In meinen Ohren klang es wie ein Stöhnen. Unwillkürlich spannte ich jeden Muskel in meinem Körper an. Ich spürte, wie mir der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab rann. Die nächste Kontraktion kam. Ich hielt die Luft an.
»Verflucht, Vera, so bist du mir überhaupt keine Hilfe. Im Gegenteil. Willst du, dass sie mir den Arm bricht?«, schimpfte Dr. Brenner. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot und auch ihm perlte der Schweiß von der Stirn. Sein einer Arm steckte bis zur Schulter in der Stute. Tamira fohlte zum ersten Mal, und ausgerechnet bei ihr hatte das Fohlen nicht die normale Geburtsposition eingenommen. Statt mit den Vorderbeinen zuerst durch den Geburtskanal zu kommen, kam es mit der Hinterhand voran. Ich sah, dass die Stute am Ende ihrer Kräfte war. Ihr Kopf lag in meinem Schoß, Schweißperlen tropften auf meine Hand. Die Nüstern waren zusammengezogen. Die Bilder aus der Vergangenheit krochen in meine Gedanken. Die Erinnerung raubte mir die so dringend notwendige Ruhe, die die Stute brauchte, um die Geburt heil durchzustehen, und die Dr. Brenner von mir erwartete, damit er seinen Job machen konnte, ohne dass ihm die Kontraktionen durch die Wehen den Arm brachen. Ich wusste, welche Kräfte durch die Muskulatur im Geburtskanal einer Stute auf einen einwirken konnten. Tief durchatmend verscheuchte ich meine Erinnerungen, konzentrierte mich ganz auf das Hier und Jetzt. Leise begann ich, ein Lied zu summen. Nicht für das Pferd. Pferde kommunizieren als Fluchttiere über den Körper, statt durch Laute. Für mich tat ich es, weil das Lied mich entspannte und beruhigte. Ich massierte sanft den Mähnenkamm von Tamira, kraulte sie hinter den Ohren. Ihre aufgeblähten Nüstern, ihre Augen, die sie immer wieder voller Panik verdrehte, sodass das Weiß darin sichtbar wurde, riefen die Ängste aus der Vergangenheit wach. Ich wollte kein weiteres Pferd verlieren, nicht eines, das gerade mal acht Jahre alt war.
Papa hockte neben Dr. Brenner und assistierte ihm. Er hatte schon viele Fohlen auf die Welt kommen sehen, und auch bei mir waren es in den Jahren, in denen ich auf dem Hof aufgewachsen war, unzählige gewesen. Nur zehn Fohlen hatten wir in all der Zeit verloren und drei Stuten. Jeder einzelne Tod hatte seine Spuren hinterlassen. Die Natur forderte ihren Preis, trotz all der tierärztlichen Möglichkeiten, die die heutige Zeit bot. Papas Blick war konzentriert. Von uns allen war er der Gelassenste, worüber ich froh war. Mit seinem Herzinfarkt vor knapp einem Jahr hatte er mir einen Mordsschreck eingejagt, und gleichzeitig hatte dies den Beginn eines neuen Lebensabschnitts für mich bedeutet.
Nach dem tödlichen Unfall von Flying High auf dem CHIO in Aachen, bei dem auch ich schwere Verletzungen davongetragen hatte, war ich von zu Hause geflüchtet. Papas Gesundheitszustand hatte mich zurückgebracht. Nach und nach war mir bewusst geworden, wie unglücklich ich ohne Pferde in meinem Leben war, doch Henning, der mich bis zum Limit pushte, verdanke ich es, dass ich den Weg zurück in mein altes Leben fand. Er machte mir klar, dass Pferde ein Teil meines Lebens sind und dass ich, wenn ich versuchte, sie auszuschließen, mich selbst ausschloss.
»Es kommt«, flüsterte Papa.
Tamiras Kopf kam hoch, als eine neue Kontraktion ihren Leib erfasste, und dann rutschte das Fohlen heraus, eingehüllt in die Eihaut, die sofort aufplatzte. Daraus kam ein feuchtes Fellknäuel mit vier unglaublich langen, staksigen Beinen zum Vorschein, fuchsfarben wie seine Mutter und sein Vater. Das erste Fohlen von Duke hatte das Licht der Welt erblickt.
Ich wischte mir die Tränen von der Wange. Am liebsten hätte ich vor Freude aufgeschrien, doch ich wollte Tamira nicht erschrecken.
