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Licht und Dunkelheit: Levarda

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
432 Seiten
Reihe: Licht und Dunkelheit, Band 1

Zusammenfassung

Lord Otis ist der Mann aus ihren Albträumen. Er rammt Levarda das Schwert durch ihr Herz. Ihr Tod scheint unvermeidlich zu sein, nur wann sie sterben muss, dass weiß Levarda nicht. Aber bis dahin, dass schwört sie sich, wird sie die Hoffnung für die unterdrückten Frauen von Forran im Land Alurin sein. Wasser, Feuer, Luft und Erde, die Magie der Elemente wurden den Menschen von der Göttin Lishar aus Rache geschenkt. Den dort wo Licht ist, ist auch Dunkelheit und da wo ungezähmte Kraft steckt, liegt auch das Verderben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Carsten, meinem Licht in der Dunkelheit

1

Begegnung

Levarda schloss die Augen und sog tief die würzige Waldluft ein. Sie stand auf einem Felsvorsprung. Unter ihr rauschte der Fluss, der die Ebene in zwei Hälften teilte. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen auf ihr emporgehobenes Gesicht. Hitze und Energie strömten durch ihren Körper. Sie öffnete die Augen und sah die Hügel im Tal in rotes Licht getaucht. Eine tiefe, unbändige Liebe zu diesem Land überzog sie mit einem warmen Schauer.

Ihr Blick schweifte vom Waldrand über die grüne Landschaft, die Waldflächen zwischen den Feldern rund um die Burg Hodlukay, die kleinen Dörfer, die sich an die Hügel schmiegten, wo die Bäume weniger dicht standen. Dünne Rauchwolken stiegen aus den Hütten auf, die Zeit für das Abendessen brach an. Bis in weite Ferne sah Levarda das Auf und Ab der Hügel und Täler, das der Landschaft ihre wilde Lebendigkeit verlieh.

Sie fühlte einen warmen Hauch an ihrem Hals, weiche Nüstern, die ihre Schulter anstupsten. Sie drehte den Kopf, sah in die dunklen Augen ihrer Stute und streichelte die Stirn des Tieres.

»Sita, mein Mädchen, kannst du es nicht erwarten, wieder in den Wäldern von Mintra herumzutollen?«

Wie zur Bestätigung warf das Pferd den Kopf hoch und schnaubte.

»Wir sind beide nicht besonders mit Geduld gesegnet, nicht wahr, meine Schöne? Ich würde jetzt auch lieber mit dir über unbekannte Pfade galoppieren und mir auf deinem Rücken den Wind um die Nase wehen lassen, anstatt zur Burg zurückzukehren.«

Seit Levarda bei ihrer Tante und Lord Blourred auf Burg Hodlukay lebte, hatte sie viel von ihrer Freiheit aufgeben müssen. – Es würde noch mehr werden. Aber sie hatte sich so entschieden.

Sie kraulte die Stute hinter den Ohren, warf einen letzten Blick auf den Asambra, dessen kahle, schneebedeckte Spitze alle Berge überragte, und hinüber zu den Wäldern von Mintra, wo der See Luna verborgen lag. Mit einem schwungvollen Satz federte sie auf den Pferderücken. Reiten war für sie eine natürliche Fortbewegungsart wie das Laufen. Einen Sattel brauchte sie nicht. Sie drückte ihre Schenkel in Sitas Flanken und kehrte in vollem Galopp durch den lichten Baumbestand zur Burg zurück.

Sie nahm den versteckten seitlichen Eingang bei den hinteren Ställen, wo sie besser unbemerkt hineinschlüpfen konnte. Es war die Bedingung von Onkel und Tante gewesen, dass sie ihre Ausflüge vor den Burgbewohnern möglichst verbarg.

Erst vor dem letzten Stall parierte sie ihre Stute durch. Schweißnass blieb Sita schnaubend stehen und Levarda klopfte ihr den Hals.

»Tut mir leid, mein Mädchen, aber anders hätten wir es nicht zeitig geschafft.«

Sie sprang vom Pferd. Dem Stallburschen, der sie mit aufgerissenen Augen ansah, reichte sie die Zügel.

»Führ sie trocken! Dann reib sie mit Stroh ab und gib ihr von dem Futter, das ich heute Morgen gemischt habe.«

Der Bursche starrte sie noch immer an. »Ja, Mylady«, stammelte er, »Ihr werdet von Ihrer Ladyschaft erwartet. Die Abgesandten des hohen Lords sind eingetroffen.«

Levarda fuhr bei dieser Nachricht der Schreck in die Glieder, aber sie zwang sich vor dem Jungen zur Ruhe und nickte nur knapp einen Dank.

Also war es soweit.

Sie vermied jeden Gedanken an die Freiheit, die sie nun vollends hinter sich lassen würde und überquerte den Hof zu einer Tür, die abseits der offiziellen Burgzugänge lag. Sie wurde beobachtet, das spürte sie. Die Intensität der Verbindung ließ die Energie unter ihrer Haut prickeln.

Das war nicht der Stallbursche. Sie spähte hinüber zu den Ställen, in denen die Pferde der Garde untergebracht sein mussten. In der zunehmenden Dämmerung konnte sie nicht viel erkennen, denn die Wände warfen Schatten, die auch sie selbst verbargen. Sie sah die von Pferdehufen aufgewühlte Erde, bemerkte Unruhe im ersten Stall und folgte ohne nachzudenken dem schmalen Weg zu den vorderen Ställen.

»Halt, keinen Schritt weiter!«

Zwei Speere kreuzten ihren Weg. Levarda verharrte. Die beiden Männer waren vor ihr aus dem Nichts aufgetaucht, und geistesgegenwärtig senkte sie die Augen, wie sie es am Hof gelernt hatte. Sie schalt sich selbst. Als würden die Gardesoldaten ihre Tiere ohne Aufsicht lassen!

Bevor sie den Rückzug antreten konnte, baute sich der eine Mann drohend vor ihr auf. »Was sucht Ihr bei den Ställen?«

»Verzeiht, Ihr Herren, ich hörte die Unruhe bei den Pferden und wollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Ihr? – Eine Frau!« Unverständnis klang aus der Stimme des zweiten Wächters.

Levarda überlegte fieberhaft, wie sie ihre Anwesenheit bei den Ställen erklären sollte. Als Magd konnte sie sich hier auf keinen Fall ausgeben. In diesem Land hätte sie fern von Haus und Garten nichts zu suchen. Außerdem verriet sie ihre Kleidung, die trotz ihrer Schlichtheit doch kostbar war. Nur gut, dass der lange, ausladende Saum ihres Kleides wenigstens die Stiefel und Beinkleider verbarg. Die Wahrheit würden die Wachen nie akzeptieren, denn eine Lady pflegte sich nicht in Stallnähe aufzuhalten oder gar zu reiten, aber ihr Rang konnte sie vielleicht vor weiteren Fragen schützen. Schließlich war Hierarchie in diesem Land von höchster Bedeutung.

Sie straffte die Schultern, hob ihren Kopf so weit, dass sie gerade eben an den Männern vorbeisah. Direkter Blickkontakt ziemte sich für eine Frau nicht gegenüber Männern.

»Ich bin Lady Levarda«, sagte sie sittsam, »und mein Weg führte mich nur zufällig hier vorbei.«

Die beiden musterten sie unverändert mit drohender Haltung. Sie sah die Hand des einen Mannes auf dem Heft seines Schwertes ruhen. Während sie über den Grund dafür nachdachte, hörte sie schrilles, wütendes Wiehern aus dem Stall, ein Splittern, das Donnern von Hufen auf Stein. Dann preschte ein Pferd aus der Stalltür direkt auf sie zu.

Erschrocken fuhren die Wächter herum. Der Hengst bäumte sich vor den Lanzen auf, die Spitze der einen zeigte mitten auf seine Brust. Der Wächter würde das Tier schwer verletzen oder selbst von den Hufen getroffen werden.

Levarda reagierte instinktiv. Mit einem Sprung riss sie den Soldaten mit sich zu Boden, sah aus dem Augenwinkel den anderen zur Seite springen. Sie stützte sich mit einer Hand, drehte den Oberkörper, um aufzuspringen und das Pferd zu beruhigen, da sah sie einen weiteren Mann von hinten aus dem Schatten treten und hielt inne.

Mit erhobener Hand näherte er sich dem Hengst, und das Tier beruhigte sich augenblicklich, lehnte den Kopf an seine Schulter und ließ sich von ihm die Stirn reiben. Leise sprach er dem Pferd ins Ohr.

Levarda stemmte sich aus ihrer prekären Lage auf der Brust des Wächters hoch. Nur schnell jetzt, hier gab es nichts mehr zu erklären. Sie rannte den Weg zurück, schlüpfte durch die Tür und hetzte die Treppe hoch in den Trakt der Frauen und bis in ihr Zimmer.

Sie warf die Tür hinter sich zu und ließ sich auf den Boden fallen. Was für ein Schlamassel! Prächtig hatte sie sich aufgeführt als zukünftige Lady im Hofstaat der hohen Gemahlin! Zerzaustes Haar, verdreckte Kleider, am Stall erwischt und sich zuletzt noch auf einen Wächter geworfen – einen Soldaten! Was nutzte es da, dass sie die Augen damenhaft gesenkt hatte?

Sie stöhnte auf und kontrollierte ihre Atmung, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Es war klar, wer der Mann war, der das Pferd aufgehalten hatte. Die Schönheit seines Hengstes, Umbra, wurde in den Liedern besungen, doch was waren Lieder im Vergleich zu dieser Statur, den Muskeln, der Kraft, den schlanken Fesseln dieses stolzen Tieres? Die Farbe seines Fells erinnerte Levarda an glänzend marmorierte Kastanien. In dem wachen Blick des Pferdes hatte sie Intelligenz schimmern sehen.

Der Mann, an dessen Schulter das Pferd sich geschmiegt hatte, war sein Herr – Lord Otis!

Levarda konnte nur hoffen, dass er sich ihre Anwesenheit, ihr ungebührliches Verhalten mit Neugier erklärte oder noch besser, dass er sie nicht bemerkt hatte.

Mit einem tiefen Seufzer erhob sie sich. Sie würde so tun, als wäre das alles nicht geschehen. Warum nur hatte sie ihren Namen genannt? Aber wahrscheinlich vergaßen die Wächter ihn über dem Schreck, das kostbare Tier beinahe verletzt zu haben. Und Lord Otis? Ihre Stimme war zurückhaltend und leise gewesen, er konnte sie nicht gehört haben, außerdem hatte er in diesem Moment doch nur auf sein Pferd geachtet.


Sie war zu spät. Auf die Schnelle frisch zurechtgemacht und in ein sauberes Gewand gekleidet betrat Levarda mit klopfendem Herzen den Vorraum der Frauengemächer. Lautes Schnattern nahmen ihre Sinne zuerst wahr, dann glitzernde, bunte Farben, kunstvolle Hochsteckfrisuren, rot geschminkte Lippen, eine Mischung betörender Düfte, die ihr den Atem raubte – und ihre Cousine, in all ihrer Pracht.

Levarda blieb an der Tür stehen und verspürte den Drang, in ihre Gemächer zurückzukehren.

Lady Smiras Gesicht wurde von einem Schleier verdeckt. Kein Mann durfte mehr einen Blick auf ihr Antlitz werfen, da sie schon jetzt als Eigentum des hohen Lords galt, dessen Gemahlin sie bald werden sollte. Doch der Stoff war durchscheinend genug, um die feinen Gesichtszüge des jungen Mädchens darunter erahnen zu lassen, das volle, goldfarbene Haar kunstvoll geflochten um ihren Kopf drapiert. Ein goldener Reif mit blauem Saphir steckte darin – der hohe Lord hatte ihn als erstes Brautgeschenk seiner Werbung beigefügt.

Lady Tibana stand ihrer Tochter, der blutjungen Braut, an Schönheit nicht nach. Ihr Haar schimmerte im gleichen warmen Goldton, ihre Haut war hell, zart und ebenmäßig. Levarda dachte an ihr eigenes, durch die Sonne getöntes Gesicht. Es passte nicht in diese Gesellschaft. Sie sah den Blick von Lady Tibana zufrieden auf ihre Tochter gerichtet, die völlig in ihrem Glück erstrahlte. Es gab keine höherstehende Dame im Land als die Frau des hohen Lords.

Lady Tibanas blaue Augen hatten Levarda entdeckt und ihr Ausdruck wandelte sich.

»Wo bleibt Ihr denn? Wir warten seit einer Ewigkeit auf Euch!« Sie musterte ihre Kleidung, schnappte nach Luft. »Und wie seht Ihr aus?!«

Levarda sank in einen demütigen Knicks. »Verzeiht, Lady Tibana, ich wusste nicht, dass mit der Ankunft der Garde zu rechnen war.«

»Wäret Ihr in Euren Gemächern gewesen, wie es sich für eine Hofdame geziemt, anstatt durch die Wälder zu reiten, hätte Euch ihr Eintreffen nicht überrascht!«

Levarda blieb in dem Knicks, schwieg und wartete.

Mit einer knappen Geste gestattete ihre Tante ihr, sich aus der Verneigung wieder aufzurichten. »Seit drei Monaten bereiten wir Euch auf diesen Tag vor, und das ist alles …«, ihre Hand zeigte von oben nach unten an Levardas Gestalt entlang, »was Ihr zustande bringt? Offenes Haar, schlichtes Kleid, ungepudertes Gesicht, glanzlose Lippen! Ihr kennt die Maßstäbe, an denen Ihr in Zukunft gemessen werdet. So genügt Ihr den Ansprüchen nicht! Es kommt auf das Äußere einer Frau an, gepaart mit Abstammung, Haltung und Anmut. Wie sollen wir Euch so …«, ihre Stimme wanderte hysterisch nach oben, »… in den Kreis der Hofdamen beim hohen Lord bekommen?«

Das Schnattern ihrer Damen verstummte schlagartig. Aller Augen richteten sich auf Levarda. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, darum hatte sie das schlichte Festkleid aus Mintra gewählt. Sie wollte nicht auffallen und kein männliches Interesse wecken, sondern besser unsichtbar bleiben.

Ihr matt glänzendes Kleid, das in seiner Gewebestruktur in verschieden Nuancen von Grün schillerte, hob sich von denen der anderen ab, denn sein Glitzern kam nicht von goldenen Fäden, Perlen und Pailletten, sondern von der natürlichen Gewebeart des Stoffes, der durch das Licht, das auf ihn fiel, und durch Levardas besondere Eigenschaften lebendig schimmerte. Der grüne Stoff symbolisierte das Wasser.

Während sich ihr Oberteil vorn mit einer dunkelgrünen Schnürung schließen ließ, wurden die Kleider der Forranerinnen hinten geschlossen, sodass immer eine Dienerin das Gewand schnüren musste. Der runde Ausschnitt an Levardas Oberteil reichte bis zum Schlüsselbein und besaß eine kunstvolle Stickerei aus hellgrünem Garn, das eine Blumenranke abbildete. Levarda selbst hatte Tage damit verbracht, diese Verzierung an ihrem Gewand anzubringen. Bis zur Taille schmiegte sich ihr Kleid auf bequeme Weise der Form ihres Oberkörpers an. Ihre Hüfte umwand ein schwarzer Gürtel, in den die Zeichen der vier Elemente – Wasser, Luft, Feuer und Erde – geprägt waren. Der Rock war weit genug geschnitten, umschmeichelte ihre Beine bei jedem Schritt. Vorn reichte er bis knapp über ihre Fußknöchel und berührte hinten den Boden.

Ihre Cousine kam Levarda zu Hilfe. »Mutter, seid nicht so streng zu ihr«, bat sie, » Ihr wisst, dass ihr Kleid von hoher Qualität ist, wenn auch ungewöhnlich, und es besitzt seinen eigenen Charme. Außerdem ist es zu spät für einen Wechsel des Gewands.« Sie stockte. »Erst recht für die Frisur, fürchte ich.«

Lady Tibana seufzte tief. »Du hast recht, mein Kind, und alle Aufmerksamkeit wird sich ohnehin dir zuwenden.«

Als die Trompeten zum Beginn der Feierlichkeiten ertönten, zuckten die Damen zusammen. Angeführt von Lady Tibana und Lady Smira formierte sich die Prozession der Frauen zur Festhalle.

Es hatte Levarda in Erstaunen versetzt, dass Lord Blourred auf die vier Tage andauernde Festlichkeit bestanden hatte. Zwar entsprach dies der Tradition im Land Forran, wenn eine Braut vom Gemahl aus ihrem Elternhaus abgeholt wurde, aber hier handelte es sich um eine reine Farce. Weder war der Bräutigam gekommen, noch ging die Braut mit ihrer Hochzeit einer strahlenden Zukunft entgegen – eher ihrem Todesurteil.

Inwieweit war es eine Ehre, Gemahlin dieses hohen Lords zu werden? Levarda grübelte seit Wochen über Fragen wie diese. Sie fand darauf keine Antwort. Wenn sie nur an das Schicksal der vorherigen Ehefrauen des Herrschers von Forran dachte, lief es ihr kalt den Rücken herunter.

Es war eine Chronik des Todes – fünf Gemahlinnen zum Tode verurteilt! Ob sich seine erste Frau wirklich selbst das Leben genommen hatte? Wenn sie auch ihrem Gemahl keinen Thronfolger schenken konnte, wieso hatte man die Verbindung nicht gelöst?

Levarda verwarf ihre Gedanken. Es gab keine verständliche Erklärung für die Sitten in diesem Land, nur die, dass Männer für sie verantwortlich waren.

Es war allein ein Affront vonseiten des hohen Lords, dass er nicht selbst kam, um seine Braut in ihr zukünftiges Heim zu geleiten, sondern stattdessen den Anführer der Garde schickte – Lord Otis. Ihr Onkel ignorierte nicht nur diese Beleidigung, sondern richtete Lord Otis noch dazu einen besonders ehrwürdigen Empfang mit der glanzvollen Abschiedsfeier für seine Tochter aus.

Levarda verstand nur eines: Die Hoffnung der Brauteltern lag auf ihren Schultern. Mit ihrem Heilwissen und ihren Fähigkeiten waren sie und ihre Mutter Kaja die Einzigen, die Lady Smira würden unterstützen können, darum hatte Tibana sich an Kaja gewandt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter war schließlich Levarda bereit gewesen, in das Geschick des hohen Paares und des Landes Forran unterstützend einzugreifen, obwohl dies gegen den Willen des Ältestenrates ihres Volkes geschah.

Damit war ihr der Weg zurück nach Mintra für immer verwehrt. Nie wieder könnte sie ihre Heimat betreten. Die Entscheidung war ihr schwergefallen, aber sie ahnte, dass dieser Weg ihr bestimmt war.

Im Moment verzweifelte sie schon an den Einschränkungen und Regeln des Hoflebens. Auch konnte sie die Beweggründe des Lords nicht verstehen. Wer gab seine Tochter freiwillig diesem skrupellosen Herrscher? Dem so geehrten Hause blieb doch offensichtlich keine andere Wahl, als die Tochter an den hohen Lord auszuhändigen. War es nicht passender, Trauer anzulegen oder das Kind wenigstens in Stille ziehen zu lassen? Es graute ihr vor den endlosen Festlichkeiten, die mit einem strengen Protokoll einhergingen.

Die Aufmachung der Hofdamen von Lady Smira lieferte einen Vorgeschmack davon, was in den nächsten Tagen auf sie zukam. Die Oberteile ihrer Kleider waren eng geschnürt und ihr Ausschnitt verlief bis zum Brustansatz. Durch die Enge der Schnürung hoben sich so die Brüste rund und voll dem Betrachter entgegen. Je nach Reichtum der Familie waren die Kleider mit Perlen, goldenen und silbernen Stickereien und Edelsteinen verziert. Die Röcke bestanden aus verschiedenen Lagen. Die letzte Stoffbahn wurde nach vorne offen geschnitten wie ein Vorhang, reichte hinten zwei Schritte weit auf den Boden und besaß die gleiche Machart wie das Oberteil. Der letzte Unterrock, einfarbig gehalten, reichte vorn wie bei Levardas Kleid bis knapp zu den Knöcheln. Beim Tanzen musste die Dame ein Band im Oberrock fassen, das die lange Schleppe ihres Kleides ein wenig anhob, damit sie nicht darauftrat.

Inmitten der Frauen mit kunstvoll aufgesteckten Haaren, die mit Perlen und Blumen geschmückt waren, wünschte sie sich, sie hätte wenigstens ihre Haare zusammengebunden und am Kopf befestigt. Stattdessen trug sie nur die vorderen Strähnen geflochten, sodass ihre dunkelbraunen, glatten Haare aus dem Gesicht gehalten wurden.

Sie fasste unwillkürlich an ihr Amulett mit dem weißen Kristall in der Mitte. Mehr Schmuck trug sie nicht. Mehr Schmuck besaß sie nicht. In ihrem Volk galt es als unschicklich, sich mit Gold, Silber und Edelsteinen zu behängen.

Welch eine Umstellung, all die bunten Farben, all den Glitzer, all den Reichtum und Überfluss hier so offen zur Schau gestellt zu sehen. Die Frauen trugen sogar Farbe auf ihre Gesichter auf. Äußerliche Attraktivität, so schön von ihrer Tante hervorgehoben, war wichtig für die Frauen von Forran. Für ein angenehmes Leben an der Seite eines hochrangigen Mannes. In Forran waren Frauen völlig abhängig von ihrem Mann.

Heute herrschte besondere Aufregung unter den Damen des Hofes, in deren Mitte sich Levarda eingereiht hatte. Lord Otis stand an erster Stelle der begehrenswerten Kandidaten, wegen seiner Macht und seines Einflusses bei der Garde und bei Hofe, und er wurde von vier Offizieren begleitet, die bis auf einen ebenfalls alle potenzielle Heiratskandidaten waren, wie gemunkelt wurde.

Den Gesprächen der Hofdamen zu folgen, war für Levarda eine Herausforderung gewesen. Fast so sehr, wie das Erlernen der Tanzregeln. Es widerstrebte ihr, aber sie musste sich eingestehen, dass dies in Zukunft ihre einzige Informationsquelle wäre. Es ging um Schmuck, Aussehen, Stoffe, Schuhe und darum, welcher Mann was zu wem gesagt hatte. Auf Letzteres sollte sie laut Lady Tibana besonders achten.

Levarda fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Sie hatten den Saal erreicht. Die rechte Seite der Tafel war den Männern vorbehalten, die Frauen saßen links. Vor Kopf neben dem Lord und seiner Gemahlin fanden die verheirateten Paare Platz, soviel hatte Levarda schon erfahren. Einzig Lord Otis als Ehrengast und Lady Smira als die zukünftige Gemahlin des hohen Lords saßen mit am oberen Ende der Tafel.

Levarda hörte, wie um sie herum das Getuschel losging. Zu ihrer Erleichterung fand sie sich am oberen Ende der Frauenreihe untergebracht, so brauchte sie, als sie Platz nahm, nicht zu befürchten, den Gesprächsfluss der anderen Damen zu behindern.

Lady Eila neben ihr flüsterte: »Ist das Lemar, der mit dem Pferdekopf auf seinem Gewand?«

»Ja. Habt Ihr bemerkt, wie groß er neben dem jungen Timbor wirkt?«, wisperte Lady Sophia kichernd zurück.

»Oh, diese blonden Haarwellen! Sie sehen ganz weich aus, da möchte man hinlangen und sie streicheln.«

Wieder kicherte Lady Sophia und senkte hastig den Kopf, als sie merkte, dass sie die Aufmerksamkeit der männlichen Seite auf sich zogen. Sie wartete etwas, bevor sie Lady Eila antwortete. »Also, mir gefallen seine vollen Lippen noch mehr, und die Grübchen in seinen Wangen, seht nur, wenn er lacht«, piepste sie. Sie hatte noch einen Blick riskiert, bevor sie wieder auf ihren Teller schaute.

»Ihr solltet vorsichtig bei Lemar sein«, mischte sich eine weitere Hofdame in das Gespräch ein. »Sein Charme hat schon mancher Lady nicht nur das Herz gebrochen, sondern ihre Ehre in Gefahr gebracht.«

Levarda erhaschte ebenfalls einen kurzen Blick auf Lemar, als die Diener den nächsten Gang servierten. Er hatte feine Gesichtszüge, aber vor allem seine hellblauen Augen fesselten sie. Eben lachte er laut, hob seinen Kopf und zwinkerte Levarda zu.

Hastig richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihren Teller. Er flirtete mit ihr!

Lady Smira saß mit geröteten Wangen zwischen ihrer Mutter und Lord Blourreds Schwester und machte ihr aufgeregt Zeichen. Levarda war gerührt, wie sie sich über die Ehre, die ihr zuteilwurde, freute.

Lady Smira war erst achtzehn, zwei Jahre jünger als Levarda, aber sie beide trennten Welten. Verträumt, lebensfroh, in allem nur das Gute sehend, schien Smira sich blind in ihr Schicksal zu fügen. Sie schritt mit einer Leichtigkeit durch ihr Leben, ohne Verantwortung dafür zu tragen oder Entscheidungen zu treffen, die Levarda an die Mintraner erinnerte, die dem Element Luft unterlagen. Nicht im Geringsten schien ihrer Cousine bewusst zu sein, dass die Axt des Henkers über ihr schwebte, seit der hohe Lord sie zu seiner Gemahlin ausgewählt hatte. Sie lächelte Lady Smira zu und neigte kurz den Kopf.

Lord Blourred stand auf, und Ruhe kehrte in die Gesellschaft ein.

»Lord Otis«, sprach er den Gesandten an, »seid willkommen an meinem Hof. Ihr seid hier, um meine Tochter, Lady Smira«, er drehte sich voller Stolz zu seiner schönen Tochter hin, »an den Hof des hohen Lords Gregorius ...«, alle erhoben ihre Becher und tranken einen Schluck, »... zu begleiten, auf dem Weg zu ihrem hohen Gemahl. So schmerzlich der Fortgang meiner Tochter für mich ist –«, er machte eine Pause, bis er sich gesammelt hatte, »es ist das Los eines jeden Vaters, dass er seine Kinder ziehen lassen muss. So lasst uns mit einem rauschenden Fest den Schmerz und die Traurigkeit dieses Abschieds bannen. Hoch lebe die zukünftige Gemahlin des hohen Lords.« Lord Blourred erhob erneut seinen Becher, und diesmal standen alle auf, prosteten ihm zu und tranken.

Als man sich gesetzt hatte, erhob sich Lord Otis würdevoll. Im Saal wurde es still. Selbst die Diener rührten sich nicht.

Bisher hatte Lord Blourred Levardas Sicht auf Lord Otis verdeckt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, weil sie befürchtete, er würde zu den Frauen herüberschauen und sie womöglich erkennen. Aber dann versicherte sie sich, dass er ihr Gesicht nicht gesehen haben konnte, da er ja hinter ihr aufgetaucht war. Sie hob ihre Augen und wagte einen Blick auf den Mann – und war bis ins Mark erschüttert.

Lord Otis überragte den Hausherrn fast um einen Kopf, sein welliges Haar war tiefschwarz, dichte Augenbrauen lagen über dunkelbraunen Augen. Den Bart, wie die Männer ihn sich auf ihren Reisen stehen ließen, hatte er abrasiert, was ihm mit der sonnengebräunten Haut der oberen Gesichtshälfte ein seltsam geschecktes Aussehen verlieh. Eine Narbe, die sich von der Mitte seines Kinns quer über die Nase, das linke Auge und die Stirn zog, teilte die linke Braue in zwei Hälften. Diese Mischung aus Finsternis und perfekten Proportionen machte sein Gesicht anziehend und abstoßend zugleich. Zusammen mit seinem schlanken, kampfgestählten Körper, den breiten Schultern, wirkte sein Auftreten furchteinflößend.

Levarda glaubte zum ersten Mal den Geschichten der Frauen darüber, dass es Feinde gegeben habe, die sich beim Anblick von Lord Otis auf seinem Hengst Umbra lieber gleich ergaben. Auch wenn das ein wenig übertrieben schien – Levarda konnte kaum an diesem Mann vorbeisehen. Sie fühlte, wie sie zu zittern begann und wie sie nur mit Mühe den Drang unterdrücken konnte, aufzustehen und zu fliehen. Sie hatte geglaubt, einen ersten Blick auf ihn zu werfen, doch Lord Otis war ihr mehr als einmal zuvor begegnet! – Er war der Mann aus ihren Träumen.

Sie schloss die Augen, verstört von den vielen Bildern, die durch ihren Kopf jagten, durch den Schmerz, den diese Bilder verursachten. Panik kroch in ihr hoch. Sie sprach in ihrem Kopf das Mantra, welches ihr Meister und sie nach und nach in den vergangenen Jahren gefunden hatten, um den Albtraum zu vertreiben. Es verfehlte auch diesmal nicht seine Wirkung. Langsam beruhigte sich ihr Innerstes und sie konnte wieder atmen. Sie durchlebte ihren Traum, sah sich durch einen Wald rennen, verfolgt von einem Mann, der Dunkelheit hinter ihr her schleuderte. Eine Hetzjagd. Dann stolperte sie, die dunkle Energie umschlang sie, brannte auf ihrer Haut und brachte solche Schmerzen, dass sie schier den Verstand verlor. Da stand er lachend über ihr, mit glühenden, schwarzen Augen, zückte sein Schwert und durchstach ihr Herz. So endete ihr Traum, mit der Kälte des Metalls, das ihr Herz durchschnitt.

