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Duke vertrau mir

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
370 Seiten
Reihe: Duke, Band 2

Zusammenfassung

»Ein guter Reiter hört, wie sein Pferd zu ihm spricht. Ein großartiger Reiter hört, wie sein Pferd zu ihm flüstert.« Wie kannst du je wieder einem Menschen vertrauen? Diese Frage stellte ich mir – bis zu dem Ausritt, bei dem Duke einem wildfremden jungen Mädchen zur Hilfe eilte. Jeder, der sieht, wie er über die Hindernisse fliegt, sagt mir, es sei falsch, ihn als Freizeitpferd auf dem Hof zu verstecken. Aber kann ich mir sicher sein, dass ich dem Erfolg widerstehe und Dukes Wohlbefinden für mich an erster Stelle steht, wenn es darauf ankommt? Wie geht es weiter mit mir und Henning? Wohin immer ich ihn begleite, bin ich eine Außenseiterin in einer mir fremden Welt, die mir nichts bedeutet. Wie kann ich von ihm verlangen, dass er ein Teil meines Lebens wird, wenn ich nicht bereit bin, ein Teil von seinem zu werden? Liebe bedeutet, zu vertrauen. Bin ich so mutig wie Duke?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


GEDICHT

Es ist Unsinn,

Sagt die Vernunft.

Es ist, was es ist,

sagt die Liebe.


Es ist Unglück,

sagt die Berechnung.

Es ist nichts als Schmerz,

sagt die Angst.

Es ist aussichtslos,

sagt die Einsicht.

Es ist, was es ist,

sagt die Liebe.


Es ist lächerlich,

sagt der Stolz.

Es ist leichtsinnig,

sagt die Vorsicht.

Es ist unmöglich,

sagt die Erfahrung.

Es ist, was es ist,

sagt die Liebe.


Erich Fried (1921–1988),

deutscher Schriftsteller

VORWORT

1996 kauften wir unsere Appaloosa Stute Silver Star. Ein Jahr später kauften wir ihr letztes Fohlen Commanche Billy Star. Beide Pferde haben viele Impulse in unserem Leben gesetzt und uns schöne Momente des Einsseins und des In-der-Erde-Verwurzeltsein beschert. Jeden Tag gehe ich zu unseren Pferden, füttere sie und miste. Jeden Tag genieße ich den Sonnenaufgaben mit ihnen oder die frühen Morgenstunden, manchmal lasse ich auch noch den Abend bei ihnen ausklingen. Nicht immer, aber oft komme ich bei ihnen zur Ruhe, lasse den Alltag hinter mir, bin ganz in mir und bei ihnen.

Pferde sind eine echte Aufgabe. Sie kosten Geld und viel Zeit. Neben Misten und Füttern müssen Zäune gemacht werden, Wiesen gemäht, Zaumzeug gepflegt, Hufe bearbeitet, Zähne geraspelt und Wurmkuren eingegeben werden. Das alles gehört zu dem Alltag eines Pferdemenschen. Wir halten unsere Pferde seit langer Zeit in einem Offenstall und sie haben eine große Weidefläche, auf der sie sich frei bewegen können. Pferde brauchen ständige Bewegung und damit ist nicht das Reiten gemeint.

Ich bin Freizeitreiterin und habe nicht den blassesten eines Schimmers, wie es ist in einem Turnier zu starten. Bei den Szenen in diesem Buch greife ich zurück auf die wenigen Erfahrungen, die ich durch Besuche auf solchen Veranstaltungen sammeln durfte sowie jede Menge Recherchearbeit. Ich bin absoluter Laie, was Pferde angeht. Die Pferde in diesem Buch reagieren viel schneller und leichter als in der Realität. Das manches funktioniert, weiß ich aus eigener Erfahrung, doch ob das auf andere Situation und Pferde übertragbar ist, weiß ich nicht. Mir ist wichtig, dass ihr daran denkt, wenn ihr das Buch lest, dass es eine fiktive Geschichte ist, verwoben mit meinen Erkenntnissen, die ich in den Jahren als Pferdebesitzerin sammeln durfte. Am meisten beigebracht hat mir meine Silver und mein Billy. Wenn ihr den Part mit Ranisa lest, dann sind das meine Erlebnisse mit Silver. Sie wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Sie hat mir mehr über das Leben beigebracht, als jeder Mensch.

1

ABENDESSEN

In meinen Ohren klang es wie ein Stöhnen. Unwillkürlich spannte ich jeden Muskel in meinem Körper an. Ich spürte, wie mir der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab rann. Die nächste Kontraktion kam. Ich hielt die Luft an.

»Verflucht, Vera, so bist du mir überhaupt keine Hilfe. Im Gegenteil. Willst du, dass sie mir den Arm bricht?«, schimpfte Dr. Brenner. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot und auch ihm perlte der Schweiß von der Stirn. Sein einer Arm steckte bis zur Schulter in der Stute. Tamira fohlte zum ersten Mal, und ausgerechnet bei ihr hatte das Fohlen nicht die normale Geburtsposition eingenommen. Statt mit den Vorderbeinen zuerst durch den Geburtskanal zu kommen, kam es mit der Hinterhand voran. Ich sah, dass die Stute am Ende ihrer Kräfte war. Ihr Kopf lag in meinem Schoß, Schweißperlen tropften auf meine Hand. Die Nüstern waren zusammengezogen. Die Bilder aus der Vergangenheit krochen in meine Gedanken. Die Erinnerung raubte mir die so dringend notwendige Ruhe, die die Stute brauchte, um die Geburt heil durchzustehen, und die Dr. Brenner von mir erwartete, damit er seinen Job machen konnte, ohne dass ihm die Kontraktionen durch die Wehen den Arm brachen. Ich wusste, welche Kräfte durch die Muskulatur im Geburtskanal einer Stute auf einen einwirken konnten. Tief durchatmend verscheuchte ich meine Erinnerungen, konzentrierte mich ganz auf das Hier und Jetzt. Leise begann ich, ein Lied zu summen. Nicht für das Pferd. Pferde kommunizieren als Fluchttiere über den Körper, statt durch Laute. Für mich tat ich es, weil das Lied mich entspannte und beruhigte. Ich massierte sanft den Mähnenkamm von Tamira, kraulte sie hinter den Ohren. Ihre aufgeblähten Nüstern, ihre Augen, die sie immer wieder voller Panik verdrehte, sodass das Weiß darin sichtbar wurde, riefen die Ängste aus der Vergangenheit wach. Ich wollte kein weiteres Pferd verlieren, nicht eines, das gerade mal acht Jahre alt war.

Papa hockte neben Dr. Brenner und assistierte ihm. Er hatte schon viele Fohlen auf die Welt kommen sehen, und auch bei mir waren es in den Jahren, in denen ich auf dem Hof aufgewachsen war, unzählige gewesen. Nur zehn Fohlen hatten wir in all der Zeit verloren und drei Stuten. Jeder einzelne Tod hatte seine Spuren hinterlassen. Die Natur forderte ihren Preis, trotz all der tierärztlichen Möglichkeiten, die die heutige Zeit bot. Papas Blick war konzentriert. Von uns allen war er der Gelassenste, worüber ich froh war. Mit seinem Herzinfarkt vor knapp einem Jahr hatte er mir einen Mordsschreck eingejagt, und gleichzeitig hatte dies den Beginn eines neuen Lebensabschnitts für mich bedeutet.

Nach dem tödlichen Unfall von Flying High auf dem CHIO in Aachen, bei dem auch ich schwere Verletzungen davongetragen hatte, war ich von zu Hause geflüchtet. Papas Gesundheitszustand hatte mich zurückgebracht. Nach und nach war mir bewusst geworden, wie unglücklich ich ohne Pferde in meinem Leben war, doch Henning, der mich bis zum Limit pushte, verdanke ich es, dass ich den Weg zurück in mein altes Leben fand. Er machte mir klar, dass Pferde ein Teil meines Lebens sind und dass ich, wenn ich versuchte, sie auszuschließen, mich selbst ausschloss.

»Es kommt«, flüsterte Papa.

Tamiras Kopf kam hoch, als eine neue Kontraktion ihren Leib erfasste, und dann rutschte das Fohlen heraus, eingehüllt in die Eihaut, die sofort aufplatzte. Daraus kam ein feuchtes Fellknäuel mit vier unglaublich langen, staksigen Beinen zum Vorschein, fuchsfarben wie seine Mutter und sein Vater. Das erste Fohlen von Duke hatte das Licht der Welt erblickt.

Ich wischte mir die Tränen von der Wange. Am liebsten hätte ich vor Freude aufgeschrien, doch ich wollte Tamira nicht erschrecken.

Die Stute schwang sich auf, schob die Vorderbeine nach vorn. Ich sprang zur Seite, und auch Dr. Brenner und Papa gaben ihr Raum. Sie brauchte einen Moment, dann stand sie, Schaum vor der Brust und ihr Gesicht genauso schweißgebadet wie unsere Gesichter. Sie schüttelte sich einmal, dann wandte sie sich ihrem Fohlen zu, schnupperte, prustete und stupste es an. Im Gegensatz zu seiner Mutter schob das Fohlen erst sein Hinterteil in die Höhe. Es wankte, fiel hin, versuchte es erneut, diesmal zuerst mit den Vorderbeinen.

»Es ist eine Stute.« Dr. Brenner grinste über beide Backen, während er sich den Gummihandschuh auszog. »Eine echte Kämpferin. Schau, sie steht.«

Als hätten wir es nicht selbst gesehen. Doch so wie wir liebte er diesen Moment, wenn ein neues Leben seine ersten wackeligen Schritte wagte. Fordernd stupste das kleine Wesen die Flanke seiner Mutter an. Tamira folgte ihren Instinkten. Auch das war nicht selbstverständlich. Wir lauschten dem schmatzenden Saugen.

»Das erste Fohlen auf deinem Hof. Wie willst du es nennen?«

Papa legte mir den Arm um die Schultern, und ich lehnte mich an ihn. In diesem Augenblick war die Welt perfekt für mich, und ich wusste, dass ich solche Momente sammeln musste, damit ich auf sie zurückgreifen konnte, wenn ich es nötig hatte.

»Diva.«

»Du bist noch hier? Ich dachte, du würdest Henning zu seinem Essen begleiten.«

Thomas! »Oh Scheiße!« Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn, woraufhin Diva einen kleinen Satz machte. »Das habe ich ja total vergessen.« Ich wandte mich zu Thomas um, der sich auf den Rand der Box stützte und tatsächlich einen verträumten Ausdruck im Gesicht hatte, während er das kleine Wesen betrachtete.

»Wie spät ist es?«

Ein spöttisches Grinsen kam auf seine Lippen, als er mich ansah. »Acht Uhr.«

»Mist, verfluchter«, stöhnte ich. Selten bat Henning mich um etwas. Er wusste, wie sehr mich die Arbeit auf dem Hof in Anspruch nahm. Anstatt gemeinsame Zeit einzufordern, unterstützte er mich bei den Pferden, so oft es sein anspruchsvoller Job zuließ. Handwerklich war er genauso geschickt wie Samson, den wir alle nur kurz Sam nannten, und die beiden verstanden sich bestens. Ohne Henning wäre ich in den letzten Monaten mehr als einmal so weit gewesen, alles hinzuschmeißen. Ich war froh, dass es ihn in meinem Leben gab. Und jetzt hatte er mich ein Mal gebeten, ihn zu einem Abendessen mit seinen Geschäftspartnern zu begleiten. Alan Webster war mit seiner Frau aus Kanada nach Deutschland gereist, und beide wollten mich gern kennenlernen. Mit ihnen verband Henning eine tiefe, respektvolle Freundschaft. Er hatte mir schon oft von seinem Mentor erzählt. Die Websters waren für ihn wie eine zweite Familie, und es bedeutete ihm viel, dass ich sie kennenlernte. Und was machte ich? Vergaß den Termin über meinen Pferden.

»Hat Henning dir nicht so ein geniales Smartphone zu Weihnachten geschenkt, auf dem du all deine Termine samt Erinnerungen einspeichern kannst?«

Das stimmte. Hastig zog ich es aus der Tasche. Warum hatte es nicht geklingelt, und warum hatte mich Henning nicht angerufen, um mich an den Termin zu erinnern, als ich nicht zu Hause aufkreuzte? Das Display war schwarz. Ich drückte auf die Taste, doch es blieb schwarz.

»Es hilft, wenn du es ab und an auflädst.«

Wütend sah ich Thomas an. Auf seine dummen Sprüche konnte ich verzichten.

»Keine Sorge. Ich denke, Therese wird sich bestens um deinen verwaisten Henning kümmern.«

Am liebsten wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen. Therese Vanderbilt, Geschäftspartnerin von Henning, war ein rotes Tuch für mich. Oft kam es mir vor, als würden sie und Henning mehr Zeit miteinander verbringen als Henning und ich.

»Geh, verschwinde.« Papa gab mir einen Schubs. »Ich rufe Henning an und sage ihm, dass du kommst.«

»Aber was ist mit Diva?«

»Mach dir keine Sorgen, Dr. Brenner und ich bekommen das allein hin. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass wir ein Fohlen auf die Welt gebracht haben, und ich verspreche, dir den Papierkram zu überlassen.«

Hastig drückte ich meinem Vater einen Kuss auf die Wange, sah ein letztes Mal zu dem Fohlen, das wieder mit wedelndem Schweif an den Zitzen seiner Mutter saugte. Dann rannte ich die Stallgasse hinunter.

»Das bringt dir jetzt auch nichts mehr!«, rief mir Thomas hinterher.


Noch während ich die Tür zu Hennings Wohnung aufschloss, streifte ich mir die Schuhe ab. Ich warf die Jacke auf den Boden, schlüpfte aus dem Sweatshirt, zog erst das eine Bein, dann das andere aus der Stretchjeans, sodass ich am Ende nur noch in Unterwäsche im Schlafzimmer ankam. Auf dem Bett lagen ein schwarzes, schlichtes Etuikleid, daneben eine noch verpackte Feinstrumpfhose sowie meine einzigen eleganten Schuhe, die sogar einen Miniabsatz aufwiesen. Ich hob den Zettel hoch, der auf dem Kleid lag. Nur ein Vorschlag, falls du nicht weißt, was du anziehen sollst, stand darauf, und dahinter hatte Henning einen Smiley gemalt. Typisch für ihn, er plante immer alles im Voraus.

Ich stellte die Dusche auf besonders heiß, nahm reichlich Shampoo und Duschgel, um auch den Rest des Pferdegeruchs loszuwerden. Meine Haare föhnte ich mir in Rekordzeit trocken und überdeckte die durch die Hektik hervorgerufenen roten Flecken in meinem Gesicht mit einer Spur Make-up. Keine Dreiviertelstunde später stand ich vor dem Restaurant – eineinhalb Stunden zu spät. Ich holte tief Luft und trat ein, um mich dem zu stellen, was mich erwartete. Ein Kellner kam mir lächelnd entgegen und nahm mir den Mantel ab, den ich passend zu dem Kleid ausgewählt hatte. Ebenfalls ein Geschenk von Henning. Ich selbst kaufte mir nur praktische und warme Kleidung.

»Möchten Sie auf Ihre Begleitung warten oder Platz nehmen?«

»Oh, meine Begleitung ist bereits hier und womöglich schon mit dem Essen fertig. Ich habe mich verspätet«, fügte ich entschuldigend hinzu und fragte mich gleichzeitig, weshalb ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen verspürte.