Die Stute schwang sich auf, schob die Vorderbeine nach vorn. Ich sprang zur Seite, und auch Dr. Brenner und Papa gaben ihr Raum. Sie brauchte einen Moment, dann stand sie, Schaum vor der Brust und ihr Gesicht genauso schweißgebadet wie unsere Gesichter. Sie schüttelte sich einmal, dann wandte sie sich ihrem Fohlen zu, schnupperte, prustete und stupste es an. Im Gegensatz zu seiner Mutter schob das Fohlen erst sein Hinterteil in die Höhe. Es wankte, fiel hin, versuchte es erneut, diesmal zuerst mit den Vorderbeinen.
»Es ist eine Stute.« Dr. Brenner grinste über beide Backen, während er sich den Gummihandschuh auszog. »Eine echte Kämpferin. Schau, sie steht.«
Als hätten wir es nicht selbst gesehen. Doch so wie wir liebte er diesen Moment, wenn ein neues Leben seine ersten wackeligen Schritte wagte. Fordernd stupste das kleine Wesen die Flanke seiner Mutter an. Tamira folgte ihren Instinkten. Auch das war nicht selbstverständlich. Wir lauschten dem schmatzenden Saugen.
»Das erste Fohlen auf deinem Hof. Wie willst du es nennen?«
Papa legte mir den Arm um die Schultern, und ich lehnte mich an ihn. In diesem Augenblick war die Welt perfekt für mich, und ich wusste, dass ich solche Momente sammeln musste, damit ich auf sie zurückgreifen konnte, wenn ich es nötig hatte.
»Diva.«
»Du bist noch hier? Ich dachte, du würdest Henning zu seinem Essen begleiten.«
Thomas! »Oh Scheiße!« Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn, woraufhin Diva einen kleinen Satz machte. »Das habe ich ja total vergessen.« Ich wandte mich zu Thomas um, der sich auf den Rand der Box stützte und tatsächlich einen verträumten Ausdruck im Gesicht hatte, während er das kleine Wesen betrachtete.
»Wie spät ist es?«
Ein spöttisches Grinsen kam auf seine Lippen, als er mich ansah. »Acht Uhr.«
»Mist, verfluchter«, stöhnte ich. Selten bat Henning mich um etwas. Er wusste, wie sehr mich die Arbeit auf dem Hof in Anspruch nahm. Anstatt gemeinsame Zeit einzufordern, unterstützte er mich bei den Pferden, so oft es sein anspruchsvoller Job zuließ. Handwerklich war er genauso geschickt wie Samson, den wir alle nur kurz Sam nannten, und die beiden verstanden sich bestens. Ohne Henning wäre ich in den letzten Monaten mehr als einmal so weit gewesen, alles hinzuschmeißen. Ich war froh, dass es ihn in meinem Leben gab. Und jetzt hatte er mich ein Mal gebeten, ihn zu einem Abendessen mit seinen Geschäftspartnern zu begleiten. Alan Webster war mit seiner Frau aus Kanada nach Deutschland gereist, und beide wollten mich gern kennenlernen. Mit ihnen verband Henning eine tiefe, respektvolle Freundschaft. Er hatte mir schon oft von seinem Mentor erzählt. Die Websters waren für ihn wie eine zweite Familie, und es bedeutete ihm viel, dass ich sie kennenlernte. Und was machte ich? Vergaß den Termin über meinen Pferden.
»Hat Henning dir nicht so ein geniales Smartphone zu Weihnachten geschenkt, auf dem du all deine Termine samt Erinnerungen einspeichern kannst?«
Das stimmte. Hastig zog ich es aus der Tasche. Warum hatte es nicht geklingelt, und warum hatte mich Henning nicht angerufen, um mich an den Termin zu erinnern, als ich nicht zu Hause aufkreuzte? Das Display war schwarz. Ich drückte auf die Taste, doch es blieb schwarz.
»Es hilft, wenn du es ab und an auflädst.«
Wütend sah ich Thomas an. Auf seine dummen Sprüche konnte ich verzichten.
»Keine Sorge. Ich denke, Therese wird sich bestens um deinen verwaisten Henning kümmern.«
Am liebsten wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen. Therese Vanderbilt, Geschäftspartnerin von Henning, war ein rotes Tuch für mich. Oft kam es mir vor, als würden sie und Henning mehr Zeit miteinander verbringen als Henning und ich.
»Geh, verschwinde.« Papa gab mir einen Schubs. »Ich rufe Henning an und sage ihm, dass du kommst.«
»Aber was ist mit Diva?«
»Mach dir keine Sorgen, Dr. Brenner und ich bekommen das allein hin. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass wir ein Fohlen auf die Welt gebracht haben, und ich verspreche, dir den Papierkram zu überlassen.«
Hastig drückte ich meinem Vater einen Kuss auf die Wange, sah ein letztes Mal zu dem Fohlen, das wieder mit wedelndem Schweif an den Zitzen seiner Mutter saugte. Dann rannte ich die Stallgasse hinunter.