Sie spürte ein Zupfen an ihrem Ärmel. Levarda schlug die Augen auf und stellte entsetzt fest, dass die Blicke aller Festbesucher auf sie gerichtet waren. Sie saß als Einzige noch, während die Anwesenden sich erhoben hatten, um mit ihrem Becher Lord Otis zuzuprosten. Hastig stand sie auf. Ihre Beine zitterten, und ohne Lady Eilas Hilfe hätte sie sich nicht halten können. Sie trank einen winzigen Schluck und ließ sich dankbar auf ihren Stuhl sinken, nachdem sich die hohen Herrschaften gesetzt hatten.

»Was ist mit Euch, Lady Levarda? Ist Euch nicht gut?«, flüsterte Lady Eila besorgt.

»Mir ist ein wenig unwohl, vermutlich habe ich mich heute körperlich zu sehr verausgabt.«

»Das wundert mich nicht, es gibt einen Grund, warum Frauen nicht reiten sollen. Die körperliche Anstrengung ist viel zu groß. Sicher werdet Ihr mir bald zustimmen, wenn es für Euch auch ein Ende hat, glaubt mir.«

Levarda musste Lady Eila zugutehalten, dass sie aufrichtig freundlich sein wollte. Die Abneigung der Frauen, sich körperlich zu betätigen, war groß. Jeder Weg, jede Treppe, schien ihnen zu viel. Die Idee, für einen Spaziergang hinauszugehen oder einen Ausritt zu machen, wäre ihnen nie gekommen.

Levarda verbiss sich eine Bemerkung. Sie senkte den Blick auf ihren Teller. Mit konzentrierten Schnitten zerteilte sie ihr Fleisch und schob ein Stückchen in ihren Mund. Beim Kauen schloss sie die Augen, um sich zu beruhigen, sodass ihre Hände mit dem Zittern aufhörten. Sie fühlte, dass Lady Eila sie beobachtete.

»Seid Ihr sicher, dass es Euch gutgeht?«

»Ja, gewiss«, murmelte sie.

Ein verschmitzter Ausdruck trat in Lady Eilas Gesicht. »Ich dachte im ersten Moment, Lord Otis sei der Grund für Eure Schwäche gewesen.«

Levarda verschluckte sich beinahe an ihrem Stück Fleisch. Sie fühlte Röte in ihr Gesicht schießen.

Das Lächeln ihrer Nachbarin vertiefte sich. »Und ich dachte immer, Ihr wäret an Männern nicht interessiert.«

Einen Moment war Levarda versucht, ihr eine passende Antwort zu geben, doch sie besann sich eines Besseren. Sollte der Hof lieber über ihre vermeintliche Verliebtheit tratschen als über ihre Angst. Allein seinen Namen auszusprechen, hatte ihr Innerstes zum Zittern gebracht.

Der Nachtisch half ihr. Süßigkeiten gab es in ihrem Volk immer nach geistigen Herausforderungen und energiezehrender Arbeit. Auch wenn sie einen Menschen geheilt hatte, aß Levarda getrocknete, süße Früchte oder Samen, die mit Honig ummantelt waren.

Lady Eila schob ihr ihren Nachtisch hin, und Levarda genoss zum zweiten Mal die Süße in ihrem Mund. Die Frauen hier aßen geradezu wie junge Vögel. Das flaue Gefühl in ihrem Körper ließ nach und sie fühlte ihre Kraft zurückkehren.

Der Zeremonienmeister klopfte auf den Boden und der Lärm nahm zu, während die Gesellschaft sich zu einem anderen Saal bewegte.

Hier standen nur an einem Ende des Raumes gemütlich aussehende Stühle auf einer über zwei Stufen erhöhten Plattform, wo sich die ranghöchsten Geladenen mit Lord Blourred und Lady Tibana niederließen. Die verheirateten Paare verteilten sich mit ihren Gesprächspartnern bunt gemischt im Saal, die unverheirateten Gäste in lockeren Grüppchen an den Seiten, Männer rechts, Frauen links.

Schon hörte Levarda wieder die Damen plappern, für die nun der interessanteste Teil des Abends gekommen war. Sie selbst hingegen hätte sich lieber einem wilden Emunck gestellt als dem Tanz. In diesem Land war Tanzen die einzige Möglichkeit, sich dem anderen Geschlecht auf unverfängliche Art zu nähern. Selbstverständlich musste ein Mädchen aber warten und sich von einem Mann zum Tanz auffordern lassen. Was für ein Ereignis und so willkommener Anlass für Spekulationen! Die Augen sittsam gesenkt, lauschten die Mädchen alsdann den Worten ihrer Tanzpartner und gaben ihnen so das Gefühl, der wichtigste Mensch für sie zu sein.

Levarda hatte in den letzten Monaten das seltsame Gebaren zwischen den Geschlechtern belustigt verfolgt. Man hatte schnell gemerkt, dass sie weder eine anmutige Tänzerin war noch ihren jeweiligen Tanzpartner angemessen anbetete. So beschränkte sie sich meistens darauf, zu beobachten.

Heute hoffte Levarda, dass ihr schlichtes Äußeres ihr Schutz bieten würde. Allerdings wollte Lord Blourred sie Lord Otis vorstellen, darum war sie ins Protokoll aufgenommen. Als ihr das wieder einfiel, gaben ihre Beine zum zweiten Mal nach. Sie hielt sich an einer Säule fest und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich fortzustehlen. Morgen würde es noch Gelegenheit geben, sich bekanntzumachen. Bis dahin hätte sie ihre Angst hoffentlich unter Kontrolle.

Zu spät – der Zeremonienmeister winkte in ihre Richtung. Sie konnte nicht fliehen, schloss nur kurz die Augen und fasste ihr Amulett mit der linken Hand, spürte die Kraft des Steins im selben Moment. Es war, als tauche sie in den See Luna ein. Kühl floss die Energie über ihren Körper und gab ihr Stärke.

Mit zügigem Schritt ging sie auf Lord Blourred zu, bevor ihr Mut sie verlassen konnte. An Lord Otis‘ Hand befand sich bereits Lady Tibana auf dem Weg zur Tanzfläche. Levarda beneidete Lady Smira, der es vergönnt war, an ihrem erhöhten Platz von der Stirnseite der Halle aus dem Treiben zuzusehen. Allerdings zeugte deren Blick eher von Unmut, denn Tanzen gehörte zu ihren Leidenschaften, und sie war die anmutigste Tänzerin überhaupt.

Lord Blourred, der einzige Mann, in dessen Begleitung Levarda sich auf der Tanzfläche nicht zum Gespött machte, reichte ihr die Hand und zwinkerte aufmunternd. Er besaß genug Selbstsicherheit, um ihre Fehler zu kaschieren, und war darüber hinaus den Umgang mit einer Frau aus dem Volk von Mintra gewohnt.

Levarda hatte es getröstet, mit welchem Wohlwollen er ihr immer begegnete. Er besaß Vertrauen in ihre Fähigkeit, seine Tochter zu beschützen. Lady Tibana hatte mit außerordentlichem Geschick erreicht, dass er überzeugt war, es sei von Anfang an seine Idee gewesen, seine Tochter von seiner Nichte begleiten zu lassen.

»Ihr habt unvernünftig gehandelt, indem ihr sitzen geblieben seid, als Lord Otis seinen Toast auf den hohen Lord aussprach«, tadelte er leise.

»Verzeiht, es geschah nicht mit Absicht. Ich war mit meinen Gedanken woanders, doch ich weiß, dass es unverzeihlich ist.«

»Ich habe Lord Otis erklärt, dass Ihr erst seit Kurzem in die Gepflogenheiten des Hofes eingewiesen werdet. – Ist sie nicht wunderschön?«

Seine Augen ruhten auf seiner Tochter. Lady Tibana hatte mit der Geburt seiner sechs Söhne mehr für die Macht und das Ansehen ihres Mannes getan, als es je der Frau eines Lords in diesem Land gelungen war. Levardas Onkel liebte seine Tochter jedoch über die Maßen, das konnte man sehen.

Jetzt seufzte er auf. Levardas Bemühungen bei der Abfolge der Tanzfiguren waren hoffnungslos. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, doch in seinen Augen blitzte es belustigt.

»In der Tat, Ihr seid heute wirklich sehr abgelenkt. Übrigens habt Ihr mit Eurem Verhalten Lord Otis irritiert. Das ist noch niemandem gelungen. Er hat nachgefragt, wer Ihr seid. Sein Interesse an Euch hat mir gefallen, doch passt Euch in Zukunft mehr den Gebräuchen unseres Landes an, Lady Levarda.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, verstummte die Musik. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, ihre Hände wurden kalt.

Lord Blourred drückte ihre Hand fester. »Keine Angst, er weiß, dass Ihr meine Nichte seid und meine Tochter begleiten sollt. Er hat sich bereit erklärt, darüber nachzudenken.«

Levarda hatte völlig vergessen, dass dieser Mann darüber entscheiden würde, ob sie Lady Smira überhaupt begleiten durfte oder nicht. Sie hatte nur Angst, ihren eigenen Tod zu berühren.

Lord Otis verneigte sich vor Lady Tibana und führte sie zu ihrem Mann.

Levarda hielt den Blick gesenkt und wartete auf ihren Tanzpartner. Sie wollte ihm eben die Hand reichen, da drehte er sich weg, schritt auf Lady Eila zu und führte sie auf die Tanzfläche.

Selbst Levarda wusste, dass ein solches Verhalten das Protokoll verletzte und einen peinlichen Affront gegenüber dem Gastgeber darstellte. Ganz zu schweigen davon, dass damit Levarda vor dem ganzen Hof bloßgestellt wurde. Missbilligend verharrte Lord Blourred auf der Stelle, unentschlossen, wie er reagieren sollte. Aber bevor Lord Otis‘ Verhalten zu einer Missstimmung führen konnte, verneigte Levarda sich vor dem Hausherrn.

»Verzeiht Mylord, mir ist nicht wohl. Ich bitte darum, mich in meine Gemächer zurückziehen zu dürfen.«

Sichtlich erleichtert nickte Lord Blourred. So blieb ihm eine Reaktion erspart.

2

Freiheit

Den restlichen Abend verbrachte Levarda in ihren Gemächern, froh über Lord Otis‘ Betragen, das ihr den Rückzug ermöglicht hatte. Mochte sich der Hof den Mund darüber zerreißen, wie er sie beleidigt hatte. Ihre Haltung und ihre Höflichkeit ihm gegenüber wären zu ihrem Vorteil.

Sie nutzte die gewonnene Zeit, meditierte Stunde um Stunde, suchte nach einer Antwort. Was bedeutete die Menschwerdung des Schreckens aus ihrem furchtbarsten Albtraum? Dass sie mit ihrem Auftrag scheitern würde?

Im Geist ging sie die Worte ihres Meisters aus Gesprächen über ihre nächtlichen Visionen durch. Er hatte ihr erklärt, dass am Tage der Verstand die Kontrolle über die Handlungen und Eindrücke eines Menschen hatte. Im Traum, wenn der Verstand eingeschlafen war, übernahm sie der Geist. Je weiter sich ein Mensch während des Tages von seinem Geist entfernte, desto stärker und intensiver waren die Träume. Meditation diente dazu, dieses Zwiegespräch zwischen Verstand und Geist zu fördern, sodass ein Ungleichgewicht erst gar nicht entstand. Für Menschen wie Levarda, die über eine ausgeprägte Verbindung zu den Elementen verfügten, war ein Gleichgewicht zwischen Verstand und Geist unerlässlich.

Aus diesem Grund war ihr wiederkehrender Albtraum ein Anlass zu tiefer Besorgnis für ihren Meister gewesen. Er konnte sich nicht erklären, weshalb ihr Geist ihr unabänderlich immer dieselben Bilder zeigte. Sie hatten sich lange Zeit in der Meditation mit diesem Traum beschäftigt. Der Meister deutete ihn so, dass der Mann für Levardas Verstand stehe und das Schwert für dessen Schärfe. Die dunkle Energie sei ein Symbol für die Elemente. Die Impulsivität, mit der diese sie verzehrten, veranlasse ihren Verstand dazu, sie aus Selbstschutz zu kontrollieren. In ihrer Arbeit konzentrierten sie sich darauf, ihren Verstand davon zu überzeugen, dass nicht die Elemente ihren Geist beherrschten, sondern ihr Geist die Elemente. Das hatte funktioniert und der Traum verschwand.

Was würde ihr Meister nun dazu sagen, dass das Symbol für ihren Verstand ein Mensch aus Fleisch und Blut war? Einer, der mit dem Schwert umgehen konnte und es benutzen würde, wenn Lady Smira dem hohen Lord keinen Thronfolger gebar?

Steifgefroren und mit Kopfschmerzen vom Grübeln sah Levarda endlich ein, dass sie Schlaf brauchte. Vielleicht würde ihr Geist ihr bei der Lösung des Problems helfen. Sie legte ein paar Holzscheite ins Feuer und wärmte sich an den Flammen, bevor sie zu Bett ging.


Die Nacht hatte ihr keine Lösung gezeigt, dafür hatte sich zumindest ihre Angst gelegt. Sie würde dem, was geschah, ins Auge sehen. Lady Tibanas Zofe kam und richtete ihr aus, dass diese sie im Garten erwarte.

Hinter der Burg, im Süden gelegen, befand sich mit hohen Mauern umgeben der Garten der Hausherrin. Der Duft der Blumen und das leise Plätschern der angelegten Bachläufe beruhigten Levardas Geist. Selbst Heilkräuter gab es hier. In den letzten Monaten war sie mehrmals eingeladen worden, sich an der Bearbeitung und Pflege der Pflanzen zu beteiligen. Sie zeigte kein Geschick darin. In der Wildnis besaß sie ein außergewöhnliches Gespür, Wildkräuter aufzuspüren. Beim Erkennen der Bedürfnisse einer kultivierten Pflanze versagte sie.

Gemeinsam mit der Hausherrin wanderte sie die Wege entlang. Ab und an beugte sich Lady Tibana herab und zupfte ein paar Halme oder ein komplettes Gewächs aus der Erde.

»Es war gestern überaus ungeschickt von Euch, Lord Otis zu beleidigen.«

Levarda hob zu einer Entschuldigung an, doch ihre Tante gebot ihr mit einer Handbewegung, zu schweigen.

»Egal, was Euch abgelenkt hat – Ihr könnt Euch solch ein Verhalten nicht leisten. Ihr vergesst, wie mächtig Lord Otis ist. Sollte er entscheiden, dass Ihr für den Hof des hohen Lords nicht geeignet seid, wird es ein Machtkampf für uns werden, Euch diese Stellung zu ermöglichen.«

Levarda neigte den Kopf. Sie wusste, es hatte keinen Zweck, ihrer Tante zu widersprechen. Sie war selbstbewusst, manipulativ, und entschied in Wahrheit über die Geschicke des Landes im Machtbereich von Lord Blourred. Sie wusste, wie das Leben in dieser Gesellschaft funktionierte und Levarda bewunderte sie dafür.

»Ihr wisst, dass ich gegen Euch war«, sagte Lady Tibana jetzt, »und meine Meinung darüber hat sich in den letzten Monaten nicht geändert. Mir wäre es lieber gewesen, dass meine Schwester ihre Nichte begleitet. Kaja besitzt so viel Erfahrung in der Heilung von Krankheiten. Den einzigen Vorteil versprach ich mir bei Euch von Eurer Jugend und Eurem äußeren Erscheinungsbild. Ich dachte, damit könntet Ihr das Interesse von Lord Otis wecken.«

Levarda blieb abrupt stehen und Lady Tibana runzelte unwirsch die Stirn. »Seht Ihr, genau das meine ich. Eine Frau mit mehr Erfahrung würde es nicht stören, ihren Charme im Sinne ihres Volkes einzusetzen.«

»Ich hoffe, Ihr erinnert Euch, dass ich nicht die Absicht habe, mir einen Ehemann zu nehmen.«

Lady Tibana lachte freudlos auf. »Ich bin nicht so vermessen zu glauben, dass Lord Otis Euch zu seiner Gemahlin wählt. Euer Äußeres ist ansprechend, aber Ihr seid nicht attraktiv, und seine Auswahl ist wahrhaft unerschöpflich. Mit ein wenig geschickter Verführung könntet Ihr es allerdings in sein Bett schaffen.«

Levardas Züge verhärteten sich. In ihrem Land konnten sich Frauen und Männer frei entscheiden, ob sie eine geschlechtliche Verbindung eingingen, ohne dafür eine Zeremonie zu brauchen. Dies geschah immer aus Liebe und in gegenseitigem Einvernehmen, niemals in manipulativer Absicht.

»Nun, wenn ich mich recht erinnere, so zeigte Lord Otis Interesse an Lady Eila. Vielleicht liegt hier der nötige Vorteil, den Ihr im Blick habt«, gab sie kühl zurück.

»In der Tat wäre das interessant. Zu meinem Bedauern verteilte er seine Aufmerksamkeit recht gleichmäßig an dem Abend, was Euch entgangen sein wird. Ihr zogt es ja vor, in Eure Gemächer zu verschwinden.«

Levarda verbiss sich eine Erwiderung. Dass sie für einen Ausweg aus der peinlichen Verletzung des Protokolls gesorgt hatte, schien Lady Tibana zu vergessen.

»Ihr werdet Euch heute Abend bemühen, den Fehler von gestern wiedergutzumachen. Lord Otis ist ein Führer, dem die Männer mit Liebe und Treue durch jede kriegerische Auseinandersetzung folgen. Manch einer behauptet sogar, dass er den hohen Lord Gregorius jederzeit stürzen könnte, wenn er es wollte. Ihr seht also, welch einen mächtigen Verbündeten oder auch Feind er abgibt, je nachdem.«

Levarda nickte ergeben.

Zum ersten Mal wurde Levarda ihre Abhängigkeit von der Gunst dieses Mannes ganz bewusst. Dass sie Lady Smira begleiten wollte und dafür auch bereit war, ihr Leben zu lassen, spielte keine Rolle. Auch nicht die Tatsache, dass sie ihre Entscheidung gegen den Wunsch des Ältestenrats von Mintra getroffen hatte.

»Ich hoffe, Euer langes Schweigen bedeutet, dass Ihr Euch meine Worte zu Herzen nehmt. Ich habe gehört, dass Ihr die strategische Kriegführung nach Larisan studiert habt. Demnach brauche ich Euch nicht zu sagen, wie begnadet Lord Otis in diesen Dingen ist.«

Verwirrt blieb Levarda stehen. Das Studium der Kriegskunst war vor vielen Jahren in ihrem Land verboten worden. Ihre Mutter musste Lady Tibana davon erzählt haben, denn sie war die Einzige, die davon wusste. Was aber hatte ein Buch der Mintranerin Larisan mit Lord Otis zu tun?

»Wie meint Ihr das?«, fragte sie unsicher.

Lady Tibana kniff die Augen zusammen und musterte Levarda. Als sie feststellte, dass sie tatsächlich nicht die geringste Ahnung hatte, seufzte sie.

»Lord Otis ist Larisans Enkel. Ich nahm an, Ihr wüsstet es. So ist dies nicht der wahre Grund für Eure Entscheidung, meine Tochter zu begleiten?« Sie beobachtete Levarda prüfend, die die Lippen aufeinanderpresste.

Was dachte Tibana von ihr? Nein, davon hatte sie nichts gewusst. Woher auch? In Mintra sprach niemand über die Welt außerhalb der Grenzen. Die Menschen, die Mintra verließen, kehrten nicht zurück. Larisan hatte Mintra verlassen, und nur durch Zufall war Levarda eines Tages in einer Hütte in den Besitz des Buches gelangt.

Mit zügigem Schritt durchmaß Lady Tibana den Garten, sodass Levarda nichts anderes übrigblieb, als ihr schweigend zu folgen. Rückte diese neue Erkenntnis alles in ein anderes Licht? Larisans Enkel in ihrem Albtraum – als ihr Mörder? Sie brauchte Ruhe, um über alles nachzudenken.

Abrupt blieb Lady Tibana stehen.

»Also gut, nun wisst Ihr es. Nutzt das Wissen weise und zieht Euren Vorteil daraus.«

»Wenn Ihr erlaubt, würde ich mich bis zum Abend gern in meine Gemächer zurückziehen.«

»Es sei Euch erlaubt. Vergesst nicht, Euch in den Regeln des Anstandes und der Höflichkeit zu üben. Ich werde Lady Eila in Eure Gemächer schicken. Sie ist die Begabteste, was diese Dinge betrifft, und sie ist geduldig.«

»So sei es.« Ergeben verneigte sich Levarda.


An diesem Abend trug Levarda ihr blaues Kleid zu Ehren des Luftelements. Es sollte ihr die Leichtigkeit verleihen, die ihr bei dem Gedanken an ein erneutes Fest so schmerzlich fehlte. Sie hatte sich gewappnet, die reine Quelle in ihrem Innersten besucht und Kraft geschöpft. Ihre Angst und die Bilder ihres Albtraums waren während der Meditation beständig durch ihren Körper gezogen, so übte sie sich darin, diese zu kontrollieren. Das hatte sie sich aus den Büchern von Larisan angeeignet, der einzigen Kriegerin in ihrem Volk, von der sie wusste. Wissen war die Macht, seine Feinde zu besiegen. Sie würde sich mehr Wissen über Lord Otis aneignen, ihn beobachten, seine Schwachpunkte kennenlernen. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen ihnen kam, musste sie gewappnet sein.


Der Abend verlief ähnlich wie der vorherige. Männer und Frauen trugen andere Kleider, nur die Garde erschien in den Uniformen wie am Tag zuvor. Allerdings bemerkte Levarda diesmal heimlich getauschte Blicke zwischen Hofdamen und Soldaten.

Sie bemühte sich, höflich und interessiert den Gesprächen zu folgen. Am Nachmittag hatte Lady Eila zwei Stunden damit verbracht, ihr alles zu erzählen, was an dem gestrigen Abend geschehen war. Dabei kreisten ihre Gedanken schwärmerisch immer wieder abwechselnd um Lemar und Lord Otis. Aufmerksamer als je zuvor folgte Levarda ihren Worten.

Am heutigen Abend entfielen die Ansprachen, sodass man nach dem Essen direkt zum Vergnügen überging. Erneut eröffnete der Hausherr mit seiner Gemahlin den Tanz, und danach forderte Lord Otis die Frau des Gastgebers auf. Zum Glück blieb Levarda ein zweiter Tanz mit ihrem Onkel erspart. Sie wusste nicht, ob es an ihrem Luftkleid lag oder an den gelockerten Regeln für diesen Abend – es fiel ihr jedenfalls leichter, unbemerkt in die Festgesellschaft einzutauchen.

Lord Otis ignorierte sie völlig, so blieb Levarda genügend Zeit für ihre Beobachtungen. Sie stellte fest, dass keine Frau am Hofe seine Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, ausgenommen Lady Tibana und Lady Smira, denen gegenüber er sich ausgesprochen zuvorkommend verhielt. Sein kühler Gesichtsausdruck ließ sie vermuten, dass sein Benehmen eher auf Anstand als auf echtem Interesse beruhte. Vielleicht wollte er sich ja nur über die Verhältnisse am Hof informieren.

Sie wagte sich nicht in seine Nähe, nahm aber wahr, dass sein Offizier Egris und er sich oft abseits der Menge besprachen, und zu gerne hätte sie erfahren, worum es dabei ging.

Mit seinen breiten Schultern und den schmalen Hüften hatte Egris die Blicke der Frauen schon zuvor auf sich gezogen. Das war Levarda nicht entgangen, allerdings ebenso wenig die Tatsache, dass er nicht mehr zur Auswahl stand, da er vermählt war.

Egris war es schließlich, der Levarda zum Tanz aufforderte. Als er vor ihr stand, sah sie fasziniert in seine hellbraunen Augen, die sie an das Harz der Bäume ihrer Heimat erinnerte. Sein dunkelbraunes, glattes Haar hielt er mit einem Band zurück. Der Zopf war schulterlang. Ein Löwenkopf zierte seine Uniform.

Levarda blieb keine andere Wahl, als sich ihrem Schicksal zu ergeben, und sie bemühte sich, ihn nicht mit ihrer Ungeschicklichkeit zu blamieren. Überraschenderweise fruchteten offenbar ihre Bemühungen des heutigen Tages mit Lady Eila. Allerdings konnte sie von Egris nichts in Erfahrung bringen, denn anstatt von sich zu erzählen, wie es Männer meist taten, stellte er ihr seinerseits beharrlich Fragen.

Angeblich war er nach Lord Otis am längsten bei der Garde. Levarda beschränkte sich daher lieber darauf, seine Fragen schlicht und höflich zu beantworten, ohne zu viele Informationen preiszugeben. Ihre Tante hatte ihren Lebenslauf bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Dabei entsprach er wenigstens in allen maßgeblichen Fakten der Wahrheit, denn lügen könnte Levarda niemals, das musste auch Lady Tibana akzeptieren.

Das Geschick bestand darin, immer nur das Notwendigste zu sagen und ihr Gegenüber den Rest wie zufällig selbst schlussfolgern zu lassen. Sie musste sich mitunter auf die Lippen beißen, um nicht ihrerseits Fragen zu stellen. Wenn Egris etwas von sich erzählte, um sie aus der Reserve zu locken, hörte sie umso genauer zu.

Ab jetzt gab es kein Verstecken mehr. Die Männer der Garde hatten sie für sich entdeckt. Nach und nach tanzte jeder Offizier mit ihr.

Ihr Misstrauen erwachte. War dies ein Trick von Lord Otis, um mehr über sie zu erfahren? Sie blieb auf der Hut, überlegte, was sie in ihren Gesprächen mit den Offizieren erwähnen durfte.

In den Tanzpausen hörte sie den Damen zu, wenn sie von ihren Tanzpartnern erzählten. So ergab sich bald ein klareres Bild von den Anführern der Garde.

Timbor war der Jüngste von ihnen. Das silberne Schlangenwappen auf seiner Uniform passte gut zu seinem schmalen Körperbau. Mit den kurzen, blauschwarzen Haaren, kräftig und voller Wirbel, erweckte er den Eindruck, sich ständig die Haare zu raufen, was ihm etwas Jungenhaftes verlieh, zumal alle Männer ihn überragten. Während sie tanzten, sah Levarda seine grünen Augen stetig in Bewegung. Sie stellten sich beide gleich ungeschickt an und tanzten daher nicht allzu lange.

Lemar stahl sich als Erster ein Lächeln von Levarda. Charmant hatte er sich bei ihr dafür entschuldigt, dass er sich nicht in der Lage sah, ihrem eigenwilligen Tanzstil zu folgen. Seine hellblauen Augen blinzelten sie dabei vergnügt an.

»Was bedeutet das Pferd auf Eurer Uniform?«, fragte Levarda mutig.

»Dass ich der beste Reiter der Garde bin.«

Levarda musste lachen. Gerne hätte sie sich einem Wettkampf mit ihm gestellt. Sie sah, wie er seinen anderen Tanzpartnerinnen mit seinem Charme den Kopf verdrehte.

Von Lemar erfuhr sie, dass die Wachleute, die ihr beim Stall begegnet waren, zur Strafe die Boxen hatten ausmisten und jedes Pferd auf Hochglanz putzen müssen. Eine Frau erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht, sang nur sein eigenes Loblied auf Umbra, den Hengst seines Herrn.

Beim Tanz mit Sendad hatte Levarda das Adleremblem auf seiner Brust vor Augen, so hoch ragte der Offizier vor ihr auf. Während er schweigsam seine Runde mit ihr drehte, fragte sie sich verwirrt, weshalb er sie trotz seiner Zurückhaltung überhaupt aufgefordert hatte. Anscheinend war sie die Einzige, mit der er überhaupt tanzte. Er weckte jedoch ihr Interesse mit seiner ruhigen Art.


Der ganze Abend war für Levarda ohne einen Zwischenfall verlaufen. Sie hatte sich am Abend rechtzeitig vom Fest zurückgezogen. Während die letzten Hartnäckigen in den frühen Morgenstunden den Tanzsaal verließen, stand Levarda in ihrem Reitkleid vor dem Stall. Die Zeit des Sonnenaufgangs gehörte ihr.

Der Stall wurde Tag und Nacht abwechselnd von den Soldaten aus Lemars Regiment bewacht. Jetzt, wo Levarda wusste, dass sie auf die Wachen achten musste, war es ein Leichtes für sie, diese zu meiden. Jeder Mensch besaß eine Aura, ein eindeutiges Energiemuster, das sie wahrnahm. So konnte sie die Männer der Garde von denen Lord Blourreds unterscheiden.

Leise führte sie Sita aus dem Hauptstall, ging an der Mauer entlang, bis sie den seitlichen Ausgang erreichte. Sie nickte Lord Blourreds Wachen kurz zu, und sie gaben den Weg frei.

Hinter der Mauer sprang sie auf Sitas Rücken, deren Sattel und Zaumzeug sie im Stall gelassen hatte, da sie ihr heute die Freiheit schenken wollte. Für einen Moment fühlte sie sich beobachtet. Sie sandte ihre Sinne aus, konnte aber nichts feststellen. Die Männer der Garde waren noch immer da, wo sie sein sollten.

