro stehengeblieben war. Das Geschäft war ihr schon öfter aufgefallen, sie hatte ihm allerdings noch nie weitere Beachtung geschenkt.

Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, warum sie den Laden überhaupt betreten hatte. Irgendetwas zog sie magisch an, vielleicht war es auch nur Mitleid mit dem völlig gelangweilten und zugegebenermaßen fantastisch aussehenden Verkäufer, der wahrscheinlich einen ähnlich trägen Tag hinter sich hatte wie sie selbst. Fast schien es ihr, als würde der Beau sie in sein Reisebüro hineinwinken und sie schwebte förmlich über die Türschwelle, um sich wie gebannt in dem kleinen Raum umzublicken.

Das kleine Reisebüro war originell eingerichtet. Fasziniert betrachtete Sarah, was alles in dem winzigen Geschäft untergebracht war. Neben zwei unechten Palmen mit einer gemütlich aussehenden Hängematte, hingen eindrucksvolle Bilder an den Wänden, die definitiv Reiselust weckten. Zumindest bei Sarah. Dazu ertönte Musik, wie man sie sich an einem karibischen Strand vorstellte.

„Und wo wollen Sie noch last minute hin über das lange Wochenende?“, fragte sie der Schönling hinter seinem Schreibtisch und wirkte durchaus sympathisch.

„Äh. Ich weiß nicht. Eigentlich nirgends… wollte mich nur mal umschauen“, stammelte Sarah und blickte sich etwas ratlos um.

„Ja, das denken die meisten“, gab ihr Gegenüber nun lachend von sich. „Aber glauben Sie mir, Sie sind nicht ohne Grund hier rein gekommen.“

Sarah blickte ihn nur mit großen Augen an und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Warum hatte sie das Reisebüro überhaupt betreten?

„Setzen Sie sich doch hin“, schlug er ihr nun vor. Sarah folgte dem Mann aufs Wort, der sie irgendwie zu hypnotisieren schien. Kurze Zeit später hatte sie dem Wildfremden bereits ihre halbe Lebensgeschichte erzählt und detailliert geschildert, was ihre Töchter und ihr Ehemann über das lange Wochenende alles vor hatten, sie hingegen aber noch gar nichts geplant hatte.

Sie war das gefundene Fressen für den wahrscheinlich seit Jahren psychologisch geschulten Reiseverkäufer!

„Na, dann schauen wir doch mal!“, rief dieser begeistert aus und schon lag ein Stapel Reisekataloge auf dem Tisch. Mit flinken Fingern blätterte er diese durch und legte einige aufgeschlagen vor sie hin. Der Reisekaufmann schien Gedanken lesen zu können, denn jedes der von ihm vorgeschlagenen Ziele ließ ihr Herz höher schlagen. Sarah blickte auf Reisen nach Amalfi, auf die Kanarischen Inseln oder nach Kalifornien.

Wortlos betrachtete sie die aufgeschlagenen Hefte und musste sich eingestehen, dass das Kribbeln in ihrem Bauch immer stärker wurde.

Der Mann hatte recht.

Warum sollte sie nicht auch wegfahren, wie der Rest ihrer Familie?

Bereits nach fünf Minuten waren sie und Chris schon per du und dass Sarah in Urlaub fahren würde, war mittlerweile völlig klar, es ging nur noch darum, wohin.

Auf den Kanarischen Inseln war sie schon oft gewesen, an der Amalfiküste hingegen noch nie, was sie wirklich reizen würde.

„Was ist dir denn am wichtigsten bei deiner Reise?“, fragte Chris gerade einfühlsam.

„Ich würde gerne wohin reisen, wo ich noch nie war. Eine andere Welt erkunden. Mich erholen können, aber auch etwas Spannendes erleben. Und Sonne hätte ich gerne, viel Sonne.“

Kurz hielt sie inne und fragte dann: „Das ist wohl etwas viel verlangt für fünf Tage, stimmt’s?“

„Gar nicht“, gab Chris hierauf zu ihrer Überraschung von sich.

„Also, wenn die Kanaren wegfallen, hätte ich zwei gute Angebote: Amalfi oder Los Angeles. Lass mich mal schauen, wie das Wetter in Italien ist.“

Nachdem er kurz auf seinem Computer rumgehackt hatte, blickte er sie an und sagte nur: „Nicht so tolles Wetter dort. Regen und nur fünfzehn Grad, das ganze Wochenende über.“

Wieder tippte er etwas und blickte dann mit leuchtenden Augen auf.