»Das bringt dir jetzt auch nichts mehr!«, rief mir Thomas hinterher.
Noch während ich die Tür zu Hennings Wohnung aufschloss, streifte ich mir die Schuhe ab. Ich warf die Jacke auf den Boden, schlüpfte aus dem Sweatshirt, zog erst das eine Bein, dann das andere aus der Stretchjeans, sodass ich am Ende nur noch in Unterwäsche im Schlafzimmer ankam. Auf dem Bett lagen ein schwarzes, schlichtes Etuikleid, daneben eine noch verpackte Feinstrumpfhose sowie meine einzigen eleganten Schuhe, die sogar einen Miniabsatz aufwiesen. Ich hob den Zettel hoch, der auf dem Kleid lag. Nur ein Vorschlag, falls du nicht weißt, was du anziehen sollst, stand darauf, und dahinter hatte Henning einen Smiley gemalt. Typisch für ihn, er plante immer alles im Voraus.
Ich stellte die Dusche auf besonders heiß, nahm reichlich Shampoo und Duschgel, um auch den Rest des Pferdegeruchs loszuwerden. Meine Haare föhnte ich mir in Rekordzeit trocken und überdeckte die durch die Hektik hervorgerufenen roten Flecken in meinem Gesicht mit einer Spur Make-up. Keine Dreiviertelstunde später stand ich vor dem Restaurant – eineinhalb Stunden zu spät. Ich holte tief Luft und trat ein, um mich dem zu stellen, was mich erwartete. Ein Kellner kam mir lächelnd entgegen und nahm mir den Mantel ab, den ich passend zu dem Kleid ausgewählt hatte. Ebenfalls ein Geschenk von Henning. Ich selbst kaufte mir nur praktische und warme Kleidung.
»Möchten Sie auf Ihre Begleitung warten oder Platz nehmen?«
»Oh, meine Begleitung ist bereits hier und womöglich schon mit dem Essen fertig. Ich habe mich verspätet«, fügte ich entschuldigend hinzu und fragte mich gleichzeitig, weshalb ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen verspürte.
»Frau Kamphoven, korrekt? Sie gehören zu Herrn Sander?«
»Genau«, erwiderte ich perplex.
»Keine Sorge«, beruhigte er mich, »die Gäste sind gerade erst mit der Vorspeise fertig, und jetzt, wo Sie da sind, werden wir gleich den Hauptgang servieren. Herr Sander war so frei und hat für Sie das Lachsfilet à la Lord Nelson bestellt – oder möchten Sie ein anderes Gericht wählen?«
Einen Moment war ich sprachlos und wusste nicht, ob ich verärgert oder erleichtert sein sollte. Es war typisch für Henning, alles für mich zu organisieren. Als wäre ich seine kleine Schwester, die er als großer Bruder bevormunden musste.
Der Kellner wartete höflich auf meine Antwort. »Es ist genau das, was ich essen wollte.« Er konnte schließlich nichts dafür.
»Möchte Sie eine Vorspeise?«
»Nein, danke. Dafür werde ich beim Nachtisch zuschlagen.«
Er zwinkerte mir zu. »Das ist in jedem Fall die bessere Wahl.« Dann ging er voraus zum Tisch.
Henning trug einen schwarzen Anzug mit einem silbergrauen Hemd ohne Krawatte. Ich mochte ihn lieber in Jeans und T-Shirt oder, am allerliebsten, nackt im Bett. Hastig schob ich den unpassenden Gedanken beiseite. Wie immer wirkten seine blonden Haare zerzaust, was den strengen Businesslook auflockerte. Soeben lehnte Therese lachend ihren Kopf an seinen Oberarm, an dem sie sich untergehakt hatte. Eine vertrauliche Geste, die Henning in keiner Weise zu stören schien. Mir hingegen versetzte der Anblick einen Stich. Rasch fasste ich mich, als der Kellner höflich den letzten freien Stuhl für mich herauszog und sich am Tisch alle zu mir wandten. Mein Platz war zwischen Henning und einem Mann, der mir schemenhaft bekannt vorkam. Beide Männer standen gleichzeitig auf, als sie mich erblickten.
»Vera, schön dass du noch gekommen bist. Thomas hat mir eine SMS geschickt, dass du dich auf den Weg gemacht hast. Ich war so frei und habe dir etwas zum Essen bestellt. Lachs. Du kannst natürlich umbestellen, wenn du möchtest.«
Er zog mich in seine Arme und küsste mich flüchtig auf die Wange. Den Arm um meine Schultern gelegt, wandte er sich dem anderen Mann zu, der mir zulächelte.