Die Stute griff freudig zum Wald hin aus, ihre Ohren spielten und sie schlug mit dem Schweif. Als sich der Wald in eine weite Ebene öffnete, lehnte sich Levarda nach vorn und krallte ihre Hände in Sitas Mähne. Mehr bedurfte es zwischen ihr und dem Tier nicht. Wie ein Pfeil schoss die Stute los. Der Wind pfiff Levarda durchs Gesicht, ihre Haare flatterten und sie stieß einen Schrei vor lauter Übermut und Lebensfreude aus. Dann schloss sie die Augen, ließ sich vom Gefühl der Freiheit tragen, bis sie den Rausch des Glücks in ihren Adern fühlte. Erst dann parierte sie Sita durch. Sie hatten bereits den Wald mit der Weggabelung erreicht. Rechts ging es tiefer in das Land von Lord Blourred. Links führte der Pfad nach Mintra – für Menschen, die Erlaubnis erhielten, es zu betreten. Wer sie nicht hatte, irrte umher, unfähig, seinen Weg zu finden, obwohl der Asambra weithin sichtbar den Mittelpunkt des Landes markierte.

Sie klopfte Sita den Hals, verschloss das Gefühl von Glück und Zufriedenheit tief in ihrem Herzen. Dann glitt Levarda vom Pferd, lehnte ihre Stirn an die der Stute.

Es war Zeit, Abschied zu nehmen, den letzten Faden, der sie an ihr altes Leben band, zu durchtrennen. In der Sprache ihres Volkes flüsterte sie: »Geh mein Mädchen, geh zurück nach Hause, suche die Weiden am Fuße von Asambra und sei frei – für uns beide.« Tränen liefen ihr über die Wangen.

Sie scheuchte Sita von sich. Die Stute zögerte. Ein letzter Blick, dann drehte sie sich abrupt auf der Hinterhand und jagte über den Pfad Richtung Heimat. Ihre Hufe donnerten auf dem Weg, als sie davonstob.

Levarda sah ihr nach und merkte erst nach einer Weile, als Sitas donnerndes Hufgeräusch sich entfernte, dass ein anderer Hufschlag immer lauter wurde. Sie sah sich um und sah einen Reiter auf sich zukommen. Zu spät, sich in den Büschen zu verbergen. Sie entschied sich, auf dem Weg stehenzubleiben.

Erst kurz vor ihr parierte er seinen Hengst durch und sprang ab. »Unglückseliges Weib!«, fuhr er sie an. »Was habt Ihr getan?«

Er packte Levarda am Arm, die völlig überrumpelt von seinem Ausbruch vergaß, sich zu wehren. Die Zeit reichte ihr nicht, um einen Schutzschild gegen den Zorn aufzubauen, der ihr entgegenflammte. Die ungezügelte, wilde Kraft, die aus ihm herausströmte, traf geballt auf ihre eigene, und gegenseitig entluden sich die Energien wie in einer Explosion.

Er ist ein Kind des Feuers, dachte sie noch. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Das Erste, was sie spürte, als ihr Geist langsam aus der Dunkelheit zurückkehrte, war die Kraft der Energien ihres eigenen und seines Feuers. Levarda fühlte in ihrem Nacken und in den Kniekehlen, wie seine Flammen in sie eindrangen. Sie musste die Zufuhr unterbrechen, sonst würde es zu einer weiteren unkontrollierten Entladung kommen. Sie konzentrierte sich auf die Quelle in ihrem Innern, aktivierte sie und führte ihre Wasserkräfte zuerst an ihre Kniekehlen und den Nacken. Aber erst mit der Kraft der Erde gelang es ihr, einen Schutzwall an diesen Stellen aufzubauen, der die Energiezufuhr unterbrach. Sie begann, die sich umschlingenden Feuerenergien, die weiter durch ihren Körper tobten, zu kanalisieren.

Noch nie hatte sie von so etwas gehört oder etwas dergleichen erlebt. Da sie keine Möglichkeit sah, die Kräfte zu trennen, bannte sie diese in ihrem tiefsten Inneren und versiegelte die Pforte mit Wasser. Das musste genügen, bis sie in ihren Gemächern die Kraft in einen Energiestein ableiten konnte.

Sie spürte warmen Atem und weiche Lippen an ihrer Wange. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah die aufgeblähten Nüstern von Umbra vor sich.

»Umbra, lass das«, zischte Lord Otis. Er hielt Levarda in seinen Armen, eine Hand in ihrem Nacken, die andere in ihren Kniekehlen. Er konnte den neugierigen Hengst nicht von ihr fernhalten.

»Lasst mich sofort runter!« Levardas Stimme vibrierte und knisterte von der Energie, die in ihr getobt hatte.

Auf der Stelle beförderte Lord Otis sie unsanft auf die Beine. Sie wankte, krallte sich in Umbras Mähne fest und lehnte kurz ihre Stirn an seinen Hals. Geduldig ließ der Hengst sie gewähren.

Der Mann hinter ihr atmete scharf ein. »Wie könnt Ihr es wagen, ein so kostbares Tier in die Wildnis zu schicken, in der es womöglich nicht einen Tag überlebt?«

Levarda drehte sich bedächtig zu dem ersten Offizier der Garde um. Sie wusste, dass ihre Haut – genährt von der Energie – leuchtete.

Lord Otis‘ Erscheinung aber loderte geradezu, bläulich nahe am Körper, rötlich, orange und gelb mit wachsendem Abstand von ihm.

Was für eine Verschwendung der Kräfte, schoss es ihr durch den Kopf. Als sie die kalte Wut in seinen Augen sah, wich sie erschrocken zurück. War es schon soweit? War der Tag der Erfüllung ihres Albtraums gekommen? Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert. Instinktiv legte sich seine Hand darauf, als er ihrem Blick folgte.

Levarda lächelte herablassend. Sie mochte kein Schwert besitzen, aber so einfach könnte er sie nicht töten. Sie stand neben dem Pferd, brauchte sich nur umzudrehen und aufzuspringen, vorausgesetzt, das Tier war bereit, seinen Herrn zu verlassen.

»Das geht Euch nichts an«, erwiderte sie kalt, indem sie ihm direkt in die Augen sah, denn seine Absicht, das Schwert zu ziehen, würde sie einen Bruchteil vor der Bewegung genau dort ablesen.

Sein Mund zuckte spöttisch. »Ihr habt recht«, erwiderte er gefährlich leise. «Lassen wir Lord Blourred entscheiden, was mit Euch geschehen soll. Er wird nicht erfreut sein, dass Ihr ein solches Tier aus seinem Besitz diesem Schicksal preisgebt.«

Levarda gelang es nicht, ihre Befriedigung zu verbergen. »Lord Blourred weiß längst, dass ich meiner Stute die Freiheit schenke, bevor ich weggehe«, sie betonte das ‚meiner‘. »Am Hof des hohen Lords habe ich sicherlich keine Möglichkeit mehr, auszureiten.«

Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.

»Euer Pferd?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Nun, angesichts Eurer Herkunft großmütterlicherseits sollten Euch Frauen, die den Umgang mit Pferden gewohnt sind und solche besitzen, vertraut sein.« Sie hätte sich ohrfeigen können.

Das Leuchten um seinen Körper schwand. Seine Kiefermuskeln entspannten sich und er sah sie mit interessiertem, wachsamem Blick an.

Levarda sammelte sich und trat wortlos an ihm vorbei den Rückweg zur Burg an.

»Was habt Ihr vor?«, klang seine Stimme nun eher belustigt in ihrem Rücken.

»Wonach sieht es für Euch aus, Lord Otis?«, spottete sie ihrerseits, ohne den Schritt zu verlangsamen oder sich umzudrehen. »Ich gehe zurück zur Burg.«

»Das ist ein weiter Weg zu Fuß.«

»Aber nicht mein erster weiter Weg zu Fuß.«


Der Weg war weiter als gedacht. Die Sonne ging bereits hinter den Bergen auf und kletterte ein Stück über den Horizont, bevor Levarda den Seiteneingang erreichte.

Es herrschte geschäftiges Treiben, doch sie schlüpfte von Herrschaft und Garde unbemerkt in die Frauengemächer.

In ihrer Kammer angekommen, öffnete sie ihre Truhe, holte den Beutel mit Steinen heraus und begann mit der Übertragung der überschüssigen Energie. Ruhe, Gelassenheit – wo war ihr Verstand geblieben? Wie hatte sie nur so unvernünftig reagieren können? Aber war es verwunderlich? Niemand hatte sie auf so etwas je vorbereitet.

Die Stimme ihres Meisters klang in ihrem Kopf: »Egal, wie viel du weißt. Egal, wie viel du lernst. Egal, wie viel du trainierst. Du wirst im Leben immer auf Situationen treffen, die neu für dich sind. Wirklich weise ist der, der mit der Ungewissheit umgeht.«

Noch nie hatte sich Levarda so unwissend und hilflos gefühlt wie jetzt. Ihr bangte es vor dem Abend, wenn sie wieder auf Lord Otis treffen würde. Was, wenn er sich wirklich, wie von Lady Tibana befürchtet, gegen sie als Lady Smiras Begleitung aussprach?

Angst ist es, die uns wachsam macht für das, was auf uns zukommt. Nur ein Narr hat keine Angst. Zu viel Angst ist, was uns lähmt. Was unsere Gedanken verwirrt und uns Fehler machen lässt. Zu viel Angst entsteht durch Unwissenheit, die sich in der Fantasie durch die Vorstellung potenziert, was alles passieren könnte. Die Kunst besteht darin, sich der Angst zu stellen, Wissen zu sammeln und sich so ihrer Macht zu bedienen.

So stand es in den Büchern von Larisan. Levarda schnaubte grimmig. Noch war sie nicht am Ende. Noch war nichts entschieden.


Levarda trug ihr rotes Kleid des Elements Feuer. Ihre Haare waren sorgsam geflochten und hochgesteckt. Hocherfreut über ihre Anfrage hatte ihre Tante dafür gern eine Magd geschickt.

Die Dienerin hatte sie dazu überredet, ein wenig Gold auf ihre Lider aufzutragen und die Augen mit einem schmalen schwarzen Strich zu betonen. Das Ergebnis gefiel Levarda sogar, da es ihrem Aussehen etwas Gefährliches verlieh, das auf gewisse Weise zu dem Kleid passte.

Lady Tibana schenkte ihr diesmal ein wohlwollendes Lächeln, als sie Levarda in einer Gruppe von Frauen auf dem Fest entdeckte. Inmitten des Glitzerns der anderen Hofdamen fiel sie zum Glück trotzdem nicht auf. Sie war entschlossen, heute zu zeigen, dass sie sich anpassen und fügen konnte. Sie vermied jeden Augenkontakt mit Männern, senkte demutsvoll den Kopf und gab sich bescheiden.


»Hmm, Lord Otis scheint sich heute sehr angeregt mit Lord Blourred zu unterhalten.« Lady Eila, die vor ihr stand und über ihre Schulter einen Blick auf die Stirnseite der Halle warf, runzelte die Stirn. Levarda unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen.

Stattdessen fragte sie: »Was denkt Ihr, erscheint Euch Lord Blourred verstimmt?«

Erstaunt, dass sie sich für ihre Bemerkung interessierte, antwortete Lady Eila eifrig: »Nein, wohl nicht, er sieht eher amüsiert aus. Er lacht.«

Erleichtert stieß Levarda die angehaltene Luft wieder aus, jedoch nur, um sie erneut anzuhalten, weil Lady Eila plötzlich zusammenzuckte.

»Oh«, stieß sie hervor, »Lord Otis kommt auf uns zu!«

Hastig senkte Levarda den Blick und wollte dem Offizier den Weg zu Eila freigeben, da hörte sie seine herrische Stimme.

»Lady Levarda? Dieser Tanz gehört mir!«

Obwohl er sie erneut mit seinem Mangel an Höflichkeit bloßstellte, wahrte Levarda die Fassung. Sie spürte die Wärme auf ihrer Haut, während sie gegen seine Feuerkraft einen Schutzwall aufbaute, bevor sie sich langsam umdrehte. Die Augen demütig auf den Boden gesenkt, reichte sie ihm ihre Hand, um die herum sie sicherheitshalber einen weiteren Schutz wob.

Der Lord nahm ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. Als die Musik einsetzte, versuchte sie sich die Abfolge der Figuren in Erinnerung zu rufen. Zumindest half das bei der Wahrung ihrer inneren Ruhe.

»Hebt den Kopf, ich möchte Euer Gesicht und Eure Augen sehen, Lady Levarda.«

Sie bemühte sich um Fassung. Ihr Blick haftete weiter am Boden. Keinesfalls würde sie ihn ansehen. Sie wollte nicht ein zweites Mal in die Augen ihres Todes blicken und hoffte, ihr Tanzpartner würde es auf ihre Schüchternheit zurückführen. Schweigend beendeten sie den Tanz. Levarda atmete auf, machte einen Knicks.

Der Lord indes ließ ihre Hand nicht los. »Der nächste Tanz gehört mir ebenfalls.«

Dies war keine Bitte, sondern ein Befehl. Doch wenn er glaubte, sie würde ihre Höflichkeit vergessen und ihn stehenlassen, irrte er sich. Levarda lächelte sanftmütig, erstarrte aber, als sie fühlte, wie seine Hand sich um ihre Taille legte. Tatsächlich erklang die Musik für einen Tanz, der üblicherweise verheirateten Paaren vorbehalten war. Unverheiratete Tänzer verstießen nur in dem Fall nicht gegen die Regeln, sofern sie gebührenden Abstand voneinander hielten. Levarda versteifte sich augenblicklich und stolperte bei den ersten Schritten über ihre eigenen Füße, doch äußerst geschickt sorgte Lord Otis‘ Griff wieder für ihr Gleichgewicht, ohne dabei den Abstand zu ihr zu verringern.

»Entspannt Euch. Wenn Ihr mich führen lasst, den Kopf hebt und nicht mehr verkrampft auf Eure Füße starrt, wird es mir leichter gelingen, Euch eine Blamage zu ersparen.«

Levarda biss die Zähne zusammen und hob den Kopf ein wenig, um dezent an ihm vorbeizusehen, aber das half nicht. Im Gegenteil. Die schnellen Wendungen und Drehungen machten sie schwindlig.

»Schließt Eure Augen, vertraut mir und lasst mich führen«, raunte Lord Otis ihr zu.

Vertrauen! Welch eine Ironie! Sie kam erneut aus dem Gleichgewicht. Nur zögernd schloss sie die Augen, versuchte sich seiner Führung anzuvertrauen. Er hatte recht. So ging es leichter. Allerdings blieb die Steifheit in ihrem Körper bestehen, denn es wollte ihr nicht gelingen, sich in seiner Nähe zu entspannen. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr die Kiefermuskeln wehtaten.

Als die Musik endete, öffnete sie die Augen und sah den spöttischen Ausdruck auf Lord Otis‘ Gesicht. Er löste die Hand von ihrer Taille, doch mit der anderen hielt er sie fest. So blieb ihr keine Wahl, als einen weiteren Tanz mit ihm auszuführen. Winzige Schweißperlen traten auf ihre Stirn, aber zum Glück erklang die Musik für einen Tanz aus komplizierten Figuren mit gehörigem Abstand zwischen den Tanzenden. Sie senkte den Blick erneut auf ihre Füße.

»Ich habe Euch noch nicht gedankt.«

Verwirrt hob sie den Kopf und musterte ihn unverhohlen.

»Ihr habt Umbra vor den Lanzen meiner Männer gerettet«, fügte er erklärend hinzu.

Er wusste es! Levarda mahnte sich, auf der Hut zu sein. Hatte Sie damals seine Anwesenheit gefühlt? Sie fragte sich, was er mit dieser Offenbarung erreichen wollte.

»Möchtet Ihr meinen Dank nicht annehmen?«

»Natürlich, Lord Otis«, Levarda wählte ihre Worte mit Bedacht. »Ich hoffe, Ihr verzeiht mir mein ungebührliches Benehmen an jenem Tag.«

»Ihr handeltet instinktiv, da gibt es nichts zu verzeihen.«

»Habt Ihr Euch eben darüber so eingehend mit Lord Blourred ausgetauscht? Oder ging es um die Tatsache, dass ich mein Pferd freiließ?« Sie wollte wissen, wo sie stand.

Ein Grübchen erschien auf seiner Wange. »Ihr beobachtet mich«, stellte er unverhohlen amüsiert fest.

Levarda spürte, wie eine feine Röte ihr Gesicht überzog, und senkte die Augen, zornig über sich selbst.

Lord Otis schwieg, aber sein Spott blieb fühlbar. Als die Musik endete, führte er sie endlich zurück zu ihrem Platz und verbeugte sich vor ihr. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, sodass er besser in ihr Antlitz sehen konnte, verabschiedete er sich.

»Keines von beiden«, sagte er leise.

Verwirrt sah sie ihm nach.

3

Aufbruch

Die Festlichkeiten waren vorüber. Die nächsten Tage verbrachte die Garde mit Vorbereitungen für die Rückreise.

Am vierten Festabend hatte ihr Onkel Levarda noch einmal zu sich gerufen. Der freundliche Ausdruck in Lord Blourreds Gesicht stand im Gegensatz zu der ernsten, strengen Miene von Lord Otis, der neben ihm Levarda längere Zeit musterte. Levarda trug ein Kleid im Braunton des Elements Erde.

»Ich möchte Euch eine Frage stellen, Lady Levarda«, richtete der Abgesandte des hohen Lords endlich das Wort an sie, »ehe ich meine endgültige Entscheidung darüber treffe, ob Ihr Eure Cousine begleiten dürft.«

Höflich neigte sie den Kopf zur Seite als Ausdruck für ihr Einverständnis.

»Ist Euch bewusst, dass Ihr Euer Leben verliert, wenn Lady Smira dem hohen Lord nicht innerhalb eines Jahres einen Thronfolger schenkt?«

Bevor sie antworten konnte, ergriff er ihre Hand. Prickelnd prallte seine Energie an ihrem Schutzschild ab. Er legte ihr den rechten Zeigefinger sachte auf die Lippen, als wollte er verhindern, dass sie direkt antwortete.

Darauf war sie nicht vorbereitet. Seine Energie drang ungehindert in ihren Kopf, zauberte dort Bilder, die ihr den Atem nahmen. Eine hübsche junge Frau, die vor ihr auf dem Boden kniete, sich an die Beine desjenigen klammerte, durch dessen Augen Levarda die Szene sah. Tränen liefen der Frau die Wange herab, sie schrie, weinte, kämpfte. Das Bild wechselte, und diesmal sah sie die junge Frau auf einem Podium knien. Der Henker hob sein Schwert.

Levardas Amulett reagierte und unterbrach den Zufluss seiner Energie. Jemand hatte ihr einen Stuhl untergeschoben. Lord Otis hielt immer noch ihre Hand, ein kaltes, unbarmherziges Lächeln auf seinen Zügen. Sie sah den missbilligenden Blick von Lady Tibana, den besorgten ihres Onkels. Langsam zog sie ihre Hand aus seiner und richtete sich auf.

»Ja, Lord Otis, und ich werde dieses Schicksal schweigend und ohne um mein Leben zu betteln akzeptieren, denn ich tue es aus freiem Willen.«

Er neigte den Kopf. »So sei es.«

Levarda brauchte ihre restliche Kraft, um sich ohne zu zittern umzudrehen.

»Lady Levarda?«

Sie hielt inne.

»Mein Ohr wird immer offen für Euch sein, während wir uns hier auf der Burg Eures Onkels befinden. So lange könnt Ihr es Euch anders überlegen, danach ist Euer Schicksal besiegelt.«

Sie nickte nur. Sie hatte verstanden.


Lady Smira verbrachte die Tage mit ihren Eltern, während die Dienerinnen ihre Sachen packten. Levarda besaß nicht viel. Ihre Kleidung passte in eine Truhe. Ihre Tasche war gefüllt mit den Kräutern, die sie in den letzten drei Monaten gesammelt hatte.

Dank der großzügigen, unbeabsichtigten Gabe von Lord Otis, als sie Sita die Freiheit geschenkt hatte, waren alle ihre Steine angefüllt mit Energie. Die Art eines Steines entschied darüber, für welche Aufgabe sie die Kraft daraus nutzen konnte. Die meisten ihrer Steine taugten zur Heilung von Wunden und zur Stärkung der Fruchtbarkeit.

Levarda hatte Lady Smiras Rhythmus im Zyklus so angepasst, dass erst nach der Hochzeitsnacht die Tage der Fruchtbarkeit beginnen würden. Ihre Mutter Kaja hatte es ihr so empfohlen. Der Genuss von viel Essen und Alkohol war keine gute Basis für die Zeugung eines Kindes. Für die nachfolgenden Tage wäre eine hohe Fruchtbarkeit wichtiger.

Es fiel Levarda schwer, in dieser Art über die Verbindung von Lady Smira mit dem hohen Lord zu denken. Sie fragte sich, wie es für ihre Cousine sein würde. Die Vereinigung zweier Menschen auf körperlicher Ebene galt in ihrem Volk als etwas Reines, Vollkommenes, gewidmet der Verehrung der irdischen Fruchtbarkeit. Sie diente nicht der Machterhaltung, und es kam niemals infrage, dass ein Partner zur Vereinigung gezwungen wurde.

Hier herrschten andere Sitten. Väter verheirateten ihre Töchter zum Zweck strategischer Allianzen und Beziehungen. Söhne bekamen zwar ein Mitspracherecht, aber nur, soweit es zu den Plänen der Eltern im Streben nach Macht passte.

Die Berührung ihrer Lippen durch Lord Otis‘ Zeigefinger – eine Überschreitung jeglicher höfischen Etikette – und ihre darauffolgende Schwäche waren Anlass für grenzenlosen Tratsch unter den Frauen. Es hatte zwei Tage gedauert, bis sich Eila beim Nähen wagte, Levarda danach zu fragen, was für ein Gefühl es gewesen sei. In dem Raum war es mucksmäuschenstill geworden, weil alle auf die Antwort warteten. Levarda hatte sich für die Wahrheit entschieden.

»Kalt, grausam und erbarmungslos.«

Die Frauen hatten sie angesehen, als zweifelten sie an ihrem Verstand. Danach ignorierten sie Levarda, aber dennoch konnte sie spüren, wie ihre Gespräche um sie kreisten. Es war kein angenehmes Gefühl, wenn hinter ihrem Rücken über sie gesprochen wurde. Zum ersten Mal taten ihr die Männer leid, die sonst im Mittelpunkt der Frauengespräche standen.


Als Levarda am Tag ihrer Abreise die Kutsche sah, in der sie zusammen mit Lady Smira und deren zwei Dienerinnen reisen würde, konnte sie sich gemischter Gefühle nicht erwehren. Das Gefährt wirkte so klein! Sie war es nicht gewohnt, den Tag über dicht mit anderen Menschen eingesperrt zu sein.

Schließlich bestieg sie seufzend die Kutsche, nicht ohne einen kurzen, neidvollen Blick auf die Pferde mit ihren Reitern zu werfen. Als der Tross sich in Bewegung setzte, winkte Lady Smira aus dem Fenster und hörte nicht auf, bis sich die Burg ihren Blicken entzog. Levarda hatte sie nachdenklich beobachtet. Als ihre Cousine in unkontrolliertes Weinen ausbrach, nahm sie Smira in die Arme und bettete ihren Kopf an ihre Brust, strich ihr beruhigend übers Haar und summte leise ein Lied.

Die Dienerinnen wischten sich ebenfalls verstohlen die Augen. Während Lina gefasster wirkte, gab sich Melisana hemmungslos ihrem Kummer hin. Levarda hatte sich die Namen der zwei Zofen, die Lady Smira begleiteten, endlich eingeprägt und fragte sich, ob auch die beiden Dienstboten dem Tod geweiht waren, wenn es keinen Thronfolger gab.

»Erzählt eine Geschichte von der Liebe«, bat ihre Cousine.

Wenn die Tage kürzer wurden im Land Mintra und sich das Volk in die Höhlen am Berg Asambra zurückzog, dann kam die Zeit der Geschichten. Viele handelten von der Liebe.

Also begann Levarda mit ihren Erzählungen. Bald hatte auch Melisana mit dem Weinen aufgehört und lauschte gebannt ihren Worten, bis sie schließlich nach einer Weile wie die anderen von ihrer Stimme getragen in einen ruhigen Schlaf fiel.

Das Rumpeln der Kutsche war für die Frauen ungewohnt und anstrengend. Levarda beschäftigte ihren Geist mit dem Aufsagen schwieriger Beschwörungsformeln für die verschiedenen Elemente. Die Enge in dem Gefährt verursachte ihr körperliches Unwohlsein.


Gegen Mittag hielt die Kutsche an. Sie stiegen aus, vertraten sich die Beine und verrichteten ihre Bedürfnisse im Wald. Dafür wurde ein Bereich mit einem Sichtschutz aus Stoff abgetrennt, und die Soldaten bewachten mit einem weiträumigen Abstand das Refugium der Frauen.

Wie kompliziert das Reisen im Land Forran war, dachte Levarda, der es im Wald hinter den Büschen angenehmer gewesen wäre, wie sie es sonst tat, egal, ob sie mit Frauen oder Männern auf Reisen war. Sie spürte die Abhängigkeit der Frauen in jeder Hinsicht. Und sie vermisste ihren Bogen.

Kein Wunder, dass sich die Frauen in Forran so unselbstständig benahmen. Jede Sitte, jede Regel, selbst das Reisen in der freien Natur, weg von allen Zwängen am Hofe, gaben ihnen das Gefühl, nicht allein zurechtzukommen und auf männliche Unterstützung angewiesen zu sein.

Nach einer kurzen Stärkung in dem kleinen Zelt, das für diesen Zweck aufgebaut worden war, stiegen sie zurück in die Kutsche. Während die anderen Frauen – allen voran Lady Smira – den Schutz der Kutsche suchten, zögerte Levarda den Moment des Einstiegs so lange wie möglich hinaus. Allein der Gedanke an die nächsten Stunden in dem engen Verschlag verursachte ihr Übelkeit.

Ein Räuspern ließ sie innehalten und sich umdrehen. Sendad stand bei ihr. Sie visierte den Adler auf seiner Uniform an.

»Verzeiht Lady Levarda«, seine Finger bewegten sich unruhig. »Lord Otis lässt fragen, ob Ihr vielleicht eine andere Art des Reisens bevorzugt.«

Überrascht hob sie den Kopf und starrte Sendad direkt in die Augen, unsicher, wie sie seine Worte verstehen sollte. Dem Offizier schoss die Röte ins Gesicht. Verlegen wich er ihrem Blick aus, während er nach einer passenden Formulierung suchte. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Levarda musste lächeln und senkte hastig die Augen. Sie wollte es sich nicht mit ihm verderben.

»Was meint Ihr damit?«, fragte sie äußerlich gleichmütig, aber ihre Stimme zitterte vor Aufregung.

Eine längere Pause trat ein. Sendad sammelte all seinen Mut für die nächsten Worte.

»Reiten auf einem Pferd?«, brachte er vorsichtig über die Lippen.

Levarda verkniff sich einen freudigen Aufschrei. Stattdessen formulierte sie höflich: »Es ist zuvorkommend und nachsichtig von Lord Otis, mir dieses Angebot zu machen.«

»Ihr nehmt es an?«

»Sehr gerne nehme ich dieses großzügige Angebot an.«

Noch immer zögerte Sendad. »Tragt Ihr die richtige Kleidung dafür?«, brach es dann stotternd aus ihm heraus, während er sie musterte.

»Ja, ich bin passend gekleidet«, antwortete sie lächelnd, dann stockte ihr der Atem. Hinter Sendads Füßen tauchte ein Paar graziler Hufe auf.

»Sita!« Levarda lief auf ihre Stute zu und fiel ihr um den Hals. Die seltsamen Blicke der Männer bemerkte sie so wenig wie die kritischen von Lady Smira und den Dienerinnen. Ohne Zweifel stand ihre Stute leibhaftig vor ihr, samt Zaumzeug und – ihr stockte der Atem – ihrem Bogen und Köcher ordentlich am Sattel befestigt in ihrer Halterung.

Während Sendad besorgt seinen Blick zwischen ihr und der Stute hin und her wandern ließ, setzte Levarda bereits ihren Fuß in den Steigbügel. Sie saß auf dem Pferd, ehe Lady Smira etwas sagen konnte. Sendad war sichtlich erleichtert, dass er Levarda nicht auf das Tier zu helfen brauchte, und schwang sich auf seines.

Der Tross setzte sich in Bewegung.

«Reitet neben mir«, klang sein kurzer Befehl, dann besann er sich des Tons und runzelte die Stirn. »Verzeiht, Lady, aber so lautet der Befehl von Lord Otis.«

Sie winkte ab. Wenn das die einzige Einschränkung war, nahm sie diese gerne in Kauf. Tänzelnd ließ sich Sita von ihr neben Sendads Wallach treiben.

»Seid Ihr sicher, dass das Tier nicht zu temperamentvoll für Euch ist?«

Sie sah Sendads besorgten Blick und lachte nur, um ihn zu beruhigen. Bald gewöhnte Sendad sich an ihre Anwesenheit und versank neben ihr in sein Schweigen, was auch Levarda angenehm war.

Sie ritten vor der Kutsche. Vor ihnen befanden sich sechs Reihen mit je zwei Reitern, die Lord Otis an der Spitze anführte. Hinter ihnen schlossen sich weitere zehn Reihen an. Zuletzt folgte mit ein wenig Abstand Egris, zwischen dessen Männern die zwei Wagen mit Lady Smiras Sachen, weiteren Dienerinnen und dem Proviant fuhren. Ein langer Tross zog durch das Land.