»Frau Kamphoven, korrekt? Sie gehören zu Herrn Sander?«

»Genau«, erwiderte ich perplex.

»Keine Sorge«, beruhigte er mich, »die Gäste sind gerade erst mit der Vorspeise fertig, und jetzt, wo Sie da sind, werden wir gleich den Hauptgang servieren. Herr Sander war so frei und hat für Sie das Lachsfilet à la Lord Nelson bestellt – oder möchten Sie ein anderes Gericht wählen?«

Einen Moment war ich sprachlos und wusste nicht, ob ich verärgert oder erleichtert sein sollte. Es war typisch für Henning, alles für mich zu organisieren. Als wäre ich seine kleine Schwester, die er als großer Bruder bevormunden musste.

Der Kellner wartete höflich auf meine Antwort. »Es ist genau das, was ich essen wollte.« Er konnte schließlich nichts dafür.

»Möchte Sie eine Vorspeise?«

»Nein, danke. Dafür werde ich beim Nachtisch zuschlagen.«

Er zwinkerte mir zu. »Das ist in jedem Fall die bessere Wahl.« Dann ging er voraus zum Tisch.

Henning trug einen schwarzen Anzug mit einem silbergrauen Hemd ohne Krawatte. Ich mochte ihn lieber in Jeans und T-Shirt oder, am allerliebsten, nackt im Bett. Hastig schob ich den unpassenden Gedanken beiseite. Wie immer wirkten seine blonden Haare zerzaust, was den strengen Businesslook auflockerte. Soeben lehnte Therese lachend ihren Kopf an seinen Oberarm, an dem sie sich untergehakt hatte. Eine vertrauliche Geste, die Henning in keiner Weise zu stören schien. Mir hingegen versetzte der Anblick einen Stich. Rasch fasste ich mich, als der Kellner höflich den letzten freien Stuhl für mich herauszog und sich am Tisch alle zu mir wandten. Mein Platz war zwischen Henning und einem Mann, der mir schemenhaft bekannt vorkam. Beide Männer standen gleichzeitig auf, als sie mich erblickten.

»Vera, schön dass du noch gekommen bist. Thomas hat mir eine SMS geschickt, dass du dich auf den Weg gemacht hast. Ich war so frei und habe dir etwas zum Essen bestellt. Lachs. Du kannst natürlich umbestellen, wenn du möchtest.«

Er zog mich in seine Arme und küsste mich flüchtig auf die Wange. Den Arm um meine Schultern gelegt, wandte er sich dem anderen Mann zu, der mir zulächelte.

»David Livingston, wollte unbedingt neben dir sitzen. Er startet für Kanada im Springreiten und hat früher mehr als einmal das Nachsehen gegen dich gehabt. Allerdings ritt er zu dem Zeitpunkt für England.«

David reichte mir die Hand und blinzelte mir vergnügt zu. »Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern«, versuchte er es in einer Mischung aus Englisch und Deutsch.

»Wir können Englisch miteinander sprechen«, schlug ich vor, worauf er dankbar grinste. »Ich erinnere mich, Dancing Girl, korrekt?«

Sein erfreutes Strahlen machte mich verlegen. Sein Name sagte mir wenig, die Stute hingegen stand mir lebhaft vor Augen.

»Das stimmt genau.«

»Reitest du sie immer noch?«

»Ja, Dancing Girl ist mit mir nach Kanada übergesiedelt.«

»Therese kennst du ja schon«, setzte Henning die Vorstellung fort. Diese nickte mir mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln zu. Henning fuhr fort: »Alan und Loreen. Sie hatten schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr kommen.«

Eine kleine Spitze, in ein charmantes Lächeln verpackt, sodass ich nicht wirklich beleidigt sein konnte. Dachte er. Ich löste mich aus seiner Umarmung, begrüßte erst Loreen und dann Alan, der ebenfalls aufgestanden war. Allesamt Männer mit Manieren. Um wie viel lieber war mir da die Gesellschaft von unserem schweigsamen Samson, dem Stallknecht auf dem Hof. Kaum hatten wir uns gesetzt, brachten zwei Kellnerinnen unser Essen.

Mir lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte zwar heute Mittag mit Papa Brote gegessen und mir mit ihm ein Stück Kuchen geteilt, aber das war vor dem Reiten, dem Misten und der Geburt des Fohlens gewesen. Blöderweise waren die Portionen in diesem Restaurant typisch exklusiv klein, auch wenn sie schön angerichtet waren.

Das Lachsfilet sah nicht nur lecker aus, sondern schmeckte auch hervorragend. Die Bandnudeln mit Blattspinat stillten meinen Hunger ein wenig. Als der Kellner mir Weißwein einschenken wollte, legte ich hastig meine Hand auf das Glas.

»Bitte nur Wasser.«

»Darf ich Ihnen noch ein paar Nudeln oder ein kleines Stück Lachs servieren?«

Dieser Mann musste Gedanken lesen können. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Ganz und gar nicht. Wir freuen uns, wenn unseren Gästen das Essen schmeckt.«

»Sagen Sie dem Koch bitte, dass das Essen ausgezeichnet schmeckt – und das ist ein echtes Kompliment aus meinem Mund. Meine Mutter ist Köchin, was mich zu einer total verwöhnten Esserin gemacht hat.«

»Ich werde Ihr Kompliment gern an die Küche weitergeben.«

David grinste mich an, während mir Henning, unsichtbar für die anderen, in den Speckring an meiner Hüfte kniff. Dezent ignorierte ich die Andeutung. Schließlich waren das alles reine Muskeln.

»Henning erzählte uns, dass du die Pferdezucht seines Vaters fortführst«, wandte sich Alan an mich.

»Meines Vaters«, korrigierte ich ihn automatisch. Es hatte mir nie gepasst, dass Erich Sander in der Pferdewelt die Lorbeeren für die Arbeit meines Vaters einheimste. Alan schmunzelte.

»Ich meine«, stotterte ich, »mein Vater war immer für die fachliche Führung des Sander-Hofes zuständig. Erich stellte die finanziellen Mittel zur Verfügung.«

»Denkst du, wir könnten uns den Hof ansehen?« Loreen lächelte mich an. »Mein Bruder und ich brennen geradezu darauf, nicht wahr David?«

»Bruder?«, rutschte es mir heraus, bevor ich mich bremsen konnte. Zwischen den beiden lagen locker zwanzig Jahre.

Statt pikiert zu sein, lachte Loreen. »David ist der Nachzügler in unserer Familie. Das einzige Kind meines Vaters mit seiner zweiten Frau.«

»Mich würden vor allem die Verkaufspferde interessieren«, meldete sich David zu Wort.

»Da muss ich dich enttäuschen, die Jährlinge vom letzten Jahr sind alle verkauft. Alle Pferde, die noch auf dem Hof sind, setzen wir für die Zucht ein.«

»Was ist mit dem Fohlen?«

Verwirrt sah ich ihn an. »Welches Fohlen?«

»Na, das von heute.«

Meine Gedanken schweiften ab. Das erste Fohlen von Duke, niemals würde ich es hergeben, schon gar nicht direkt nach der Geburt. »Nein, tut mir leid, Diva ist nicht zu verkaufen.«

»Was genau ist dein Geschäftsmodell? Nur vom Verkaufen kannst du ja nicht leben«, klinkte Alan sich neugierig ein.

Langsam kam ich mir vor wie bei einem Verhör. Hatten sie denn nichts anderes, was sie besprechen mussten? Therese beugte sich zu Henning und wisperte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der grinste. Das lenkte mich von meinen Gesprächspartnern ab. Therese war eine der drei Geschäftsführer von IONIKS, dem Joint Venture der Familien Sander und Vanderbilt. Henning und Jake, der Sohn der Websters, bildeten den Rest der Troika. Im Gegensatz zu mir besaß Therese Vanderbilt den passenden Pedigree, um als Schwiegertochter für Erich Sander infrage zu kommen. Die enge Freundschaft zwischen Selina, der Frau von Thomas, einer rassigen, südländischen, schwarzhaarigen Schönheit, und Therese, der kultivierten Blonden à la Marlene Dietrich, überraschte mich oft. Sie wirkten nicht nur äußerlich gegensätzlich, sondern auch in ihren Interessen. Aber das hätte man auch von Bettina und mir sagen können. Unsere Freundschaft, die abrupt endete, als ich mich in der Nacht von zu Hause fortschlich, hatte sich in den letzten Monaten wieder intensiviert. Ohne ihr betriebswirtschaftliches Fachwissen und ihren offenen Umgang mit dem Finanzamt wäre ich in den letzten Monaten mehr als aufgeschmissen gewesen.

»Alan«, schalt Loreen ihren Mann sanft.

»Verzeih, Vera, ich bin Berater mit Leib und Seele. Mich interessiert es immer brennend, wie ein Unternehmen Geld verdient. Mit Pferden sein Geld zu verdienen, stelle ich mir schwierig vor. Gib mir die Chance, etwas von dir zu lernen.«

Ich musste lachen, was mir einen pikierten Blick von Therese und irritierte von den Websters einbrachte.

»Tut mir leid. Ich lache nicht über dich, Alan, nur über den Gedanken, dass ausgerechnet du etwas von mir lernen könntest. Henning erzählte mir, dass du im Laufe deiner beruflichen Karriere mehr als zehn marode Unternehmen gekauft und mit Profit wieder verkauft hast. Abgesehen von deiner Beratertätigkeit. Du hättest dich schon längst zur Ruhe setzen können, machst es aber nicht, weil du einfach zu viel Spaß an deiner Arbeit hast. Ich hingegen arbeite jeden Tag zwölf bis sechzehn Stunden und drehe jeden Cent dreimal um. Wenn jemand etwas lernen kann, dann ich von dir.«

Alan wirkte geschmeichelt. Ich hatte mir die Websters vollkommen anders vorgestellt. Längst nicht so sympathisch und bodenständig. In keiner Weise war ihnen anzumerken, dass sie über ein Vermögen verfügten, welches laut Hennings Andeutungen das der Sanders noch übertraf. Henning war als Austauschschüler in die Familie der Websters gekommen; seit dieser Zeit existierte die Freundschaft zwischen ihnen. Wann immer er von den Websters sprach, bekam seine Stimme diesen liebevollen, warmen Klang, den ich so liebte.

»Das denke ich nicht. Aber vielleicht können wir beide etwas voneinander lernen. Erklär mir die Geschäftsidee hinter deinem Hof.«

Tief in mir breitete sich ein warmes Gefühl aus. Zwei Jahre lang war ich vor meiner Berufung geflüchtet. Erst ein kräftiger Tritt von Henning in meinen Allerwertesten hatte mich zurück auf meinen Lebensweg gebracht.

»Die ist simpel: Das, was Pferde uns zu schenken bereit sind, zurückzugeben.«

»Wie pathetisch«, kommentierte Therese. »Dahinter steckt kein Business, lediglich Idealismus. Mit dieser Einstellung bist du innerhalb eines Jahres pleite.«

»Nein, gar nicht«, erwiderte Alan. »Im Gegenteil, Therese, es zeigt die Leidenschaft und die Liebe, die Vera für ihre Arbeit empfindet. Es ist kein Job, sondern eine Berufung. Das ist ein solides Fundament, auf dem sich ein langfristiges Geschäft aufbauen lässt.«

2

OBSESSION

Ich war hundemüde. Die Augen halb geschlossen, den linken, nackten Fuß auf den rechten gestellt, stützte ich mich auf die Waschkommode und putzte mir die Zähne. Die Haare hatte ich mit einem Gummiband in eine Form zwischen Pferdeschwanz und Dutt gebracht. Ich hasste es, wenn sie mir ins Gesicht hingen. Eine Kurzhaarfrisur wäre viel praktischer, wenn ich dafür nicht ständig zum Friseur rennen müsste. Mit der aktuellen Frisur brauchte ich das nur einmal alle zwei Jahre zu tun. Das Licht im Bad hatte ich gedimmt. Es ging bereits auf ein Uhr morgens zu, und mein Tag würde wie immer pünktlich um halb sechs beginnen. Ich hörte die Wohnungstür.

Als ich die Zahnpasta ausspuckte, mit Wasser nachspülte und den Kopf hob, sah ich im Spiegel, dass Hennig im Türrahmen stand. Das Jackett hatte er abgelegt, die obersten Knöpfe seines silbergrauen Hemdes standen offen. Sein zerzaustes Haar, die Art, wie er mich mit seinen schokoladenfarbenen Augen ansah, ließen meine Knie weich werden. Schlagartig wich die Müdigkeit aus meinen Knochen. Er sah mir das erwachende Verlangen an. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, als er langsam hinter mich trat. Seine Arme umschlossen meine Taille, er zog mich dicht an sich heran. Bereitwillig neigte ich meinen Kopf auf die Brust und schloss die Augen. Seine Lippen liebkosten meinen Nacken, sandten warme Schauer der Erregung durch meinen Körper. Ich würde auch mit vier Stunden Schlaf auskommen, entschied ich.

»Ich schwöre dir, eines Tages komme ich hinter das Geheimnis, warum ich dir nie lange böse sein kann, und warum du in deinem schlabberigen Sweatshirt, mit Flanellpyjamahose und deinen Haaren in diesem fusseligen Dutt noch mehr Sex-Appeal ausstrahlst als in dem schwarzen Etuikleid.«

Sein heißer Atem kitzelte auf meiner Haut. Es gab keine erotischeren Worte, die er mir hätte sagen können. Wie warmer, flüssiger Honig rannen sie durch meinen Magen in mein Herz. Das Gefühl, das dabei entstand, schnürte mir die Kehle zu, trieb mir die Tränen in die Augen. Bei Gott, wie konnte man nur einen Menschen so sehr lieben? Ich wollte mich umdrehen, meine Arme um seinen Nacken schlingen und ihn küssen, bis ich den Verstand verlor und aufhörte, über dieses Gefühl nachzudenken. Er hatte mir schon einmal das Herz gebrochen, nur dass ich es damals nicht verstanden hatte.

Er hielt mich fest, quälte mich weiter mit seinen Lippen, ließ seine Hände unter das Sweatshirt wandern, hoch zu meinen Brüsten. Scharf zog ich die Luft ein, als bei seiner Berührung eine Welle der Lust mein ohnehin hypersensibles Nervensystem überflutete. Er biss mir in den Nacken, ließ seine andere Hand zwischen meine Beine wandern. Unendlich langsam begann er, mich mit seinen Fingern zu reiben, wurde dann schneller und fester. Ich explodierte in einem Orgasmus.

Endlich ließ er es zu, dass ich mich zu ihm umdrehte. Hungrig bedeckte ich jede freie Hautstelle, die ich erreichen konnte, mit feuchten Küssen. Er hob mich in seine Arme, warf mich auf das Bett und entledigte sich im Eiltempo seiner Hose. Mit fiebrigen Händen machte ich dasselbe mit meiner Schlafanzughose. Ihn in mir zu spüren, hatte in den knapp zwei Jahren, die wir mehr oder minder zusammenlebten, seinen Reiz nie verloren. Er füllte mich aus und ließ mich alle Sorgen vergessen. Meine Hände wanderten von seinen Pobacken über seinen Rücken hoch zu seinen Haaren. Meine Finger verkrallten sich darin, als ich mir sein Gesicht holte, um ihn besinnungslos zu küssen. Ich liebte seinen Geruch, wenn wir uns liebten, den ich nie definieren konnte, der aber immer in unserer Bettwäsche hing, wenn er auf Geschäftsreise ging. Manchmal reichte allein dieser Geruch aus, um mich zu erregen.