„In Hollywood ist Sonne pur, dreiundzwanzig Grad, jeden Tag!“

Das war ein Argument!

„Morgen um neun Uhr geht ein Flieger von Frankfurt direkt nach Los Angeles, dann bist du gegen Mittag dort. Du fliegst ja quasi gegen die Zeit. Einen Rückflug könnte ich dir Montagnachmittag um fünf Uhr anbieten. Dann bist du Dienstag gegen drei Uhr nachmittags wieder in Frankfurt.“

Stolz blickte Chris von seinem Computer auf, der wusste, dass diese Flugdaten genau in Sarahs Zeitplan passen würden.

„Und das Ganze für nur sagenhafte sechshundert Euro. Sonst kosten die Flüge locker das Doppelte. Ein günstiges, aber sensationelles Hotel direkt in Hollywood könnte ich dir auch noch anbieten“, verkündete er weiter und blickte Sarah gespannt an. Er wusste, dass er sie bereits an der Angel hatte.

Die Vorstellung das Wochenende in Hollywood zu verbringen, war zugegebenermaßen mehr als verlockend. Nur einmal war sie bisher in Kalifornien gewesen und das war gute dreißig Jahre her. Sarah war damals ein Teenager gewesen und mit ihren Eltern den berühmten Highway One entlang gefahren. Sie hatte den Urlaub nur in positiver Erinnerung.

„Das werden bestimmt einzigartige fünf Tage…“, bemerkte Chris nun noch, der sicherlich spürte, dass Sarah schon fast angebissen hatte.

„Ich muss erstmal telefonieren“; gab Sarah nun von sich, schnappte sich ihr Handy und wählte Stefans Nummer. Inständig hoffte sie, dass er dran gehen würde und nicht gerade im OP oder bei einer Besprechung war. Denn eins wusste Sarah auch: Entweder sie würde hier und jetzt ihre kleine, aber feine Reise buchen oder es ganz sein lassen. Zurückkommen würde sie bestimmt nicht noch einmal. Das schien auch Chris zu spüren, der sie gerade anlächelte, dass sie einen Goldzahn aufblitzen sah.

„Hallo Schatz“, meldete sich Stefan sogleich, der wusste, dass Sarah ihn nur störte, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab.

„Stefan, hast du eine Minute?“, fragte Sarah gleich und merkte erst jetzt, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug.

„Ja klar. Was gibt es denn?“

„Also Stefan, ich stehe hier gerade in einem Reisebüro und…“ kurz musste sie überlegen, wie sie ihr Vorhaben ihrem Mann am besten erklären konnte. Er würde wahrscheinlich denken, sie sei übergeschnappt.

„Im Laden war heute wieder furchtbar wenig los und da hat Herr Graf mich heute früher gehen lassen und auch noch nächsten Dienstag frei gegeben…“, begann sie zu erklären.

„Und jetzt willst du auch wegfahren?“, kombinierte Stefan haarscharf, der wirklich nicht auf den Kopf gefallen war.

„Ja!“, rief Sarah begeistert aus. „Ich dachte, weil ihr ja sowieso alle ausgeflogen seid über das Wochenende, könnte ich auch etwas Schönes unternehmen.“

„Natürlich“, gab ihr Mann verständnisvoll zurück, schien aber nebenbei noch mit etwas anderem beschäftigt zu sein, das konnte Sarah seiner Stimme anhören.

„Wohin soll`s denn gehen?“, fragte er als Nächstes.

„Nach Hollywood. Morgen früh geht ein Flieger…“

Nun herrschte Schweigen am anderen Ende, das eine gefühlte Ewigkeit anhielt. Stefan war sprachlos, was selten vorkam.

Sie hörte, wie er tief Luft holte und dann nicht mehr ganz so gut gelaunt fragte: „Ist das nicht ein bisschen weit weg für ein Wochenende?“

„Ja, ich weiß, aber hier im Reisebüro gibt es ein super Angebot für Flug und Hotel. Ich würde ja auch nach Italien, aber da ist das ganze Wochenende schlechtes Wetter…“

„Gut. Warum eigentlich nicht?“, gab Stefan nun zurück, dem wohl gerade bewusst geworden war, dass sonst wahrscheinlich er irgendwann mitkommen müsste zum Sightseeing und Stadtbummel durch L.A. und Hollywood. Und was gab es Schlimmeres für einen Mann?