Es fiel Sita schwer, sich hinter den anderen Pferden einzureihen. Sie war nicht daran gewöhnt, in einer Formation zu gehen. Levarda hatte alle Hände voll zu tun, und Sendad warf ihr immer wieder besorgte Blicke zu. Je länger sie neben ihm ritt, desto klarer erkannte Levarda seine Fähigkeiten. Er sah jede außergewöhnliche Bewegung, nahm jedes Geräusch wahr, das sich von den üblichen unterschied. Alle seine Sinne waren angespannt. Ein geborener Kundschafter, dachte sie und fragte sich, warum er nicht an der Spitze ritt.


Die Antwort bekam sie am nächsten Tag. Sendad verschwand, und Levardas Platz war an diesem Tag an Egris‘ Seite.

So ritt sie nun jeden Tag bei einem anderen Offizier und an unterschiedlichen Positionen im Tross, und manchmal wünschte auch Lady Smira ihre Gesellschaft. Mit der Aussicht, bald wieder auf ihrem Pferd zu sitzen, fiel ihr die Unterhaltung mit den Frauen leicht.

Nach und nach wurde Levarda besser mit den Männern bekannt. Lemar, der mit den sechs Ersatzpferden hinter dem Proviantwagen ritt, lernte sie als Meister der zweideutigen Rede kennen. In seiner Gegenwart musste sie ihre Worte achtsam wählen. Er kam schnell mit ihr ins Gespräch.

»Ihr solltet einen Schluck Wasser trinken, Lady Levarda, es ist heute heiß.«

»Mir ist nicht heiß.«

»Tatsächlich nicht? Und ich dachte immer, jeder Frau würde heiß, wenn sie an meiner Seite in der Sonne reitet. Eure Wangen färben sich schon rot.«

»Das liegt aber an Euren Worten, nicht an der Sonne!«

»Ich denke, wir sollten dennoch die Plätze tauschen.«

Lemar wendete sein Pferd und platzierte es so, dass er mit seinem Körper ihr Gesicht vor der Sonne schützte.

»Eure Lippen sind trocken, ihr solltet sie befeuchten.«

Genervt nahm Levarda den Wasserschlauch von ihrem Sattelknauf und trank ein paar Schlucke.

»Zufrieden?«

Er grinste sie an. »Ja. Seht Ihr, es ist leicht, mich zufriedenzustellen.«

Mit Egris führte sie tiefsinnigere Gespräche. Er interessierte sich für ihre Beweggründe, Lady Smira zu begleiten.

»Am Hof des hohen Lords werdet Ihr keine Gelegenheit mehr haben, zu reiten.«

»Ich weiß.«

»Werdet Ihr es vermissen?«

»Ja, sehr.« Ihre Hand kraulte gedankenverloren Sitas Mähnenkamm.

»Weshalb habt Ihr Euch entschieden, mit Eurer Cousine zu gehen?«

»Weil mich meine Tante darum bat.«

»Seid ihr immer so pflichtbewusst?«

»Ja.«

Nachdenklich runzelte Egris die Stirn. »Sind denn alle Frauen so pflichtbewusst?«

»Die Frauen im Land Forran werden selten um ihre Meinung gefragt, nicht wahr? Was bleibt ihnen anderes übrig, als zu gehorchen?« In ihrem Fall entsprach das nicht der Wahrheit.

»Aber wenn ich nach Eurer Meinung fragte, würdet Ihr mir ehrlich antworten?«

»Ja.«

»Würden alle Frauen ehrlich antworten?«

Verwirrt sah sie ihn an. »Ich denke, es käme auf ihren Charakter an. Aber wenn Ihr mir sagt, um wen es geht ... Vielleicht kann ich Euch helfen?«

Nach und nach verstand sie seine Frage. Er betete seine Frau an, fürchtete aber, dass diese seine Liebe nicht erwiderte. Überrascht von seinem Bedürfnis, wissen zu wollen, ob seine Gemahlin dasselbe für ihn empfand, wählte sie ihre Worte mit Bedacht und viel Raum für eigene Gedanken.

Timbor wiederum war völlig anders. Er ritt mit seinen Männern am Ende des Trosses. In seiner kühnen und unbekümmerten Art fragte er sie, womit er bei den Hofdamen Aufmerksamkeit erregen konnte, was einer Frau gefiel und was nicht. Zum ersten Mal sah sich Levarda genötigt, einem anderen die Regeln von Anstand und Höflichkeit erklären zu müssen.


Am frühen Abend eines jeden Tages schlugen die Männer das Lager auf. Für die Frauen gab es ein großes Zelt. Dort servierten die Dienerinnen das Essen für Lady Smira und Levarda. Ein zweites großes Zelt diente Lord Otis als Unterkunft. Dort speisten auch seine Offiziere mit ihm. Den Offizieren stand ein kleineres Zelt für die Nacht zur Verfügung.

Es erstaunte Levarda, wie wenig Lady Smira von den vielen Männern um sie herum wahrnahm, weil so sorgfältig auf ihre Abschirmung geachtet wurde. Kaum erging es ihr selbst anders. Obwohl sie jeden Tag mit ihnen ritt, bekam sie außer zu den Offizieren keinen Kontakt zu den Soldaten. Sie kannte weder deren Namen noch ihre Pferde.

Es war ein seltsames Gefühl, so dicht mit Menschen beieinander zu sein und dabei so weit von ihnen entfernt, als trennten sie Mauern wie in der Burg.


In der zehnten Nacht ihrer Reise erwachte Levarda vom Mond. Voll stand er am Himmel und erleuchtete das Zelt. Sie liebte den Mond, der in so geheimnisvoller Weise das Wasser beeinflusste. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Leise stand sie auf und lauschte in die Nacht. Im Lager war es ruhig. Obwohl sie bisher nie Wachen wahrgenommen hatte, wusste sie, dass das Frauenzelt bewacht wurde. Ebenso das Lager.

Sie suchte mit ihren Sinnen die Gegend um das Zelt ab. Ihr Zelt stand in der Mitte, rundherum gruppiert die Zelte von Lord Otis und seinen Offizieren. Jenseits von diesen folgten die Wagen, und um diese herum waren die Soldaten verteilt.

Levarda suchte sich einen Weg, der sie am weitesten von dem Zelt wegführte, in dem Sendad mit den feinen Sinnen schlief. Sie nutzte den Schatten und die Lücken zwischen den wachenden Männern, bis sie einen kleinen Baum fand, an den sie sich lehnen konnte. Aus der Tarnung heraus wandte sie ihr Gesicht dem Mond zu, genoss seine geheimnisvollen Kräfte, die sie anzogen und abstießen wie in einer Wellenbewegung. Sie verlor sich ganz in der Faszination dieses Gefühls.

Dann fühlte sie Kälte an ihrem Hals. – Eine Klinge. Levarda erstarrte.

»Ihr seid äußerst geschickt«, vibrierte seine Stimme an ihrem Rücken, als Lord Otis ihr ins Ohr sprach.

Sie wagte nicht, sich zu bewegen.

»Dennoch werde ich morgen die Wachen für ihren Mangel an Aufmerksamkeit bestrafen müssen.«

Die Klinge wurde zurückgezogen. Er setzte sich ihr gegenüber auf den Boden. Sein Antlitz lag im Schatten, während auf ihrem der Mondschein ruhte. »Was sucht Ihr hier draußen?«

»Ich konnte nicht schlafen bei dem Mondschein.« Ihre Stimme war brüchig vor Panik, die sie noch gefangenhielt. Sie spürte seinen Blick, der über ihr Gesicht wanderte. Befriedigte es ihn, ihr Angst einzujagen?

Lord Otis langte in seinen Umhang und zog einen Apfel heraus, den er ihr reichte. Sie nahm ihn entgegen. Machte er ihr ein Friedensangebot? Eine kurze Prüfung mit ihren Sinnen – sie konnte an dem Apfel nichts feststellen. Sein Duft ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Mahlzeiten fielen für ihre Bedürfnisse zu klein aus, doch wollte sie mit einer Forderung nach mehr Verpflegung nicht die Proviantplanung durcheinanderbringen. Zwei-, dreimal war sie versucht gewesen, Gebrauch von ihrem Bogen zu machen oder wenigstens um ihren Lagerplatz herum nach Beeren und essbaren Wurzeln zu suchen. Ihr Magen knurrte.

Herzhaft biss sie in die Frucht. Das Innere des Apfels war süß, fruchtig und knackig. So wie sie es liebte. Voller Genuss ließ sie sich Zeit beim Kauen. Sie hörte auch Lord Otis in einen Apfel beißen. Eine Weile durchbrach nur ihr leises Schmatzen die Stille.

Schließlich fasste sich Levarda ein Herz.

»Ihr solltet die Männer nicht bestrafen. Sie können nichts dafür«, wagte sie sich vor. Der Gedanke, dass Menschen ihretwegen leiden mussten, widersprach ihrer Natur.

»Entweder Euch oder die Wachen«, sagte er gelassen.

»Dann mich«, antwortete sie leise.

Er schwieg, hörte mit dem Kauen auf. »Also gut, Ihr werdet die nächsten zwei Tage in der Kutsche reisen.«

Levarda schloss die Augen und nickte. »So sei es.«

Sie aß den Rest vom Apfel. »Ich möchte Euch danken.«

»Wofür?« Seine Stimme verriet ihr, dass er genau wusste, wovon sie sprach. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, wie er seine Macht über sie genoss. Nie hatte sie sich einem Mann gegenüber so hilflos gefühlt. Hatte sie sich bereits so weit von ihrem früheren Leben entfernt?

»Ihr erlaubt mir das Reiten auf Sita«, sagte sie schlicht.

»Oh, das«, er warf den Rest seines Apfels weg. »Nun, in gewisser Weise muss ich Euch danken. Immerhin habe ich eine wunderbare Stute für meine Zucht erhalten.«

Für den Bruchteil einer Sekunde wollte sie ihm an die Gurgel springen, egal, welche Konsequenzen das nach sich zog, aber sie besann sich. Er provozierte sie.

Niemals dürft Ihr auf einen Feind reagieren. – Seid immer diejenige, die agiert.

So hörte sie die Worte aus Larisans Buch der Kriegskunst in ihrem Kopf. Sie lockerte ihre Körperhaltung, zwang sich zu lächeln.

»In diesem Fall, Lord Otis, schuldet Ihr mir das erste Fohlen von Eurem Hengst und meiner Stute.«

Er stand ohne einen Kommentar auf.

Zwei Tage in der Kutsche lagen vor ihr. Sie ging voran ins Lager, bedacht darauf, dass sie die schlafenden Männer nicht weckte. Im Gegensatz zu Lord Otis, der sich nicht einmal den Anschein gab, rücksichtsvoll zu sein.

Erst in ihrem Zelt wurde Levarda bewusst, welchen entsetzlichen Fehler sie begangen hatte. Hier, in diesem Land, gab es keine Freundschaft zwischen Männern und Frauen. Sie hatte in leichtsinniger Weise ihren Ruf in Gefahr gebracht.

4

Angriff

Die zwei Tage in der Kutsche krochen endlos dahin. Lady Smira und die Dienerinnen waren erschöpft und gereizt von der Enge und der ungewohnten körperlichen Anstrengung, die ihnen das ewige Rumpeln des Wagens bereitete. Die Lady jammerte über ihr furchtbares Aussehen, den Staub in ihrem Gesicht, der ihre Haut ruinierte, den Gestank, der sich langsam breitmachte.

Verwundert hakte Levarda nach, weshalb sich die Frauen nicht an den Rastplätzen gewaschen hatten. Allein der Pferde wegen wurde das Lager immer in Wassernähe aufgeschlagen. Die Antwort war einfach. Sie hatten keine Ahnung, wie sie auf einer Reise mit solchen Angelegenheiten umgehen sollten.

Am Abend sprach Levarda Sendad an, und er stellte ihr vier Männer zur Verfügung, die in der Nähe eines Flüsschens eine Grube aushoben. Er selbst begleitete sie, nachdem er die Erlaubnis von Lord Otis eingeholt hatte, mit zwei weiteren Soldaten auf ihrer Suche nach Blüten und Kräutern.

Während Levarda sammelte, sahen die Männer ihrem Treiben gelangweilt zu. Als sie auf einen Busch voller Himbeeren traf, nutzte sie dankbar auch diese Gelegenheit.

Sendad musterte sie nachdenklich, wie sie hungrig die Beeren verschlang.

Wieder im Lager, ließ Levarda die Männer die Grube mit dem Bachlauf auf zwei Seiten verbinden. Von einer Seite floss das Wasser in die Grube, auf der anderen zurück in den Bach. So zirkulierte das Wasser langsam, aber beständig durch das Bassin.

Sie bat um Sendads Zelt und ließ es über der Grube aufbauen. Innen entzündete sie ein Feuer, über dem sie in einem Kessel voll Wasser die gesammelten Kräuter erhitzte. Bald verbreitete sich ein angenehmer Duft, und die Hitze trieb ihr den Schweiß auf die Stirn.

Sie beeilte sich, die Frauen in das Zelt zu holen, die sich, von der angenehmen Wärme überrascht, gegenseitig beim Entkleiden halfen. Sie begannen die Körperreinigung bei Lady Smira. Levarda verteilte sparsam ihren Vorrat an Ölen, die sie zum Einreiben auf dem Körper verwendete, an die Frauen. Sorgfältig wuschen die Dienerinnen sich Schweiß und Schmutz von der Haut, bis sie schließlich rosig glänzten.

Zuletzt unterwies sie die Zofen im Waschen der Reisekleidung, die sie anschließend selbst mit ein wenig Energie der Elemente Luft und Feuer trocknete, von den Frauen unbemerkt. Sie sorgte dafür, dass sich der Kräuterduft eng mit dem Stoff der Kleider verband, sodass es für die nächsten Reisetage ausreichen würde.

Während Lady Smira mit ihren Zofen – geschützt von Schleiern – in ihr eigenes Zelt verschwand, nutzte Levarda das restliche Wasser, um sich selbst zu reinigen. Wenn sie einen solchen Aufwand betrieb, wollte auch sie ihren Vorteil daraus ziehen. Bisher hatte ihr das normale Waschen an den kalten Bächen mit ihren in Kräuter eingeweichten Lappen vollkommen genügt. In dieser Vorgehensweise konnte sie die Damen hoffentlich bei einer folgenden Rast unterweisen.


Am Abend sah sie, wie Sendad seine Schlafstatt unter freiem Himmel aufschlug, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Arme! Sein Zelt musste riechen wie ein Frauengemach.


Am dritten Tag nach der Verhängung ihrer Strafe schwang sie sich glücklich in den Sattel. Zu ihrem Bedauern sandte Lord Otis Sendad voraus, um den Weg zu sichern. Sie freute sich, als Egris neben ihr auftauchte und nicht Lemar oder Timbor. Letzterer hatte sie seit der Mondnacht mit gierigen Blicken verschlungen, sodass sie seitdem das Messer, mit dem sie ihre Pflanzen schnitt, am Körper trug. Lemar hatte ihr anzügliche Bemerkungen zugeworfen, wann immer sich die Möglichkeit bot. Die konnte sie mühelos ignorieren. Timbor war ihr jedoch zweimal zu nahe gekommen und sie hatte ihm energisch seine Grenzen aufzeigen müssen.

Lord Otis schenkte ihr keinerlei Beachtung, und das regte die Soldaten zum Gerede an. Levarda selbst ritt mit hoch erhobenem Haupt, vermied direkten Augenkontakt und schaffte eine Aura von Kühle um sich her. Ansonsten versuchte sie sich unauffällig zu verhalten. Es dauerte, bis ihre Selbstdisziplin bei den Männern Wirkung zeigte. Egris verhielt sich ihr gegenüber höflich, war aber schweigsamer als sonst. In diesem Fall behagte es Levarda.


Vorn ließ Lord Otis den Tross durchparieren.

»Warum halten wir?« Die Frage rutschte ihr heraus, bevor sie daran dachte, als Frau niemals zuerst das Wort an einen Mann zu richten.

»Diese Strecke ist nicht sicher für Reisende. Auf dem Hinweg sind wir über die Berge geritten, doch das geht mit den Kutschen nicht. Also müssen wir durch den Wald. Es wäre besser, Ihr würdet Euch in die Kutsche begeben.«

Levarda schüttelte es bei dem bloßen Gedanken. »Nein – ich denke, ich bin in Eurer Nähe sicher«, schmeichelte sie Egris.

Mit einigen Handzeichen veränderte Lord Otis die Formation seiner Soldaten. Es brauchte keine Worte unter den Leuten, was Levarda widerwillige Bewunderung abrang.

Egris nötigte sie mit Sita hinter die Kutsche, und ein Kreis von zwanzig Mann formierte sich um den Wagen herum.

Sie konnte die Anspannung der Männer förmlich greifen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, bis sie daran dachte, dass sie mehr Sinne besaß, als Augen, Ohren und Nase ihr boten. Sie schob die Kapuze ihres Reisemantels tief ins Gesicht, verknotete die Zügel vor sich und schloss die Lider.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Levarda sandte ihre Energie aus. Dabei musste sie erst jeden einzelnen Mann der Garde in seinem Energiemuster kennenlernen. Mit ihren Sinnen umrundete sie die Truppe. An der Spitze traf sie auf die Aura von Lord Otis.

Inzwischen befand sich der Tross in den Tiefen des Waldes. Levarda bemerkte einen Reiter, der ihnen zügig entgegenkam, und hob alarmiert den Kopf, doch es handelte sich nur um Sendad, wie ihre Sinne ihr mitteilten. Seine Ausstrahlung war ihr am vertrautesten. Für einen Moment entglitt die Umgebung ihrer feinen Wahrnehmung – dann ging alles unglaublich schnell.

Fast gleichzeitig mit Sendads Warnschrei bemerkte sie die Angreifer, die vorn und hinten auf den Tross zustießen. Den Bogen packen, die Sehne spannen und einen Pfeil einlegen war eine einzige fließende Bewegung für sie. Levarda spannte und schoss. Der Mann fiel von einem tief hängenden Ast auf die Kutsche herab. Sie spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Noch nie im Leben hatte ihr Pfeil einen Menschen getötet. Instinkte hatten sie handeln lassen, ohne nachzudenken. Erst jetzt bemerkten die Gardisten, dass die Gefahr in den Bäumen lauerte.

Während Lemar und Timbor den rückwärtigen Angriff im Zaum hielten und Lord Otis den vorderen, sah sie, wie Sendad mit seinen Reitern Egris zu Hilfe eilte. Auch er hatte bemerkt, dass die Angreifer es auf die geschützte Kutsche abgesehen hatten.

Levarda drängte Sita in den freien Raum vor das Gefährt hinter die kämpfenden Männer.

Der Ring zog sich dichter um sie. Einige Angreifer sprangen von den Bäumen auf das Dach der Kutsche. Ein paar holten die Soldaten von der Garde mit ihren Pfeilen herunter, aber es wurde schwierig für sie, die Angreifer von der Seite und die von den Bäumen gleichzeitig zu bekämpfen.

Es half nichts. Levarda sah sich gezwungen, einzugreifen. Mit kühlem Kopf stellte sie sich vor, dass sie Tiere jagte, schoss so ihre Pfeile sicher und tödlich.

Erst nahm sie sich die in den Bäumen vor, dann zielte sie auf die Angreifer, die sich von der Seite näherten. Dabei scheute sie sich auch nicht, zwischen den kämpfenden Männern hindurch auf ihr Ziel zu schießen. Sie besaß ein sicheres Augenmaß und ihre Pfeile reichten weit.

Sendad sah auf, als sie einen Mann direkt über ihm abschoss, starrte sie an und vergaß, auf die Gegner zu achten.

Levarda schrie auf – zu spät. Ein Schwert durchstach von hinten seine Brust – glitt wieder heraus. Sie stieß Sita die Fersen in die Flanken, drängte sich zu Sendad durch, sprang vom Pferd und fing ihn auf, als er gerade mit überraschtem Gesichtsausdruck aus dem Sattel rutschte.

Sie legte ihn am Boden ab, schob ihren Arm unter seinem her um seine Brust, fixierte mit ihren Händen die Arme des Verletzten und zog ihn Richtung Kutsche, wo sich das Kampfgetümmel inzwischen lichtete. Sie war nur einen Moment abgelenkt, hörte hinter sich ein Geräusch und ließ Sendad los, um sich blitzschnell aus der gebückten Haltung aufzurichten. Sie erstarrte, als ein Schwert unterhalb ihrer Rippen ihre Haut ritzte – hinter ihr steckenblieb. Sie sah Lord Otis‘ wutverzerrtes, hasserfülltes Gesicht vor sich, verstand nicht, warum sie lebte, warum er an ihr vorbeigezielt hatte. Dann sackte der Mann, der sie von hinten angegriffen hatte, über ihr zusammen.


Die Kampfhandlungen waren wenig später beendet. Nach dem Schock hatte Levarda sich unter dem Toten hervorgearbeitet und sich neben den verwundeten Sendad gekniet. Ihre Hände legten sich auf seine Wunde, aus der das Blut in Strömen herausfloss. Verzweifelt sandte Levarda all ihre Energie in seinen Körper, tastete sich mit ihrem Geist zu der Verletzung vor.

»Lasst ihn sofort los«, hörte sie eine barsche Stimme, die sie mit aller Kraft zu ignorieren versuchte. Sie musste schnell handeln, sonst würde sie nichts mehr für ihn tun können.

Da vernahm sie die tonlose, schwache Stimme von Lady Smira.

»Lord Otis, bitte lasst sie machen, sie weiß, was sie tut, vertraut mir.«

Levarda blendete alles aus, konzentrierte sich auf die Wunde, führte Adern zusammen, gab ihnen Energie, weckte die Selbstheilungskräfte in Sendads Körper, doch sein Zustand verschlechterte sich mit jedem Augenblick, der verstrich. Sie suchte nach der Stelle, aus der er all das Blut verlor, und fand sie in der Nähe des Herzens. Das überstieg ihre Kräfte.

Sie tauchte aus seinem Körper auf in ihr Bewusstsein und öffnete die Augen. Um sie herum wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Sie erblickte Lord Otis, der auf Sendads anderer Seite kniete, sah die Energie um seinen Körper lodern und setzte alles auf eine Karte.

»Steht auf«, richtete sie sich ohne Umschweife an ihn. »Tretet hinter mich. Legt Eure Hände auf meine Schultern«, schoss sie atemlos Befehle auf ihn ab. Für Höflichkeit war keine Zeit.

Er starrte sie an.

»Macht, sonst stirbt er vor Euren Augen. Wollt Ihr dafür verantwortlich sein?«

Er stand gehorsam auf, trat hinter sie, und noch bevor er sie berührte, schloss Levarda ihre Lider. Mit der Energie des Wassers empfing sie seine Feuerenergie, hielt sie von ihrer eigenen fern, die sich bereits nach der Verbindung verzehrte. Sie führte beide Kräfte zusammen zur Wunde an Sendads Herz.

Noch nie hatte sie etwas dergleichen gewagt. In der Theorie ihrer Heilbücher gab es eine Schilderung darüber, wie man Energien zweier Heiler verband, um eine Wunde zu verschließen, doch taten dies immer ausgebildete Mintraner, die ihre Kräfte bändigen konnten. Sie musste beides tun: heilen und die Feuerenergie kanalisieren. Dafür schien sein Vorrat unerschöpflich, außergewöhnlich bei einem Mann. Frauen beherbergten normalerweise mehr Energien als Männer, zumindest galt das in Mintra.

Die Blutung ließ tatsächlich langsam nach und stoppte endlich. Sendads Herz schlug langsam, aber regelmäßig.

In Levardas Gedanken zogen Bilder eines furchtbaren Kampfes vorbei. Ein Mann, der eine Frau tötete, die wiederum versuchte, ein Kind zu schützen. Ein Schwert zerschnitt brutal das zarte Kindergesicht hinter der Frau, als es durch deren Leib fuhr. Levarda fühlte den Hass in dem kleinen Jungen auflodern. Er öffnete seine Hand und ein Blitz schoss heraus und tötete den Schwertträger. Erschrocken drängte sie die Bilder zurück. »Ihr könnt mich loslassen«, brachte sie erstickt hervor.

Sofort löste Lord Otis seine Hände von ihren Schultern. Levarda zitterte am ganzen Körper. Aus der Kutsche reichte Lina ihre Kiste mit Süßigkeiten. Gierig stopfte sich Levarda trockene Aprikosen, mit Honig überzogene Nüsse und geröstete Bananen in den Mund.

»Wird er überleben?«, fragte Lord Otis, während er ihr beim Kauen zusah. Sein Gesicht sah bleich und eingefallen aus.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Er hat viel Blut verloren und ist sehr schwach.« Sie wandte ihren Kopf zur Kutsche. »Melisana, reich mir bitte meine Tasche – die neben der Kiste.«

Sie öffnete die Tasche und holte eine Rolle Verband und blutstillende Moose heraus. »Richtet ihn auf.«

Ohne Umschweife packte er diesmal Sendad unter den Achseln und brachte ihn in eine sitzende Stellung.

Mit flinken Fingern löste Levarda den Knoten von seinem Umhang.

»Was macht Ihr da?«, Lord Otis‘ Stimme schwankte zwischen Schärfe und Entsetzen.

Sie blickte kurz auf, während sie die Schnallen von Sendads ledernem Brustpanzer löste. »Ich kann ihm schlecht einen Verband über seiner Kleidung anlegen.«

Vorsichtig entfernte sie sein Untergewand. Dort, wo die Schwertklinge den Stoff zerteilt hatte, waren dessen Ränder mit der Wunde verwoben. Sie seufzte tief, riss dann mit einem Ruck den Stoff los und sofort begann das Blut wieder zu fließen. Levarda nahm die Moose, presste sie an Brust und Rücken gegen die Wunde. Wie aber sollte sie so den Verband anbringen?

Diesmal kam ihr Lord Otis ohne Aufforderung zu Hilfe. »Lemar, komm her und halte Sendad fest«, befahl er. Dann nahm der Lord selbst die Verbandrolle aus Levardas Schoß und wickelte sie gleichmäßig fest um die Brust des Verletzten. Als er mehrere Runden gewickelt hatte, konnte Levarda ihre Hände von der Wunde nehmen. Er übergab ihr den Rest der Rolle, und geschickt vollendete sie den Verband. Aus dem kleinen Beutel an ihrem Gürtel nahm sie einen Heilstein für Stichwunden, führte ein Band hindurch und schlang es um Sendads Hals.

Mit den Fingern strich sie darüber. So wurde er aktiviert und ließ mit einem matten Schimmern seine Kräfte langsam in den verletzten Körper strömen. Levarda hob die Kleidung auf, in der Absicht, Sendads Nacktheit zu verhüllen, doch Lord Otis nahm sie ihr wortlos ab und kleidete seinen Offizier selbst an.

»Er kann in die Kutsche«, bot Lady Smira an.

Überrascht sah Lord Otis auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Doch, das ist ein sinnvoller Vorschlag«, meldete sich Levarda zu Wort. »Ich muss bei ihm bleiben. Er ist schwer verletzt und ich weiß nicht, ob Bewegung ihm schadet.«

Seinem Blick konnte sie entnehmen, dass sie zu weit gegangen war. Was aber nutzte es, Sitte, Anstand und Regeln zu beachten, wenn ein Mann dabei starb?

Sie maßen sich mit den Augen, und Levarda gewann das stumme Duell. Der Verletzte wurde auf den Boden der Kutsche zwischen die Bänke gebettet. Levarda kniete sich hin und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. So konnte sie seinen Körper bei dem Heilungsprozess unterstützen.

Die Frauen kletterten vorsichtig zurück in das Gefährt und legten ihre Füße auf die gegenüberliegende Bank. Ihre Kleider bedeckten den Leib des Kriegers.

Die Pferde zogen an, und der Tross setzte sich in Bewegung.


In der Kutsche herrschte bedrücktes Schweigen. Auf einer getrockneten Feige kauend, verdrängte Levarda jedes Bild des Kampfes und derer, die sie getötet hatte, ebenso die Vision aus Lord Otis‘ Vergangenheit. Alle Energie, die sie aus der Nahrung zog, gab sie an Sendad weiter. Er durfte nicht sterben. Sie gab sich die Schuld, weil sie ihn abgelenkt hatte.

Wie lange sie fuhren, konnte Levarda nicht sagen. Sie bewegte sich wie in Trance zwischen zwei Welten. Zwischendurch wechselte sie den Heilstein aus, und allmählich schöpfte sie Hoffnung. Sendads Herz schlug kräftiger, der Körper begann mit seinem Heilungsprozess.

Als die Kutsche anhielt, legte sie vorsichtig den Kopf des Verletzten ab und stieg aus. Beim Meditieren verharrte sie oft stundenlang in einer Haltung, doch dabei schöpfte sie Energie und gab sie nicht ab, so wie jetzt. Kaum berührten Levardas Füße den Boden, sackte sie zusammen. Unendliche Müdigkeit ergriff sie, aber sie durfte nicht schlafen. Mühsam zog sie sich an der Kutsche hoch.

Lord Otis kam in Begleitung mehrerer Leute heran. »Wie geht es ihm?«

»Er lebt.«

Der Lord gab seinen Männern ein Zeichen und vorsichtig zogen sie Sendad aus der Kutsche.

»Passt auf und haltet in waagrecht, hüllt ihn in warme Decken. Wie lange können wir rasten?«, feuerte Levarda Anweisungen und Fragen ab.