Mein Kopf lag auf seiner Brust, unsere Beine waren ineinander verschlungen. Seine Finger glitten in einem angenehm entspannenden Rhythmus meinen Rücken hoch und wieder hinunter. Er küsste mein wirres Haar. Das Gummiband war abhandengekommen.

»Es tut mir leid, dass ich das Abendessen vergessen habe«, wisperte ich mehr schlafend als wach.


Wir beäugten uns, schätzten uns gegenseitig ab. Ich musste schmunzeln, als Obsession, das Trainingspferd, in ihrer Mimik erkennen ließ, was sie von mir hielt. Bereits bei ihrer Ankunft auf unserem Hof war mir für sie nur ein Begriff eingefallen: arrogant. Allein die Zusatzprodukte und die Liste, die uns die Besitzerin übergeben hatte, sprachen Bände. Vor mir stand eine verzogene Stute, die erwartete, dass sich die Welt um sie drehte und nicht andersherum. Sie verschmähte die schrumpeligen Äpfel aus dem Vorjahr, wühlte mit den Nüstern durch das Kraftfutter, als würde sie jedes Korn einzeln aussortieren wollen. Obsessions Körperbau war feingliedrig, elegant und schlank. Ihre Gänge, das, was sie mir bisher zu zeigen bereit gewesen war, wirkten akzentuiert, ja, tänzerisch. Als würde sie in ihrem Kopf eine Melodie hören, nach der sie sich bewegte. Ideale Voraussetzungen für ein Dressurpferd. Ein wenig hatte es mich überrascht, dass Tanja Wilhelm die Stute ausgerechnet von mir ausbilden lassen wollte. Papas und mein Schwerpunkt lag bei der Vielseitigkeit und dem Springen und nicht bei der Dressur. Als ich das zu bedenken gab, strahlte sie mich lediglich an.

»Ich bin ein großer Fan von Ihnen, Frau Kamphoven. Als ich Sie letztes Mal mit dem neuen Turnierpferd von Thomas auf dem Abreitplatz gesehen habe, war mir klar, dass ich niemanden anderes als Sie an meine Obsession heranlasse.« Sie warf der Stute einen liebevollen Blick zu und sprach dann weiter. »Dawinja ist ein schwieriges Pferd, und bei Ihnen sah alles unglaublich leicht aus. Diese Ruhe, die Sie ausstrahlten, und die Art, wie Ihnen die Stute am Ende vollkommen entspannt folgte! Ich glaube, Sie hätten nicht einmal den Führstrick benötigt.«

Ich holte Luft, um zu widersprechen, doch Frau Wilhelm, ich schätzte sie auf etwa Mitte vierzig, schüttelte lediglich energisch den Kopf.

»Sie sind eine ausgezeichnete Reiterin, Sie kennen sich mit der Dressur aus, da bin ich sicher, und mir geht es vor allem darum, dass Obsession sanft ausgebildet wird.«


Prima, da hast du dir ja mal wieder was eingebrockt, dachte ich grimmig, als mir Obsession das Hinterteil zudrehte und auskeilte. Eine verzogene Zicke mit über einer halben Tonne Lebendgewicht plus jeder Menge Energie. Sanfte Ausbildung. Warum sagte das niemand den Pferden? Ich nahm die Führleine, wedelte damit, was die Stute nicht im Mindesten interessierte. Kräftig schlug ich mit dem zusammengefassten Strick auf meine Oberschenkel. Immerhin, jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich. Meine Kommunikationsversuche liefen weiterhin ins Leere, bis ich den Führstrick durch die Luft wirbeln ließ. Obsession machte ein Satz, bekam von mir weiter Druck über meine Körperhaltung sowie meine Position zu ihr und startete einen langsamen, zögernden Trab. Voll konzentriert ging ich in unendlich winzigen Schritten an das Feintuning unserer Kommunikation. Jeden Ansatz von ihrer Seite in die von mir gewünschte Richtung belohnte ich, indem ich den Druck wegnahm. Jeder selbstständigen Entscheidung der Stute begegnete ich mit einer Erhöhung des Drucks durch straffe Körperhaltung und energiegeladene Schritte. Nach einer halben Stunde waren wir immerhin so weit, dass sie begriff, dass ich, der Zweibeiner in der Mitte des Longierzirkels, derjenige war, der das Tempo und die Manöver vorgab. Ich beendete die Arbeit und wandte mich ab.

Loreen Webster, bekleidet mit Jeans, Stiefeln und taillierter, weich gefütterter Jacke, kam zum Zirkel. Begleitet von David Livingstone im selben Outfit, nur dass er noch eine Kappe auf dem Kopf trug. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, grinste er mich an, als er meinen Blick bemerkte. Dann blieben beide stehen, sahen auf einen Punkt hinter meiner Schulter. Ich hielt die Luft an. Ja, es war meine Absicht gewesen, eine Verbindung zu Obsession aufzubauen. Mein Herz begann schneller zu klopfen, als ich ihren warmen Atem in meinen Nacken spürte. Egal wie oft am Tag ich ein Join-Up ausführte, egal wie viele Tausend Male ich es erlebt hatte, nie verlor es für mich seine Faszination, wenn sich ein Pferd mir anschloss. Schon gar nicht, wenn dieses Pferd dermaßen stur auf meine Kommunikationsversuche reagiert hatte wie die Stute. Im Stillen hatte ich mir für diese Aufgabe mindestens drei weitere Arbeitsrunden gegeben, vielleicht sogar fünf. Probehalber ging ich einen Schritt und seufzte. Natürlich war Obsession stehen geblieben. Sie ging weiter bis zum Zaun, machte den Hals Richtung Loreen lang. Der Ausdruck in Loreens Gesicht änderte sich, als hätte jemand einen Weichzeichner darübergelegt. Sie liebte Pferde. Ein fragender Blick ging in meine Richtung.

Ich nickte. »Klar.«

Sie streckte in einer Art und Weise die Hand aus, als würde sie ein kostbares, heiliges Relikt berühren wollen.

»Pass nur auf, ihre Besitzerin hat sie …« Meine Warnung kam zu spät, die Ohren angelegt, wollte Obsession nach Loreen schnappen. Geistesgegenwärtig gab David der Stute einen Klaps auf die Nüstern, was diese erschrocken wegspringen ließ. Zum Glück hatte ihre Besitzerin das nicht gesehen. Loreen stiegen die Tränen in die Augen, die sie rasch hinunterschluckte.

»Sorry, das war ein Reflex«, entschuldigte David sich zerknirscht. Offensichtlich war mir deutlich anzusehen, was ich dachte. Henning sagte immer, mein Gesicht spräche Bände. »Es wird eine Zeit dauern, ihr klarzumachen, dass sie ein Pferd ist.«

Die Stute wandte ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen auf dem Reitplatz zu, wo Papa mit The Lucky One und Melanie mit Lady Star arbeiteten. Ersterer war ein weiteres Turnierpferd von Thomas, Letztere eine Stute von uns, die wir im diesjährigen Bundeschampionat vorstellen wollten.

»David hat mir viel von dieser Join-Up-Methode erzählt, doch ich muss gestehen, ich habe es noch nie leibhaftig erlebt«, sagte Loreen. »Es war ein berührender Moment, als die Stute zu dir trottete. Dieses Vertrauen zu sehen, das sie dir entgegenbringt.«

»Ich denke, in diesem Fall war es eher Zufall. Obsession ist ein intelligentes, neugieriges Pferd. Sie war an euch beiden interessiert.«

»Nein, das denke ich nicht«, widersprach David. »Du hattest dich von ihr abgewendet. Die Stute zögerte, ging zu deiner Schulter und erst dann, als wäre es ihr bewusst geworden, was sie machte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf uns.«

Beide Geschwister hatten dieselbe haselnussfarbene Schattierung in ihren Haaren. Loreen trug sie in einem raffinierten, stufig geschnittenen Bob, David kurz und im Nacken anrasiert. Die Augen seiner Schwester waren schokoladenbraun, seine hingegen dunkelgrün mit braunen Sprenkeln. Beide hatten dieses verschmitzte, ja jugendlich anmutende Lächeln. Ich hoffte, dass ich eines Tages einmal genauso jung aussehen würde wie Loreen in ihrem Alter. Die geborene Engländerin, jetzt Kanadierin, wirkte in ihrem Outfit jung und sportlich. Mit dem Eintagesbart strahlte ihr Bruder für einen Engländer ungewohnte Lässigkeit und Sex-Appeal aus. Puh, seit wann fielen mir solche Sachen an Männern auf? Damals auf dem Turnier hatte ich den Reiter von Dancing Girl kaum wahrgenommen. Amüsiert blitzte es in seinen Augen auf, als hätte er meine Gedanken gelesen. Hastig wandte ich mich Loreen zu.

»Reitest du auch?«

»Früher einmal, doch nach einem Sturz, bei dem ich mir den Arm gebrochen hatte, habe ich aufgehört.«

Ich nahm die Sehnsucht in ihrem Blick wahr.

»Wenn du Lust hast, könnten wir am Spätnachmittag zusammen ausreiten.«

»Eine hervorragende Idee, darf ich euch begleiten?«, mischte sich David ein.

»Nein«, rutschte es mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte. Diesmal brannten mir die Wangen, als er mich mit fragend gehobenen Augenbrauen ansah.

»Im Stall stehen überwiegend Trainings- und Rehapferde. Ziehe ich unsere tragenden Zuchtstuten ab, bleiben im Grunde nur zwei Pferde übrig. Auf Duke kann niemand außer mir reiten, bleibt also nur noch eines.«

»Duke? Der Duke?«, hakte David nach.

Ich ignorierte die Frage, da ich in Loreens geweiteten Pupillen Angst wahrnahm. Ich kannte diese Angst – und die Sehnsucht.

»Ich würde dir den Vorschlag niemals unterbreiten, wenn ich bei Nobless unsicher wäre. Es gibt kein Pferd, dem ich mehr vertraue als ihr«, versicherte ich ihr. »Nach meinem Unfall hatte ich Angst, mich wieder auf ein Pferd zu setzen. Was hältst du davon, wenn wir erst einmal auf dem Reitplatz schauen, wie ihr beide miteinander klarkommt, und dann sehen wir weiter?«

Der letzte Satz gab den Ausschlag.

»Du bleibst an meiner Seite?«

»Ich werde dich führen, bis du sicher bist, dass du allein klarkommst.«

Loreens Augen begannen zu leuchten, ihre Lippen zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander. »Einverstanden.«

»Dann wäre das ja geklärt«, brachte sich David wieder in Erinnerung. »Du erwähntest vorhin Duke. Ist das der Hengst aus derselben Blutlinie wie dein damaliges Turnierpferd Flying High?«

»Ja«, antwortete ich knapp.

»Ich dachte, er hätte einen Unfall gehabt und wäre seitdem unreitbar? Wollte Henning ihn nicht sogar einschläfern lassen, weil er Menschen angreift?«

Seine Schwester wurde blass. Ich fühlte den alten Ärger in mir aufwallen. Der Gedanke daran, dass Henning die damalige Situation einem wildfremden Menschen anvertraut hatte, versetzte mir immer noch einen Stich. Tatsächlich waren er und Thomas kurz davor gewesen, Duke einschläfern zu lassen. Nur Papas Eingreifen verdanke ich es, dass die Situation an dem Abend nicht eskalierte. Dennoch war der Vorfall der Grund gewesen, weshalb es zu einem Bruch zwischen mir und Henning gekommen war. Und weil er mir verschwiegen hatte, dass er all die Zeit gewusst hatte, dass Thomas damals auf dem Turnier den Hufschmied bestochen hatte. Ein bewusst vernageltes Eisen sollte unseren Turnierstart verhindern. Doch ich war gestartet und Flying High für mich gesprungen. Zu viel meiner Zukunft hatte an dem Sieg gehangen, einschließlich der Tatsache, dass der Hengst damit mir gehört hätte. Am Ende verlor ich durch meine Ignoranz alles. Ich hatte meinen Partner verraten, mein Pferd, das für mich durchs Feuer gegangen wäre. Seine Treue zu mir kostete ihn sein Leben. Rasch verdrängte ich die aufsteigenden Schuldgefühle.

»Ja, hatte er, und nein, sonst könnte ich ihn wohl schlecht reiten.« Abrupt wandte ich mich ab und ging zu der Stute. Mir war klar, dass ich mich unhöflich verhielt. Sensibel nahm Obsession meine Stimmung auf und begann an meiner Hand zu tänzeln, als ich mit ihr zum Eingangstor ging. David öffnete es für mich, während sich Loreen hinter dem Rücken ihres Bruders verbarg. Keiner von beiden konnte etwas für das, was vor einer halben Ewigkeit geschehen war. Tief atmete ich durch.

3

DUKE

»Ich bringe Obsession in die Box, dann bekommt ihr eine kleine Führung durch unsere Anlage und ich erkläre das Geschäftsmodell. Was ist mit Alan? Kommt er noch?«

Loreen schüttelte den Kopf. »Er schafft es leider nicht. Er und Henning hängen in einer Besprechung fest.«

»Trainierst du heute noch ein Pferd? Womöglich sogar Duke beim Springen?« David schenkte mir ein entwaffnendes, sonniges Lächeln. Er war hartnäckig.

»Mein Vater«, ich deutet auf Papa, der auf dem Platz Lucky über unseren Trainingsparcours springen ließ, »hat das Springpferd von Thomas unter dem Sattel. Wenn du also an unserem Training interessiert bist …«

»Und der Rappe?«

»Lady Star ist die Stute, die wir beim Bundeschampionat vorstellen möchten. Melanie, unsere Auszubildende, reitet sie.«

»Hübsch. Sauber gesprungen, etwas nervös, aber mit viel Potenzial.«

»Für mich ist es gerade die Sensibilität von Lady, die ihre Stärke ausmacht; sie braucht nur eine Führungshand, der sie sich anvertrauen kann.«

David lachte. »Ich meinte eher die Reiterin, nicht die Stute.«

»Oh.« Ich räusperte mich, warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Ich konnte nur hoffen, dass Melanie, die sich ständig in alles verliebte, was auf zwei Beinen herumlief, dem Charme des Engländers standhielt. Andererseits war der Mann in ihren Augen vermutlich viel zu alt. »Melanie hat sich in den letzten Monaten unglaublich gemacht. Manchmal macht es sie nervös, wenn andere ihr zusehen.«

Tatsächlich warf Melanie in diesem Augenblick einen Blick auf uns, zog die Zügel an, als sie bemerkte, dass wir sie beobachteten, und Lady erwischte mit der Hinterhand die Stange des nächsten Hindernisses. Ein vollkommen unnötiger Fehler. Die Stute buckelte, macht einen Satz zur Seite und Melanie lag auf der Erde. Papa parierte Lucky durch, bevor dieser sich von Lady anstecken ließ, Blödsinn zu machen. Die Stute nutzte ihre Freiheit und legte eine Galopprunde über den Platz ein. Während ich noch überlegte, wie ich Melanie mit der piaffierenden Obsession an der Hand zu Hilfe eilen konnte, sprintete David bereits los. Er half Melanie auf, klopfte ihr den Sand aus den Sachen und sprach auf sie ein. Indessen hatte Papa Lady eingefangen. Mit beiden Pferden an der Hand ging er zu Melanie und David. Ich sollte zusehen, dass ich Obsession in die Box packte, bevor noch mehr passierte. Loreen folgte mir.