»David Livingston, wollte unbedingt neben dir sitzen. Er startet für Kanada im Springreiten und hat früher mehr als einmal das Nachsehen gegen dich gehabt. Allerdings ritt er zu dem Zeitpunkt für England.«
David reichte mir die Hand und blinzelte mir vergnügt zu. »Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern«, versuchte er es in einer Mischung aus Englisch und Deutsch.
»Wir können Englisch miteinander sprechen«, schlug ich vor, worauf er dankbar grinste. »Ich erinnere mich, Dancing Girl, korrekt?«
Sein erfreutes Strahlen machte mich verlegen. Sein Name sagte mir wenig, die Stute hingegen stand mir lebhaft vor Augen.
»Das stimmt genau.«
»Reitest du sie immer noch?«
»Ja, Dancing Girl ist mit mir nach Kanada übergesiedelt.«
»Therese kennst du ja schon«, setzte Henning die Vorstellung fort. Diese nickte mir mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln zu. Henning fuhr fort: »Alan und Loreen. Sie hatten schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr kommen.«
Eine kleine Spitze, in ein charmantes Lächeln verpackt, sodass ich nicht wirklich beleidigt sein konnte. Dachte er. Ich löste mich aus seiner Umarmung, begrüßte erst Loreen und dann Alan, der ebenfalls aufgestanden war. Allesamt Männer mit Manieren. Um wie viel lieber war mir da die Gesellschaft von unserem schweigsamen Samson, dem Stallknecht auf dem Hof. Kaum hatten wir uns gesetzt, brachten zwei Kellnerinnen unser Essen.
Mir lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte zwar heute Mittag mit Papa Brote gegessen und mir mit ihm ein Stück Kuchen geteilt, aber das war vor dem Reiten, dem Misten und der Geburt des Fohlens gewesen. Blöderweise waren die Portionen in diesem Restaurant typisch exklusiv klein, auch wenn sie schön angerichtet waren.
Das Lachsfilet sah nicht nur lecker aus, sondern schmeckte auch hervorragend. Die Bandnudeln mit Blattspinat stillten meinen Hunger ein wenig. Als der Kellner mir Weißwein einschenken wollte, legte ich hastig meine Hand auf das Glas.
»Bitte nur Wasser.«
»Darf ich Ihnen noch ein paar Nudeln oder ein kleines Stück Lachs servieren?«
Dieser Mann musste Gedanken lesen können. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ganz und gar nicht. Wir freuen uns, wenn unseren Gästen das Essen schmeckt.«
»Sagen Sie dem Koch bitte, dass das Essen ausgezeichnet schmeckt – und das ist ein echtes Kompliment aus meinem Mund. Meine Mutter ist Köchin, was mich zu einer total verwöhnten Esserin gemacht hat.«
»Ich werde Ihr Kompliment gern an die Küche weitergeben.«
David grinste mich an, während mir Henning, unsichtbar für die anderen, in den Speckring an meiner Hüfte kniff. Dezent ignorierte ich die Andeutung. Schließlich waren das alles reine Muskeln.
»Henning erzählte uns, dass du die Pferdezucht seines Vaters fortführst«, wandte sich Alan an mich.
»Meines Vaters«, korrigierte ich ihn automatisch. Es hatte mir nie gepasst, dass Erich Sander in der Pferdewelt die Lorbeeren für die Arbeit meines Vaters einheimste. Alan schmunzelte.
»Ich meine«, stotterte ich, »mein Vater war immer für die fachliche Führung des Sander-Hofes zuständig. Erich stellte die finanziellen Mittel zur Verfügung.«
»Denkst du, wir könnten uns den Hof ansehen?« Loreen lächelte mich an. »Mein Bruder und ich brennen geradezu darauf, nicht wahr David?«
»Bruder?«, rutschte es mir heraus, bevor ich mich bremsen konnte. Zwischen den beiden lagen locker zwanzig Jahre.
Statt pikiert zu sein, lachte Loreen. »David ist der Nachzügler in unserer Familie. Das einzige Kind meines Vaters mit seiner zweiten Frau.«
»Mich würden vor allem die Verkaufspferde interessieren«, meldete sich David zu Wort.