»Ein paar Stunden, dann müssen wir wieder aufbrechen«, erklärte Lord Otis knapp. Er wandte sich an Lady Smira: »Verzeiht Mylady, aber wir können Euer Zelt nicht aufbauen. Egris wird Euch in eine Höhle geleiten. Die Männer haben bereits Eure Betten aufgebaut. Ruht Euch dort aus, Ihr werdet Eure Kräfte für den morgigen Tag brauchen.«

Er richtete sich an Levarda, die an der Kutsche lehnte und verfolgte, wie die Soldaten Sendad wegtrugen. »Ihr solltet Euch ebenfalls ausruhen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich brauche einen kleinen Schluck Wein, viel Wasser und Fleisch, könntet Ihr mir das besorgen?«

Er nickte.

Sie stieß sich ab, aber ihre Beine zitterten noch immer vor Schwäche. Entschlossen packte er sie und hob sie in seine Arme. Levarda protestierte nicht. Es gab auch keine Energie mehr, die in ihr explodieren konnte, als die Hitze seines Feuers auf sie traf. Sie ließ es einfach zu, dass sich ihre Kräfte verbanden. Erschöpft lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter.

Er trug sie einen schmalen Pfad hoch, betrat die Höhle, in die bereits Sendad gebracht worden war, und setzte sie behutsam auf ihre Füße. Levarda ließ sich direkt auf der Erde nieder.

Ein Soldat brachte Wein, Wasser, Fleisch und Brot. Lord Otis goss Wein in einen Becher, verdünnte ihn mit Wasser und flößte ihr das Getränk ein.

Der Alkohol entspannte Levardas Körper, und wie ausgetrocknete Erde saugte er die Feuchtigkeit in sich ein. Gierig trank sie alles aus.

Als Lord Otis ihr reines Wasser nachfüllte, leerte sie einen Becher nach dem anderen, aß das Fleisch, das der Soldat auf einem Teller vor ihr abgestellt hatte. Langsam hörte das Zittern auf und ihre Kraft kehrte zurück.

Nicht mehr lange, dann würde die Sonne untergehen. Sie streckte ihren Körper und kroch zu dem stillliegenden Sendad hinüber. Der Heilstein um seinen Hals leuchtete matt. Inzwischen hielt er etwas länger. Levarda suchte sich eine bequeme Stellung und bettete erneut seinen Kopf in ihren Schoß. Sie legte ihre Hände über seine Stirn.

»Ich möchte Euch helfen«, Lord Otis‘ Stimme klang rau, »sagt mir wie.«

»Er bedeutet Euch sehr viel«, stellte sie leise fest.

»Ja«, antwortete er schlicht. Die einsilbige Antwort berührte Levarda, denn sie zeigte ihr, wie ehrlich er zu ihr sprach. Er musste gemerkt haben, was bei der Heilung vor sich gegangen war – wie sie ihre beiden Energien miteinander verbunden hatte. Sollte sie ihn in einen Teil ihrer Geheimnisse einweihen? Vielleicht könnte sie die übrigen so vor seinem Zugriff schützen.

»Was habt Ihr gespürt, als Ihr mir zuvor Eure Hände auf die Schultern legtet?«

Mit einem Wink schickte er seine Männer hinaus, bevor er sich in gebührendem Abstand zu ihr setzte. »Für jeden Einzelnen von ihnen lege ich meine Hand ins Feuer«, sagte er eindringlich, »dennoch solltet Ihr in ihrer Gegenwart über solche Dinge nicht reden.«

Levarda nickte, schloss die Augen und wandte sich ihrer Aufgabe zu. Seine Vorsicht in dieser Angelegenheit beruhigte sie. Andererseits zeigte es ihr, dass sie sein Wissen unterschätzt hatte. Er ahnte mehr über die Energie der Elemente, als es ihrer Sache dienlich war.

»Es fühlte sich an, als würde ich eintauchen in einen See, mit dem Unterschied, dass ich atmen konnte«, hörte sie seine leise Stimme. »Erst war mir warm, dann wurde es kälter und kälter.«

Also konnte er fühlen, wie sie seine Kräfte von ihm abzog. Eine wichtige Erkenntnis.

»Ich sah einen alten Mann und ein Mädchen«, fuhr er fort, zögerte einen Moment. »Sie sprachen von Energien, die überall in jedem noch so kleinen Wesen verborgen sind.«

Levarda öffnete erstaunt die Augen, blickte über Sendad hinweg in eine andere Zeit. Dieses Gespräch war ihr bei der Heilung durch den Kopf gegangen. In dessen Verlauf hatte ihr Meister ihr erklärt, wie sie Energie durch Nahrung aufnahm, wie sie diese von besonderen Orten abzog, und dass Energie auch von Mensch zu Mensch übertragen werden konnte. Aber wieso hatte er ihre Gedanken sehen und hören können, ohne dass sie es ihm erlaubte?

»Sie sprachen darüber, dass es Menschen gibt, die Energien sammeln und sie bei Bedarf abgeben können. Wie ein Gefäß, in das ich Wasser fülle, um es über den Tag zu trinken.«

Levarda hatte sich ihm zugewandt und betrachtete ihn nachdenklich.

»Ich gehöre zu diesen Menschen, richtig? Nur dass ich das Abgeben nicht kontrollieren kann.«

Sie runzelte die Stirn. Er hatte viel mehr verstanden, als ihr lieb war.

»Es hat Euch Kraft gekostet, meine Energie kontrolliert an Sendad zu geben. Was muss ich tun, damit Ihr sie leichter nutzen könnt?«

»Gebt mir Euren Umhang.«

Sie rollte das Kleidungsstück zusammen und schob es unter Sendads Kopf. Sein Vergleich mit dem Gefäß hatte sie auf eine Idee gebracht. Wenn sie sich darauf konzentrierte, Energie von einem Ort zu sammeln, der über besondere Reserven verfügte, könnte sie das die nächsten Stunden bei Kräften halten. Sie wollte nur nicht riskieren, dass er tiefer in sie hineinsah. Sie wusste nicht, weshalb das passierte. Die Erinnerung, wie sie damals bei seiner ersten ungeschützten Berührung das Bewusstsein verloren hatte, mahnte sie zur Vorsicht mit ihm. Ihre Hände waren am geschicktesten bei der Arbeit mit Energien. Mit ihrer Hilfe gab und empfing sie üblicherweise Energie. Im Moment gab es um seine Aura keine abstrahlende Kraft. Es mochte an der Narbe liegen und an seinem Hass, der darin brannte, dass er so heftig reagierte, wenn er in Wut geriet. Sie hob ihre Hand, hielt inne. »Darf ich Euch berühren?«

Er nickte stumm und schloss die Augen.

Sie umgab ihre Finger mit den Energien des Wassers und der Erde. Sachte, nur mit den Fingerspitzen, glitt sie der Spur nach, die das Schwert des Mörders seiner Mutter durch sein Gesicht gezogen hatte. Sie zweifelte nicht, dass die Frau in seiner Vision seine Mutter war, das hatte sie an seinen Gefühlen erkannt.

Es knisterte – mehr nicht. Keine Bilder, die durch ihren Kopf schossen, keine heftigen Entladungen. Er atmete gleichmäßig ein und aus. Ihre Hände umfassten sein Gesicht, die Mittelfinger ruhten an seinen Schläfen. Diesmal gab sie ihm eine Vision von einem Ort ihrer Kraft – dem See Luna.

Sein Atem gewann an Tiefe.

Ihre Hände wanderten hinunter, glitten an seinem Hals entlang, überquerten seine Brust, bis unter die Rippen und über den Bereich seines Nabels. Hier befand sich der Ort aller Kraft und Energie eines Menschen. Sie verharrte so, streckte ihre Sinne aus und entdeckte das blaue Leuchten. Dieses Bild schickte sie ihm. »Könnt Ihr das sehen?«

Er schluckte hörbar, räusperte sich. »Ja.«

»Gut. Stellt Euch jetzt vor, Ihr würdet dieses Licht nehmen und mir mit Euren Händen herüberreichen.« Sie legte ihre Hände in seine und wartete. Der Energieball, den er ihr reichte, war zu umfangreich.

»Nicht alles!«

Er verkleinerte den Ball. Levarda nahm ihn und führte ihn ihrem Körper zu. Es fühlte sich unbeschreiblich lebendig an, ihre Müdigkeit verflog mit einem Schlag. Zufrieden öffnete sie die Augen.

Er sah sie ungläubig an. »Das war es? Mehr war nicht nötig?«

Levarda verzog spöttisch den Mund. »Mehr braucht ihr dazu nicht. Wenn Ihr gelassen und ruhig seid, könnt Ihr die Energie abgeben, ohne einen Menschen damit zu töten.«

»Ich muss mich um meine Männer kümmern.« Er ließ ihre Hände abrupt fahren und stand auf.

5

Respekt

Kurz vor dem Morgengrauen öffnete Sendad die Augen. Levarda flößte ihm Schluck für Schluck einen Sud aus aufgebrühten Kräutern ein. Dafür hatte sie ihre Kräfte genutzt, da sie kein Feuer hatte machen dürfen, um Wasser zu erhitzen.

Erschöpft vom Trinken schloss er kurz die Augen. »Ihr habt mir das Leben gerettet«, flüsterte er.

»Schlaft, ruht Euch aus, wir brechen bald wieder auf.«

Sendad sah sie an. In seinem Blick lag Verwunderung. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der auf die Distanz einen so präzisen Schuss abgibt«, sagte er. »Der Pfeil hat ihn sofort getötet!«

Levarda versteifte sich. Davon also sprach er. Sie hatte eher an seine Wunde gedacht, an das Töten wollte sie sich nicht erinnern. Sanft strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht und legte ihre Hand auf seine Stirn. Seine Temperatur war leicht erhöht. Sie ging, um einen weiteren Becher ihrer Kräutermischung zu schöpfen, aber als sie zurückkehrte, schlief er tief und fest.

Später kam Egris mit einigen Männern herein. »Wir brechen auf.« Sie hatten zwischen zwei Stangen ein Tuch gespannt, auf das sie Sendad legten.

Levarda füllte die Reste ihres Gebräus in die Flüssigkeitsbehälter aus Tierhäuten, die – mit einem dichten Verschluss versehen – jeder während der Reise bei sich trug. Sie räumte die restlichen Utensilien in ihre Tasche und folgte den Männern.

Überrascht blieb sie stehen, als sie sah, dass zwei Wagen in den Büschen versteckt waren. Sie wandte sich an Egris.

»Ich dachte, wir wollten aufbrechen.«

Er folgte ihrem Blick. »Die bleiben hier. Lord Otis möchte, dass wir an Tempo gewinnen, deshalb verzichten wir auf die zwei Wagen. Alles Wertvolle wurde auf die verbleibenden Wagen verteilt. Die Zugpferde können sich so abwechselnd ausruhen. Das macht uns schneller. Außerdem meinte er, wären die überlebenden Angreifer mit der Ausbeute vielleicht zufrieden und würden uns nicht weiter verfolgen. Die beiden Wagen enthalten nur die –«, er zögerte, »nun ja, die wertlosen Dinge.«

»Wertlosen Dinge?«, echote Levarda, die die Truhe mit ihren wenigen Habseligkeiten auf einem der Wagen entdeckt hatte. Sie kletterte hoch und öffnete die Truhe, holte ihren Gürtel und ein Nachtgewand heraus.

»Kommt sofort da runter!« Lord Otis war auf Umbra sitzend hinter Egris aufgetaucht.

Levarda zeigte auf die Sachen. »Weiß Lady Smira davon?«, fragte sie mühsam beherrscht.

»Ich diskutiere meine strategischen Entscheidungen nicht mit einer Frau.«

»Das war nicht meine Frage, mit Verlaub. Weiß Lady Smira, dass ihr Eigentum hier zurückbleibt?« Sie dachte nicht daran, sich von ihm einschüchtern zu lassen.

»Sie ist von mir in Kenntnis gesetzt worden. Nun kommt herunter, wir brechen auf.« Mit einer knappen Geste winkte er einen Soldaten mit der gesattelten Sita heran. Aber sie war nicht nur ordentlich gesattelt, jemand hatte auch die Pfeile in ihrem Köcher erneuert, und der Bogen, den sie achtlos beim Kampf fallengelassen hatte, war daran befestigt.

Mit einem wehmütigen Blick auf all ihre Sachen, die letzten Überbleibsel ihres bisherigen Lebens, klappte Levarda mit Schwung die Truhe zu. Die Pferde der Reiter in der Nähe machten einen Satz zur Seite, während Umbra stieg. Sita dagegen kannte das Temperament ihrer Reiterin. Sie zuckte nicht einmal zusammen, als Levarda mit einem Sprung vom Wagen herab auf ihrem Rücken landete.

Lord Otis‘ Fluchen beachtete sie nicht. Sie wendete ihr Pferd und lenkte es hinter die Männer, die Sendad bereits in eine Konstruktion auf dem verbleibenden Wagen geschoben hatten, so dass er bequem in dem Tuch liegenbleiben konnte.

Der Tross formierte sich, und Lord Otis preschte im Galopp an ihr vorbei. Egris reihte sich neben ihr ein. Seine Lippen umspielte ein Lächeln.

Sie ritten den ganzen Tag, mit einer kurzen Pause, um die Pferde vor den Wagen auszutauschen. Levarda sah in dieser Zeit nach Lady Smira. Sie traf die zukünftige hohe Gemahlin müde, verdreckt, verheult und völlig aufgelöst an. Es tat ihr leid, das Mädchen in diesem Zustand zu sehen. Sie rührte ein Getränk an, das sie ihr gab.

»Keine Angst, wir sind bald da, dann finden wir einen Platz, wo wir alles wieder in Ordnung bringen können«, sprach sie ihr Mut zu. Lady Smira nickte, doch in ihren Augen bemerkte Levarda, dass die Vorkommnisse deutliche Spuren hinterlassen hatten.

Nachdem sich der Tross erneut in Bewegung gesetzt hatte, tauchte ein Reiter bei ihr auf. »Ihr sollt mit mir nach vorn kommen, Lord Otis möchte Euch sprechen.«

Sie prüfte das Befinden von Sendad, bevor sie mit Sita ausscherte und dem Soldaten folgte.

Endlich durfte die Stute an die Spitze aufschließen. Levarda spürte die Ungeduld des Tieres, das die Ohren anlegte, mit dem Schweif schlug und buckelte.

»Macht es Euch etwas aus, wenn wir das Tempo erhöhen?«, fragte sie. Der Mann sah sie überrascht an, schüttelte aber den Kopf. Also beugte sie sich vor und ließ Sita laufen. Der Wind fegte durch ihr Haar, der Körper des Tieres unter ihr streckte sich lang, sie konnte die Freiheit geradezu spüren. Viel zu schnell tauchte die Spitze des Trosses auf. Sie parierte Sita durch. Der wilde Ritt hatte ihre Lebensgeister geweckt.

Lord Otis warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Ihr solltet die Kräfte Eures Tieres schonen.«

Sie ignorierte die Bemerkung. »Ihr wolltet mich sprechen, Mylord?«

Der Reiter, der sie geholt hatte, tauchte auf. Er verbeugte sich entschuldigend vor seinem Anführer, aber dieser nickte nur kurz. »Reiht Euch ein und haltet Abstand.«

Schweigend ritten sie weiter. Levarda fragte sich verwundert, was er von ihr wollte.

Endlich begann er zu sprechen. »Egris sagt, dass Ihr die Männer an der Kutsche vor dem Angriff aus den Bäumen gewarnt hättet, stimmt das?«

Levarda zögerte mit ihrer Antwort. »Ja?«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Habt Ihr das oder habt Ihr das nicht?«

»Ja, das habe ich.«

»Wie habt Ihr das gemacht?«

Jetzt wusste sie, worauf das Ganze hinauslief. Sie hätte mit Nein antworten sollen, aber dann wäre womöglich Egris in Schwierigkeiten geraten, und sie wollte nicht noch einmal Anlass für eine Bestrafung sein. Sie brauchte schließlich nicht alles preiszugeben. »Nehmen wir an, Ihr müsstet im Dunkeln durch einen Wald gehen, ohne dass Ihr etwas sehen könnt, wie ginget Ihr vor?«

»Ich würde meine Hände ausstrecken und tasten.«

»So ähnlich funktioniert die Sache bei mir auch, nur, dass ich dafür keine Hände benötige.«

Wieder dieser Blick aus zusammengekniffenen Augen.

»Ihr sendet Eure Energie aus?«

»Ja«, sagte sie nur, und es war keine Lüge, aber auch nicht die volle Wahrheit. Sollte er ruhig glauben, dass sie Energie dafür brauchte.

»Auf welche Entfernung funktioniert das bei Euch?«

»Ich weiß nicht.«

Er sah sie an, und Levarda spürte die Röte in ihren Kopf steigen. Sie vermochte es einfach nicht, zu lügen.

»Wie weit?«

»Ein paar Decads«, wich sie ein zweites Mal aus.

»Fünf, zehn oder mehr?« Er gehörte nicht zu den Männern, die lockerließen.

»Vielleicht zehn.«

»Ausgezeichnet, das reicht«, sagte er mit Nachdruck und fügte wie zur Erklärung hinzu: »Ich denke, dass wir verfolgt werden.«

Levarda schauderte bei dem Gedanken an den Kampf.

»Ich möchte, dass Ihr mit Lemar und zehn seiner besten Reiter zurückreitet und feststellt, wie viele uns verfolgen. Die Distanz, mit der Ihr arbeiten könnt, müsste Euch einen ausreichenden Spielraum geben, um den Vorsprung halten und uns warnen zu können.«

Er machte eine winzige Pause, um sie zu mustern. »Denkt Ihr, Eure Stute schafft das?«

Levarda durchschaute die Frage. Er meinte nicht nur ihr Pferd. Körperlich gab es für sie bei der Durchführung seines Plans kein Problem. Ihre Gefühle, der gewaltsame Tod und dessen Aura, das alles bereitete ihr Kopfzerbrechen. Nie wieder wollte sie einen Menschen töten müssen. Sie sah vor ihren Augen den Ausdruck von Angst und Verzweiflung in dem Gesicht ihrer Cousine. Wenigstens hatte sie die Möglichkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen.

»So sei es.«

»Halt«, hielt er sie zurück, »benötigt Ihr noch etwas?«

Verwirrt sah sie ihn an.

Sein Blick verriet ihr, was er meinte. »Nein, Mylord«, entgegnete sie würdig, »ich habe, was ich brauche.«

»Tinad wird Euch zu Lemar begleiten und ihn unterrichten.« Ein kurzer Wink zu dem Reiter, der sie geholt hatte, und Levarda war auf dem Weg zu Lemar.


Sie ritten bereits zwei Stunden, Levarda mit Lemar an der Spitze, aber sie folgten nicht dem direkten Weg, sondern bahnten sich einen eigenen durch die Wälder. Die meiste Zeit überließ sie Sita die Aufgabe, sich einen trittfesten Pfad zu suchen, während sie ihre Sinne in die Umgebung hinausstreckte.

Die Männer verhielten sich still und ließen sie in Ruhe. Selbst der wortgewandte Lemar gab keinen Ton von sich.

»Da sind sie«, flüsterte Levarda so leise wie möglich. Die Verfolger waren am Rande ihrer Wahrnehmung aufgetaucht.

Lemar parierte sein Pferd durch. »Wo?«

Sie schloss die Augen, holte sich das Bild in ihren Kopf.

»An dem schmalen Durchlass bei den Felsen, wo wir die Pferde am Morgen getränkt haben.«

Er schnaubte spöttisch. »Das ist noch zwölf Decads entfernt. Wie wollt Ihr das wissen?«

Levarda sah Lemar scharf an. Er wand sich unter ihrem Blick, gleichzeitig sah sie seinen Widerstand. Er würde nicht einfach zurückreiten. »Ihr habt einen Befehl, Lemar. Wir sollen zum Tross umkehren und unsere Leute warnen.«

»Wie viele sind es?«

»Etwa vierzehn«, erwiderte sie gereizt.

»Ihr könnt das nicht wissen!«, beharrte er.

»Vertraut Ihr Lord Otis nicht?«

»Doch, aber nicht Euch. Wir reiten weiter.«

Levarda biss die Zähne zusammen, unschlüssig. Der Befehlshaber hatte ihr seine Männer anvertraut, sie konnte sie nicht im Stich lassen. Leise fluchend folgte sie ihnen.

»Ihr werdet Euch vor Lord Otis verantworten müssen«, fauchte sie Lemar an.

Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Bei solchen Unternehmungen haben Frauen nichts zu suchen. Ihr mögt geschickt im Umgang mit dem Bogen sein, aber das macht Euch noch lange nicht zu einem Krieger.«

»Ich habe nicht behauptet, ein Krieger zu sein.« Levardas Gefühle schwankten zwischen Zorn und purer Angst, so fernab vom Tross.

Lautlos bahnten sie sich ihren Weg durch das Gehölz. Levarda blieb nichts anderes übrig, als die Angreifer weiter mit ihren Sinnen zu beobachten. Sie trieb Sita neben das Pferd von Lemar und er ließ sie gewähren.

Mit der Hand deutete er den Männern an, ihnen leise zu folgen. Zumindest schlug er das, was sie gesagt hatte, nicht vollständig in den Wind, aber sein Verhalten hatte ihre Konzentration gestört. Als ihre Sinne die Reiter wieder aufspürten, trabten sie und hatten die Richtung gewechselt. Statt auf dem Weg ritten sie direkt im Wald auf sie zu.

Impulsiv griff Levarda Lemar in die Zügel, der sich ihr darauf erbost zuwandte. Ihr Gesichtsausdruck jedoch und der Finger auf ihrem Mund ließen ihn schweigen. Die Männer hielten ebenfalls, und jetzt konnten alle die näherkommenden Verfolger hören.

»Sie reiten zusammen in einem ungeordneten Haufen«, flüsterte Levarda.

Lemar nickte und machte seinen Männern ein Zeichen, woraufhin sie ausschwärmten. Ihr Angriff traf die Verfolger völlig überraschend. Trotzdem kam es zu einem heftigen, blutigen Kampf.

Levarda blieb mit Sita, die unruhig tänzelte, hinter den Linien. Weil sich das Pferd nicht beruhigte, stieg sie ab, streichelte der Stute die Nüstern und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Wenn sie ehrlich war, flüsterte sie sich damit selber Mut zu.

Der Kampflärm, die Schreie und der dumpfe Aufprall der gefallenen Krieger auf dem Waldboden hallten überlaut in ihren Ohren. Tod legte sich über die Bäume und nahm ihr das Licht und die Luft. Da brach vor ihr einer der Soldaten der Garde rückwärts kämpfend durchs Gestrüpp. Einer der Verfolger – einen Kopf größer und von kräftiger Statur – schlug mit dem Schwert auf ihn ein. Trotz geschickt parierter Hiebe war es offensichtlich, dass dem Soldaten die Kraft schwand. Ein Hieb traf sein Schwert nah am Griff und es flog aus seiner Hand direkt vor Levardas Füße.

Entsetzen lähmte sie. Aus dem Augenwinkel sah sie Lemar und zwei weitere Männer der Garde, die dem Räuber hinterherstürmten, um ihrem bedrängten Kameraden zu helfen. Aber sie waren noch zu weit entfernt.

Sie sah das böswillige Funkeln in den Augen des Schurken, als dieser mit einem Lächeln entschied, dass die Frau ihm nicht gefährlich werden konnte. Der Soldat, jetzt waffenlos, ergab sich seinem Schicksal.

Das alles erfasste Levarda im Bruchteil einer Sekunde und reagierte instinktiv. Sie griff sich das Schwert, das leichter in ihrer Hand lag, als sie erwartet hatte. Beherzt schwang sie es durch die Luft, wie sie es beim Training der Männer auf der Burg gesehen hatte. Wäre der Räuber auf ihren Angriff vorbereitet gewesen – sie hätte keine Chance gehabt. Aber so durchschnitt die Klinge seine Brust, bevor er an Deckung auch nur denken konnte, glitt zwischen seinen Rippen hindurch direkt in sein Herz. Wenn sie töten musste, dann wenigstens, ohne Qual zu bereiten,

Mit erstaunt aufgerissenen Augen fiel der Angreifer tot zu Boden.

Stille breitete sich aus, der Kampf schien beendet. Keiner der insgesamt vierzehn Verfolger hatte überlebt.

Zögernd näherte sich Lemar dem Angreifer auf dem Boden, drehte den Mann um, hielt sein Schwert bereit für einen tödlichen Stich. Er starrte auf den Toten, zog dann das Schwert aus dessen Leib und hielt es dem Soldaten hin, der es verloren hatte.

»Lasst Euch nie wieder die Waffe aus der Hand schlagen«, presste er mit einem drohenden Unterton hervor, warf einen Blick auf Levarda, die zitternd neben Sita stand. Sein Mund verzog sich leicht, und er nickte ihr zu.

»Sammelt die Pferde ein, wir reiten zurück«, klang seine Stimme laut durch den Wald. Er wandte sich zu ihr: »Es sei denn, Levarda, Ihr hättet Einwände?«

Sie schüttelte stumm den Kopf und schwang sich auf ihre Stute. Den Umstand, dass er die Anrede ‚Lady‘ weggelassen hatte, nahm sie nur am Rande wahr.

Zurück wählten sie den normalen Weg. Lemar schlug ein scharfes Tempo an. Ab und an warf er ein Blick auf Levarda, die neben ihm ritt. Sie blickte konzentriert nach vorne. Das Bild des Mannes mit seinen erstaunt aufgerissenen Augen verdrängte sie in die hinterste Ecke ihres Kopfes. Das Reiten erforderte den Einsatz ihrer letzten Kraftreserven, und darüber war sie sogar froh.

Lemar verlangsamte das Tempo, ließ seinen Wallach in den Schritt fallen und hielt schließlich an.

»Die Pferde brauchen eine Pause, lasst sie grasen und saufen!«

Levarda ging mit Sita direkt zum Bach. Sie nahm ein Tuch aus der Satteltasche. Während Sita trank, kühlte sie die Beine ihrer Stute, wischte ihr den Schweiß von Brust und Flanken. Sie prüfte den Sitz ihres Sattelzeugs, lockerte ein wenig den Gurt.

»Zieht den Gurt wieder an«, knurrte Lemar, »ein Krieger muss immer parat sein, habt Ihr nichts gelernt aus dem heutigen Tag?«

Sie wandte sich mit funkelnden Augen zu ihm um, doch er tadelte bereits den Nächsten, der seinem Pferd das Gebiss herausgenommen hatte.

Ihr Ärger verflog, als ihr bewusst wurde, dass er sie nicht mehr wie irgendeine Frau behandelte, sondern wie einen seiner Leute. Als sie mit Sita auf die Wiese ging, hätte sie sich liebend gern dort ausgestreckt. Sie brauchte keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass ihr Pferd davonlief, denn sie konnte die Energien zwischen sich und Sita miteinander verbinden.

Die Männer dagegen teilten sich in Gruppen auf. Während ein Mann die Pferde nahm und sie grasen ließ, setzte oder legte sich der andere hin.

Levarda kraulte Sitas Mähnenkamm, lehnte sich an deren Schulter, um wenigstens ein bisschen auszuruhen. So bemerkte sie den Soldaten erst, als er sie ansprach: »Wenn Ihr Euch ausruhen möchtet, übernehme ich Eure Stute.«

Es war der junge Mann, dem sie das Leben gerettet hatte.

»Das Angebot ist verlockend«, Levarda schenkte ihm ein Lächeln, »und ich nehme es dankbar an.« Sie übergab ihm die Zügel, setzte sich etwas abseits an einen Baum.

Es war ein alter Baum, dem viel Energie innewohnte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Aura der Pflanze. Langsam und sanft spürte sie die Ruhe in sich einkehren. Das Sonnenlicht, von den Blättern aufgefangen, pulsierte gleichmäßig. Nach einigen Minuten öffnete sie die Augenlider. Sie fühlte sich gestärkt, als hätte sie mehrere Stunden geschlafen, ließ den Blick über Männer und Pferde gleiten.

Der junge Soldat zuckte zusammen, als Sita ein wenig an den Zügeln zog. Levarda stand auf und ging zu ihm hinüber.

Überrascht hob er den Kopf: »Seid Ihr bereits ausgeruht?«

»Wie heißt Ihr?«

»Gerolim, Mylady.«

»Ich sehe, dass Eure Hand Euch Beschwerden bereitet. Würdet Ihr sie mir zeigen?« Sie hielt ihre rechte Hand vor ihn hin.

Schüchtern legte er zögernd seine verletzte Hand in ihre, nachdem er die Zügel beider Pferde in seine linke genommen hatte.

Als Sita die Situation ausnutzen und mit angelegten Ohren das Pferd neben sich beißen wollte, erntete sie einen kurzen tadelnden Blick von Levarda. Sofort ließ die Stute von ihrer Absicht ab.

Mit beiden Händen tastete Levarda das geschwollene Gelenk von Gerolims Hand ab. Die Schwellung kam von einer Entzündung. Mit gerunzelter Stirn konzentrierte sie sich auf das Gelenk. Ein kleiner Knochen im Handgelenk ließ einen Riss erkennen.

»Wartet, ich mache Euch einen kühlenden Verband.« Sie holte aus ihrer Satteltasche einen Verband und einige Blätter einer Pflanze, die entzündungshemmend wirkte, ging zum Bach und tränkte beides mit kaltem Wasser.

Ein schrilles Wiehern ließ sie herumfahren.

Sita hatte die Gelegenheit genutzt. Mit einem Biss ins Ohr des anderen Pferdes und einem gezielten Tritt hatte sie sich aus Gerolims Griff befreit und fegte mit wilden Bocksprüngen zwischen den grasenden Pferden umher.