Ich band die Stute im Gang an, putzte sie über, kratzte die Hufe aus und ließ prüfend meine Hände über ihren gesamten Körper gleiten. Gelassen ließ sie es sich gefallen. Überhaupt war sie in der Handhabung ein angenehmes Pferd, wenn man von dem Schnappen absah. Mir war es einfach schleierhaft, warum viele Pferdebesitzer dazu neigten, ihre Pferde ständig aus der Hand zu füttern. Meiner Meinung nach resultierte das Verhalten daher.

»Wenn wir dich bei der Arbeit stören, dann schnappe ich mir David und wir verschwinden.«

»Ihr stört nicht. Es tut mir leid, wenn ich vorhin etwas unwirsch war. Ich werde nicht gerne an den Tod von Flying High erinnert.«

»Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Dein Unfall hat David damals völlig aus der Bahn geworfen. Ich höre noch heute die Erschütterung in seiner Stimme, als er mich anrief. Es war das erste Mal, dass ich erlebte, wie mein Bruder weinte.«

Ich hielt in meiner Arbeit inne und sah sie überrascht an.

»Verrate mich bloß nicht. Der Tod von Flying High hat ihn echt getroffen. Er muss wirklich ein außergewöhnliches Pferd gewesen sein. Ich befürchte, er wird dich mit all seinem zur Verfügung stehenden Charme nicht eher in Ruhe lassen, bis er deinen Duke gesehen hat. Mein Bruder kann ziemlich hartnäckig sein.«

»Dein Rat?«

»Damit du ihn schnell wieder loswirst, bevor er weitere Unruhe anrichtet?« Ein wissendes Grinsen huschte über ihr Gesicht, sie zwinkerte mir zu. »Junge Mädchen lassen sich gerne von ihm ablenken, aber er ist harmlos. Er flirtet gerne, mehr nicht.«

»Melanie hat eine Schwäche für Kavaliere und britischen Akzent. Zum Glück ist er viel zu alt für sie.«

»Das dachten wir bei der zweiten Frau meines Vaters auch, und sie sind immer noch glücklich verheiratet.«

»Also, dein Rat?«

»Befriedige seine Neugier.«

Ich runzelte die Stirn, wandte mich wieder Obsession zu. Duke mochte keine Fremden, vor allem nicht, wenn es sich um Männer handelte. »Welche Schuhgröße hast du?«

»Achtunddreißig.«

»Perfekt, dieselbe Schuhgröße wie Melanie. Du kannst ihre alten Stiefel benutzen. Sofern es dir nichts ausmacht.«

Loreen zögerte kurz. »Wenn es ihr recht ist.«

»Klar, sonst würde ich es nicht anbieten. Hast du Lust, nach dem Ausritt bei uns zu Abend zu essen? Meine Mutter ist eine hervorragende Köchin.«

»Stimmt, du erwähntest es gestern Abend, als du das Essen lobtest.«

»Du verstehst Deutsch?«

»Ein wenig, meine Großmutter mütterlicherseits ist Deutsche.«

»Bestimmt keine einfache Ehe in der damaligen politischen Situation.«

»Manchmal kam sie mir britischer vor als mein Großvater«, lachte Loreen. »Was machen wir mit unseren Männern?«

»Wir schicken David zurück und dann können sie gemeinsam einen Männerabend machen.«

»Du willst ihn wirklich loswerden.«

Ertappt – ich grinste.

»Es wird deinen Eltern auch nicht zu viel mit mir?«

»Loreen …«, setzte ich an und wurde von ihr unterbrochen.

»Sonst würdest du es nicht vorschlagen.«

»Ah, hier habt ihr zwei Hübschen euch vor mir versteckt.« Neugierig ging Davids Blick durch die Boxen, an denen er auf dem Weg zu uns vorbeikam.

»Duke steht auf dem Paddock hinter der Halle. Gib mir noch fünf Minuten, dann gehen wir gemeinsam rüber. Er mag keine Fremden.«

»In diesem Fall bekommst du auch zehn Minuten.«

»Ist bei Melanie alles in Ordnung?«

»Nichts gebrochen und nichts verstaucht. Sie sitzt wieder auf der Stute. Ein temperamentvolles Pferd.« Er zwinkerte mir zu.


Ich war stolz auf unsere Anlage. Seit Sam bei uns mitarbeitete auf unserem Hof Einzug gehalten hatte, erblühte der Gutshof wieder in seinem ehemaligen Glanz. Auch Henning trug dazu bei, mit all den technischen Verbesserungen, die er sich an den Wochenenden ausdachte, die er bei uns verbrachte. Vergessen war die Zeit der Verwahrlosung, wie ich sie insgeheim nannte. Wobei mir bewusst war, dass es Pferdehöfe gab, bei denen dieser Zustand die Normalität darstellte. Wir hatten die Möglichkeit geschaffen, dass auch die Pferde in den Boxen, die direkt an die Halle angrenzten, ihren Auslauf bekamen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben sah ich darin, herauszufinden, welche Pferde am besten miteinander klarkamen. Soziale Kontakte waren in meinen Augen das A und O für das Wohlbefinden der Pferde. Sie mussten sich gegenseitig beknabbern und massieren können. Oder sich im Sommer die lästigen Insekten vom Leib halten.

Aktuell hatte ich Blue Boy zu Duke gepackt. Ein Appaloosa-Wallach, der bei uns in der Reha stand. Mit seiner ruhigen Art passte er hervorragend zu Duke. Sein Fell besaß tatsächlich einen blauen Ton; ein echter Blauschimmel mit dichten schwarzen Mähnenhaaren und ebensolchem Schweif. Zweijährig angeritten, seitdem im Turniersport als Reining-Pferd. Mit gerade mal zehn Jahren hatte der Wallach alles an europäischen Preisen in der Reining abgeräumt, was es abzuräumen gab. Mit akuten Rückenproblemen, mit denen die Besitzerin in drei Therapiezentren gewesen war, kam er auf Empfehlung einer Freundin zu mir, deren Pferd ich vor drei Monaten erfolgreich wieder fit gemacht hatte. Es war mein erster Kontakt zum Westernreitsport, mein erster Appaloosa, und ich war verliebt. Das dichte Schweif- und Mähnenhaar war untypisch für einen Appaloosa. Es konnte durch die erlaubte Einkreuzung von Quarter Horse und Vollblut in die Rasse vorkommen. Da Blue Boy nur ein Merkmal der Rasse zeigte, die gestreiften Hufe, durfte er für die Zucht nicht verwendet werden und war zweijährig gelegt worden. Seine Beine besaßen den zierlichen Knochenbau eines Vollbluts. Gemessen an seinem quadratischen, bemuskelten Körperbau wirkten die Hufe viel zu klein. Die Hinterhand wies deutlich hervortretende straffe Muskelstränge auf, ebenso die Brust. Die Hufe besaßen eine flache Stellung, was meiner Meinung nach eine Belastung für die Sehnen darstellte. Ich arbeitete gerade daran, das Pferd durch die gezielte Bearbeitung der Hufe und mit Mineralfutter ein Stück weit steiler zu stellen. Mein Gefühl war, dass ein Teil seiner Rückenproblematik daher rührte.

Blue Boy lag auf dem Sandboden, während Duke schräg hinter ihm stand. Den linken Huf hochgestellt, die Augen halb geschlossen, schien er zu dösen. Das täuschte. Seine Ohren waren, seit wir um die Ecke gebogen waren, aufmerksam auf uns gerichtet.

»Der Fuchs?«, wollte David wissen.

»Ja, er kommt nach seiner Mutter Nobless, während Flying High«, seinen Namen laut auszusprechen, versetzte mir immer noch einen Stich, »das Ebenbild seines Vater Regent war.«

»Er ist kleiner.«

»Zehn Zentimeter, mehr nicht.« Es erstaunte mich, dass er es wahrgenommen hatte.

»Und?« Erwartungsvoll sah David mich an. Ich wusste, was er meinte.

»Besser. Er besitzt dasselbe Springvermögen wie sein Bruder, das Talent, den perfekten Punkt für den Absprung zu finden, und die Freude an der Arbeit. Sein Charakter ist jedoch der von Nobless. Ich kenne kein Pferd, das mir dermaßen leicht an der Hand steht, der nach einem Sprint innerhalb von Sekunden zurück in die Ruhe findet. Er ist unglaublich wendig und konzentriert. Es ist einfach ein Traum, ihn zu reiten.«

»Ein Wunder, dass Henning nicht eifersüchtig ist.«

Nur langsam kehrte ich aus meinem träumerischen Zustand in die Realität zurück. David hatte einen wunden Punkt angesprochen. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper.

»Eine Schande, dass er im Turniersport nicht mehr starten kann.«

»Wie kommst du darauf?« Ich sah David überrascht an.

»Er kann? Was ist mit seinen Verletzungen?«

»Alles verheilt, die Verknöcherung an der verletzten Stelle ist minimal und trägt eher zur Stabilität das Gelenks bei, als dass sie die Federung verhindert. Wenn es eine Stelle gegeben hätte, wo sich ein Springpferd am Vorderhuf hätte verletzen können, dann da. Das meint jedenfalls Dr. Brenner nach den letzten Röntgenaufnahmen.«

»Warum startet er dann nicht auf Turnieren?«

Ich schwieg. Das war eine Frage, die ich mir selbst stellte. Duke liebte das Springen. Ich hatte keine Ahnung, wie er mit den Reisen und fremden Ställen psychisch umging. Ganz zu schweigen von dem Menschentrubel auf den Turnieren. Fly hatte den Wettbewerb, das Publikum geliebt, die Fahrt zum Turnier und das Eingesperrtsein in der Box verabscheut. Ich hatte alles getan, um es ihm erträglicher zu gestalten. Wir kannten jeden Waldweg, der an einem Turnierplatz lag. Jedoch – wer war es, der auf einem Turnier starten wollte und den Erfolg suchte: der Mensch oder das Pferd? Bis zu meinem Unfall war ich davon überzeugt gewesen, dass mir Erfolg nichts bedeutete. Dann hatte ich den Sieg über das Wohl meines Pferdes gestellt und den Preis dafür bezahlt.

»Weil es nur einen Menschen gibt, den er über die Hindernisse zu tragen bereit wäre, und das ist Vera.« Papa sprach besser Englisch als ich. »Danke, dass du vorhin Melanie geholfen hast. Ohne die Selbstverständlichkeit, mit der du sie wieder auf das Pferd gesetzt hast, hätte sie vermutlich für heute die Flinte ins Korn geworfen.«

Papa legte mir den Arm um die Schultern, küsste mich auf die Schläfe. »Diese Obsession wird eine echte Herausforderung werden.«

Ich lehnte mich an ihn, lächelte. »Was ist deine Schätzung?«

»Sieben Tage, mindestens. Dafür wird sie dir treu wie ein Lämmchen folgen, wenn du sie überzeugt hast, dass es genau das ist, was sie will.«

Offensichtlich fühlte sich Blue Boy durch die Ansammlung von Menschen am Zaun in seiner Ruhepause gestört. Geschickt stand er auf, schüttelte sich, trottete zu Duke, biss ihn spielerisch in die Brust, bevor er sich zum Heuhaufen begab, um zu fressen.

»Ich würde ihn zu gerne mal springen sehen.«

»Du willst ihn reiten«, korrigierte Loreen ihren Bruder. Ein schiefes, durchaus sympathisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Das auch. Wie er dort vorne steht, fällt es mir schwer, die Geschichten zu glauben, die Henning über ihn erzählt hat. Er sieht so ruhig und gelassen aus.«

»Glaub mir, das täuscht. Seine Seele wurde verletzt, sein Vertrauen missbraucht. Er war geduldig, bis es ihm reichte, da hat er sich gewehrt. Vera ist diejenige, die ihm geholfen hat, den Weg zurück zu den Menschen zu finden.« Papa lächelte mir kurz zu. »Sie ist die Einzige, der er voll und ganz vertraut. Versuche, dich ihm zu nähern, um ihm einen Sattel aufzulegen, und er wird gegen dich ankämpfen. Es ist erstaunlich, wie duldsam die meisten Pferde auf Misshandlungen reagieren. Warum sind sie bereit, uns weiterhin zu tragen? – Hast du dir jemals diese Frage gestellt?«

David rieb sich mit der Hand übers Kinn, was ein kratzendes Geräusch erzeugte. Hätte ich dieselben Worte verwendet wie Papa, hätte er mich ausgelacht, da war ich mir sicher. Ich kannte die Vorurteile, dass Frauen Pferde vermenschlichten. Und ja, es gab welche, wie Tanja Wilhelm mit Obsession, die vergaßen, dass ein Pferd ein Pferd bleiben musste, doch die waren in meinen Augen immer noch besser als diejenigen, die in diesen Tieren lediglich ein Sportgerät sahen.

»Du bist zu höflich, David, um darauf zu antworten«, enthob Papa ihn einer Antwort. »Ich habe dich reiten sehen. Du besitzt Talent, das Herz und den Verstand, um es bis an die Spitze der Weltrangliste der Springreiter zu schaffen. Es gibt nur eines, was dir fehlt.« Papa lächelte und blinzelte ihm zu. »Was das ist, musst du selbst erkennen.«

»Warum bist du damals aus dem Turniersport ausgestiegen? Immerhin standest du auch mal an der Spitze.«

Das Lächeln auf Papas Gesicht vertiefte sich. »Weil alles, was ich wirklich liebe, exakt hier auf diesem Hof ist. Was gibt es Schöneres, als jeden Morgen aufzustehen und den Tag mit einer Arbeit zu beginnen, die einen glücklich und zufrieden macht?«

Ich schlang meine Arme um Papas Taille und drückte ihn, bevor ich mich von ihm löste. Wir beide wussten, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der wir beide dieses Glück verloren geglaubt hatten.

»Soll ich dir Ikarus, Eiswind und My Melody abnehmen?«, wollte er von mir wissen.

»Das wäre klasse, ich nehme Loreen mit Nobless auf meinen Abendritt mit. Kannst du uns bei Mama zum Abendessen anmelden?«

»Nichts lieber als das, immerhin komme ich dann auch in Genuss der Kochkünste meiner Frau. Was ist mit dir, David?«

»Er fährt zurück und macht einen Männerabend mit Henning und Alan«, antwortete ich an seiner Stelle.

David hob die Augenbrauen. »Das ist mir neu. Wissen die beiden darüber Bescheid?«

»Vera, seit wann bist du so unhöflich?« Papa runzelte die Stirn.

»Erstens haben wir kein weiteres Reitpferd, zweitens stehen wir auf diese Weise nicht unter Zeitdruck. Es ist lange her, dass Loreen zuletzt geritten ist.«

Bevor Papa den Vorschlag, der ihm auf der Zunge lag, laut aussprechen konnte, kam ihm Loreen zuvor.

»Ich hatte einen Reitunfall und habe seitdem Angst, wieder auf ein Pferd zu steigen. Ihre Tochter hat mich überredet, es zu versuchen. Wenn uns David dabei zusieht …« Sie lächelte ihren Bruder entschuldigend an.