»Da muss ich dich enttäuschen, die Jährlinge vom letzten Jahr sind alle verkauft. Alle Pferde, die noch auf dem Hof sind, setzen wir für die Zucht ein.«
»Was ist mit dem Fohlen?«
Verwirrt sah ich ihn an. »Welches Fohlen?«
»Na, das von heute.«
Meine Gedanken schweiften ab. Das erste Fohlen von Duke, niemals würde ich es hergeben, schon gar nicht direkt nach der Geburt. »Nein, tut mir leid, Diva ist nicht zu verkaufen.«
»Was genau ist dein Geschäftsmodell? Nur vom Verkaufen kannst du ja nicht leben«, klinkte Alan sich neugierig ein.
Langsam kam ich mir vor wie bei einem Verhör. Hatten sie denn nichts anderes, was sie besprechen mussten? Therese beugte sich zu Henning und wisperte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der grinste. Das lenkte mich von meinen Gesprächspartnern ab. Therese war eine der drei Geschäftsführer von IONIKS, dem Joint Venture der Familien Sander und Vanderbilt. Henning und Jake, der Sohn der Websters, bildeten den Rest der Troika. Im Gegensatz zu mir besaß Therese Vanderbilt den passenden Pedigree, um als Schwiegertochter für Erich Sander infrage zu kommen. Die enge Freundschaft zwischen Selina, der Frau von Thomas, einer rassigen, südländischen, schwarzhaarigen Schönheit, und Therese, der kultivierten Blonden à la Marlene Dietrich, überraschte mich oft. Sie wirkten nicht nur äußerlich gegensätzlich, sondern auch in ihren Interessen. Aber das hätte man auch von Bettina und mir sagen können. Unsere Freundschaft, die abrupt endete, als ich mich in der Nacht von zu Hause fortschlich, hatte sich in den letzten Monaten wieder intensiviert. Ohne ihr betriebswirtschaftliches Fachwissen und ihren offenen Umgang mit dem Finanzamt wäre ich in den letzten Monaten mehr als aufgeschmissen gewesen.
»Alan«, schalt Loreen ihren Mann sanft.
»Verzeih, Vera, ich bin Berater mit Leib und Seele. Mich interessiert es immer brennend, wie ein Unternehmen Geld verdient. Mit Pferden sein Geld zu verdienen, stelle ich mir schwierig vor. Gib mir die Chance, etwas von dir zu lernen.«
Ich musste lachen, was mir einen pikierten Blick von Therese und irritierte von den Websters einbrachte.
»Tut mir leid. Ich lache nicht über dich, Alan, nur über den Gedanken, dass ausgerechnet du etwas von mir lernen könntest. Henning erzählte mir, dass du im Laufe deiner beruflichen Karriere mehr als zehn marode Unternehmen gekauft und mit Profit wieder verkauft hast. Abgesehen von deiner Beratertätigkeit. Du hättest dich schon längst zur Ruhe setzen können, machst es aber nicht, weil du einfach zu viel Spaß an deiner Arbeit hast. Ich hingegen arbeite jeden Tag zwölf bis sechzehn Stunden und drehe jeden Cent dreimal um. Wenn jemand etwas lernen kann, dann ich von dir.«
Alan wirkte geschmeichelt. Ich hatte mir die Websters vollkommen anders vorgestellt. Längst nicht so sympathisch und bodenständig. In keiner Weise war ihnen anzumerken, dass sie über ein Vermögen verfügten, welches laut Hennings Andeutungen das der Sanders noch übertraf. Henning war als Austauschschüler in die Familie der Websters gekommen; seit dieser Zeit existierte die Freundschaft zwischen ihnen. Wann immer er von den Websters sprach, bekam seine Stimme diesen liebevollen, warmen Klang, den ich so liebte.
»Das denke ich nicht. Aber vielleicht können wir beide etwas voneinander lernen. Erklär mir die Geschäftsidee hinter deinem Hof.«
Tief in mir breitete sich ein warmes Gefühl aus. Zwei Jahre lang war ich vor meiner Berufung geflüchtet. Erst ein kräftiger Tritt von Henning in meinen Allerwertesten hatte mich zurück auf meinen Lebensweg gebracht.
»Die ist simpel: Das, was Pferde uns zu schenken bereit sind, zurückzugeben.«
»Wie pathetisch«, kommentierte Therese. »Dahinter steckt kein Business, lediglich Idealismus. Mit dieser Einstellung bist du innerhalb eines Jahres pleite.«
»Nein, gar nicht«, erwiderte Alan. »Im Gegenteil, Therese, es zeigt die Leidenschaft und die Liebe, die Vera für ihre Arbeit empfindet. Es ist kein Job, sondern eine Berufung. Das ist ein solides Fundament, auf dem sich ein langfristiges Geschäft aufbauen lässt.«