Levarda schüttelte resigniert den Kopf. Die ganze Reise über hatte sich der Frust in ihrer Stute angestaut. Sie war eine Leitstute durch und durch, was es ihr schwermachte, in der Herde hinter den anderen zu bleiben. Der Tross war für sie eine Herde, und obwohl sie heute hatte vorne gehen dürfen, vielleicht sogar aus diesem Grund, musste sich ihr Unmut wohl jetzt Raum verschaffen.

Bevor ihre Stute den Trupp auseinandernehmen konnte – und sie wusste, dass Sita da nicht zu unterschätzen war –, pfiff Levarda scharf durch die Zähne.

Immer noch bockend, den Kopf kreisend und auskeilend, kam Sita zu ihr. Levarda tadelte sie auf Mintranisch für ihr Benehmen und spendete ihr Verständnis für ihren Frust. Aber erst, als sie ihr mehrmals beteuert hatte, dass sie das beste und klügste Pferd von allen sei, ließ sich das Tier beruhigen.

Levarda legte ihr den Zügel um den Hals. Ohne die Stute weiter zu beachten, ging sie zurück zu Gerolim, dessen Gesicht feuerrot angelaufen war. Seine Kameraden sammelten ihre Pferde zusammen und er konnte sich ihre ärgerlichen oder spöttischen Bemerkungen anhören.

Sita trottete brav an Levardas Schulter hinter ihr her. Die Männer machten ihnen Platz. So blieb sie vor Gerolim stehen, Sita hinter sich.

Erst legte sie die Blätter um sein Handgelenk herum. Mit festem Zug umwickelte sie das Gelenk und stabilisierte die Hand, indem sie den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger wickelte. Zuletzt gab sie vor, mit den Fingern ihr Werk zu betasten, sandte dabei in Wirklichkeit ihre heilende Energie in die Fissur am Knochen.

»Besser so?« Fragend sah sie Gerolim an.

Der betrachtete verblüfft sein umwickeltes Handgelenk. »Ja, Mylady, viel besser.« Er lächelte breit. »Hätte ich gewusst, dass Ihr so etwas könnt, ich wäre direkt zu Euch gekommen.«

Sie nickte. »Geht jetzt und ruht Euch aus. Ich werde die Pferde halten.«

Verlegenheit überzog Gerolims Züge. »Verzeiht, dass mir Eure Stute entwischt ist.«

Sie lachte laut auf, gab Gerolim einen freundschaftlichen Fausthieb auf den gesunden Arm. »Keine Sorge, das ist schon ganz anderen Männern mit Sita passiert.«

Gerolim gab ihr sein Pferd und Levarda zog mit den beiden Tieren auf ein anderes Stück der Wiese, wo sie Klee entdeckt hatte. Er war sehr reichhaltig und würde den beiden Kraft geben. Wohlweislich nahm sie Sita nicht mehr am Zügel, sondern ließ sie frei grasen. Sollten die Männer denken, was sie wollten.


Lemar gab das Zeichen zum Aufsitzen.

Nachdem Levarda zu ihm aufgeschlossen war, sah dieser ihre Stute nachdenklich an. »Es wird nicht leicht werden, Euer Pferd in die Herde zu integrieren.«

»Lasst sie vorn laufen und sie wird keinen Ärger machen.«

»Mag sein, aber wer kann sie reiten?«

Die Worte versetzten Levarda einen Stich. Sie fühlte, wie sich ihr Hals verengte, und schluckte. Tränen traten in ihre Augen. Die Vorstellung, dass ein anderer Reiter auf Sita sitzen würde, tat ihr weh. Als sie bemerkte, wie Lemar sie aufmerksam beobachtete, riss sie sich zusammen.


Erst am frühen Abend erreichten sie das Lager, trotz des strengen Tempos. Selbst Sita schien froh über das Ende des Rittes.

Lord Otis hatte wie immer eine ausgezeichnete Wahl für den Lagerplatz getroffen. Das Zelt der Frauen befand sich an einer Felswand, die steil aufragte und so dieser Seite des Lagers Schutz bot. Nicht weit davon, mit einem Gang aus Tüchern vor neugierigen Blicken verborgen, stand das kleine Zelt, in dem die Frauen ihre Notdurft verrichten konnten. An der anderen Seite, durch Bäume und Buschwerk hindurch eben noch sichtbar, lag ein See. An den beiden verbleibenden Seiten öffnete sich der Platz auf reichhaltige Wiesen, wo bereits Pferde grasten. Jeweils an einem eigenen Pflock befestigt, hatte ein jedes von ihnen genügend Fläche, um sich den Bauch mit frischem Gras vollzuschlagen.

Zuerst versorgte Levarda ihre Stute, dann suchte sie nach Sendads Zelt. Sie entdeckte es nahe den Bäumen, wo es vor der Sonne geschützt stand. Dem Mann vor dem Eingang kurz zunickend, betrat sie es.

Der verletzte Offizier schlief friedlich. Sein Brustkorb hob und senkte sich mit regelmäßigen Atemzügen. Sie trat neben ihn, legte ihre Hand an seine Stirn und stellte verblüfft fest, dass seine Temperatur normal war. Der Heilungsprozess verlief erstaunlich schnell, vor allem angesichts der Schwere seiner Verwundung.

Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, zog sie die Decke zurück, damit sie ihre Hand auf die Wunde legen konnte.

Blitzschnell und mit überraschend festem Griff packte er ihr Handgelenk und zog sie zu sich herab. An ihrem Hals spürte sie die Spitze eines Dolches. Levarda verharrte kurz und bemerkte trocken: »Mir scheint, Ihr befindet Euch auf dem Weg der Besserung.«

Sofort ließ Sendad sie los, als er erkannte, wen er vor sich hatte. »Verzeiht – es war ein Reflex.«

»Ein sehr guter, wie ich bemerken darf.« Sie massierte ihr Handgelenk.

Er grinste. »Ich bin ein Krieger.«

Sie suchte seinen Blick. Sein Gesicht, im Schlaf so entspannt, wirkte konzentriert, die blauen Augen glitzerten erregt, und Levarda ging ein Schauer durch den Körper. Ja, die Männer der Garde waren gefährlich. Traurig sah sie ihn an.

»Ich weiß. Darf ich mir Eure Wunde anschauen?«

Er sah an sich herunter, bemerkte die herabgezogene Decke und zog sie sich hastig bis zum Hals.

Levarda unterdrückte ein Grinsen über seine Schüchternheit. »Ich dachte, Ihr wäret ein Krieger. Ihr habt doch keine Angst vor einer Frau?«

»Und diese Frau sollte nicht allein das Zelt eines Offiziers betreten«, klang eine kühle Stimme hinter ihr.

Lord Otis stand im Eingang. Wortlos richtete Levarda sich auf und trat einen Schritt von Sendads Lagerstätte zurück. Ebenso kalt erwiderte sie: »Ich hatte nicht vor, ihm zu schaden. Ich wollte mich um seine Wunde kümmern.«

»Dennoch hättet Ihr erst zu mir kommen und Euch die Erlaubnis einholen müssen. Abgesehen von Eurer zunehmend selbstständigen Art zu handeln, die sich für eine Lady nicht ziemt, könnte ein solches Verhalten von meinen Männern falsch verstanden werden. Euch ist hoffentlich klar, dass eine Lady mit zweifelhaftem Ruf in keinem Fall ein Mitglied am Hofe des hohen Lords werden kann.«

Levarda lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Hatte nicht ihr selbstständiges Handeln Sendads Leben gerettet? Und war nicht Lord Otis selbst es gewesen, der sie mit Lemar auf Kundschaft geschickt hatte? Was ging in diesem Kerl vor? Meinte er, sie herumschubsen zu können, wie es ihm beliebte? Mal war sie würdig genug, ihren Mann zu stehen, mal war sie eine einfache Frau ohne Rechte? Seinetwegen hatte sie einen weiteren Menschen auf dem Gewissen. – Aber sie presste nur stumm die Lippen zusammen, senkte den Kopf und die Augen. Eine Weile verharrte sie so auf der Stelle.

Sie konnte spüren, wie er sich an seiner Überlegenheit labte. Mühselig schluckte sie Zorn und Stolz herunter. Wenn er glaubte, er könne sie demütigen, konnte er lange warten!

Die Stille zog sich fast schmerzhaft hin. Er wartete auf ein Wort von ihr, aber sie blieb stumm.

Schließlich sprach er als Erster. »Ihr könnt gehen. Lady Smira erwartet Euch.« Er trat einen Schritt beiseite und machte den Eingang frei.

In langsamen, würdevollen Schritten durchmaß sie das Zelt. Als sie auf einer Höhe waren, konnte sie die Wärme seiner Aura spüren, und für einen kurzen Augenblick schwanden ihr fast die Sinne.

»Halt!«, gebot er.

Sie zog ihren Schutzschild hoch, schirmte sich vor seiner Energie ab. Aber er öffnete nur die Hand. »Gebt mir etwas von diesen Blättern, ich sorge dafür, dass jemand den Verband wechselt.«

Levarda entnahm ihrer Tasche die Pflanze, drückte sie Lord Otis in die Hand, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren.

»Das sind Moose, keine Blätter.« Mit erhobenem Kopf verließ sie das Zelt.

6

Feinde

Im Zelt der Frauen kniete Levarda eine Stunde lang vor Lady Smira. Ihr für eine Frau ungebührliches Benehmen erforderte offenbar diese Strafe. Wie absurd die Situation war! Erst rettete sie dem einfältigen Mädchen und vielen Männern das Leben, dann musste sie sich schelten lassen.

Sie schloss die Augen, beschwor sehnsüchtig Bilder ihrer Heimat herauf. Sie sah sich im Kreis der Ältesten, gewürdigt für ihre Leistungen, die sie gegenüber den Menschen ihres Volkes erbracht hatte. Niemals wäre jemand in ihrem Land so gedemütigt worden. Nie wäre es einem Mintraner eingefallen, sich so über einen anderen zu stellen.

»Ihr dürft Euch erheben. Ab jetzt werdet Ihr in der Kutsche reisen.«

Wortlos stand Levarda auf. Dann sah sie Lady Smira tief in die blauen Augen. »Vergesst nicht, Mylady, ich bin keine Eurer Dienerinnen. Ich bin aus freien Stücken hier.« In Gedanken fügte sie hinzu: Und ohne mich seid Ihr dem Tod geweiht. Sie kehrte ihr den Rücken und wandte sich zum Ausgang.

»Wohin geht Ihr?«, fragte ihre Cousine ängstlich.

»Ich sorge dafür, dass es einen Ausweg gibt, wenn Ihr versagt«, erklärte sie der jungen Frau kühl.


Levarda schlug den Weg zum See ein. Niemand hielt sie auf. Sie bemerkte aber neugierige, mit Achtung erfüllte Blicke. Grimmig lächelnd, die Augen zum Boden gerichtet, schloss sie, dass ihre neueste Heldentat bereits die Runde gemacht hatte.

Auch wenn die Anerkennung der Männer für sie den Tod eines Räubers nicht rechtfertigte, wäre sie vielleicht einmal wichtig, wenn es hart auf hart käme. Hoffentlich würde es nie dazu kommen.

Sie hatte den See erreicht. Ihr Blick schweifte über das Ufer, das nicht geradlinig verlief, sondern sich in vielen Biegungen und Windungen in der Landschaft ausbreitete.

Sie kroch durch das Gebüsch, bis sie eine geschützte kleine Ausbuchtung fand, hängte ihre Tasche ins Geäst, stieg ins Wasser und zog sich aus. Genussvoll tauchte sie in ihr kühles Element ein, doch bevor sie sich völlig ihrem Vergnügen hingab, wusch sie zuerst sorgfältig ihre Kleidung, dann sich selbst ausgiebig, bis der Wohlgeruch einer frischen Frühlingswiese an ihr haftete.

Ihre Kleidung ließ sie in der Bucht treiben, sie selbst tauchte ins Wasser ein, schwamm mit kraftvollen Zügen tiefer, glitt über dem Seeboden dahin, spürte das Wasser ihren Körper entlangziehen.

Tiefe, absolute Stille schloss sie ein. Dies war der Moment, wo sie Frieden empfand. Einen Frieden, den sie lange nicht mehr verspürt hatte. Sie kostete diesen Augenblick aus, bis der Mangel an Sauerstoff sie an die Wasseroberfläche zwang.

Vorsichtig durchbrach sie die Spannung des Wassers. Ihre Augen erforschten das Ufer. Niemand, der ihr Vergnügen gestört hätte. Sie wiederholte den Vorgang, bis sie den Frieden auch im letzten Winkel ihres Körpers verspürte. Erst dann tauchte sie zu der kleinen Bucht am Ufer zurück. So leise wie zuvor durchschnitt ihr Kopf die Wasseroberfläche. Sie erstarrte. In der Nähe hörte sie gedämpft, aber deutlich, wie sich zwei Männer unterhielten. Eine Stimme gehörte Lord Otis, die andere Lemar.

»Ihr habt meinen Befehl missachtet. – Warum?«

Zu Levardas Bedauern klang die Stimme von Lord Otis erstaunlich gefasst.

»Ihr hättet mir sagen können, dass sie so weit sehen kann, dann wäre ich umgekehrt. Aber da waren nur etwa vierzehn Mann, die uns verfolgten. Es wäre strategisch unklug gewesen, dafür den Vorsprung aufzugeben.«

»Ich hätte wahrscheinlich genauso gehandelt. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, Lady Levarda nicht ein zweites Mal in ein Gefecht verwickelt zu sehen.«

»Da gebe ich Euch recht. Wenn sie dem Henker zugeführt werden muss, könnt Ihr meine Männer vergessen.«

»Wie meint Ihr das?«

Diesmal klang Lord Otis‘ Stimme schärfer. Levarda konnte in der Dämmerung regelrecht fühlen, wie Lemar die Achseln zuckte.

»Sie scheint nicht nur zu wissen, wie man mit einem Bogen umgeht, sie kann auch das Schwert schwingen.«

»Das Schwert?«

»Gerolim wurde von einem verdammt muskulösen, großen Typen bedrängt. Bei dem Gefecht verlor er sein Schwert und es wäre um ihn geschehen gewesen, hätte sie es nicht aufgehoben und dem Mann direkt ins Herz gestoßen.«

Aus Lemars Stimme hörte Levarda Bewunderung heraus.

»Es ging durch seinen Brustkorb wie Butter.« Er hielt inne, fügte dann hinzu: »Ich möchte niemals gegen sie kämpfen müssen, …« Er holte Luft, doch anscheinend schnitt ihm Lord Otis das Wort ab. Stille entstand und Levarda wagte nicht, sich zu rühren. Schließlich hörte sie einen tiefen Atemzug.

»Ich hätte nicht zulassen sollen, dass diese Frau mitkommt.«

»Und direkte Konfrontation riskieren?«, erwiderte Lemar.

»Ich frage mich, was Lord Blourred mit ihr bezweckt. Verflucht sei die Zeugungsunfähigkeit des hohen Lords!«, stieß Lord Otis heftig hervor.

Erneut trat Stille ein, die schließlich Lemars Stimme beendete.

»Otis, ich bin froh, dass ich nicht in Eurer Haut stecke. Sendads Männer halten Levarda für eine Schutzheilige. Meine Männer halten Levarda für eine Heldin. Eine gefährliche Mischung, wenn Ihr mich fragt.«

»Hört auf, sie Levarda zu nennen! Sie ist ‚Lady‘ Levarda, also gewöhnt Euch die Anrede besser wieder an.«

»Das fällt mir schwer, vor allem wenn ich sehe, wie sie auf ihrer Stute durch unsere Reihen fegt.«

Levarda musste bei seinen Worten grinsen.

»Lemar!«

»Schon gut. Ich werde in Zukunft daran denken. Aber sorgt Ihr besser dafür, dass Lady Levarda erst gar nicht das Schloss des hohen Lords betritt, sonst – « es entstand eine unheilvolle Pause.

»Eine interessante Idee, Lemar.«

Levarda stockte der Atem. Planten die zwei Männer ihren Tod? Sie hörte, wie sich die beiden entfernten.

Am Ufer zog sie ihre Sachen an, trocknete sich und ihre Kleidung, während sie sich bemühte, ihre Gedanken zu ordnen. Bevor sie sich den Weg durch die Büsche suchte, ließ sie ihre Sinne umherstreifen, damit sie niemandem über den Weg lief. Vorsichtig schlich sie in einem weiten Bogen um das Lager. Erst bei den Pferden verließ sie ihre Deckung. Sie ging zu Sita und gab ihr ein paar saftige Beeren, dann schlenderte sie zurück zum Lagerplatz.

An mehreren Feuern saßen die Männer beim Essen. Sie hörte, wie sie gegenseitig mit ihren Heldentaten prahlten. Ab und an fiel auch Levardas Name. Zufrieden stellte sie fest, dass in diesem Zusammenhang das Wort ‚Lady‘ nicht vorkam. Vielleicht waren die Umstände wahrhaftig ein Vorteil für sie. Konnte Lord Otis es sich erlauben, sie vor den Augen seiner Männer zu töten? Nein, entschied sie, das würde ihn die Loyalität der Krieger kosten.

Also musste sie immer in der Nähe der anderen bleiben. Sie war gewarnt, und Lord Otis täuschte sich, wenn er dachte, er könnte sie einfach umbringen. Er gewann nichts, sofern ihr Tod nach Mord aussah. Sollte sein Plan erfolgreich sein, musste es wie ein Unfall aussehen. Grübelnd suchte sie sich ihren Weg zwischen den Feuern, Richtung Frauenzelt.

»Levarda, wollt Ihr Euch zu uns setzen?«, hörte sie jemanden rufen, als sie eines der Lagerfeuer passierte. »Wir haben noch einen Teller mit Essen für Euch.« Es war Gerolim.

Sie zögerte kurz, doch es konnte schließlich nicht ganz verkehrt sein, einen Feind besser kennenzulernen.

»Wenn es Euch nichts ausmacht.« Kurzerhand ließ sie sich im Schneidersitz zwischen Gerolim und einem anderen Mann nieder.

Er gab ihr einen Teller voll Fleisch und legte ihr ein Stück Brot dazu.

Levarda spürte erst jetzt, wie hungrig sie war. Gierig nahm sie das Stück Fleisch in die Hand und begann zu essen. Es schmeckte köstlich. Sie kaute, schluckte, tunkte das Brot in das Fett, nahm die Menschen um sich herum nicht mehr wahr. Mit dem letzten Brocken vom Brot wischte sie den Teller blitzblank sauber und leckte sich zuletzt jeden einzelnen Finger ab. Dabei erst hob sie die Augen und bemerkte, dass niemand am Feuer weitergegessen hatte. Alle sahen ihr zu. Sie ließ die Hand sinken und blickte in die Runde. »Was ist? Warum starrt ihr mich so an?«

Einem der Männer kroch ein breites Grinsen übers Gesicht. »Verzeiht«, sagte er, »aber ich habe noch nie eine Frau so essen sehen.« Die anderen Männer nickten zustimmend.

Gerolim mischte sich ein: »Sie ist die ganze Strecke mit uns geritten und hat gekämpft, wieso sollte sie nicht auch Hunger haben wie wir?«

»Schon wahr«, gab der Erste zu, »aber sie hat eine Portion verdrückt, die selbst Andame«, er deutete auf seinen wohlbeleibten Nachbarn, »in dem Tempo nicht schafft.«

»Das mag sein«, verteidigte sich Levarda, »Ihr musstet Euch ja auch bisher nicht eine einzige Portion zu viert mit drei anderen Frauen teilen.« Sie betrachtete traurig ihren leeren Teller.

»Hier, fangt! Wir wollen ja nicht, dass Ihr verhungert.«

Jemand warf ihr einen Apfel über das Feuer zu. Die Männer lachten. Levarda fing den Apfel geschickt auf und biss hinein.

»Ich bin froh, dass Ihr anders seid als die Frauen, die ich kenne«, brummelte Gerolim, »sonst würde ich jetzt nicht hier am Feuer sitzen.« Er hob seine Hand hoch, schaute sie an und grinste. »Tut nicht einmal mehr weh.«

Levarda zuckte die Achseln. »Bei uns weiß jedes kleine Kind, was es machen muss, wenn es sich verletzt.« Das entsprach nicht komplett der Wahrheit, doch sie wollte nicht, dass sich die Männer zu viele Gedanken über ihre Fähigkeiten machten.

»Sind denn dort, wo Ihr herkommt, alle Frauen so wie Ihr?«

Levarda überlegte, wie sie antworten sollte. Vielleicht würden die Männer sie besser verstehen, wenn sie ihnen von Mintra erzählte. Oder war darin eine Gefahr zu sehen, dass sie so anders lebten? Es könnte sie immerhin zum Nachdenken bringen. Und wenn nur einer von ihnen daraufhin Frauen mehr Respekt entgegenbrachte, war das eine Veränderung, die dieses Land ihrer Meinung nach brauchte. »Ein Mensch gleicht nie vollkommen einem anderen. Aber ich denke, so meint Ihr Eure Frage nicht. Ja, es gibt Frauen wie mich, dort wo ich herkomme. Sie reiten und gehen auf die Jagd mit Pfeil und Bogen. Genauso gibt es Frauen, die nähen, kochen oder sich um das Land kümmern.«

»Was machen die Männer, wenn die Frauen jagen und kämpfen?«

»Dasselbe.« Amüsiert betrachtete sie die verständnislosen Blicke der Soldaten um sich herum. »Seht ihr, bei uns wird Arbeit nicht in Männer- oder Frauenaufgaben eingeteilt. Ein jeder hat seine Begabungen, Talente, Schwächen oder Begrenzungen. Wäre es nicht furchtbar, einen Mann zu zwingen, ein Schwert zu schwingen, wenn er mit verständiger Hand aus dem Boden die Nahrung wachsen lässt?«

»Das machen bei uns auch Männer, aber kein Mann käme er auf die Idee, ein Kleid zu nähen.« Der Sprecher machte eine Grimasse, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Oder zu kochen!«

»Tatsächlich nicht?«, fragend zog Levarda eine Augenbraue hoch. Ihr Blick glitt zu ihrem Teller, dann zu einem Mann, der dabei war, einen Riemen seines Steigbügels zu flicken. Der Soldat brummelte etwas Unverständliches in seinen Bart, ohne aufzublicken und schüttelte den Kopf.

Levarda schwieg. In einer Gesellschaft wie dieser, in der Frauen keinerlei Rechte besaßen, wäre es tollkühn, Verständnis für diese Dinge zu erwarten. Dennoch akzeptierten die Krieger sie am Feuer, und sie konnte ihnen sogar offen ins Gesicht blicken. Das war mehr, als sie jemals zu hoffen gewagt hatte.

In ihrem Land galten Frauen als vollkommene Wesen, denn sie trugen das Feuer des Lebens in sich. Ein Mann strebte nur zeitlebens nach dieser Vollkommenheit. Der Rat der Ältesten bestand zum überwiegenden Teil aus Frauen. Es erregte mittlerweile Besorgnis im Land, dass hauptsächlich Männer Mintra verließen, und zum ersten Mal in ihrem Leben verstand Levarda, wie sich manche Männer in ihrem Volk fühlen mochten – benötigt fast ausschließlich zum Zeugen von Kindern. Das konnte kein sehr ausgefülltes Leben sein.

Es herrschte ein angenehmes, müdes Schweigen in der Runde, doch schien eine unausgesprochene Frage im Feuer zu schwelen. Levarda lauschte in das Knistern der Zweige, die die Flammen verzehrten.

»Werdet Ihr kämpfen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist?« Es war kein Mann aus der Runde, der die Frage gestellt hatte, sondern Timbor, der jüngste Offizier der Garde des hohen Lords. Gelassen stand er an einen Baum gelehnt Levarda gegenüber.

Sie wusste nicht, ob er dort die ganze Zeit gestanden hatte. Wissend, worauf Timbor anspielte, wollte sie ihn dennoch zwingen, seinen Gedanken auszusprechen.

»Wenn welcher Zeitpunkt gekommen ist, Timbor?«, sanft schwang ihre Stimme durch die Nacht.

Der Offizier stieß sich vom Baum ab, ging in die Hocke. Die Männer machten ihm respektvoll Platz. Levarda konnte die Spannung mit den Händen greifen. Er sah ihr in die Augen, musterte ihr Gesicht. »Wenn wir Euch zum Henker führen, weil der hohe Lord es uns befiehlt.«

Ihr Lachen glich dem lockenden Gurren eines Nevarn, des Raubvogels, der hoch in den Lüften schwebend seine Beute mit einem betörenden Singsang in Sicherheit wiegte.

»Dafür müsste Euer Herrscher in seinem Urteil gefehlt haben. Denn war nicht er es, der sich Lady Smira zur Frau aussuchte? Und traf er nicht eine ausgezeichnete Wahl? Schenkte ihre Mutter doch sechs Söhnen und einer Tochter das Leben.«

Die meisten Männer am Lagerfeuer nickten erleichtert, aber nicht alle, und Timbor ließ nicht locker. »Nehmen wir nur mal an, es käme zu diesem Tag.«

Die Soldaten sahen Levarda ins Gesicht. Die Flammen des Feuers tanzten auf ihrer Haut. Ihr Blick wanderte zu jedem Einzelnen, bis er zuletzt auf dem Offizier ruhte.

»Dann, Timbor, werde ich mein Schicksal ohne Widerstand annehmen.«

Ihre Augen blieben auf den jungen Mann gerichtet und sie fühlte Ruhe und Gelassenheit in sich. Nicht die Aussicht auf den Tod machte ihr Angst, sondern das Leben – ein Leben als Gefangene auf der Festung des hohen Lords.


Der Abend mit den Männern am Feuer hatte Levarda versöhnlich gegen ihre Cousine gestimmt. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, hatte sie ihrerseits die Soldaten nach dem Leben auf der Festung ausgefragt.

Sie nahm Lady Smiras Nachtgetränk aus Melisanas Hand, um es ihr selbst ans Bett zu bringen. Melisana, die von der Anstrengung der Reise dunkle Ränder unter den Augen hatte, überließ es ihr dankbar.

Erst ignorierte Smira sie bockig. Levarda erzählte ihr jedoch von der Festung des hohen Lords, den prachtvollen Räumen und den Festlichkeiten, die dort regelmäßig stattfanden. Sie schilderte die Ankunft von ausländischen Botschaftern und deren Begleitung, beschrieb die Geschenke, von denen die Männer der Garde mit glänzenden Augen erzählt hatten. Sie berichtete von exotischen Tieren, die im Park herumstolzierten, von der Stadt mit ihrem Markt und den Händlern, die Waren feilboten, die es sonst nirgends im Land gab, erzählte über Köstlichkeiten, die nur von den Köchinnen am Hof des hohen Lords auf den Tisch gezaubert wurden.

Lady Smira hing an ihren Lippen. Die müden Falten verschwanden aus ihrem Gesicht und in ihre Augen trat ein Glanz, wie ihn Levarda von der Zeit her kannte, als sie ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie stand auf, machte einen zweiten Kräutertrank in einer Kanne, die sie zusammen leerten, während sie weitere Geschichten vom hohen Lord zum Besten gab.

»Ich frage mich, wie er aussehen mag«, seufzte Lady Smira und sank mit träumerischen Augen in die glänzende Zukunft, die vor ihr lag.

»Nun, er ist nur vier Jahre jünger als Euer Vater, und dennoch erzählt man sich, dass er eine recht angenehme Erscheinung sei«, erklärte Levarda vorsichtig.

»Außerdem ist er äußerst gebildet und weitsichtig«, fügte Lady Smira hinzu. Sie drehte sich auf die Seite, stützte ihren Kopf auf die Hand und sah Levarda mit ihren großen blauen Augen an.

»Das hoffe ich. Immerhin ist er für eine Vielzahl von Menschen verantwortlich«, erwiderte Levarda ernst.

»Ja, er ist mächtig.« Lady Smira drehte sich wieder auf den Rücken. »Und bald bin ich die mächtigste Frau in diesem Land«, flüsterte sie.

Die letzten Worte verursachten Levarda eine Gänsehaut. Nachdenklich betrachtete sie ihre Cousine, in deren Augen sie den Traum von Reichtum, Macht und Anerkennung sah. In Levardas Heimat konnte eine machtvolle Stellung nie durch Reichtum, Geburt oder Aussehen erreicht werden. Bei ihrem Volk entschieden die Weisheit eines Menschen, die Reinheit seiner Taten und Handlungen, sein Charakter und seine Tugenden darüber, wie viel Macht jemand zugesprochen bekam. Und selbst dann war es nur die vom Volk geliehene Macht.

Was passierte, wenn eine solche Macht, wie sie die Frau des hohen Lords erhielt, so einem jungen Mädchen in die Hände fiel? Verdarb sie ihren Charakter oder würde sie sich der Verantwortung bewusst werden und sich der Bürde nach und nach als würdig erweisen? Verglichen mit der des hohen Lords, fiel die Macht seiner Frau vielleicht nicht allzu sehr ins Gewicht.

»Ihr seht mich so nachdenklich an, Levarda. Seid Ihr mir noch böse wegen der Züchtigung?« Eine leichte Röte huschte über ihr Gesicht.