»Verstehe, ihr zwei wollt allein sein.«

Auch Papa konnte es nachvollziehen. »Soll Melanie Nobless fertig machen?«

»Bitte nicht, ich möchte das gerne selber machen«, sagte Loreen. »Ich bin zwar aus der Übung, doch es gibt mir die Gelegenheit, das Pferd kennenzulernen, bevor ich ihr mein Leben anvertraue.«

Papa lachte. »Wenn es ein Pferd auf unserem Hof gibt, dem du dein Leben anvertrauen kannst, dann ist es unsere Nobless. Vertrau meiner Tochter; sie weiß, welches Pferd, zu welchem Reiter passt.«

4

AUSRITT

Nobless mochte Loreen auf Anhieb und zeigte sich von ihrer allerbesten Seite. Und von wegen, Loreen habe keine Übung im Putzen – die beiden kamen prima miteinander klar. Vorbildlich hob die Stute, kaum dass Loreen ihre Hand am Bein hinabgleiten ließ, die Hufe an. Duke konnte ich problemlos in der Nähe seiner Mutter anbinden. Obwohl diese, wie Dawinja, Hengste gerne anbaggerte, ignorierte sie ihren Sohn. Ich unterstützte Loreen beim Satteln. Als wir fertig waren, nahmen wir beide Pferde mit auf den Reitplatz. Während ich Duke mit dem Führstrick am Anbindebalken festmachte, schickte ich Loreen mit Nobless auf eine Runde zu Fuß. Je näher wir dem Platz gekommen waren, desto nervöser war Loreen geworden. Gelassen trottete die Stute neben ihr her, richtete die Ohren aufmerksam auf den Menschen, der sie führte. Schon beim Putzen war mir aufgefallen, dass Loreen unablässig mit ihr redete. Ich gab den beiden zwei weitere Runden, bevor ich sie zu mir in die Mitte rief.

»Nervös?«

»Und wie. Vielleicht war es doch keine gute Idee.«

Tatsächlich wirkte sie ein wenig blass um die Nasenspitze. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. Die Art und Weise, wie sie mit der Stute umgegangen war, zeigte mir, dass sie Pferde liebte und das Reiten vermisste. Auch ich hatte nach dem Unfall gedacht, dass ich nie wieder auf einem Pferd sitzen würde. Vielleicht würde ich es schaffen, dass auch Loreen das Reiten wieder für sich entdeckte.

»Keine Sorge. Wie gesagt, ich führe dich, und wenn du merkst, dass es dir Angst macht, hören wir sofort auf. Einverstanden?«

Sie nickte, atmete tief durch und ließ sich von mir auf Nobless heben. Die Aufmerksamkeit der Stute blieb weiterhin auf Loreen gerichtet. Ruhig wie eine Statue blieb sie stehen, als das Reitergewicht auf ihrem Rücken lag.

»Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.«

Langsam löste sich Loreens verkrampfte Haltung, als nichts geschah.

»Schließ die Augen.« Ein leichter Anflug von Panik, ihre Hände krallten sich in den Zügel, rasch blockierte ich mit einem Griff unterhalb des Gebisses den Zug auf das Mundstück. »Es kann nichts passieren, ich halte Nobless fest.«

Ich ließ ihr die Zeit, drängte sie nicht, wartete, bis sie sich langsam wieder entspannte und zögernd die Augen zumachte. Zwei Mal flatterten die Augenlider wieder auf. Ich kraulte derweil Nobless hinter dem Ohr, massierte mit dem Daumen eine Stelle etwas kräftiger. Es dauerte eine Weile, bis Loreen sich vollkommen entspannt hatte. Sie veränderte ihre Haltung im Sattel, die Beine verlängerten sich, das Becken kippte auf die Sitzhöcker, der Rücken ging gerade nach oben, sie saß im Gleichgewicht. Allein daran erkannte ich, dass sie eine hervorragende reiterliche Ausbildung genossen haben musste. Wie sehr einen die Angst blockieren konnte! Ein feines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

»Ich kann sie spüren.«

»Bereit, dass ich dich führe?«

Das Ja glich mehr einem Hauch als einer echten Antwort. Nobless besaß einen federnden Schritt, angenehme Gänge, die sich gut aussitzen ließen. Ich hatte mir in den letzten Monaten viel Mühe gegeben, sie zu gymnastizieren. Nach einigen Schrittrunden und zwei kleinen Trabeinlagen kamen wir wieder in der Mitte an. Loreens Wangen hatten einen rosigen Glanz, und als sie die Augen öffnete, leuchteten sie.

»Du besitzt einen ausgezeichneten Sitz und ein hervorragendes Balancegefühl. Alle unsere Pferde werden mit einer leichten Hand geritten. Nobless wird feinfühlig auf deine Hilfen reagieren. Geh sparsam damit um, nimm den Druck direkt weg, wenn sie macht, was du willst.«

»Verstanden.«

»Nicht verkrampfen, lächele genauso wie vorhin.«

Der ängstliche Ausdruck, der auf ihr Gesicht getreten war, machte einem zaghaften Lächeln Platz. Brav ging Nobless in den Schritt, kaum dass ihre Reiterin das Gewicht verlagert und die Schenkel angelegt hatte. Loreen verkrampfte sich. Jetzt war es an der Stute, ihren Teil des Jobs zu erledigen. Statt den Schritt zu verkürzen, die Angst der Reiterin aufzunehmen und ebenfalls zu verkrampfen, behielt sie ihren federnden Takt bei. Die Ohren lauschend auf Loreen gerichtet, die sich mit jeder Runde weiter entspannte und mutiger wurde. Ich hielt mich komplett zurück, beobachtete lediglich. Wie von selbst begann das Paar zu traben, Zirkel zu reiten, die Seiten zu wechseln. Traversale, das Verkleinern und Vergrößern der langen Seitenlinie. Ich musste schmunzeln, eine typische klassische Dressurausbildung. Zum Glück wusste die Stute, was die Reiterin von ihr wollte. Die Hilfestellungen waren minimal, Nobless reagierte. Sie richtete den Hals auf, begann auf dem Gebiss zu kauen, mehr Gewicht auf die Hinterhand zu verlagern, und schnaubte entspannt. Schließlich kamen die zwei wieder zu mir in die Mitte. Loreen ließ sich die Zügel aus den Händen abkauen und klopfte den Hals der Stute. Über ihre Wangen rollten Tränen.

»Wie lange bist du geritten?«, wollte ich wissen.

»Bis ich siebzehn war. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich noch an alles erinnern würde. Es ist vierzig Jahre her. Ich …«, Loreen brach ab, schlang ihre Arme um den Hals von Nobless und heulte. Auch von dem Gefühlsausbruch ließ sich die Stute nicht aus der Bahn werfen. Ich ging zu Loreen, legte ihr die Hand auf den Oberschenkel.

»Es tut mir leid, aber das alles ist …« Sie suchte nach Worten.

»Überwältigend. Ich weiß. Ich dachte auch, es würde mir nicht fehlen, bis ich es wagte, mich wieder auf ein Pferd zu setzen. Erst da fühlte ich mich zum ersten Mal wieder ganz.«

»Woher? Ich meine … selbst David hat es nie bemerkt.« Sie brach ab, weil ihr wieder die Tränen kamen.

»An der Art, wie du Obsession angesehen hast, wie du die Hand nach ihr ausstrecktest, um sie zu streicheln, und wie verletzt du reagiertest, als David dazwischenging. Du liebst Pferde, das war nicht zu übersehen.«

»Für dich nicht, für alle anderen schon.«

»Denkst du, du kannst ihr vertrauen?«, fragte ich sicherheitshalber, obwohl ich ihr die Antwort im Gesicht ansehen konnte.

»Ja, absolut.«

»Na dann los.«


Für mich gab es nichts Schöneres, als meinen Arbeitstag mit einem Ausritt zu beenden. Nachdem es die letzten Tage viel geregnet hatte, waren Flora und Fauna regelrecht explodiert. Der frische Duft von Frühling lag in der Luft. Duke griff freudig aus und ich musste mich konzentrieren, damit er unsere Mitreiterin mit seinem Elan nicht in Schwierigkeiten brachte. Wir legten Trabphasen ein und mit jeder Phase gewann Loreen mehr Selbstvertrauen. Statt die Waldruhe mit Geplapper zu stören, hing jede ihren Gedanken nach. Die Tritte der Pferde waren leise und die Tierwelt nahm uns nicht als Fremdkörper wahr. Rehe grasten in aller Seelenruhe auf einer Lichtung, spielten lediglich mit den Ohren, als wir vorbeiritten. Dann blieb Duke mit einem Mal stehen und auch Nobless stemmte alle vier Beine in den Boden. Mit aufmerksam gespitzten Ohren lauschte Duke seitlich in den Wald. Ich stieg ab und bedeutete Loreen, dasselbe zu tun. Was immer Duke bemerkt hatte, an der Art, wie er jeden Muskel anspannte, war mir klar, dass es seine Fluchtinstinkte geweckt hatte.

»Möchtest du mir Nobless geben?«

»Was ist los?«

»Ich weiß nicht, aber dieser Wald ist dicht besiedelt mit Wildtieren, und unser Nachbar hat mir vor ein paar Tagen erzählt, dass eines seiner Felder von Wildschweinen durchwühlt worden ist. Mit denen ist nicht zu spaßen.« Bewusst erhob ich meine Stimme, um Wild, das sich möglicherweise in der Umgebung aufhielt, zu verscheuchen.

»Wildschweine?« Loreen riss die Augen auf, behielt aber die Stute an der Hand.

»Lass uns ein Stück zurückgehen, und mach dabei so viel Lärm wie möglich. Wildschweine sind menschenscheu. Doch jetzt ist die Zeit, in der die Bachen ihren Nachwuchs auf die Welt bringen, und wenn eine glaubt, dass wir zu nahe dran sind, könnte sie uns angreifen.«

»Wäre es dann nicht sicherer auf dem Pferd?«

»Das kommt darauf an, wie sicher du im Sattel sitzt, wenn der Fluchtinstinkt einsetzt, und ob dein Pferd sich kopflos durch das Gebüsch schlägt oder auf dem Weg bleibt.«

Wir gingen gemeinsam mit den Pferden an der Hand den Waldweg zurück. Beruhigend sprachen wir auf die Tiere ein. Bei Nobless wich die Anspannung. Dukes Aufmerksamkeit hingegen blieb weiterhin auf eine Stelle im Wald gerichtet. Es raschelte. Es knackte.

»Lass sie im Zweifelsfall einfach los. Sie findet ihren Weg zum Stall. Wir gehen zurück bis zu der Abzweigung, dort gibt es einen anderen Weg, der zum Stall führt.«

Bevor wir die Abzweigung erreicht hatten, geschah alles gleichzeitig. Ich hatte die Stelle im Wald im Blick behalten und tatsächlich tauchte jetzt eine Bache mit zehn Frischlingen auf. Auf dem Pfad, mit Kopfhörern auf dem Kopf, die Augen auf ein Smartphone gerichtet, steuerte von der entgegengesetzten Seite eine Jugendliche direkt auf die Wildtiere zu. Ich reagierte, bevor ich nachdenken konnte. Mit einem Satz war ich auf Duke, und als würde er meine Gedanken lesen, sprang er direkt in den Galopp. Die Bache startete beinahe gleichzeitig ihren Angriff auf das Mädchen, bog jedoch ab, als wir ihr den Weg abschnitten. Unsere Aktion hatte die Jugendliche aufgeweckt. Erschrocken starrte sie uns an. Ich glitt von Dukes Rücken, packte sie und schob sie hinter einen Baum, während der Hengst einen Satz zur Seite machte, als die Bache nun ihn ins Visier nahm. Mir blieb das Herz stehen. Zum Glück trat das Wildschwein jetzt den Rückzug an. Offensichtlich wurde es der Bache mit all den verschiedenen im Wald verteilten Zielen zu heikel. Ich atmete durch, als sie mit ihrem Nachwuchs im Unterholz verschwand. Ein wenig blass um die Nasenspitze kam Loreen mit der prustenden Nobless zu uns. Duke trottete zu mir, und das gab mir die Sicherheit, dass die Gefahr vorüber war. Erst jetzt nahm ich die Musik wahr, die aus den Kopfhörern des Mädchens dröhnte, das mit großen Augen den Blick zwischen Loreen, Nobless, Duke und mir hin und her wandern ließ.

»Krass«, kam es ihr über die Lippen.

Ich atmete tief durch. Der Schweiß stand mir noch auf der Stirn. Unsicher, ob ich mich ärgern sollte oder nicht, ließ ich das Mädchen los, dessen Oberarm ich noch festgehalten hatte. Ihr Alter war schwer zu schätzen, da sie zart gebaut war, vierzehn oder sechzehn? Ich deutete auf die Kopfhörer.

»Oh, klar.« Hastig stoppte sie die Musik und zog sich die Hörer vom Kopf. Beinahe ehrfurchtsvoll trat sie zu Duke. »Darf ich?«

»Pass auf, er mag Fremde nicht besonders.«

»Hast du das gesehen? Wie er das Wildschwein abgelenkt hat und dann ausgewichen ist? Mannomann, ich dachte immer, so was gäbe es nur im Fernsehen.«

»Du meinst, wie die Möglichkeit, im Wald einem Wildschwein zu begegnen?«, konterte ich.

»Kommt das häufiger vor?«, fragte Loreen, die sich erstaunlich rasch gefasst hatte und Nobless die Mähne kraulte, in gebrochenem Deutsch. Ich war mir nicht sicher, ob es sie oder das Pferd beruhigen sollte.

»Bisher sind mir erst zwei Mal Wildschweine im Wald begegnet und niemals dermaßen nahe. Einen Angriff habe ich zum Glück noch nie erlebt.«

»Duke ist das perfekte Cutting Horse, oder hast du ihn gelenkt, als ihr dem Wildschwein den Weg abgeschnitten habt?«, wollte Loreen wissen.

»Nein, ich habe ehrlich gesagt überhaupt nicht nachgedacht, auch nicht gelenkt. Es war verdammt leichtsinnig von mir.«

Achtsam hatte sich die Hand des Mädchens dem Kopf von Duke genähert. Er ging zwei Schritte zurück. Sie verharrte, lief nicht hinterher, hielt ihm stattdessen die Hand hin. Seine Neugierde gewann, er streckte den Hals, so weit es ging, schnupperte, strich mit seinen Tasthaaren über ihre Handinnenfläche. Das Mädchen blieb weiterhin ruhig. Etwas in mir rührte sich, und auch bei Loreen zeigte sich ein tiefes, warmes Lächeln. Duke machte einen zögernden Schritt vorwärts. Ganz langsam strich sie ihm über die Stirn und er ließ es sich gefallen. Es war lange her, dass ich erlebt hatte, wie Duke sich so offen einem fremden Menschen näherte und sich von ihm streicheln ließ.

»Hast du ein eigenes Pferd?«, richtete meine Begleiterin die Frage an das Mädchen. Die schien, wie zuvor bei der Musik, vollkommen in eine andere Welt getaucht zu sein. Wir grinsten uns an. Es war Liebe auf den ersten Blick, das konnten wir deutlich erkennen.

»Möchtest du dich auf ihn setzen?«

Diese Worte kamen an. Große dunkelblaue Augen sahen mich an. »Ich?«

Ich lachte. »Das Wildschwein meinte ich damit nicht.«

»Ist das dein Ernst?«

»Würde ich es dir sonst anbieten?« Schien, als wäre das heute mein Satz des Tages.

»Ich habe noch nie in meinem Leben auf einem Pferd gesessen.« Scheu sah sie mich an. Bisher hatte sie auf mich einen forschen Eindruck gemacht.

»Es gibt für alles ein erstes Mal. Los, auf.«

Aufmerksam behielt ich Duke im Auge, während ich das Mädchen an den Schultern packte und an die richtige Position schob. Er blieb ganz ruhig.