Nun hörte Sarah Stimmengewirr im Hintergrund und Stefan sagte schnell: „Mach wie du meinst, Süße. Ich muss los. Bis später.“ Dann war das Gespräch bereits beendet.

Sarah stand etwas verloren in der Mitte der Reisebüros und blickte auf ihr Mobiltelefon. Sie hätte gerne ein klareres „Ja“ oder ein entschiedenes „Nein“ von ihrem Mann gehört. Sie wollte, dass er ihr diese Entscheidung abnahm, aber im Grunde hatte er ja zugestimmt.

Dezent hörte sie Chris sich hinter ihr räuspern.

„Und was meint der Herr Gemahl?“, fragte er sie nun und man sah die Hoffnung in seinen Augen aufblitzen. Auch er wollte heute wohl wenigstens ein Geschäft abschließen.

Sarah ließ sich wieder auf den Stuhl vor ihm sinken und sagte halblaut: „Ach, ich weiß nicht…“

„Dann zeige ich dir noch was“, gab Chris immer noch bestens gelaunt von sich und drehte seinen Computerbildschirm zu ihr herum.

„Hier siehst du das Wetter in Heidelberg“, dabei deutete er auf die Wettervorhersage, auf der ausschließlich dicke Wolken mit noch dickeren Regentropfen zu sehen waren.

Die arme Julia, dachte Sarah sogleich, deren erster Reiturlaub ziemlich ins Wasser fallen würde. Auch Stefan tat ihr leid, wobei der immer behauptete beim Angeln sei das Wetter völlig egal.

„Und hier ist das Wetter in Los Angeles!“, verkündete ihr Hypnotiseur nun euphorisch und zeigte auf eine Wetterkarte mit einer lachenden Sonne, Tag für Tag.

„Das hier sind einige Bilder von dem Hotel Redbury, das ich für dich buchen würde. Es liegt mitten drin im Geschehen, hat einen tollen Ausblick über ganz L.A. und einen einzigartigen Wellnessbereich, um nur ein paar Dinge zu nennen“.

Die Fotos, die er nun durchklickte, waren wirklich umwerfend. Die Vorstellung genau dort die nächsten fünf Tage zu verbringen, verschlug Sarah fast die Sprache.

„Na gut, dann buche ich das“, hörte sie ihre eigene Stimme sagen. Wie ferngesteuert zog sie ihre Kreditkarte aus der Handtasche und legte sie auf den Tisch.

„Na, etwas mehr Begeisterung wäre doch schon angesagt. Du fliegst morgen nach Hollywood. Nach Hollywood! Das werden einzigartige Tage, Sarah, ganz sicher!“

„Ich weiß. Ich freue mich ja auch“, gab Sarah immer noch etwas passiv zur Antwort und ging in Gedanken schon alles durch, was sie noch erledigen musste. Noch nie war sie alleine so lange weggefahren. Und so weit weg. Das kribbelige Gefühl in ihrem Bauch wurde immer stärker, denn nun mischte sich noch eine gehörige Portion Aufregung dazu.

Musste sie ihre Töchter noch um Erlaubnis fragen? Nein. Diese waren ja sowieso das ganze Wochenende ausgeflogen. Da war es ja egal, ob Sarah sich in Heidelberg bei schlechtem Wetter langweilte oder ein paar aufregende Tage in Hollywood verbrachte.

„Chris, ich freue mich riesig!“, sagte sie nun euphorisch und reichte ihm feierlich ihre Kreditkarte.

„So ist es schon besser“, gab dieser lachend zurück und schob schnell ihre Kreditkarte in die Maschine, bevor sie es sich noch einmal anders überlegte.

Gut fünfzehn Minuten später verließ Sarah das winzige Reisebüro mit einer kleinen Tragetasche gefüllt mit Prospekten, Infomaterial, einem Reiseführer, den Chris ihr noch geschenkt hatte und vor allem den Flugtickets. Flugtickets nach Los Angeles!

Das war wirklich das Verrückteste, was sie seit langem gemacht hatte.

Als sie die Steingasse entlang lief, beobachtete sie, wie die zahlreichen Café- und Restaurantbesitzer die für eine halbe Stunde rausgestellten Tische und Stühle gerade wieder hektisch wegräumten, da schon wieder die ersten Tropfen vom Himmel fielen.