Als Levarda weiter schwieg, setzte sie sich auf und faltete die Hände übereinander. Sie machte eine ernste Miene und erklärte: »Meine Mutter sagte immer, dass ich ein Vergehen meiner Dienstboten scharf bestrafen muss, sonst denken sie, ich sei schwach.«

»Ich bin aber nicht Euer Dienstbote, vergesst das nicht.«

»Aber eine Lady seid Ihr auch nicht.«

Levarda nickte bedächtig. »Das stimmt, ich bin keine Lady, ich bin eine Frau und Eure Cousine. – Genug geredet. Abgesehen davon halte ich Euch nicht für schwach, sondern für mutig. Schlaft jetzt.«

Gefügig kuschelte sich Lady Smira in ihre Decke. Levarda löschte das Licht und fragte sich kopfschüttelnd, wie dieses junge Mädchen sie einerseits in die Position einer Dienerin drängen wollte, auf der anderen Seite aber gehorsam ihren Anweisungen folgte wie ein Kind seiner Mutter. Sie hörte Melisanas tiefe Atemzüge und das leise Schnarchen von Lina. Levarda mochte weder das seltsame Bett noch den Geruch im Zelt. Sie zog ihr Nachthemd an, nahm sich ihr Fell und die Decken. Ihr fiel ein, dass dies alles war, was sie noch besaß. Eine Lady hätte so etwas niemals akzeptiert, dachte sie ein wenig amüsiert.

Sie richtete sich ihr Nachtlager am Zelteingang ein, gerade nahe genug, dass sie beim Einschlafen fühlte, wie ihr der Nachtwind um die Nase wehte.


Schweißgebadet zuckte Levarda hoch. Um sie herum war tiefe Dunkelheit. Etwas hatte sie mit Gewalt aus dem Schlaf gerissen. Aber was? Ihr Atem ging stoßweise, als wenn sie gerannt wäre. Sie versuchte sich zu orientieren, doch die undurchdringliche Schwärze gab ihr keinen Anhaltspunkt. Glühende Punkte tauchten vor ihr auf, näherten sich unaufhaltsam. Sie wich zurück, schrie auf. Panisch tastete sie nach ihrem Dolch, den sie beim Schlafen neben sich gelegt hatte, doch da war nichts – gar nichts, nur Kies. Verwirrt hielt sie mit dem Tasten inne, sie hatte sich doch auf ihr Fell gelegt und das Zelt stand auf Gras. Jemand rief sie mit leiser Stimme. Erneut schrie sie auf, dann kristallisierten sich aus der schwarzen Dunkelheit die Gesichter von Männern heraus. Sie zählte sieben von ihnen. Einer davon war der Räuber, den sie mit dem Schwerthieb getötet hatte. Die Männer kamen immer näher und bildeten einen enger werdenden Kreis um sie. Voller Panik flüsterte Levarda: »Ich wollte Euch nicht töten. Ich wollte Euch nicht töten.«

Sie spürte einen festen Schlag auf ihrer Wange und einen dumpfen Ruck, als ihr Geist in ihren Körper zurückkehrte.

Zitternd vor Kälte sah sie zwei Soldaten vor sich stehen. Lord Otis hockte mit finsterer Miene vor ihr, die Hand zu einem zweiten Schlag erhoben. Als er ihren Blick bemerkte, ließ er sie sinken. Die Finsternis in seinem Gesicht lichtete sich.

»Ihr könnt ins Lager zurückkehren.« Mit einer knappen Handbewegung schickte er die Soldaten weg.

Verwirrt sah sich Levarda um. Sie hockte am Ufer des Sees, rund um sie herum war der Boden aufgewühlt. Vorsichtig legte Lord Otis seinen Umhang über ihre Schultern. Sie starrte ihn verständnislos an, nicht sicher, ob sie träumte oder wach war, hatte keine Luft mehr.

»Versucht es mit Atmen«, hörte sie Lord Otis‘ Stimme in beruhigendem Tonfall.

Levarda saugte Luft in sich hinein. In ihrem Kopf klopfte es heftig, am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, aber sie wagte es nicht, aus lauter Angst, ihr Geist würde sich erneut von seiner Hülle lösen. Denn das hatte er ohne Zweifel getan. So steif und kalt, wie ihr Körper sich jetzt anfühlte, fing ihr Herz doch langsam wieder an zu schlagen. Alle ihre Organe waren stehengeblieben, da es nichts gegeben hatte, das die lebenswichtigen Funktionen steuerte. Aus diesem Grunde war es nicht ratsam, Körper und Geist länger zu trennen. Überhaupt wurde diese Technik nur selten praktiziert. Levarda hatte sie noch nie angewandt und konnte sich beim besten Willen nicht einmal daran erinnern, es heute getan zu haben. Das entsetzliche Gefühl, fremd in ihrem eigenen Körper zu sein, steckte ihr in den Knochen.

Sie starrte in das Gesicht ihres Gegenübers, um herauszufinden, ob es nur so aussah wie das von Lord Otis und ob sich dahinter in Wirklichkeit eine Gestalt der Getöteten verbarg.

»Levarda, seid Ihr hier? Könnt Ihr mich verstehen?« Seine Stimme klang eigenartigerweise sanft, und das war verkehrt, so sprach der erste Offizier der Garde nicht mit ihr. Sie wagte nicht, einen Laut von sich zu geben oder sich zu rühren, lauerte stattdessen auf den nächsten Angriff.

Lord Otis rückte ein Stück näher an sie heran, hob die Hand.

»Nein, nicht«, Levarda zuckte zurück, ihre Wange brannte noch von dem ersten Schlag.

Er hielt inne.

Langsam tastete sie mit ihrer Hand nach der schmerzenden Wange. Sie fühlte sich heiß an. »Es tut weh«, flüsterte sie erstaunt.

Der Ausdruck in seinem Gesicht verschloss sich. »Verzeiht, dass ich Euch wehgetan habe. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Euch sonst erreichen kann.«

Für Levarda ergab das alles keinen Sinn. Aber eines war sicher – sie träumte nicht. Fröstelnd zog sie seinen Umhang enger an sich. Sein Feuer steckte fühlbar in dem Stück Stoff. Es hüllte sie ein, entfachte die Wärme ihres eigenen Feuers. Nach und nach spürte sie ihren Körper wieder. Ihr Geist streckte sich darin aus. Sie bewegte vorsichtig ihre Finger, schob ihre Beine aus dem Stoff, wackelte mit den Zehen. Langsam strich sie mit ihren Händen darüber, bis ihre Lebenskraft in einem gleichmäßigen Strom durch ihren Körper zirkulierte.

»Bedeckt Euch«, befahl Lord Otis schroff.

Überrascht hob sie ihren Kopf und sah ihn an. Seine Anwesenheit war ihr völlig entgangen. Sie zog ihre Beine unter sich.

»War es das erste Mal, dass Ihr Menschen getötet habt?«

Forschend sah er sie an. Sie starrte zurück, bemüht, das Grauen und die Panik, die seine Worte in ihr auslösten, zu verdrängen.

Ihre Augenlider schlossen sich wie von selbst. Da kroch sie erneut heran, die undurchdringliche Dunkelheit, und griff mit langen Tentakeln nach ihr. Und obwohl sie instinktiv verstand, dass ihre eigene Angst der Dunkelheit Macht gab, schaffte sie es nicht, sie zu unterdrücken. Sie schluchzte auf. Jemand packte ihren Kopf, sie schrie. Heißer Atem traf auf ihr Gesicht. Sie wollte sich aus dem Klammergriff befreien, zerrte an den Händen, schüttelte den Kopf, wand sich mit ihrem ganzen Körper.

»Seht mich an!«, befahl er, keinen Widerspruch duldend.

Das Feuer seiner inneren Quelle rann durch seine Hände und loderte in Flammen über ihr Antlitz. Die Flammen verdrängten die Dunkelheit und Levarda riss die Augen auf.

Erst sah sie alles verschwommen, dann wurde ihre Wahrnehmung klarer. Sie sah das Gesicht von Lord Otis dicht vor ihrem eigenen. Der Blick aus seinen tiefschwarzen Augen verhakte sich in ihrem. Ihr Atem ging flach, sie hörte auf, sich zu wehren. Entsetzt stellte sie fest, dass sie ihrer Kräfte beraubt war. Seine Stimme drang an ihr Ohr – unerbittlich.

»Hört mir genau zu«, sagte er. »Es gibt ein Ritual, mit dem Ihr Lishar um Vergebung bittet, dafür, dass Ihr ein Leben genommen habt. Ihr benutzt es bei der Jagd, wenn Ihr ein Tier getötet habt. Genau das führt Ihr jetzt durch! Bittet jeden einzelnen der getöteten Männer um Verzeihung.«

Angstvoll schüttelte Levarda den Kopf. Sie konnte nicht noch einmal die Augen schließen. Dann würde sie die Dunkelheit holen und es gäbe keinen Weg mehr zurück.

Über seine Hände floss ein weiterer Strom von Energie. Sein Feuer rann glühend durch ihren Körper, traf auf das ihre. Beide Flammen, die rotglühende und die blau leuchtende, verbanden sich miteinander, woben ein festes Netz um ihr inneres Zentrum.

»Ihr dürft keine Angst haben, ich bin bei Euch. Nehmt meine Energie.«

Sie griff danach, öffnete ihr Herz, tauchte hinab in die Tiefe ihrer Kraftquellen. Sie spürte ihre Verbindung zu den Elementen, die sie verloren hatte. Das Wasser gab ihr die Ruhe, die Erde den Halt, die Luft trug ihren Geist hinaus in die Dunkelheit. Sie veränderte sich von Schwarz zu Grau, bis dichter Nebel sie umgab. Der erste Mann trat hervor, gewann an Kontur, ein Pfeil ragte aus seinem Kopf.

»Verzeiht, dass mein Pfeil Euch tötete«, sprach sie leise.

Der Tote nickte, verschwand. Der Nächste tauchte aus dem Nebel hervor, einen Pfeil in der Brust. Levarda wiederholte ihre Worte und auch dieser Mann nickte, bevor er verschwand. So kam ein Geist nach dem anderen, bis der letzte Getötete, in dessen Brust ein Spalt klaffte, vor ihr auftauchte. Der Nebel verfärbte sich, wurde dunkler, und für einen Moment spürte Levarda wieder die Angst. Aber das rotblaue Band des Feuers gewann erneut an Kraft, erhellte die Dunkelheit.

»Verzeiht mir, dass ich mit dem Schwert Euer Herz durchschnitt.«

Der Mann nickte nicht. Er sah sie traurig an, dann hörte sie eine Stimme wie einen Windhauch. »Auch ich hätte Euch getötet.« Seine Gestalt verflüchtigte sich. Die roten Flammen zogen sich aus ihr zurück.

Levarda öffnete die Augen und warf sich in Lord Otis‘ Arme, der ihren Kopf losgelassen hatte. Sie umschlang ihn, drückte ihr Gesicht an seine Schultern, ließ ihren Tränen freien Lauf.

Er rührte sich nicht. Sie wünschte sich, dass er seine Arme um sie legen würde, sie tröstete, so wie es ihre Mutter getan hatte, wann immer sie die Erkenntnis traf, dass sie anders war als die anderen, und sie an ihrer Einsamkeit zu ersticken drohte. Aber seine Arme hoben sich nicht. Seine Hand streichelte nicht ihren Kopf. Steif und bewegungslos wie ein Fels blieb er in ihrer Umklammerung.

Irgendwann ging ihr Schluchzen in ruhiges Atmen über. Sie spürte, wie sich das lähmende Gefühl in ihr verflüchtigte. Sie ließ Lord Otis los und rückte von ihm ab.

Sie schämte sich ihrer Schwäche und der Tatsache, dass sie sich an ihn geklammert hatte wie ein kleines Kind. Nach und nach beruhigte sie sich und die Hitze aus ihrem Inneren bahnte sich einen Weg nach draußen. Ihr war heiß. Mit der Hand wollte sie den Umhang von ihrem Körper ziehen, aber seine Stimme bremste sie.

»Was habt Ihr vor?«

»Mir ist warm. Ich brauche Euren Umhang nicht mehr.«

»Lasst ihn an. Im Licht des Mondscheins bietet Euch der Stoff Eures Nachtgewandes wenig Schutz.«

Levarda spürte das Blut in ihren Wangen. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Er hatte nicht nur die Silhouette ihres Körpers gesehen, sondern diesen Körper auch gespürt, als sie sich an ihn klammerte, und das peinigte sie.

Stille breitete sich zwischen ihnen aus.

Er ließ ihr Zeit, sich zu fangen – eine feinfühlige Geste, die sie ihm nicht zugetraut hätte. Levarda dachte darüber nach, was geschehen war. Sie hatte ihren alten Traum geträumt, in dem sie von Lord Otis verfolgt und mit Feuer verbrannt wurde. Sie war gerannt, doch diesmal stoppte kein Baum ihr Fortkommen, stattdessen öffnete sich ein See vor ihr. Als sie sein Ufer erreichte, kam die Dunkelheit aus dem See herangekrochen.

Sie schüttelte den Kopf. Wann hatte sich die Realität mit dem Traum vermischt? Sie konnte sich nicht erinnern, ihr Schlaflager verlassen zu haben und zum See gegangen zu sein. Auf ihrer Zunge brannten Fragen, aber sie wagte keine davon zu stellen. Die Stille zwischen ihnen dehnte sich weiter. Ein angenehmes Gefühl, das ihr Raum gab, ihre innere Mitte wiederzufinden. Woher wusste er, was sie tun musste, um der Dunkelheit zu entfliehen? Wie konnte es sein, dass er mit seinem Feuer all ihre Kräfte bändigte und kanalisierte?

Langsam aber begann sie zu verstehen, was passiert war, begriff die Verunreinigung ihres Geistes, weil sie Leben genommen hatte, ohne dafür um Verzeihung zu bitten. Kein Leben, keine Energie durfte sie leichtfertig der Welt entziehen. Alles war eins und doch getrennt. Ihr eigener Geist hatte sich zur Wehr gesetzt.

Sie hatte völlig vergessen, zu meditieren. In der Meditation wäre ihr der verdorbene Zustand ihres Geistes aufgefallen und er hätte sich nicht ungewollt von ihrem Körper trennen können. Sie seufzte tief. Sie verstand jetzt, was passiert war. Aber eine Frage blieb.

Er saß ihr noch immer gegenüber, die Beine gekreuzt. Seine Arme ruhten auf den Knien, das Gesicht hinter dem Bart und in den Schatten verborgen, unergründlich für sie.

»Woher wusstet Ihr –«, sie brach ab, suchte nach unverfänglichen Worten, die ein Mann aus Forran verstehen konnte.

»Ihr vergesst, dass meine Großmutter eine Frau aus dem Volk von Mintra war.«

Sie schluckte schwer. »Seit wann wisst Ihr, dass ich aus Mintra stamme?«

»Von dem Moment an, als ich Euch zum ersten Mal sah.«

Seine Worte sickerten langsam in ihren Verstand durch. Wenn er es gewusst hatte, weshalb hatte er eingewilligt, sie mitzunehmen? Lemars Worte vom Abend zuvor fielen ihr ein. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Levarda setzte ihre erste Frage neu an. »Woher wusstet Ihr, was Ihr tun müsst, um meinen Geist in meinen Körper zurückzuholen?«

»Ihr meint den Schlag?«

Sie nickte.

Er zuckte mit den Achseln. »Es war ein Versuch, und es hat funktioniert.«

Levarda spürte die Lüge hinter den Worten. Sie versuchte sein Gesicht im Dunkel zu ergründen. Kannte er den Vorgang, dass ein Geist seinen Körper verließ? Praktizierte er es womöglich selbst? Ein Schauer überlief sie bei dem Gedanken, was es noch gab, von dem sie nichts wusste und was ihr der Meister verschwiegen hatte.

»Ist das der Grund, warum Ihr Lady Smira begleitet? Soll Euer Geist heimlich in das Gemach des hohen Lords schleichen und ihn um seinen Verstand bringen?«

Entsetzt von der Vorstellung schüttelte sie den Kopf.

»Das würde ich Euch auch nicht raten, denn in diesem Moment wäre Euer Körper mir völlig schutzlos ausgeliefert.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Levarda hörte die Drohung in seinen Worten. Sie wusste, dass er sie töten würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Wie leicht wäre es heute für ihn gewesen! Sie spürte noch immer die Kraft, mit der er ihren Kopf umklammert gehalten hatte. Ein kleiner Dreh nur –. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass sie so zerbrechlich war.

»Das Ritual«, sprach sie ihn an, »wie kamt Ihr darauf, dass es mir helfen würde?«

»Meine Großmutter vollzog es nach jeder Schlacht. Sie wandelte direkt nach dem Kampf durch die Reihen der Toten, blieb bei denen, die durch sie den Tod gefunden hatten, stehen, und sprach die Worte. Ich beobachtete sie als junger Mann dabei, und sie erklärte es mir.«

Levarda zog die Augenbrauen hoch. »Eure Großmutter kämpfte mit Euch in einer Schlacht?« Sie wusste nicht, was sie mehr entsetzte. Die Tatsache, dass jemand aus Mintra in die Schlacht zog, um Menschen das Leben zu nehmen, oder dass es eine Frau gegeben hatte, die für den hohen Lord in die Schlacht zog.

Als hätte er ihren letzten Gedanken gehört, antwortete er ihr: »Niemand wusste, dass sie eine Frau war. Schneidet Euch die Haare ab, wickelt Eure Brust mit Bandagen ein und arbeitet mit dem Vorurteil, dass keine Frau so kämpfen kann wie ein Mann.« Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Meine Soldaten brauchen nicht die Verkleidung, um Euch als Gefährtin in der Schlacht zu akzeptieren. So ändern sich die Zeiten.«

Levarda schwieg. Sie musste über das nachdenken, was er ihr gesagt hatte. Es war mehr, als sie heute Nacht verstehen konnte. Eine Frau aus Mintra – eine Kriegerin. Das widersprach allen Regeln, auf denen ihr bisheriges Leben beruhte. Aber war sie denn besser? Erneut stiegen Tränen in ihr auf, die sie wütend unterdrückte.

Sie erhob sich langsam. »Ich danke Euch für Eure Hilfe. Ich stehe in Eurer Schuld.«

Geschmeidig glitt auch Lord Otis in die Höhe. »Ihr habt mir in den letzten Tagen ebenfalls einen großen Dienst erwiesen. Seht es als Ausgleich dafür.«

Schweigend gingen sie ins Lager zurück. Zwischen ihnen lag genug Abstand, sodass Levarda kein unsittliches Verhalten vorgeworfen werden konnte. An seine Hände in ihrem Gesicht und daran, dass sie vor weniger als einer Stunde in seinen Armen gelegen hatte, wollte sie nicht denken. Sie zog seinen Umhang fester um ihren Körper.

Vor dem Frauenzelt standen zwei Wachsoldaten. Neugier glomm in ihren Augen, die aber schwand, als ein scharfer Blick von Lord Otis sie traf.

Levarda sah auf den Umhang, der sie warm umhüllte.

»Behaltet ihn, Ihr könnt ihn mir morgen zurückgeben.«

Sie neigte den Kopf, knickste tief und verschwand im Zelt. Dort ließ sie sich auf ihrem Fell nieder, rollte sich zusammen, wickelte den Umhang um sich und vergrub die Nase in dem Stoff.

7

Burg Ikatuk

Die letzten Tage der Reise verbrachte Levarda gemeinsam mit den Frauen in der Kutsche. Diesmal ertrug sie es mit Gelassenheit. Die Erlebnisse in der Nacht waren ihr eine Warnung gewesen. Sie war keine Kriegerin und es war ihre eigene Entscheidung gewesen, die Aufgabe anzunehmen. Es wurde Zeit, dass sie sich fügte.

Sie holte ihr Buch über Anstand und Regeln am Hofe hervor und vertiefte sich darin, las es mehrmals und lernte sogar die unverständlichen Vorschriften auswendig, was ihr den gutmütigen Spott von Lina und Melisana einbrachte.

Abends, nach dem Aufbau des Frauenzelts, übten die Dienerinnen die Regeln mit Levarda ein. Selbst Lady Smira schloss sich ihren Übungen an, und bald hallte vergnügtes Lachen im Zelt, was Levardas Herz leichter werden ließ.

Sendad kam bei der Kutsche vorbei, nachdem er so weit genesen war, dass er wieder reiten konnte.

Sita hatte zunächst für Wirbel gesorgt, sodass sich Lemar hilfesuchend an Levarda richtete. Gemeinsam suchten sie einen einfühlsamen Reiter mit weicher Hand für sie aus, der mit den Soldaten von Lord Otis ritt. So war Sita direkt in der dritten Reihe, vorn im Tross, und diese Lösung schien ihr zu gefallen. Dennoch hatte es Levardas Herz fast in Stücke gerissen, als sie jemand anderes auf ihrem Pferd reiten sah.

Vier Tage darauf erreichten sie am späten Nachmittag eine kleine Burg, eingebettet in hügeliges Gelände auf der Kuppe eines höheren Berges. Es gab Wälder ringsherum, die dicht und grün in der Sonne leuchteten. Die Landschaft erinnerte Levarda an die Täler ihre Heimat, nur fehlten das Gebirge und der mächtige Berg Asambra. Ihre Reise hatte mehr als drei Wochen gedauert und sie konnten froh sein, dass der Frühling sie auf der Reise gnädig vor längeren Regengüssen verschont hatte.

»Ist das die Festung des hohen Lords?«, fragte Levarda erstaunt, weil die Burg klein wirkte. Sie hatte eine Stadt und einen prachtvollen Bau für den Herrscher von Forran erwartet.

Lady Smira, die ebenfalls seit einiger Zeit die Gegend aus dem Fenster der Kutsche betrachtete, lachte.

»Nein, das ist Burg Ikatuk, der Sitz von Lord Otis. Wir werden uns hier eine Woche erholen, bevor wir meinem zukünftigen Gemahl unter die Augen treten.« Sie sah an sich herab. »Was würde er von mir denken, wenn er mich so sähe?«

»Er würde denken, wie wunderschön Ihr seid, und dass Euch keine andere Frau im Land auch nur bis zur Nasenspitze reicht.«

Ihre Cousine senkte verlegen den Kopf und knetete ihre Hände in den dünnen Handschuhen.

Die Kutsche ratterte über die Zugbrücke und hielt vor dem Eingangsportal. Auf dem Hof wirbelten bald Soldaten mit Knechten durcheinander. Ein Tumult entstand. Levarda schien es, als würden die Menschen planlos herumrennen, doch nach und nach lichtete sich das Getümmel. Sie überlegte, ob sie Ihrem Bedürfnis folgen und aussteigen sollte, oder ob das unschicklich wäre. Bisher hatte der Kutscher immer für sie die Türen geöffnet. Sie verstand den Grund für die Verzögerung nicht, bis sie vor dem Portal die hochgewachsene Gestalt von Lord Otis entdeckte, der mit einer Magd sprach.

Die Magd hielt den Blick gesenkt, ihre Lippen waren aufeinander gepresst und die Stirn gefurcht. Ihre Kleider besaßen eine außergewöhnliche Qualität. Levarda hatte lang genug mit den Tuchmachern in ihrem Dorf gearbeitet, dass sie es selbst auf die Distanz einschätzen konnte. Sie fragte sich, was der Hausherr mit einer Dienerin so ausführlich besprach. Außerdem interessierte es sie, ob dies der Grund dafür war, dass der Kutscher sie nicht aus dem Gefährt herausließ. Bevor sich Levarda zu einem Entschluss durchringen konnte, wurde die Tür geöffnet.

Zuerst stiegen die Dienerinnen aus, dann Lady Smira und zuletzt Levarda. Von beiden Dienerinnen flankiert ging Lady Smira gemessenen Schrittes die fünf Stufen bis zur Eingangstür hoch. Levarda folgte ihrer Cousine und spürte die neugierigen Blicke der Knechte vor der Burg. Zwei weitere Mägde erschienen an der Tür. Die Augen gesenkt, warfen sie verstohlene Blicke auf die Ankömmlinge, wobei sich ihre Aufmerksamkeit auf die zukünftige hohe Gemahlin konzentrierte.

Mit einem knappen »Es ist alles gesagt« beendete Lord Otis gebieterisch sein Gespräch mit der Frau.

Gemeinsam betraten alle die Eingangshalle.

Levarda hielt einen Moment inne und ließ ihren Blick schweifen. Die Halle bestach durch ihre schlichte Eleganz. Eine Treppe führte in ein Obergeschoss, das sich am Absatz in zwei Gänge teilte. Links von der Treppenbasis gab es ein Portal mit verzierten Türflügeln. Blumenranken wanderten die Türbogen hoch und sie fragte sich, was sich dahinter verbarg. Rechts neben der Treppe gab es eine schlichte, hölzerne Tür, aus der soeben ein Diener trat und sich dem Hausherrn dezent näherte.

Ohne hinzusehen löste Lord Otis seinen Reisemantel und überließ ihn dem Diener. Darunter kamen seine Stiefel, von der Reise mit Lehm bespritzt, die enganliegende braune lederne Reithose, der Gurt mit dem Schwert und die tailliert geschnittene dunkelblaue Uniformjacke zum Vorschein. Das silberfarbene Emblem auf der linken Brust, der hohe Kragen und sein schwarzer Bart, von der Narbe im Gesicht geteilt, ließen ihn verwegen und gleichzeitig würdevoll aussehen.

Hier in seiner Burg strahlte seine Aura in einer Art, die Levardas Plusschlag beschleunigte. Das war sein Grund und Boden. Sie befanden sich in seinem Machtbereich.

Mit einer knappen Kopfneigung – höflich – wandte sich Lord Otis an Lady Smira.

»Willkommen in meinem Heim, Lady Smira. – Rika«, er zeigte auf die gutgekleidete Magd, »wird Euch Eure Räume für die nächsten Tage zeigen.«

Er deutete als Nächstes auf eine ältere, rundliche Magd mit auffallend rotem Haar, die neben Rika stand. »Kijana wird Euch neben Euren eigenen Dienerinnen hier zur Verfügung stehen. Bitte scheut Euch nicht, Eure Wünsche zu äußern. Ich möchte, dass Ihr Euch auf meiner Burg wie zu Hause fühlt.«

Er winkte eine weitere Magd zu sich, die jetzt aus Rikas Schatten trat. Schwarze, kurze Locken umrahmten das Gesicht des Mädchens, das auf der einen Seite durch ein handgroßes Brandmal entstellt war.

»Das ist Adrijana. Sie wird sich um Euch, Lady Levarda, kümmern.« Weder wandte sich Lord Otis dabei ihr zu, noch richtete er seine Worte direkt an sie.

Seit der Nacht am See war es das erste Mal, dass sie so nah bei ihm stand. Levarda war am Morgen nach dem Vorfall mit einem seltsamen Gefühl aufgewacht, das sie nicht einordnen konnte. Geborgen von dem Mantel, der seine Aura ausströmte, mit seinem Geruch in ihrer Nase, hatte sie ohne weitere Albträume tief und fest geschlafen. Lag es an dem erholsamen Schlaf, dass sie sich so ruhig gefühlt hatte? Nein, ruhig war nicht das richtige Wort. Es gab keine Zweifel, keine Angst mehr in ihr, stattdessen leuchtete ein kleines Licht in ihrem Innern, das sie ausfüllte und zufrieden machte. Gleichzeitig fühlte sie sich leicht wie nach einer langen Meditation.

Jetzt stand er nur drei Schritte vor ihr, drehte ihr halb den Rücken zu und erschien ihr dabei weiter entfernt als die Sterne am Himmel. Dennoch spürte sie dieses Licht, das eine so intensive Wärme abstrahlte, dass sie glaubte, es müsse von außen sichtbar sein. Doch niemand schien es zu bemerken. Fasziniert nahm sie wahr, was da in ihrem Innersten geschah.

Erst, als Lord Otis durch die Eingangstür verschwand, als sich die Intensität des Lichts verringerte und Rika sie mit vorwurfsvollem Blick musterte, merkte Levarda, dass sie geträumt hatte.

Hastig folgte sie den übrigen Frauen. Als sie am oberen Treppenabsatz mit Lady Smira und den Dienerinnen nach rechts abbog, blieb Rika stehen und blockierte ihr den Weg. Adrijana hatte indes die andere Richtung eingeschlagen.

»Ihr, Mylady«, abschätzend spuckte sie die Anrede aus, »schlaft nicht auf dieser Seite der Burg. Die Räumlichkeiten hier sind begrenzt und wir wussten nicht, dass noch eine zweite Lady bei uns ihr Quartier bezieht.« Sie sah Levarda unverfroren ins Gesicht.

Levarda mahnte sich, einen höflichen Ton zu wahren, obwohl sich die Magd ihr gegenüber eindeutig zu viel herausnahm.

»Wirklich? Hatten denn die anderen Gemahlinnen auf der Durchreise keine begleitende Lady bei sich? Das erschiene mir – unwahrscheinlich.«

»Eine Gesellschafterin – ja, eine Lady – nein. Niemand riskiert das Leben einer weiteren Adeligen.« Der letzte Satz hatte den Geschmack eines offenen Affronts.

Levarda wog einen Moment ab, ob es lohnte, mit einer Bediensteten zu argumentieren, die – Benehmen hin oder her – doch nur die Anweisungen ihres Herrn ausführte.

»Meine Ansprüche sind nicht hoch«, sagte sie daher äußerlich gleichmütig, »es macht mir nichts, wenn ich nur einen kleinen Raum zur Verfügung habe.«

Spitz erwiderte die Magd: »Mein Herr sagt, dass Ihr andere Räume beziehen sollt, und danach richten wir uns. Wenn Euch das nicht behagt, steht es Euch frei, das mit ihm zu besprechen.« Mit diesen Worten wandte sich Rika brüsk ab, schenkte Lady Smira ein freundliches Lächeln. »Folgt mir bitte, Mylady.«

Unsicher, ob sie das unverschämte Verhalten der Magd rügen sollte oder nicht, sah ihre Cousine kurz zu Levarda hinüber, während Rika vorausging.