»Siehst du die Schlaufe? Pack sie mit der linken Hand und winkel dein linkes Bein an. Ich hebe dich jetzt an und du musst dich ganz langsam in den Sattel gleiten lassen. Alles klar?«

»Ja.«

Ohne dass ich ihr mehr Anweisungen hätte geben müssen, stützte sie sich mit beiden Händen im Sattel ab, schwang das rechte Bein über Dukes Rücken und ließ sich behutsam darauf nieder. Loreen hatte alles mit skeptischem Blick verfolgt. Kein Wunder, immerhin hatten mein Papa und ich kurz zuvor behauptet, dass Duke niemanden anderes als mich in seinem Sattel duldete. Ich wusste auch nicht, woher ich die Zuversicht genommen hatte, dass er es erlauben würde. Vielleicht kam es aus demselben sicheren Gefühl heraus, mit dem ich ihn in die Gefahrenzone gebracht hatte, darauf vertrauend, dass er das Richtige tat.

»Ist es in Ordnung, wenn ich auch wieder aufsteige? Ich glaube, auf Nobless fühle ich mich im Moment sicherer als hier auf dem Waldweg.«

»Wer hätte das gedacht?«, neckte ich Loreen und wartete, bis sie wieder sicher auf der Stute saß. Wir schlugen den ursprünglich geplanten Weg ein, den das Mädchen gekommen war.

»Wohnst du in der Nähe?«, wollte ich wissen.

»Im Dorf. Ich bin am Wochenende hierher gezogen.«

»Dann lasse ich dich an der Gabelung wieder runter.«

»Kommen Sie von dem Pferdehof?«

Ich grinste in mich hinein; vorhin hatte sie mich einfach geduzt, jetzt siezte sie mich.

»Du kannst ruhig du zu mir sagen. Ich bin Vera und ja, ich komme von dem Hof.«

»Krass, ich habe gehört, dass die Besitzerin ganz viele Springturniere gewonnen hat, kennst du sie?«

»Ich bin die Besitzerin.«

»Oh.« Sie verstummte.

Ich konnte es kaum glauben, dass das Mädchen zum ersten Mal auf einem Pferd saß. Sie hatte sich dem Rhythmus von Dukes Bewegungen angepasst. Ihre Beine hingen locker herunter und sie kam nicht ein einziges Mal ins Rutschen. Wir erreichten die Gabelung. Ohne dass ich etwas hätte sagen müssen, rutschte sie von Duke, klopfte ihm den Hals und verbarg danach verlegen ihre Hände in der Hosentasche.

»Es tut mir leid, wenn ich euch vorhin im Wald mit den Pferden in Schwierigkeiten gebracht habe.«

»Das warst nicht du, sondern die Bache mit ihren Frischlingen.«

»Na ja, hätte ich die Kopfhörer nicht aufgehabt und auf mein Handy gestarrt …«

»Keiner kann sagen, ob es dann anders gewesen wäre.«

Sie grinste mich schief an. »Danke. Wie heißt das Pferd?«

»Duke.«

»Danke, Duke, dass du mich gerettet hast und ich auf dir reiten durfte.«

Duke schnaubte, schüttelte sich einmal. Wir lachten.

»Darf ich mal bei dir vorbeikommen?«

»Jederzeit. Bleib nur außerhalb der Boxen und Wiesen, bis ich sicher bin, dass du mit Pferden klarkommst. Am besten kommst du zuerst zu mir, bevor du auf Entdeckungsreise gehst.«

»Mache ich.«

Ich lehnte meine Stirn an den Hals meines Pferdes. »Das hast du brav gemacht.« Wir beide hatten heute einen weiteren Schritt zurück in die Normalität gemacht.

5

STREIT

Mama hatte ihre berühmt-berüchtigte italienische Minestrone gemacht. Dazu gab es frisch gebackenes Baguette mit Kräuterbutter und Tomaten-Chili-Frischkäse. Nach dem Ausritt und der aufregenden Begegnung mit der Bache hatte ich mordsmäßigen Hunger. Auch Loreen langte ordentlich zu. Vor allem in Anbetracht dessen, dass sie gestern lediglich an Salat geknabbert hatte. Wir plapperten wild durcheinander, lachten, und es war erfrischend zu sehen, wie glücklich sie wirkte. Papa verdrehte bei all dem Gerede am Tisch ab und an die Augen, aber da musste er durch. Vorbei waren die Zeiten, als sich die Sander-Jungen an unserem Esstisch tummelten und wir Frauen in der Minderzahl waren. Loreen bemühte sich, Deutsch zu reden, und es gelang ihr erstaunlich gut. Fehlte ihr ein Wort, half ich aus. Immer darauf bedacht, die Situation, in die wir geraten waren, herunterzuspielen.

»Wer war das Mädchen?«, wollte Mama wissen.

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte das Mädchen nicht mal nach ihrem Namen gefragt.

»Keine Ahnung, aber sie ist erst am Wochenende hierher gezogen.«

»Viola Tillmann?« In Mamas Stimme schwang etwas mit, das mich sie ansehen ließ.

»Wie gesagt, ich weiß es nicht, ich habe sie nicht nach ihrem Namen gefragt.«

»Ein typischer Teenager der heutigen Zeit«, lachte Loreen, »Kopfhörer auf, die Augen auf dem Smartphone, und das, obwohl sie durch den Wald ging, in dem der Frühling erwacht. Immerhin ist sie rausgegangen. Wenn du heute in einem Restaurant essen gehst, siehst du, wie sich die Leute gegenübersitzen und mit ihrem Smartphone beschäftigen.«

»Was man von euch beiden nicht behaupten kann.« In Hennings Stimme lag dieser Unterton, den ich überhaupt nicht leiden konnte. Er stand in der Küchentür und hielt demonstrativ mein Smartphone in die Luft.

»Hallo Henning«, begrüßte ihn Mama erfreut. »Setzt dich, es gibt noch Minestrone.«

Hinter Henning tauchte der grauhaarige Kopf von Alan Webster auf.

»Du bist heil und gesund!«, seufzte er erleichtert, als er seine Frau entdeckte.

»Wieso sollte ich nicht?«

»Wir haben gefühlte hundert Mal versucht, euch zu erreichen. Du bist nicht an dein Handy gegangen.« Jetzt klang auch bei Alan der Vorwurf durch seine Sorgen hindurch.

Überrascht tastete Loreen an ihrer Hosentasche, schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich habe es oben in meiner anderen Hose gelassen.«

»Kommen Sie doch rein«, unternahm Mama einen Versuch, die Stimmung zu glätten. Papa hingegen handelte, stand auf, bot Alan ein Stuhl an, stellte zwei Teller plus Besteck auf den Tisch und öffnete die Kühlschranktür. »Weißwein, Bier, Rotwein oder was Härteres?«

»Alan?«, hakte Henning nach.

»Bier. Das deutsche Bier schmeckt einfach hervorragend.«

Henning wählte einen Platz möglichst weit von mir entfernt, während er mir wortlos mein Smartphone über den Tisch zuschob. Im Stillen begann ich zu beten. Ich wusste, dass ich mich zu einhundert Prozent auf meine Eltern verlassen konnte. Keiner von ihnen würde den Vorfall mit dem Wildschwein mit einer Silbe erwähnen. Ich konnte nur hoffen, dass Loreen genauso klug war. Immerhin stand ihrem Mann die Sorge um sie immer noch auf der Stirn geschrieben. Alan betrachtete seine Frau, diese strahlte ihn an, und langsam breitete sich auf seinem Gesicht ein versöhnliches Lächeln aus. Ob es daran lag, dass die beiden schon so lange verheiratet waren? Bei Henning würde es dauern, bis er mir vergab. Dass ich mein Smartphone nicht ständig bei mir trug oder der Akku leer war, war einfach ein wunder Punkt zwischen uns beiden, der viel zu oft aufkam.

»Und wie war dein erster Ausritt?«, wollte Alan wissen.

»Herrlich! Vera ist ein echter Schatz und hat wirklich Ahnung von Pferden. Nobless, das ist die Stute, auf der ich geritten bin, ist ein absoluter Traum.«

Wie zuvor hörte Loreen mit ihrer Schwärmerei gar nicht mehr auf. Ich schielte zu Henning, der zwischen Mama und Papa saß. Er gönnte mir keinen einzigen Blick. Mama lud ihm Suppe auf, Papa stellte ihm das Bier hin, prostete ihm zu. Es war schon seltsam, wenn der Freund in gewisser Weise bei den eigenen Eltern mehr zu Hause war als man selbst. Zum einen lag es daran, dass Henning in seinem Leben mehr Zeit mit meinen Eltern verbracht hatte als mit seinen. Ohne Papa wäre er als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten. Drogen, Alkohol, Mädchen – puh, ich wusste vermutlich nur die Hälfte davon, aber auch ich war mehr als einmal im Stall über ihn und eine seiner Eroberungen gestolpert. Nach meinem Unfall, als ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von zu Hause fortgerannt war, war Henning für meine Eltern, vor allem für Papa, da gewesen. Nur mit halbem Ohr hörte ich dem Gespräch am Tisch zu, meinen Blick auf das verflixte Smartphone gerichtet. Es war ein ewiger Streit zwischen uns. Ich fragte mich, weshalb Henning darauf bestand, dass ich es mit mir herumschleppte. Er behauptete, damit wir in Verbindung ständen. Für mich stellte es eher einen Führstrick dar, über den er mich kontrollieren wollte. Früher waren wir auch ohne diese Dinger prima klargekommen. Wenn ich heute nicht direkt dranging, rief er spätestens nach dem dritten Fehlversuch Papa oder Mama an. Angeblich, weil er sich Sorgen machte. Ich ließ es exakt da liegen, wo er es hingeschoben hatte.

»Was kostet ein Pferd wie Nobless?«

»Alan«, rügte Loreen.

»Es ist lange her, dass ich dich so glücklich gesehen habe.«

Sie boxte ihn auf den Arm. »Das stimmt doch gar nicht. Denk nur an die Hochzeit von Fanny und Jake, das ist gerade mal ein paar Monate her.«

»Das Reiten hat dir Spaß gemacht. Du kommst mir vor wie ein Mensch, der etwas, was ihm sehr wichtig im Leben war, aufgegeben und jetzt wiederentdeckt hat«, sagte Alan nachdenklich. »Mir war nie bewusst, dass du es vermisst. Du hast es mit keiner Silbe je erwähnt. Du hättest jederzeit eines der Pferde von David reiten können oder ich hätte dir eines gekauft.«

»Ich wusste es selbst nicht, und um ehrlich zu sein, hätte ich ohne Vera nie den Mut gehabt, mich wieder auf ein Pferd zu setzen.«

Alle sahen mich an und ich wurde puterrot. Ich mochte es nicht, wenn sich alle Aufmerksamkeit auf mich richtete, deshalb hatte ich auch nie Geburtstagspartys gefeiert. Ich hätte aber auch gar nicht gewusst, wen ich dazu hätte einladen sollen. Freunde hatte ich nämlich nur wenige.

»Was ist eigentlich mit dieser Viola Tillmann?«, kam ich auf die Frage zurück, die ich vorhin bereits hatte stellen wollen.

»Die Viola Tillmann?«, hakte Henning nach. Jetzt hatte Mama hektische Flecken im Gesicht, und ich verfluchte mich im Stillen. Warum hatte ich nicht einfach über die Fohlen reden können oder über sonst irgendetwas anderes? Statt die Frage zu beantworten, nickte sie nur.

»Woher kennst du sie?«, fragte er an mich gewandt.

»Wir sind ihr bei unserem Ausritt begegnet«, eilte mir Loreen zu Hilfe. Offensichtlich kannte sie seinen inquisitorischen Gesichtsausdruck genauso gut wie ich. Er war unglaublich gut darin, mit sicherem Instinkt Untertöne wahrzunehmen, wenn man versuchte, ihm etwas zu verheimlichen. Ich behauptete, dass dies einer der Gründe war, weshalb er es immer geschafft hatte, mir oder Thomas die Schuld in die Schuhe zu schieben, wenn wir drei als Kinder etwas Verbotenes getan hatten. Dabei war er meist der Anstifter des Unfugs gewesen und wir lediglich die treuen Gefolgsleute.

»Vera hat sie auf Duke reiten lassen. Ich denke, das ist der Beginn einer langen Liebe«, fügte Loreen mit einem strahlenden Lächeln hinzu. Mist.

»Auf Duke?«, stieß Henning entgeistert hervor. Am liebsten hätte ich mir die Hände vor das Gesicht geschlagen und gestöhnt. Loreen sah mich verzweifelt an. Sie merkte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Alan nahm ihre Hand, als sie mir erneut zu Hilfe eilen wollte.

»Ich denke, du solltest Vera die Geschichte erzählen lassen.«

Na toll, dachte ich, wie vollbringe ich jetzt das Wunder, nicht zu viel und nicht zu wenig zu erzählen?

»Wir sind ihr bei unserem Ausritt begegnet. Das Mädchen lief durch einen aufblühenden Frühlingswald, in dem es zwitscherte und summte, die Kopfhörer auf dem Kopf und ihren Blick auf das Smartphone gerichtet. Langsam verstehe ich, dass es Leute gibt, die vor einen Laternenpfosten rennen, weil sie nicht auf ihre Umgebung achten.«

Alans Gesichtsausdruck wechselte wieder von relaxt zu besorgt.

»Mir ist nichts passiert. Vera, oder besser Duke, hatte schon lange vor uns bemerkt, dass das Wildschwein da war. Wir waren von den Pferden abgestiegen und …«

»Ein Wildschwein?«, unterbrach Henning Loreen.

»Nichts passiert?«, echote Alan, jetzt blass im Gesicht.

Den Part hatte ich auslassen wollen.

»Ich denke, es ist besser, ihr zwei erzählt in Ruhe die ganze Geschichte von Anfang an und ich hole noch mal drei Bier.« Papa stand auf.

»Für mich alkoholfrei, ich muss noch fahren«, merkte Henning an.

»Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen«, versuchte ich abzuwiegeln. »Duke bemerkte, dass etwas im Wald war. Weil er und Nobless unruhig wurden, dachte ich, es wäre besser abzusteigen. Wir wollten die Pferde den Weg zurückführen, den wir gekommen waren. In dem Moment tauchte die Bache mit ihren Frischlingen auf und gleichzeitig kam uns das Mädchen auf dem Waldweg entgegen. Die Musik aus den Kopfhörern war bis zu uns zu hören. Es hätte also keinen Sinn gemacht, ihr zuzurufen, dass sie stehen bleiben sollte. Außerdem hatte die Bache bereits entschieden, dass sie sich von ihr bedroht fühlte. Also sprang ich auf Duke, schnitt dem Wildschwein den Weg ab, ging mit dem Mädchen hinter einen Baum, wie es uns Hermann immer geraten hat, und das Wildschwein entschied, dass es ihm reichte.«

»Aber erst, nachdem es noch mal einen Angriff gestartet hatte und Duke geschickt auswich. Ich dachte immer, dass nur Cutting-Pferde diese Instinkte besäßen«, ergänzte Loreen enthusiastisch den Part, den ich unter den Tisch hatte fallen lassen wollen. Hastig sprach ich weiter.

»Jedenfalls war das Mädchen ziemlich erschrocken. Duke ließ sich von ihr streicheln, und da dachte ich, es wäre einen Versuch wert, auszuprobieren, ob er es zulässt, dass sie ihn reitet. Ich habe ihn nicht einen Moment aus den Augen gelassen oder von der Hand.«

»Es wäre einen Versuch wert?« Wäre Henning ein Hund, hätte ich es als knurren bezeichnet. »Weißt du, weshalb die Tillmanns in das Dorf gezogen sind?«

Ich schwieg, weil ich wusste, dass es eine rein rhetorische Frage war.