Das schlechte Wetter war Sarah nun, mit ihren sonnigen Aussichten, völlig egal und sie summte Singing in the rain, während sie durch den mittlerweile wieder strömenden Regen nach Hause lief… oder eher schwebte.

Zuhause angekommen, trafen fast zeitgleich ihre beiden Töchter ein, die man ohne Bedenken bereits als junge Frauen bezeichnen konnte.

Julia war mit ihren fünfzehn Jahren nun wirklich ein Teenager mit allem was dazugehörte und hatte ihre letzten kindlichen Züge verloren. Sophie war mit ihren siebzehn Jahren genauso groß wie Sarah, wirkte oft einige Jahre älter und hätte locker schon als junge Studentin durchgehen können.

Als ihre erste Tochter auf die Welt kam, hatten Sarah und Stefan einstimmig beschlossen, dass auch sie einen Namen bekommen sollte der mit „S“ anfing. So passend noch dazu zu dem Nachnamen Schäfer. Zwei Jahre später, als ihre zweite Tochter das Licht der Welt erblickte, fanden sie das mittlerweile irgendwie albern und gaben ihr den Namen Julia.

Da hatten sie die Rechnung aber ohne Julia gemacht. Als Julia im Alter von etwa vier Jahren realisierte, dass sie die Einzige war, deren Name nicht mit einem „S“ anfing, bekam sie einen Wutanfall, der filmreif war. Fast ein Jahr lang konnte sie sich so sehr darüber aufregen, dass sie sich manchmal sogar übergeben musste. Andere Kinder konnten ohne ersichtlichen Grund losheulen, Julia kotzen.

Noch dazu war sie die einzige in der Familie mit dunklen Haaren. An ihrem fünften Geburtstag verkündete sie dann, dass sie von nun an „Sissi“ genannt werden möchte. Und wehe man hielt sich da nicht dran.

Einmal hatte Sarahs Mutter auf die Mädchen aufgepasst, die natürlich darauf bestand sie nach wie vor Julia zu nennen.

„Sissi, so was Albernes. Ich nenne sie weiterhin Julia“, hatte sie bei ihrer Ankunft verkündet. Als Sarah dann ein paar Stunden später wiederkam, konnte sie an Julias zufriedenem und dem entsetzten Gesicht ihrer Mutter erkennen, wer diesen kleinen Machtkampf gewonnen hatte.

„Ich frage mich ja, woher sie dieses Temperament hat“, hatte ihre Mutter nur gestammelt und fluchtartig die Wohnung verlassen.

„Oma hat ihr blaues Wunder erlebt“, verkündete Julia hierauf auch noch stolz. Von diesem Tag an hatte die Oma immer eine gute Ausrede gehabt, um die Mädchen nicht mehr hüten zu müssen. Was auch bis heute nie wieder der Fall gewesen war.

Zum Glück hatte Julia mittlerweile ihren Namen akzeptiert und auch ihr Temperament war kalkulierbar geworden.

Gerade hatte Sarah den beiden Mädchen ihren Plan für das kommende Wochenende verkündet und war angenehm überrascht über deren positive Resonanz. Julia fand es „klasse“, machte sich mehr Gedanken um das schlechte Wetter und was sie zum Reiten nun alles einpacken sollte. Sophie konnte sie ansehen, dass diese sie wohl etwas beneidete und wahrscheinlich gerne mitgekommen wäre. Trotzdem freute sie sich für ihre Mutter und verfasste sogleich eifrig eine Liste mit Dingen, die sie mitgebracht haben wollte.

Sarah hatte, wie so oft, das Abendessen schon vorbereitet. Mit geübten Griffen schob sie ein Huhn und Kartoffelgratin in den Ofen. Nebenbei deckte sie den Tisch, half der etwas verzweifelten Sophie, die ebenfalls am Essenstisch saß, bei ihren Hausaufgaben und schlug Julia Sachen vor, die sie noch einpacken konnte.

Als gut eine Stunde später Stefan zur Tür hereinkam, waren alle Reisetaschen für das lange Wochenende gepackt und es duftete in der ganzen Wohnung nach Sarahs köstlich gebratenem Huhn mit ihrer Spezial-Gewürzmischung.