»Ich denke, wir können das später mit Lord Otis klären, derweil sollten wir uns fügen«, flüsterte Levarda ihr zu und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, Rika zu folgen.

Eine eigene Dienerin hatte Levarda noch nie benötigt, doch vermutlich stand das genauso wenig zur Diskussion wie die Raumverteilung.

Adrijana war stehengeblieben und hatte den Wortwechsel stumm verfolgt. Nun drehte sie sich mit einem vielsagenden Lächeln in die andere Richtung.

Levarda folgte ihr.


Die Burg gefiel Levarda. Sie war völlig anders als die pompöse Burg Hodlukay. In den Gängen wurde eine schlichte Eleganz gewahrt. Es gab Bilder an den Wänden, aber nur vereinzelt, sodass jedes für sich den Betrachter zum Verweilen einlud. Manche von ihnen bildeten Menschen ab, andere wiederum Landschaften. Alles war in hellen Farben gehalten, wirkte freundlich. Licht strömte durch vielerlei Fenster, die kein Vorhang bedeckte. Der Fußboden aus hellbraunem Holz glänzte matt im Sonnenlicht.

Immer wieder blieb Levarda stehen, weil sie die Lebendigkeit der Bilder gefangennahm. Geduldig wartete die Magd jedes Mal, bis sie mit ihren Betrachtungen fertig war.

Endlich erreichten sie eine Tür, und ein Lächeln zauberte einen weichen Zug auf das entstellte Gesicht der Dienstmagd und ließ die frühere Schönheit darin hervorschimmern. Levarda konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Dieses Mädchen rührte sie.

Adrijana öffnete die Tür und forderte Levarda mit einem Wink auf, vor ihr einzutreten.

Beim Betreten des Raums wurde ihr schlagartig klar, in wessen Räumlichkeiten sie sich befand.

»Das ist ein Missverständnis.«

Doch Adrijana schüttelte nur mit verschmitztem Blick den Kopf. »Nein, die Anweisungen des Herrn waren eindeutig, und glaubt mir, Rika hätte jeden Spielraum seiner Worte genutzt.« Kichernd zog sie Levarda in die Gemächer und schloss die Tür. »Verzeiht mir mein ungebührliches Benehmen, Mylady, aber ich habe so etwas bisher auch noch nicht erlebt. Ihr seid die erste Frau, die er hier einquartieren lässt.«

Levarda versteifte sich. Allein sein Geruch, der in diesem Zimmer hing, verursachte ihr einen Schauer.

»Ich denke, dass du es nicht erleben wirst. Es ist mir egal, welche Anweisung er gegeben hat, ich möchte einen anderen Raum.« Levarda wandte sich zur Tür, aber die Magd hielt sie scheu am Arm zurück.

»Es wäre sehr unhöflich, Lady, ein so großzügiges Angebot von Lord Otis abzulehnen.«

Levarda hielt inne. Sie war müde, fühlte sich schmutzig und brauchte einmal Zeit für sich allein. Sie wusste, dass Lord Otis ihrem Wunsch nach einem anderen Zimmer nicht einfach nachgeben würde. Ihr fehlte im Moment die Kraft für eine Auseinandersetzung mit ihm. Dennoch musste sie eine dringende Frage klären.

»Wo wird Lord Otis sein Quartier beziehen?«

»Kein Sorge, Mylady, es gibt genügend Räume auf dieser Burg.« Die Spitze in ihren Worten war unüberhörbar.

Levarda beschloss, nicht weiter nachzufragen und das zugewiesene Zimmer erst einmal zu akzeptieren. Sie hatte keine Ahnung, was Lord Otis mit dieser Geste beabsichtigte, die sein Dienstpersonal offensichtlich genauso befremdlich fand wie sie.

Sie sah sich um. Ein großes, ausladendes Bett dominierte den Raum. Es gab einen Kamin, zwei gemütliche Sessel und einen kleinen Tisch auf einem Teppich aus mehreren zusammengenähten Bärenfellen. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, das seine Wärme in das Zimmer abgab. Auf der anderen Seite stand ein Schreibtisch am Fenster. An der Wand zog sich ein langes Regal mit Büchern entlang. Überrascht trat Levarda an das Regal und überflog die Titel.

»Ihr könnt lesen?«

Levarda hatte Adrijanas Anwesenheit völlig vergessen.

»Ja, aber das ist nicht so ungewöhnlich.«

Die Stille hielt nur kurz, dann kam die nächste Frage.

»Ihr stammt nicht aus Forran?«

Die Bestimmtheit, mit der die Magd das sagte, erschreckte Levarda. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Wieso fragst du das?« Levarda sah ängstlich an sich herab. Gut – die Hose war unter ihren Röcken nicht zu sehen.

»Eine Frau, die lesen kann, ist im Land Forran sehr ungewöhnlich«, stellte Adrijana schlicht fest. »Um Eure Reisekleidung macht Euch mal keine Gedanken. Alle Frauen kommen hier in einem solchen Zustand an.«

Sie schwieg und musterte Levarda schüchtern. Offensichtlich war ihr der letzte Satz unabsichtlich herausgerutscht.

Levarda gefiel ihre ehrliche Art. »Keine Sorge, du kannst in meiner Gegenwart offen reden. Schließlich weiß jeder, dass Lady Smira nicht die erste Frau ist, die sich der hohe Lord zur Gemahlin ausgesucht hat.«

»Die Knechte bringen gleich Eure Kleidertruhen hoch, dann suche ich etwas Nettes für Euch heraus.«

»Meine Truhen?«, echote Levarda entsetzt. Seit sie auf dem Wagen gestanden und ihren Gürtel gerettet hatte, war der Gedanke an ihre Kleider völlig in Vergessenheit geraten. Alles, was sie noch an Kleidung besaß, trug sie am Leib, mit Ausnahme ihres Nachtgewandes, das in der Stofftasche war, in der sich auch all ihre Kräuter, Öle, Tücher, Bandagen und Werkzeuge befanden.

»Wenn Eure Kleider dreckig sind«, sagte Adrijana, um sie zu beruhigen, »ich bekomme sie schon wieder sauber.«

Levarda schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe gar keine Kleider mehr.«

»Keine Kleider?«, Adrijana riss die Augen auf.

»Wir mussten den Wagen nach einem Angriff zurücklassen.« Dass da nur eine Truhe gewesen war, erwähnte sie nicht, denn sie schämte sich etwas ihrer wenigen Habseligkeiten wegen. – Ein seltsames Gefühl, das ihr Unbehagen verursachte. War sie bereits dabei, sich zu verändern?

Adrijana runzelte die Stirn, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Keine Sorge, Lady Levarda, ich spreche mit Lord Otis, dem wird bestimmt etwas einfallen.«

Noch ehe Levarda die Magd aufhalten konnte, war diese bereits aus dem Zimmer gestürmt. Levarda seufzte tief, aber dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf. Sollte sich doch ruhig Lord Otis darum kümmern, immerhin war es seine Schuld, dass sie nichts mehr besaß.

Sie wollte sich eben erschöpft in einem der Sessel niederlassen, da entdeckte sie, dass unter einer zweiten Tür in dem Raum feine Nebelschwaden hervorzogen. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und öffnete sie mit wachsendem Erstaunen über die Wärme, die ihr entgegenschlug.

Ein großes steinernes Becken, eingelassen in die rückwärtige Wand des Raumes, war bis zum Rand mit dampfendem Wasser gefüllt. Ein Kamin mit einem prasselnden Feuer trieb Levarda den Schweiß auf die Stirn.

Sie zögerte nicht, schloss die Tür und entledigte sich hastig ihrer Kleidung. Das Wasser umschloss sie heiß, als sie sich hineingleiten ließ. Duftessenzen mit einem feinherben Geruch, für ihren Geschmack ein wenig zu herb, umströmten ihre Nase. Das Becken war tief genug, dass sie darin untertauchen konnte, himmlisch entspannend nach der anstrengenden Reise.

Sie spürte, wie die Hitze den Schmutz aus ihren Poren brannte. Es war wie ein Wunder – ein kleiner See im Innern einer Burg.

Lachend tauchte sie auf, schüttelte sich das Wasser aus den Haaren, nur, um gleich wieder unterzutauchen. An diesen Luxus könnte sie sich gewöhnen. Nur langsam kühlte das Wasser ab. Einmal erlaubte sich Levarda, es mit ihrer Energie zu erhitzen. Dann entschied sie sich seufzend, das Becken zu verlassen. Sie sah sich suchend um und entdeckte ein Tuch, in das sie sich hüllte. Sie hob ihre Kleidung auf, ging zum Becken und wusch sie aus. Kaum war sie fertig, hörte sie einen entsetzten Schrei.

»Lady Levarda?«

»Ich bin hier, in dem Raum mit dem See«, antwortete sie der Magd.

Vorsichtig ging die Tür auf. Adrijana schlüpfte mit verängstigter Miene herein.

»Ein Glück, ich dachte, ich müsste sterben.«

»Wieso solltest du sterben, wenn ich in einem anderen Raum bin?«

»Nein, Mylady, aber wenn Ihr geflohen wäret, dann! Lord Otis hätte mich auf jeden Fall hingerichtet. Es standen ja noch keine Wachen vor der Tür.« Adrijana schlug sich ertappt die Hand vor dem Mund. Sie sah Levarda entsetzt an.

»Interessant«, bemerkte Levarda, »und ich glaubte, wir wären Gäste.« Sie lächelte die Dienerin beruhigend an. »Ich werde mich hüten, eine falsche Bewegung zu machen. Ich fände es schade, wenn es dich auf Erden nicht mehr gäbe.«

Erleichtert kam die Magd zu ihr herüber. »Wo habt Ihr Eure Reisekleider, Mylady?«

Levarda deutete zum Becken, wo sie ihre nasse, aber saubere Kleidung hingelegt hatte.

Adrijana runzelte die Stirn. »Was habt Ihr getan? Ihr benehmt Euch wirklich eigenartig«, tadelte die Magd.

Levarda befand sich in einer misslichen Lage. Die Chance, ihre Kleidung schnell zu trocknen und wieder anzuziehen, war vertan. Es blieb ihr nichts anderes, als sie über dem Kamin zu trocknen.

»Stellt Euch vor, Lord Otis wäre nichts eingefallen, dann hättet Ihr jetzt nichts zum Anziehen gehabt.«

»Du hast etwas für mich?« Neugier flammte in Levarda auf. Wie hatte er das Problem so zügig gelöst?

Das Mädchen strahlte. »Ja, und glaubt nicht, es wäre einfach gewesen. Der Herr war schlechter Laune, weil er sich mit der kleinen Wanne begnügen musste. Und dann wurde er zornig, als er hörte, Ihr hättet keine Kleidung. Zum Glück fiel ihm ein, weshalb Ihr keine mehr habt, denn mir verschlug es vor lauter Angst die Sprache.«

Eben in diesem Moment hörte Levarda die Schritte von Männern, die ächzend etwas Schweres auf den Boden stellten.

Adrijana fuhr herum. »Bleibt hier, Mylady, rührt Euch nicht. Ich hole Euch, wenn Ihr rauskommen könnt.« Flink huschte sie aus dem Raum.

Amüsiert über den Eifer des Mädchens holte Levarda ihren Kamm aus der Tasche, setzte sich auf die einfache Holzbank, die vor dem Kamin stand, und begann, die Knoten aus ihrem Haar zu entfernen.

Sie war gerade damit fertig, als die Magd mit einem Kleid hereinkam. Ihr Gesicht war auf der eigentlich unverletzten Seite krausgezogen, und es gefiel Levarda, wie offen das Mädchen seine Stimmungen zeigte. Es schien unzufrieden mit der gebotenen Kleiderauswahl zu sein, wohingegen Levarda die Machart des Kleides sofort in ihren Bann zog.

Sie stand auf und nahm es der Dienerin aus der Hand. Ganz eindeutig – ein Gewand aus Mintra, mit seinem lebendigen Gewebe. Ihre Finger glitten über den weichen Stoff. Es war in einem dunklen, fast schwarzen Rot gehalten, ein Kleid vom Element Feuer, mit langen Ärmeln sowie einer Schnürung bis knapp unter Schlüsselbeinhöhe, wo es in einer Rundung endete.

»Das ist altmodisch und zeigt nichts von Eurer Weiblichkeit«, maulte die Magd, als Levarda in das Kleid schlüpfte. »Ich hoffe nur, die anderen Kisten erweisen sich als ergiebiger, sonst habe ich eine Menge Arbeit vor mir, bis alle Kleider umgenäht sind.«

Levarda schwieg, fühlte intensiv das Prickeln des Stoffes auf ihrer Haut. Die Energie ihres Feuers verband sich direkt mit dem Kleid und ließ den Stoff matt glänzen.

»Hmm, der Stoff ist hübscher als ich dachte, daraus lässt sich etwas machen. Nur der Ausschnitt muss tiefer, die Schnürung von vorne nach hinten, eine Perlenverzierung an die Brust …«

Levarda hörte nicht mehr zu. Sie rannte aus dem Raum in das Schlafzimmer, wo jetzt drei Kisten an der Wand standen. Eine war geöffnet und enthielt weitere Kleider. Levarda jauchzte vor Freude, hüpfte, tanzte, drehte sich einmal im Kreis, sah die Tür und brach abrupt ihren Tanz ab.

Im Türrahmen lehnte Lord Otis, das Haar noch feucht, in enganliegender schwarzer Hose, halb offenem weißen Hemd und Stiefeln. Seine Augen glitzerten, seine flammende Aura leckte zu ihr herüber.

Hastig senkte Levarda ihren Kopf und umzog sich mit einem Schutzschild.

»Anscheinend macht Ihr Euch doch etwas aus Kleidung«, schnaubte er verhalten. »Weshalb habt Ihr damals nichts gesagt?«, fügte er gereizt hinzu.

Levarda zuckte die Achseln. Was sollte sie auch sagen? Sie hatte versucht, einige Habseligkeiten zu retten. Er hatte ihr befohlen, von dem Wagen herunterzukommen. Als ob er ihr zugehört hätte in diesem Moment des Aufbruchs. Aber es war einfacher, ihr die Schuld zu geben, anstatt einen Fehler einzugestehen oder sich zu entschuldigen.

»Bernar, Mitas!«, er winkte den zwei Dienern, die hinter ihm standen. »Normalerweise würde ich Euch nicht stören, aber meine Knechte, die Euch die Kisten brachten, sagten mir, Ihr wäret anderweitig beschäftigt.« Sein Blick glitt zur Tür, wo Adrijana stand, ebenfalls mit gesenktem Kopf.

»Vielleicht war es keine gute Idee, Euch Adrijana als Magd zu geben.«

»Doch, Mylord, eine ausgezeichnete. Gebt ihr nicht die Schuld für mein mangelhaftes Benehmen«, erwiderte Levarda und erntete von Adrijana einen dankbaren Blick.

»Wir werden sehen. – Ich benötige einige Dinge aus meinem Raum.« Er durchquerte das Zimmer mit langen Schritten. Während er Bücher, Papiere und Schreibzeug aus dem Regal zog und vom Tisch nahm, beobachtete ihn Levarda. Die Diener verstauten hastig alles in einer Kiste.

Es geschah fast geräuschlos, und ihr war schnell klar, weshalb. In jeder seiner Bewegungen konnte sie Lord Otis‘ Gereiztheit und Ungeduld spüren. Seine Diener kannten vermutlich seine Launen zur Genüge und wussten mit ihnen umzugehen.

Levarda betrachtete den Rücken des Mannes, sah, wie die Muskeln sich unter seinem Hemd bewegten. Der Anblick irritierte sie. Sein gesamter Körperbau war der eines Kriegers. Sie konnte sich ihn beim besten Willen nicht lesend am Kamin oder am Schreibtisch sitzend vorstellen. Doch hier stand er vor ihr, blätterte mit gerunzelter Stirn einige Schriftstücke durch, scheinbar unschlüssig, ob er sie benötigte oder nicht.

»Weshalb beobachtet Ihr mich?«, fragte er unvermittelt mit scharfer Stimme, hob den Kopf und sah sie an.

Gefangen von seinem Anblick konnte sie ihre Augen einfach nicht abwenden. Sein frisch rasiertes Gesicht mit der Narbe faszinierte sie in seiner Verschlossenheit. Sie fragte sich, ob er diese immer so zur Schau trug oder ob sich das Bild veränderte, wenn er schlief. Erschrocken über ihre eigenen Gedanken senkte sie die Augen, das kleine Licht in ihrem Innern begann zu strahlen und breitete sich aus. Ehe sie es verhindern konnte, entzündete sich daran ihr Feuer und die Energie setzte sich in dem Kleid fort. Sie wusste, dass sie den Vorgang nicht mehr bremsen konnte. Hastig ging sie zum Kamin, in der Hoffnung, dass das Flackern ihres Kleides als eine Reflexion der Flammen erscheinen würde. Sie setzte sich in den Sessel, faltete ihre Hände und konzentrierte sich auf die Erregung in ihrem Innern. Es war unglaublich, welche Energie dieses kleine Licht besaß. Sie machte gar nicht erst den Versuch, es einzufangen, sondern packte das Element Erde darum herum, in dem es sich genügsam einkuschelte.

»Verzeiht, es war nicht meine Absicht, Euch anzustarren.« Sie ärgerte sich, dass es ihr so schwerfiel, sich in seiner Gegenwart wie eine Lady zu verhalten. »Vielleicht liegt es an dem Raum«, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf, die Sache anzusprechen. »Es macht mir nichts aus, wenn mein Gemach klein ist, darum bitte ich Euch, mich umzuquartieren. Außerdem würde ich Euch gern den Umstand ersparen, dass Ihr hier alles herausräumen müsst.«

»Es gibt keinen anderen Raum für Euch, wir werden uns beide damit arrangieren müssen.« Sein Ton ließ keinen weiteren Widerspruch zu. »Er besitzt Vorteile, die Ihr sicherlich bald zu schätzen wisst.«

Levarda hob den Kopf und sah zu dem angrenzenden Zimmer mit dem Wasserbecken. Er folgte ihrem Blick.

»Oh, nicht nur das«, setzte er mit einem Bedauern in seiner Stimme hinzu. Auf seinen Wink packten die Diener die beiden Kisten, die sie inzwischen fast vollständig gefüllt hatten und gingen gemeinsam mit ihrem Herrn zur Tür. Lord Otis drehte sich im Rahmen noch einmal um.

»Das Kleid, das Ihr da anhabt, steht Euch.«

Tiefe Röte suchte sich ihren Weg über Levardas Wangen. Das Licht in ihrem Innern hüpfte wild umher. Es entwischte der erdigen Aufsicht, und ein neues Flammenmeer ließ den Stoff lebendig schimmern.

Zum Glück hatte sich die Tür bereits hinter ihm geschlossen.


In der Nacht wachte Levarda stöhnend auf. Erschrocken fuhr sie hoch, um sich gleich in die Kissen fallenzulassen. Sie legte die Hand über ihre Augen.

Dieser Traum war furchtbarer als jeder Albtraum, den sie je gehabt hatte. Sie spürte noch immer die Erregung als Widerhall in ihrem Körper. Eine Gänsehaut hatte sich auf ihren Armen gebildet. Sie rollte sich zusammen, verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Verdammt, selbst diese Kissen rochen nach ihm. Wuschen seine Diener denn nicht die Bettwäsche, bevor sie jemand anderen darin schlafen ließen?

Verstört sprang sie aus dem Bett. Hier würde sie diese Nacht kein Auge zu bekommen, nicht bei diesen beschämenden Gedanken. Was war nur los mit ihr? Sie war doch kein kleines Mädchen mehr! Vor ihr stand eine schwierige Aufgabe, auf deren Erfolg so viele hofften – und sie träumte von der Liebe.

Erregt lief sie auf und ab. Dann setzte sie sich in den Sessel, nahm ihr Amulett in die Hand und ließ die überschäumende Energie aus ihrem Körper hineinfließen. Als Nächstes knöpfte sie sich die durch Sendads Verletzung geleerten Heilsteine vor. Einen nach dem anderen füllte sie mit der Kraft und spürte, dass sich langsam Ruhe in ihr ausbreitete.

Sie sah auf das Bett, verwarf aber den Gedanken, sich dort zum Schlafen zu legen, sofort wieder. Stattdessen nahm sie sich ihren Reiseumhang, den Adrijana vor dem Kamin zum Trocknen aufgehängt hatte, schob die Sessel beiseite und rollte sich auf dem Fell ein. Ihren Umhang benutzte sie als Decke. Die Augen auf das Spiel der Flammen gerichtet, schlief sie ein.


»Guten Morgen, Mylady!«

Levarda hörte, wie die Vorhänge vom Fenster zurückgezogen wurden.

Ein Kreischen durchschnitt die Stille, gefolgt von Männerschritten, die ins Zimmer stürmten. Erschrocken richtete sie sich auf. Adrijana stand mit der Hand über dem Mund vor dem leeren Bett. Zwei Soldaten liefen mit gezücktem Schwert im Raum herum und suchten ihn hektisch ab.

»Ich bin hier«, meldete sich Levarda verschlafen.

Drei Augenpaare starrten sie verdutzt an. Die Männer grinsten – zwei aus Sendads Truppe – und nickten ihr kurz zu. Dann war sie wieder allein mit ihrer Magd.

»Es tut mir so leid, dass ich dich immer in Verlegenheit bringe«, entschuldigte sich Levarda. Sie erhob sich und ließ sich in den Sessel fallen. Ihre nackten Füße schob sie unter ihren Po und legte den Umhang um sich.

Das Fell war nicht so bequem gewesen, wie sie es gehofft hatte, der Fußboden war in diesem Zimmer aus Stein, härter als die warme Erde. Aber immerhin hatte sie geschlafen – ohne verwirrende Träume. Sie gähnte verschlafen.

Adrijana klatschte in die Hände, die Tür öffnete sich und ein Mädchen kam mit einem Tablett herein, von dem es köstlich duftete.

Sobald es auf dem Tisch neben Levardas Sessel stand, stürzte sich Levarda hungrig auf das duftende, warme Brot mit kaltem Fleisch. Zusätzlich gab es eine Schüssel mit klein geschnittenen Äpfeln, Beeren und Trauben, eine heiße Suppe aus Milch mit gepresstem Hafer und einem Klecks Honig. Adrijana machte derweil ihr Bett, öffnete auch den Vorhang an dem Fenster, das in die andere Richtung blickte. Sonnenlicht flutete durch den Raum, und wohlig reckte Levarda sich den warmen Strahlen entgegen.

Nachdem sie alles bis auf den letzten Krümel aufgegessen hatte, ging sie in das Zimmer mit dem Wasserbecken. Dort stand eine Waschschüssel für sie bereit.

Kaum war sie mit dem Waschen fertig, betrat Adrijana den Raum mit einem Kleid für sie, diesmal aus einer der anderen Kisten, wie Levarda enttäuscht feststellte. Sie überlegte kurz, ob sie sich ein anderes Kleid aus der mintranischen Truhe aussuchen sollte, entschied sich aber dagegen. Die neue Energiequelle in ihr war einfach zu unberechenbar und sie war den Umgang mit ihr nicht gewohnt.

Adrijana musste Levarda beim Anziehen all der Kleidungsschichten helfen. Allein hätte sie sich niemals zurechtgefunden. Im Gegensatz zu den Kleidern aus Mintra besaß das Oberteil eine Schnürung hinten. Sie fragte sich, wer sich so einen Blödsinn ausgedacht hatte. Die Gesamtlänge und die Ärmellänge passten, der Brustumfang und die Taille waren zu weit, aber das störte Levarda nicht.

»Hmm«, machte Adrijana mit schiefgelegtem Kopf, »das lässt sich leicht beheben. Erstaunlich, dass Euch die Sachen beinahe passen. – Der Herr hat ein gutes Augenmaß!«

Levarda hatte nachgedacht, ob sie es alleine schaffen würde, das Kleid auszuziehen, und hatte nicht hingehört.

»Was?«, merkte sie jetzt auf, »worin hat er ein gutes Augenmaß?«

»Was Euren Körperbau betrifft«, sagte Adrijana unschuldig und faltete das Gewand im Rücken, um eine Nadel hineinzustecken.

Levarda erstarrte bei dem Gedanken, woher er ihre Maße hatte.

»Macht Euch nicht so steif, Ihr wollt doch, dass Euer zukünftiger Gemahl etwas zum Sehen hat.«

»Was?!« Das war zu viel. Levarda riss sich von der Magd los. »Du brauchst das Kleid nicht zu ändern, es ist in Ordnung so!«

»Nein«, widersprach diese ungerührt, »auf keinen Fall bleiben die Kleider so. Der Herr würde mir das nie durchgehen lassen.«

»Unfug! Dem Herrn ist es völlig egal, wie ich herumlaufe.«

Levarda tat ihre Heftigkeit sofort leid und sie fügte versöhnlich hinzu: »Wie auch immer – er verschwendet keinen Blick an mich.«

»Das sah gestern Abend aber anders aus«, erwiderte die Magd vielsagend.

Levarda fuhr herum. »Wie meinst du das?«

Adrijana zuckte mit den Achseln und antwortete nicht auf die brüsk vorgebrachte Frage. »Verzeiht, Mylady, aber ich brauche das Kleid.«

Levarda verdrehte genervt die Augen. Widerwillig ließ sie sich beim Auskleiden helfen. Schrecklich, immer brauchte man jemanden. Sie schnappte sich das Kleid von gestern und zog es an, während sich die Dienerin auf einen kleinen Schemel ans Fenster hockte. Dort hatte sie einen Korb mit allerlei Nähutensilien und machte gleich die ersten Stiche.

Levarda ging zum Fenster und blieb dort stehen. Adrijana machte das äußerst geschickt. Schließlich zeigte sich die Magd gnädig.

»Aber Ihr versprecht, dass es unter uns bleibt«, kam sie auf Levardas Frage zurück.

Wortlos hob diese die Hand und legte sie auf ihr Herz. Die Dienerin sah offen zu ihr auf und lächelte verschwörerisch.

»Wie Ihr da gestern Abend am Kamin standet, mit gesenktem Kopf und doch so erhaben in Eurer Haltung! Der Schein des Feuers spiegelte sich auf Eurem Kleid«, ihre Augen glänzten schwärmerisch, »und Ihr saht wunderschön aus.«

Levarda schnaubte impulsiv. »Ich bin nicht schön«, widersprach sie.

Das Mädchen schwieg.

»Lady Smira ist schön«, fügte Levarda bekräftigend hinzu.

»Das stimmt«, gab Adrijana zu. »Selbst Rika war beeindruckt, und glaubt mir, so schnell lässt die sich von den Frauen, die der Herr hier anschleppt, nicht beeindrucken. Sie sind sowieso bald tot, sagt sie immer.«

Levarda erschreckte die Sachlichkeit der Dienerin, mit der sie von der Ermordung der Ehefrauen des hohen Lords sprach. Die Magd hatte es ohne besondere Emotion gesagt. War es so eine Selbstverständlichkeit, dass sich der Herrscher von Forran jedes zweite Jahr eine andere Tochter aus einem Herrschaftshaus holte? Wäre sie bald selbst nur eine verschwommene Erinnerung für das Mädchen? Wie lange würden die Häuser dabei überhaupt mitspielen? Und wie mochten die anderen Familien zu ihren Kindern stehen? Lord Blourred – da war sie sich sicher – würde den Tod von Smira nicht einfach hinnehmen.


Levardas Volk lebte seit langer Zeit außerhalb des politischen Gefüges. Die Mintraner hatten sich in die tiefen, unwegsamen Wälder östlich des Asambra zurückgezogen. Die Machtkämpfe der Herrschaftshäuser von Forran und zwischen den Ländern interessierten sie nicht, auch nicht, dass Lord Blourred ihr Gebiet offiziell zu seinem Herrschaftsgebiet zählte.

Es war Tibanas Entscheidung gewesen, den Heiratsantrag von Lord Blourred anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Vater der Vorsitzende des Ältestenrates von Mintra gewesen. Nur aus diesem Grund leitete Lord Blourred irrtümlicherweise seine Ansprüche auf das Gebiet ab – als ließe sich Land besitzen.

Niemand in Mintra hatte sich bemüßigt gefühlt, ihn aufzuklären. Stattdessen schwanden die Grenzen zum Gebiet der Mintraner unmerklich. Nur, wem Erlaubnis erteilt war, konnte das Land betreten. Wer sie nicht hatte, ging durch einen Wald, ohne je die andere Seite zu erreichen, und kam stattdessen an einem anderen Ende wieder heraus. Demjenigen erschien es dann, als habe er den Wald durchschritten, doch war er einem weiten kreisförmigen Bogen gefolgt, dessen Inneres verborgen lag.


Levarda beschloss, die Offenheit ihrer Magd als Informationsquelle zu nutzen, »Diese Rika«, tastete sie sich vor, »nimmt sich für eine Dienerin viel heraus.«

Adrijana zuckte mit den Schultern. »Für die Bettzofe eines unverheirateten Lords nicht ungewöhnlich.«

Levarda stutzte, aber Adrijana fuhr unbeirrt mit dem Nähen fort.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739498645
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Young Adult Heroric Fantasy Historische Fantasy Magie der Elemente Sword England Low Fantasy Romantische Fantasy Mittelalter Romantasy Historisch Fantasy

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Licht und Dunkelheit: Levarda