»Damit ihre Tochter aus den Schwierigkeiten rauskommt, in denen sie steckte. Sie ist vor ein paar Wochen vierzehn geworden und hat einen Drogenentzug hinter sich.«

Verblüfft sah ich ihn an. »Woher weißt du das?«

»Weil wir sonst ihren Vater niemals als Geschäftsführer für EKTASYS bekommen hätten. Er hat zuvor ein doppelt so großes Werk in Stuttgart geleitet. Ehrlich, und dir fällt nichts Besseres ein, als sie ausgerechnet auf Duke zu setzen?«

»Ich kenne mein Pferd, ich weiß, was ich ihm zumuten kann und was nicht. Es war nicht gefährlich. Hätte ich das Gefühl gehabt, hätte ich sie nicht draufgesetzt.«

»Du meinst, wie damals, als er sich erschreckt hat, als Sam eine Mistgabel in die Hand nahm?«

»Ach ja? Wer geht denn in seine Box und füttert ihm Möhren aus der Hand, um sich dann zu wundern, dass er schnappt, wenn du mal keine dabei hast?«

»Hey ihr zwei, es reicht, es war ein anstrengender Tag«, unterbrach Papa uns. Er brauchte nie die Stimme zu erheben. Es reichte, wenn er diesen leisen, bestimmenden Ton anschlug.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, während mich Henning wütend anstierte. Er nahm die Flasche Bier, die Papa ihm vor die Nase gestellt hatte, trank sie in einem Zug leer und stand auf. »Loreen, möchtest du dich noch umziehen? Dann warte ich draußen auf euch.«

Die Websters tauschten einen raschen Blick miteinander. Loreen sah mich an, lächelte zaghaft.

»Vera, würde es dir etwas ausmachen, mich ins Hotel zu fahren?«

»Ich übernehme das Füttern heute Abend. Morgen kommt Dr. Brenner, um die Mutterstuten und Fohlen zu impfen, da ist es gut, wenn du ausgeruht bist«, bot Papa mir an.

Kurz rang ich mit mir. Viel lieber wäre ich zu Hause und bei meinen Pferden geblieben. Aber ich konnte auch wieder zum Hof zurückfahren, wenn ich Loreen am Hotel abgeliefert hatte.

»Klar, kein Problem«, sagte ich und mit einem wütenden Blick zu Henning: »Ich mache das sogar sehr gerne.«

Er schwieg und war wieder dazu übergegangen, mich zu ignorieren. Manchmal fragte ich mich, was passieren würde, wenn der damalige, zehnjährige Henning dem heutigen Henning über den Weg laufen würde. Ob der Junge dasselbe über ihn denken würde, was er über seinen Vater gedacht hatte? Ich fand, dass die beiden sich immer ähnlicher wurden. Demonstrativ küsste Henning Mama auf die Wange.

»Danke für die Suppe, sie war ausgezeichnet.«

Was für ein Blödmann, er hatte gerade mal zwei Löffel davon gegessen.

6

LOREEN

Loreen hatte sich wieder ihre eigenen Sachen angezogen und saß neben mir im Auto. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Achtsam legte sie das Smartphone, welches ich auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, auf die Mittelkonsole. Ich griff danach, schob es in meine Jackentasche.

»Danke.«

»Weißt du, wie lange Alan und ich Henning kennen?«

Ich sah kurz rüber zu ihr. War das der eigentliche Grund, weshalb sie wollte, dass ich sie fuhr? Um mit mir über Henning zu reden? Es reichte, dass meine Eltern ihn permanent vor mir in Schutz nahmen.

»Ja, seit einer Ewigkeit, seit er als Austauschschüler bei euch war.«

»Genau. Ein Jahr war er in unserer Familie. Unser Sohn Jake ist in seinem Alter. Die beiden haben sich auf Anhieb gut verstanden.«

»Er hatte vorher nie darüber gesprochen, dass er plante, sich für einen Schüleraustausch zu bewerben.«

Ein feines Lächeln huschte über Loreens Gesicht. »Es war eine spontane Idee von ihm, nachdem ein junges Mädchen ihm das Herz gebrochen hat.«

»Henning das Herz gebrochen? Als er achtzehn Jahre alt war?« Ich schüttelte amüsiert den Kopf. »Damals war er in Höchstform, glaub mir. Da hat er nichts anbrennen lassen.«

»Das stimmt, das hat er mir auch erzählt. Bis zu dem Tag, an dem ein junges Mädchen pudelnass in eine Party seiner Eltern platzte und seinem Vater die Stirn bot. Weil sie einen Traum hatte, einen Traum, für den sie zu kämpfen bereit war. Das war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass aus einem kleinen Mädchen eine Jugendliche geworden war, und dass sie mehr innere Stärke besaß als er. Dennoch hat es ein paar Jahre gedauert, bis er seine wahren Gefühle für sie verstand.«

Ich strich mir mit der Hand eine Haarsträhne, die mich an der Wange kitzelte, hinter das Ohr.

»Das hat er dir erzählt?«

»Ja, und das Mädchen, das ihm damals das Herz brach, warst du, Vera. Weil du ihm nicht glaubtest, dass er deine Freundin lediglich nach Hause gebracht und nicht mit ihr geschlafen hatte.«

»Es ist schwer, jemandem zu glauben, wenn man gerade von der Freundin kommt, die sich die Augen aus dem Kopf heult, weil sie mit Henning geschlafen hat und er sie seitdem ignoriert.«

»Sie hat gelogen.«

»Das weiß ich inzwischen auch«, gab ich zu, und trotzdem spürte ich den Ärger in mir aufkommen. »Weißt du, wie oft ich über ihn im Stall mit seinen Mädchen gestolpert bin?«

Sie seufzte. »Ich kann es mir vorstellen. Wie gesagt, Jake und Henning sind sich sehr ähnlich. Beide besitzen diesen unwiderstehlichen Lausbubencharme. Man kann ihnen nie wirklich etwas übel nehmen und gleichzeitig zieht er Frauen magisch an. Sie sind reich und intelligent, und die Frauen machen es ihnen viel zu leicht. Sie mussten sich beide nie in ihrem Leben für etwas anstrengen – im Gegensatz zu dir.«

»Und das soll jetzt eine Entschuldigung für ihr Verhalten sein?«

»Natürlich nicht. Weißt du, als Jake Fanny über den Weg lief, da wusste ich es auf Anhieb. Das ist sie, das ist die richtige Frau für unseren Jake. Lange genug hat es gedauert, bis er es begriffen hat. Inzwischen gibt es nur noch eine Frau in seinem Leben, und in zwei Wochen wird er Vater. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ausgerechnet Jake.«

In meinem Magen bildete sich ein Klumpen und mir wurde leicht übel.

»Ich ...« Tief holte ich Luft.

»Vera, du hast mir heute eine Riesenfreude gemacht. Du hast etwas in mein Leben zurückgebracht, was ich für immer verloren glaubte. Lass mich dir als alte Frau von drei Söhnen einen kleinen Rat geben. Henning liebt dich, schon damals, und heute mehr denn je. Er liebt dich exakt so, wie du bist. Weder Selina mit ihrer Schönheit noch Therese mit all ihrer Intelligenz und ihrem Marlene-Dietrich-Aussehen haben es geschafft, sein Herz zu erobern. Und glaube mir, Therese ist stinksauer, denn sie bekommt sonst immer, was sie will. In der Hinsicht ist sie sowohl Henning als auch Jake ähnlich. Doch dir gehört sein Herz. Für dich würde er die Welt anhalten, wenn es das ist, was du willst, und das kann ein verdammt beängstigendes Gefühl für einen Mann sein. Er hat es nicht verdient, dass du ihm ein zweites Mal das Herz brichst.«

Ich schluckte schwer. Auf meinen Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Wir hatten das Hotel erreicht und ich wusste nicht, was ich erwidern sollte.

»Ist es so schlimm, dass er sich Sorgen um dich macht?« Sie deutete auf die Jackentasche, in der sich das Smartphone beulte. »Damit möchte er nur sicherstellen, dass er deine Stimme hören kann, wenn er wieder in Kanada ist und du hier. Wenn du das Telefonieren nicht magst, dann schreib weiter deine SMS. Du müsstest mal sein Grinsen sehen, wenn du ihm eine deiner knappen Nachrichten schickst. Mehr will er gar nicht. Er möchte nur das Gefühl haben, dass er ein Teil deines Lebens ist. Wissen, dass du für ihn etwas Ähnliches empfindest, was er für dich empfindet.«

»Und wenn es nicht reicht, was wir füreinander empfinden? Wir beide leben in vollkommen unterschiedlichen Welten.«

Loreen lachte auf, beugte sich vor und küsste mich auf die Wange, dieselbe Geste, die auch Henning bei Mama vollzogen hatte.

»Glaub mir, Vera, ich habe euch gestern beobachtet, es reicht. Wenn du den Mut findest, ihm einen Platz in deinem Leben einzuräumen, und bereit bist, ihm zu vertrauen.«

Sie stieg aus, drehte sich nochmals zu mir um.

»Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Therese wird nicht lockerlassen, und sie ist jemand, der sehr genau weiß, wo die Schwächen eines Gegners liegen, und diese gnadenlos ausnutzt. Mein Bruder David kann dir ein Lied davon singen. Er und Therese waren fünf Jahre lang ein Paar, und ich bin mir bis heute nicht sicher, wer wem den Laufpass gegeben hat und warum.«


Es war still in Hennings Wohnung, als ich die Tür aufschloss. Ich hatte lange Zeit im geparkten Auto vor seiner Wohnung gesessen und versucht, mir über meine Gefühle klar zu werden. Doch ich war mir meiner Sache längst nicht so sicher wie Loreen.

Er saß ihm Wohnzimmer auf dem Rand eines Sessels, die Arme auf den Knien abgelegt, und starrte ins Feuer. Auf dem Beistelltisch neben dem Sessel stand ein Glas mit Eiswürfeln und einer goldfarbenen Flüssigkeit. Ich konnte mich nicht erinnern, Henning jemals Whiskey trinken gesehen zu haben, seit wir zusammenlebten. Konnte man es überhaupt als Zusammenleben bezeichnen? Ich hatte noch immer das Zimmer bei meinen Eltern, wo der Großteil meiner Sachen verstaut war. Ich schlief nur hier, wenn Henning zu Hause war. Er sah auf. Es war nicht das erste Glas, das er getrunken hatte.

»Ich hatte nicht erwartet, dass du kommst.«

Ich blieb stehen, biss mir auf die Unterlippe. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Auch ich war von mir selbst überrascht. Normalerweise, wenn wir einen ernsthaften Streit hatten, blieb ich auf dem Hof bei meinen Pferden und arbeitete bis zum Rande meiner Kräfte, bis ich mich wieder beruhigte. Er hatte offensichtlich eine andere Methode, um mit dem Ärger umzugehen. Eine, die mir überhaupt nicht gefiel.

»Soll ich wieder gehen?«

Er lehnte sich zurück, nahm das Glas, trank einen Schluck, verzog das Gesicht und stellte es wieder ab.

»Nein«, kam es leise über seine Lippen.

Ich ging zu ihm. Setzte mich auf die Couch, einen Fuß unter meinem Hintern.

»Es tut mir leid, dass ich das Handy nicht dabeihatte«, begann ich schließlich, als er weiter in das Feuer starrte und keine Anstalten machte, zu reden. Langsam wandt er den Kopf.

»Was hat dir Loreen erzählt?«

Klar, er war ja nicht doof. Ich starrte auf meine Hände mit den kurzen Fingernägeln. Die Schwielen in den Innenflächen. Meine Jogginghose, die ich nur rasch übergestreift hatte, weil ich ja lediglich Loreen zum Hotel hatte fahren wollen.

»Dass ich dir damals das Herz gebrochen habe.«

»Das hast du, aber es war meine eigene Schuld. Ich wollte zu viel, zu schnell, und ich scheine kein Stück aus meinen Fehlern gelernt zu haben. Dabei rühme ich mich immer, dass ich gut darin bin, aus meinen Fehlern zu lernen.«

»Es tut mir leid, ich …«

Er verdrehte die Augen, nahm mit demselben angewiderten Gesichtsausdruck wie zuvor einen weiteren Schluck aus dem Glas. Warum trank er das Zeug, wenn er es nicht mochte?

»Hör auf, dich zu entschuldigen. Du musst dich nicht dafür rechtfertigen, was du fühlst und was du nicht fühlst.«

»Ich liebe dich«, erklärte ich und spürte gleichzeitig, dass die Worte irgendwie hohl klangen.

»Ach ja?« Ganz behutsam stellte er das Glas ab, beugte sich vor und seinen sonst braunen Augen wirkten beinahe schwarz, als er mich ansah. »Dann verrate mir eins, Vera: Wenn ich dich vor die Wahl stellen würde – ich oder Duke, wie würdest du dich entscheiden?«

Ich starrte ihn erschrocken an, dann senkte ich rasch den Blick. Krampfhaft suchte ich nach Worten, wusste, dass, wenn ich log, er es merken würde.

»Schon gut, du brauchst darauf nicht zu antworten, ich weiß es auch so.«

Sein Handy gab einen sanften Signalton von sich. Er stand auf und ging erstaunlich koordiniert zu der Treppe, die zu seinem Büro führte. »Ich habe gleich einen Conference Call, den ich verschoben hatte, weil Alan beinahe verrückt vor Sorge um Loreen war.«

Er drehte sich am Treppenabsatz noch einmal um, sah mich an. »Hat dir Loreen auch erzählt, dass sie damals bei dem Ausritt im tiefen Winter mehr Glück hatte als ihre Freundin? Sie kam mit einem gebrochenen Arm davon. Der Fuß ihrer Freundin hingegen hatte sich im Steigbügel verfangen. Sie wurde von dem panischen Pferd hundert Meter mitgerissen und starb noch an der Unfallstelle. Ich habe Alan noch nie krank vor Sorge gesehen. Heute war es das erste Mal. Darüber solltest du mal nachdenken.«

Lange sah ich ihm nach. Schließlich raffte ich mich auf und ging ins Schlafzimmer. Ich zog mich aus, nahm das Smartphone, stöpselte es an das Ladekabel und legte es auf die Kommode. Auf dem Boden verteilt lagen unsere Sachen von gestern, keiner von uns hatte sich die Mühe gemacht, sie wegzuräumen. Ich begann sie aufzusammeln, hängte das Etuikleid auf einen Bügel. Die Anzughose von Henning klemmte ich an den Hosenbeinen in einen Hosenbügel, als aus der Tasche ein kleines samtenes Kästchen herausglitt, das auf dem Boden landete. Ich sah es an, als wäre es eine giftige Schlange. Langsam bückte ich mich, beäugte es von allen Seiten. Mein Herz begann in der Brust zu hämmern wie damals, als ich das erste Mal gewagt hatte, mich wieder auf ein Pferd zu setzen. Ich öffnete es. Ein schmaler goldener Ring mit vier winzigen dunkelroten Steinen, die so in das Metall eingearbeitet waren, dass ich sie nur spüren konnte, wenn mein Finger darüberglitt. Geschaffen für eine Frau, die viel mit den Händen arbeitete und es sich nicht leisten konnte, dass sie dabei hängen blieb. Vorsichtig, als könnte er zerbrechen, nahm ich ihn heraus und streifte ihn über meinen linken Ringfinger. Er passte perfekt. Hastig zog ich ihn wieder ab, verpackte ihn in das Kästchen, nahm die Hose vom Bügel, schob das Kästchen wieder in die Hosentasche und versuchte mich zu erinnern, wo auf dem Boden die Hose gelegen hatte.