Tag null, Hollywood, 18.00 Uhr

Liam Baldwin saß erneut in seinem Lieblingscafé am Hollywood Boulevard und hatte gerade ein etwas anstrengendes Gespräch mit Greg, seinem Castingleiter hinter sich. Manchmal hatte er wirklich das Gefühl, dass der Mann nicht verstand, worum es ging und wie wichtig die Besetzung dieser Schlüsselszene war.

„Das kriegen wir schon hin“, hatte dieser zum Schluss nur gesagt und war gegangen, oder hatte sich eher vor Liams schlechter Laune in Sicherheit gebracht.

Wenn die fünfzig Schauspielerinnen morgen genauso schlecht sein würden wie die heute, konnte er wirklich etwas erleben. Aber das hatte er Greg wohl schon hundert Mal angedroht in den letzten zehn Jahren. So lange arbeiteten sie immerhin schon zusammen und bisher hatte dieser es immer gut hinbekommen, die Rollen erfolgreich zu besetzen.

Bei der Rolle des Kindermädchens schien Greg allerdings den Sinn dieser Schlüsselrolle nicht verstanden zu haben. Überhaupt hatte Liam manchmal das Gefühl, dass dieser das Manuskript nur überflog, wenn überhaupt.

Die Szene stellte den markanten Schnitt zwischen dem harten Leben einer völlig überarbeiteten, alleinerziehenden Mutter und der von diesem Tag an angebotenen Hilfe durch ein Kindermädchen dar. Dieser sozialkritische Film beruhte auf wahren Begebenheiten und Liam Baldwin versprach sich sehr viel davon.

Jeder, der das Manuskript gelesen hatte und die Message des Streifens einigermaßen verstand, wusste auch, wie wichtig diese Szene war: Die Szene, bei der das Kindermädchen den Raum, genauer gesagt, die Küche betrat und die vier Kinder und eine zu Tränen gerührte Mutter freundlich begrüßte. Alles würde sich im Leben dieser Mutter von diesem Moment an ändern. Jeder Idiot konnte das verstehen, wohl nur nicht Greg.

Liam merkte, dass er sich unnötig darüber aufregte, was ihn noch mehr in Rage brachte. Völlig klar war ihm auch, dass dies größtenteils an seinem kommenden fünfzigsten Geburtstag lag. In nur zwei Tagen würde es soweit sein. Dabei fühlte er sich noch lange nicht so alt.

Zusätzlich musste er insgeheim zugeben, dass ihm etwas vor seiner Geburtstagsfeier am Samstag graute. Diese wurde von seiner ersten und dritten Exfrau geplant. Auch einige seiner Töchter hatten ihre Hände im Spiel, was ihn nicht gerade glücklich stimmte. Wäre seine zweite Exfrau noch bei der Planung dabei, wäre er sich sicher, dass er den Abend nicht überleben würde. Wahrscheinlich wäre dann als Erheiterung der Gäste geplant, dass Liam durch ein Becken mit Piranhas und Haifischen schwimmen musste, Bungeespringen ohne Seil und jeder seiner Drinks wäre wohl mit einem Tröpfchen Arsen verfeinert.

Seine beiden Exfrauen machten sich jedenfalls einen Heidenspaß daraus, mit seinem Geld eine „Überraschungsparty“ zu planen, von der er sowieso schon wusste, dass sie stattfand.

Auch hatten sie sich bereits verplappert, dass das Ganze in seinem Haus am Malibu Beach stattfinden sollte und wer alles auf der Gästeliste stand, konnte er sich ebenfalls denken. Die Hälfte davon waren sowieso nur Schmarotzer.

Am liebsten wäre ihm eigentlich eine kleine, gemütliche Feier nur mit seinen besten Freunden. Wenn es die überhaupt noch gab …

Einfach in einem schummrigen Pub ein paar Bier trinken, wie man es mit Anfang zwanzig getan hatte, Billard spielen, ein Fußballspiel anschauen, das wäre sein Traum-Geburtstag. In kleiner Runde Essen gehen, wäre auch nett gewesen. Aber das ging natürlich nicht, wenn man Liam Baldwin hieß, da musste alles überdimensional, groß und übertrieben sein. Wieder merkte er, wie die Wut in ihm erneut aufkochte.

„Einen Champagner noch!“, bestellte er recht ruppig.

Das würde helfen.

Tag null, Heidelberg, 18.00 Uhr

„Das riecht wirklich köstlich“, rief Stefan begeistert, als er die Wohnung betrat. Erstaunt blieb er stehen und schaute sich um.

„Das sieht ja nach einer Völkerwanderung aus“, bemerkte er lachend beim Anblick der vielen Reisetaschen im Flur und gab Sarah einen Begrüßungskuss.

„Es ist halt schlechtes Wetter vorhergesagt und dein Angelzeug alleine ist ja eine ganze Kofferraumladung“, neckte Sarah ihn und erwiderte seine liebevolle Umarmung.

„Na, du nimmst doch bestimmt nur deinen Bikini mit. Den Rest kaufst du dir dann vor Ort, kann ich mir vorstellen…“, versuchte er sie weiter aufzuziehen.

Stefans Miene konnte sie jedoch entnehmen, dass er über ihre Spontanität angenehm überrascht war und sich für sie freute. Das liebte sie an ihm. Nie war er missgünstig, neidisch oder geizig. Ihr Mann war ein überaus großherziger und großzügiger Mensch.

Lediglich etwas wortkarg war er in letzter Zeit. Was hieß da in letzter Zeit? Eigentlich müsste man sagen: Wortkarg war er immer, in den letzten Monaten nur noch mehr, wenn das überhaupt möglich war.

Meistens musste sie ihm jedes Wort aus der Nase ziehen. Auch an Einfallsreichtum könnte er etwas besser bestückt sein. Jeden Urlaub, jedes Ausflugsziel, überhaupt alles, was sie als Paar oder Familie unternahmen, musste sie sich einfallen lassen. Aber sie wollte ja nicht zu anspruchsvoll sein. Immerhin machte er bei allem mit. Das Einzige, was er selbst plante, waren seine Angelausflüge, aber so waren Männer wohl, bei all ihren Freundinnen und deren Männern war es ähnlich.

Kurz darauf saßen sie zusammen an dem antiken Esstisch in ihrer heimeligen Küche und verspeisten das vorzügliche Abendessen, das Sarah zwischen den ganzen Reisevorbereitungen auf den Tisch gezaubert hatte. Obwohl sie auch ein Esszimmer hatten, aßen sie meist hier in der Küche, es war einfach gemütlicher. Sowieso spielte sich erstaunlich viel im Leben der Familie Schäfer in der Küche ab. Die Mädchen machten am liebsten hier ihre Hausaufgaben, schauten Mama dabei beim Kochen zu und auch ihr wöchentlicher Spieleabend fand meistens hier statt, anstatt im Wohnzimmer.

Man konnte merken, wie sehr sich jeder auf das kommende Wochenende freute. Julia, die sonst immer am meisten redete, sprach während des gesamten Essens kein Wort, da sie so damit beschäftigt war, dieses möglichst schnell in sich hineinzustopfen, um zu ihrer Freundin Emelie gehen zu können.

Sophie schien auch etwas abwesend und in Gedanken schon ganz bei der Geburtstagsfeier ihres Freundes Max zu sein. Bei gutem Wetter hatten sie eine Grillparty geplant. Momentan sah es aber eher so aus, als müssten sie sich etwas anderes für die angekündigten fünfzig Gäste einfallen lassen. Sarah hatte schon mit der Mutter von Max telefoniert, mit der sie mittlerweile auch gut befreundet war. Diese blickte dem Ganzen allerdings recht entspannt entgegen.

Max war für seine fast achtzehn Jahre ein wirklich vernünftiger Junge, wenn Sarah ihn mit dem verglich, was sie manchmal in Sophies Klasse zu sehen bekam. Er hatte das Abitur schon in der Tasche, gerade Führerschein gemacht und wirkte oft erschreckend erwachsen.

Obwohl Stefan dem Jungen vor gut drei Jahren am liebsten Hausverbot erteilt hätte, als sie merkten, dass sich etwas Ernstes daraus entwickelte, mochte auch er ihn mittlerweile recht gerne. So gerne, wie ein Vater den Freund seiner eigenen Tochter eben mögen konnte…

Sarah und Stefan waren zufrieden mit der Wahl ihrer Tochter, so viel stand fest. Mal sehen, was Julia anschleppen würde, davor graute beiden insgeheim schon.

„Der Kühlschrank ist recht leer, aber da wir nun alle über das Wochenende ausgeflogen sind, war ich heute nicht mehr einkaufen“, erklärte Sarah gerade.

„Ich komme Dienstagnachmittag wieder. Montagabend könnt ihr euch ja Tiefkühlpizza machen“, begann Sarah nun zu planen, merkte aber, dass ihr niemand richtig zuhörte.

„Für Dienstag zum Frühstück sind Brötchen im Tiefkühlfach oder ihr macht euch Cornflakes. In der Speisekammer ist noch haltbare Milch.“ Zwei Mahlzeiten mit nicht dem gesündesten Essen, worauf Sarah sonst viel Wert legte, würde ihre Familie wohl überleben.

Stefan und die beiden Mädchen fingen in dem Moment an, über irgendetwas zu lachen, und Sarah wurde klar, dass ihr keiner zuhörte.

„Jetzt hört doch mal zu“, ermahnte sie die Drei.

„Ich will die nächsten Tage wenigstens etwas durchsprechen. Vor allem Montag und Dienstag, wenn ich nicht da bin“, erklärte sie und erntete nur Kichern als Antwort.

„Wir werden es schon schaffen, uns zwei Mal was zu Essen zu machen“, gab Stefan nun leichthin von sich und faxte weiter mit seinen Töchtern.

Wahrscheinlich hat er recht, musste Sarah insgeheim zugeben.

„Gut. Ich schreibe mal eine Einkaufsliste, falls ihr am Dienstag zum Einkaufen kommen solltet“, gab Sarah hierauf von sich, was allerseits nur mit Augenrollen registriert wurde.

„Kann ich jetzt zu Emelie?“, rief Julia aufgeregt, die an nichts anderes zu denken schien.

„Gut. Mach dich schon mal fertig. Ich fahre dich gleich hin“, verkündete Sarah zu Julias Begeisterung und diese sprang auf.

„Das kann ich doch machen“, schlug Stefan nun netterweise vor. „Du hast doch hier genug zu tun!“ Das stimmte allerdings.

Als sich Sarah kurz darauf von ihrer Tochter verabschiedete, wurde ihr ganz schwer ums Herz. Noch nie war sie so lange von ihren Kindern getrennt gewesen, musste sie schmerzlich feststellen. Hoffentlich würde sie ihre Familie nicht zu sehr vermissen in den nächsten Tagen.

Julia hingegen zeigte keinerlei Anzeichen von Traurigkeit, eher konnte sie gar nicht schnell genug aus dem Haus rauskommen.

Auch von Sophie verabschiedete sie sich bereits an diesem Abend, da sie das Haus am nächsten Morgen in aller Frühe verlassen wollte. Auch ihre ältere Tochter schien sich auf die kommenden Tage nur zu freuen und kein Problem damit zu haben, dass ihre Mutter ebenfalls verreiste.

Einerseits erfüllte es Sarah fast mit Stolz, wie unabhängig ihre Kinder inzwischen waren, andererseits auch mit Traurigkeit, da sie das Gefühl hatte, als Mutter kaum noch gebraucht zu werden.

Gegen neun Uhr saßen Sarah und Stefan dann in der Küche und tranken noch ein Glas von ihrem besten Rotwein. Auch ihn würde sie vermissen.

„Ich wollte noch eine Liste machen, mit den wichtigsten Telefonnummern für die Kinder. Außerdem wollte ich aufschreiben, was sie alles Dienstagfrüh für die Schule brauchen“, sagte Sarah eifrig, während sie aufstand, und schon Zettel und Stift in der Hand hatte.

Stefan stand ebenfalls auf, stellte sich hinter sie und umarmte sie liebevoll. „Du und deine Listen“, hauchte er ihr ins Ohr, nahm ihr den Stift aus der Hand und begann ihren Hals zu küssen, was ein angenehmes Kribbeln in ihrem ganzen Körper auslöste.

„Ich hätte da eine ganz andere Idee“, flüsterte er ihr ins Ohr, während seine Hände langsam auf ihre Brüste zuwanderten.

„Lass mich wenigstens schnell die Einkaufsliste schreiben“, protestierte Sarah schwach, ließ sich allerdings schon aus der Küche ins Schlafzimmer führen.

„Wir brauchen keine Listen, wir sind bestens versorgt“, versicherte Stefan noch einmal, was ihren letzten Widerstand brach.

Stefan konnte ja nicht ahnen, wie sehr er Sarahs Listen in den nächsten Tagen gebraucht hätte.

Tag eins, Heidelberg, 5.30 Uhr

Entsetzt blickte Sarah auf ihren Wecker, der sie nach gefühlten zwei Stunden Schlaf schon weckte. Als ihr einfiel, warum sie mitten in der Nacht aufstehen musste, sprang sie sofort hellwach aus dem Bett.

Ihre Reise! In wenigen Stunden würde sie nach Los Angeles fliegen!

Leise schlich sie sich aus dem Schlafzimmer, um Stefan noch etwas Schlaf zu gönnen. Dieser murmelte kurz etwas Unverständliches, drehte sich auf die andere Seite und war sofort wieder eingeschlafen.

Ein wenig beneidete sie ihn um seinen festen Schlaf, wollte aber auf keinen Fall missen, was ihr bevorstand.

In Windeseile hatte sie geduscht, sich fertig gemacht und ein schnelles Frühstück im Stehen zu sich genommen. Nun stand sie am Fenster und wartete ungeduldig auf das Taxi, das sie zum Airport Shuttle der Lufthansa beim Crown Plaza Hotel in der Innenstadt bringen sollte.

Wieder regnete es und obwohl sie Heidelberg so sehr liebte, musste Sarah sich eingestehen, dass sie verdammt froh war, ein paar Tage dem miesen Wetter entfliehen zu können. Ihre Familie tat ihr zwar ein wenig leid, die nächsten Tage bei diesem Schmuddelwetter verbringen zu müssen, aber sie war sich sicher, dass sie alle auf ihre Weise eine Menge Spaß haben würden.

Gut eine Stunde später stand sie bereits am Flughafen. Der Fahrer des Shuttlebusses schien alle Rekorde brechen zu wollen und früher Rennfahrer gewesen zu sein. Mit einem stolzen Lächeln verabschiedete er sich nun von jedem Gast, die ihm alle noch ein Trinkgeld für seine Fahrkünste zusteckten.

Sarah freute sich richtig auf die lange Reise. Sie würde sich ordentlich mit Zeitschriften eindecken und es genießen, mal einen oder sogar zwei Filme in Ruhe schauen zu können. Herrlich! Ihr Urlaub fing mit der Reise schon an, hatte sie beschlossen.

Die Dame am Schalter machte zuerst ein langes Gesicht und nuschelte nur: „Wir sind ziemlich überbucht heute“ vor sich hin.

Überbucht? Was sollte das denn heißen?

Kurz darauf erhellte sich die Miene ihres Gegenüber allerdings schon wieder und diese schlug ihr vor: “Ich kann Ihnen zwei Optionen anbieten: Entweder Sie nehmen einen späteren Flug, bei dem ich Ihnen aber auch nicht versprechen kann, dass genug Sitzplätze frei sind oder“, nun holte sie tief Luft: „Wir upgraden Sie in die Businessclass.“

Sollte diese Frage ein Witz sein?

„Muss ich dafür irgendwas machen“, fragte Sarah unsicher, die sich schon sämtliche Koffer zum Flugzeug schleppen oder die Flughafenhalle putzen sah.

„Nein, natürlich nicht!“, gab die Dame hinter dem Schalter freundlich zurück.

„Dann nehme ich gerne das Upgrade in die Businessclass“, gab Sarah zurück, die sich immer noch nicht sicher war, ob es sich um einen Scherz handelte.

„Gerne, hier ist Ihre Bordkarte“, sagte die junge Frau kurz darauf und drückte ihr einen Wisch in die Hand, den Sarah sprachlos entgegennahm.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752113938
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Hollywood USA Kalifornien Mütter Reisen Beziehung Familie Komödie Familienleben Humor

Autor

  • Mimi J. Poppersen (Autor:in)

Mimi J. Poppersen ist das Pseudonym einer deutschamerikanischen Schriftstellerin, deren Romane sonst im Krimi-und Thrillerbereich angesiedelt sind. Mimi J. Poppersen ist freie Journalistin, und wenn sie nicht gerade auf der Suche nach einer spannenden Geschichte um die Welt reist, lebt sie mit ihrer Familie in Santa Cruz in Kalifornien oder in ihrer Heimatstadt Heidelberg. Instagram: mimij.poppersen Email: mimijpoppersen@gmail.com Unter dem Namen Hannah Hope schreibt sie spannende Liebesromane.
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Titel: Mama macht mal blau ...