Ich versuchte zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Zu viel ging mir durch den Kopf. Leise schlich Henning ins Schlafzimmer, machte statt der Deckenleuchte nur das Licht in der Ankleide an. Ich versuchte, flach zu atmen, mich nicht zu rühren. Er schien zu stolpern oder auf etwas zu treten, fluchte leise, dann war es einen Moment lang ruhig. Ich hörte, wie ein Schnappverschluss sich öffnete, dann, wie das Kästchen leise wieder geschlossen wurde. Kurz darauf die Schublade seines Nachtschränkchens. Danach ging er endlich ins Bad. Ich atmete auf, weil ich unbewusst die Luft angehalten hatte. Super, auf diese Weise schlief ich bestimmt immer, mit angehaltenem Atem. Ich veränderte meine Position in eine bequemere Haltung und legte mich auf die Seite. Genauso leise, wie er zuvor das Zimmer betreten hatte, kam Henning aus dem Badezimmer zurück und schlüpfte ins Bett, nachdem er das Licht in der Ankleide ausgemacht hatte. Ich wartete darauf, dass er sich an mich schmiegte, wie er es immer machte. Dass er seinen Arm um mich legte, seine Hand unter mein T-Shirt wanderte und er sie unter meinen Busen schob. Nichts geschah. Keine fünf Minuten später hörte ich seine gleichmäßigen Atemzüge. Achtsam drehte ich mich um. Er lag von mir abgewandt ganz am Rand des Bettes. Ich betrachtete seinen Rücken. Er liebt dich genau so, wie du bist, hörte ich Loreens Stimme in meinen Kopf. War ich bereit ihn zu lieben, wie er war?

7

PFERDE

Ich musste schmunzeln. Manchmal fragte ich mich, ob ein Pferd das Verhalten zu seinem Namen annahm oder ob der Besitzer im Vorfeld instinktiv den passenden wählte. Ragazzo, ein zwölfjähriger Fuchswallach, machte seinem italienischen Namen, der übersetzt schlicht „Bursche“ bedeutete, alle Ehre. Ständig schien er auf Schabernack aus und war dabei in seiner ganzen Art einfach nur süß. Es half nichts, auch er brauchte eine strengere Hand, als er es offensichtlich gewohnt war. Das Problem bei einem Sportler wie Ragazzo, der mit einer starken Entzündung der Beugesehne zu uns gebracht worden war, bestand darin, eine Balance zwischen Stillstehen und behutsamer Belastung zu finden. Klar sorgten Instinkte und Schmerzen dafür, dass ein Pferd sich weniger bewegte und das betroffene Bein entlastete. Kaum bekam es Schmerzmittel, veränderte es jedoch sein Verhalten. Dabei waren die Schmerzmittel oft ein Teil der Therapie, da sie die Entzündung linderten. Zusammen mit Dr. Brenner hatten wir uns für eine Kombination aus Spritzen in den betroffenen Bereich, Umschlägen, einer sanften Umstellung der Ernährung mit einem Beifüttern von Kräutern, die den Stoffwechselprozess unterstützten, sowie einem strengen Bewegungsplan entschieden.

Ich war davon überzeugt, dass ein Pferd die Frischluft brauchte, weshalb ich ihm morgens einen eingeschränkten Bereich auf dem Paddock zugestand und dabei gleichzeitig die Box verkleinerte. Auf diese Weise kam er raus, mit eingeschränktem Bewegungsspielraum. Als er zu uns gekommen war, war er regelrecht aus dem Hänger geschossen. Voll überschäumender Energie hatte er sich im Kreis gedreht, gewiehert und gegen die Boxenwand geschlagen. Eine Katastrophe für die Entzündung seines rechten Vorderbeines. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Tier erst einmal zur Ruhe kommen zu lassen. Mit viel Geduld, Massagen, Akupunktur und Papas Wundermittel, das er erst nicht fressen wollte, war er langsam heruntergekommen. Inzwischen waren wir bei einem Zustand angekommen, in dem ich die erste Bodenarbeit mit ihm wagte. Da Dr. Brenner sowieso heute wegen der Fohlen vorbeikommen wollte, würden wir gleich den Trainingsplan für Ragazzo, Gavan, Jalano, Fabienne und Luvre durchsprechen.

Puh, es würde ein anstrengendes Frühjahr werden, mit all den Trainings- und Rehapferden. Vor allem Letztere waren deutlich arbeitsintensiver, weshalb ich für sie auch mehr Geld verlangte. Dennoch reichte es nicht für das Aqualaufband, das ich ins Auge gefasst hatte. Seit Längerem liebäugelte ich damit. Alternativ überlegte ich, ein Becken auszubaggern und dort einen Rundgang anlegen zu lassen. Beide Varianten hatte ich durchgerechnet, doch sie waren budgetmäßig einfach nicht drin.

Für die Bezahlung der Schenkungssteuer hatte ich einen Kredit aufgenommen, der mich monatlich 1.350 Euro an Tilgung und Zinsen kostete. Dabei hatte ich mit der Bewertung der Immobilie noch Glück gehabt. Erich hatte den Hof in Form einer Schenkung an mich übertragen. Der Verkehrswert sowie die Werte der Anlage und der Pferde waren von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft von EKTASYS auf einen Betrag festgelegt worden. Auf dieser Basis und unter Berücksichtigung unseres nicht vorhandenen Verwandtschaftsgrads berechnete das Finanzamt die Schenkungssteuer, die ich bezahlen musste. Der Großteil meiner Ersparnisse, bis auf eine Notreserve, war draufgegangen. Ich wollte mir den Gürtel nicht zu eng schnallen. Henning hatte mir ein zinsloses Darlehen angeboten, doch das hatte ich abgelehnt. Ich wollte nicht auf das Geld der Sanders zurückgreifen, um eine Schenkung von ihnen zu bezahlen. Henning hatte es akzeptiert.

Die Hälfte meiner Gesamteinnahmen aus dem Training und der Reha ging für meine Mitarbeiter drauf. Papa wollte zwar weniger als früher haben, doch auch darauf ließ ich mich nicht ein. Futterkosten, Tierarzt, Hufschmied, Einstreu, das alles hatte ich bis zur Grenze optimiert – auch dank Hennings technischen Tüfteleien. Alle Pferde, die wir hatten verkaufen können, waren verkauft, und das einzige flexible Einkommen stellte meine Beteiligung an den Preisgeldern für die Turniere von Thomas’ Pferden dar. Es war eine enge Kalkulation, über die ich oft in den Abendstunden brütete, wenn Henning beruflich unterwegs war. Ich wollte nicht, dass er mitbekam, wie eng es war.

Es gab nur zwei Punkte, bei denen ich zu einem Kompromiss bereit gewesen war. Meine Eltern zahlten eine Miete dafür, dass sie auf dem Gutshof wohnten, der ja jetzt mir gehörte, und ich wohnte frei bei Henning. Bei den Lebensmitteln achtete ich darauf, dass auch ich meinen Beitrag leistete. Auch wenn Henning jedes Mal ein Gesicht machte, als hätte er Zahnschmerzen. Leichter würde es werden, wenn ich dem Wunsch der Besitzer meiner drei Ausbildungspferde nachgeben und ihre Pferde auf den Turnieren reiten würde. Aber dazu hatte ich mich bisher nicht durchringen können. Mit einem Anbau, auch das hatte ich mithilfe von Bettina anhand der Zahlen der Vergangenheit durchgerechnet, könnte ich die Anzahl der Einstellerpferde erhöhen. Aber das wiederum würde meine Fixkosten erhöhen, denn ich bräuchte entweder ein oder zwei weitere Auszubildende oder einen Pferdewirt, der mich auch bei den Turnieren entlasten konnte. Bettina hatte den Vorschlag gemacht, dass ich mal über Workshops oder Sponsoren nachdenken sollte, wie das andere Profiställe machten.

Früher, als der Hof noch Erich Sander gehört hatte, war es im Grunde egal gewesen, wie viel er abwarf. Herr Sander hatte ihn als Abschreibungsobjekt gesehen, das ihm Prestige sowie geschäftliche Kontakte brachte und seine Steuerlast minimierte. Dennoch hatte Papa es in kürzester Zeit geschafft, den Hof in die schwarzen Zahlen zu bringen. Bis zu dem Tag, an dem ich abgehauen war. Langsam und stetig war es bergab gegangen. In gewisser Weise war das bei der Schenkungssteuer ein Vorteil für mich, da der Ertragswert niedriger angesetzt worden war.


Ich verdrängte die Sorgen, die als Pferdstallbesitzerin auf meinen Schultern lasteten, als ich mit der Arbeit mit Ragazzo begann. Konzentriert und vor allem mit viel Ruhe wanderte ich mit ihm über den Bodenparcours vorwärts, seitwärts und rückwärts. Ich stellte immer wieder fest, dass die Pferde, wenn ich ihnen etwas zum Denken gab, automatisch langsamer und bewusster arbeiteten. Obwohl wir alles nur im Schritt machten, begann Ragazzo leicht zu schwitzen. Sorgsam überprüfte ich seine Beine, tastete die Sehne ab, die den Ärger machte, und ließ ihn sich am Ende auf unserem Platz wälzen. Er war unglaublich geschickt darin, seinen Rücken zu schrubben, mit allen Vieren in der Luft. Ich machte mit dem Smartphone eine zwölfsekündige Videoaufnahme und schickte sie Henning mit den Worten: Italiener verstehen es einfach, das Leben zu genießen.

Weiter ging es mit dem nächsten Rehapferd, Fabienne, die zu Anfang eine intensive Massage bekam, nachdem sie zuvor von Melanie für zehn Minuten unter das Solarium gestellt worden war. Sie sollte nicht mehr zurück in den aktiven Turniersport. Allerdings wollten die Besitzer sie weiterhin für die Ausbildung der Nachwuchsreiter verwenden. Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Natürlich machte es einen Unterschied, ob ein Pferd, das S-Springen gegangen war, nur noch auf L- oder M-Turnieren startete, doch es gab schließlich auch noch die reiterliche Komponente. Das Gewicht, der leichte Sitz, die Balance des Reiters, all das spielte eine Rolle für die Belastung beim Absolvieren eines Sprungs. Klar, einen Spitzensportler von heute auf morgen in die Rente zu schicken, ging auch nicht. Es galt, ein Mittelmaß zwischen Belastung und Entlastung zu finden. Für mich spielte die Freude dabei eine wesentliche Rolle.

Auch Fabienne machte ihrem französischen Namen alle Ehre. Sie war ein hübscher, zierlicher, goldener Fuchs, deren Fell im Sommer einen dunklen Aalstrich zeigte, der sich bereits beim Putzen abzeichnete. Ich liebte diese Farbe, den goldenen Ton, der in dem seidigen Fell schimmerte, kaum dass die Sonne darauf schien. Duke war ein dunkler, ja, beinahe kastanienfarbener Fuchs. Flying High war ein Brauner gewesen, mit viel Schwarzanteil, ganz Regent, der Vater.


Als Dr. Brenners Auto vorfuhr, hatte ich mit vier Rehapferden und einem Ausbildungspferd gearbeitet. Mein Magen knurrte, weil ich über der Arbeit das Essen vergessen hatte. Papa kam mit einer Banane aus dem Stall. Er und Sam hatten die vier Mutterstuten mit ihren Fohlen von der naheliegenden Weide zu unserem großen Paddock gebracht. Dr. Brenner war nicht allein gekommen, doch es war keine der Tierärztinnen oder Assistentinnen, die ihn sonst begleiteten.

»Madelaine?« Mein Vater reichte der jungen Frau die Hand.

»Herr Kamphoven! Sie sehen gar nicht aus, als hätten Sie eine Herz-OP hinter sich. Ehrlich gesagt, finde ich, Sie sehen besser aus als je zuvor. Die grauen Strähnen stehen Ihnen. Ich weiß auch nicht, was das ist, aber ich finde ältere Männer irgendwie attraktiver als jüngere Männer mit ihren austauschbaren Gesichtern.«

»Du wusstest bereits als kleines Mädchen, wie du die Männer nach deiner Pfeife tanzen lassen konntest, indem du ihnen Komplimente machst«, drohte ihr Papa mit erhobenem Zeigefinger, ließ es sich jedoch gefallen, als sie ihn umarmte. »Ich dachte, du wärest in England?«

»Nee, die Engländer sind mir einfach eine Spur zu kalt – und da sagen sie immer, wir Norddeutschen wären nicht herzlich.«

Sie wandte sich zu mir, strahlte mich mit ihren schokoladenbraunen Augen an. »Vera!«

»Madelaine, sag bloß, du bist mit deinem Studium der Tiermedizin fertig?«

Sie winkte ab. »Na, was dachtest du? Bei dem Vater bleibt einem ja gar nichts anderes übrig.«

An dem lag es nicht allein. Madelaine war schon in der Schule eine absolute Überfliegerin gewesen. Sie gehörte zu den Mädchen, die nur Einsen mit nach Hause brachten, und hatte geheult, wenn sie mal eine Zwei bekam. Wir waren gleichaltrig, doch hatten sich unsere Wege nach der Grundschule getrennt. Ich war zur Hauptschule gegangen, sie zum Gymnasium. Die sechste Klasse übersprang sie, die neunte ebenfalls. Wenn sie ihren Vater mal begleitet hatte, gab es nur eine einzige Sache, die uns beide verband, und das war die Liebe zu den Pferden.

Wir schüttelten uns die Hände und blieben beide ein wenig auf Distanz. Sie besaß einen kräftigen Händedruck, ihre schwarzen Haare hatte sie wie ich zu einem Pferdeschwanz gebunden und eine Kappe mit dem Logo der Tierklinik auf ihrem Kopf.

»Nun ja, sie hatte natürlich den Vorteil, dass sie viel Praxiserfahrung mitbrachte und unglaublich ehrgeizig ist.«

»Papa«, entrüstete sich Madelaine.

»Also heißt es jetzt zweimal Dr. Brenner«, grinste Papa. Nie war ein Wort über seine Lippen gekommen, wenn ich mal wieder mit einer Vier in Mathe nach Hause gekommen war. Dennoch hatte es Momente in meinem Leben gegeben, in denen ich eifersüchtig auf Madelaine gewesen war. Papa hatte sie ins Herz geschlossen und war genauso stolz auf ihre Leistungen wie Dr. Brenner.

Madelaine strahlte. »Seit exakt zwei Monaten. Immerhin das verdanke ich den Engländern, die mir ein Thema für meine Doktorarbeit gegeben haben.«

»Wollen wir?«, drängte ich mit einem raschen Blick auf die Uhr. Auch für heute war ich mit Loreen zu einem Ausritt verabredet.

»Klar«, kam es munter von Madelaine. »Wo sind denn die Mutterstuten mit ihren Fohlen? Im Stall?«

Ihr Vater holte bereits die Taschen mit den Utensilien und Medikamenten aus dem Auto.

»Sie sind nicht im Stall, sie stehen auf dem großen Paddock hinter der Halle. Papa und Sam haben sie von der Wiese hochgeholt.«

»Hast du keine Angst, dass sie sich verletzen könnten? Sie sind doch bestimmt wertvoll?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wir sind der Meinung, je natürlicher die Pferde aufwachsen, desto gesünder ist es für alle. Die meisten Landesgestüte halten es ähnlich wie wir. Denk nur an Marbach.«

Sie folgte ihrem Vater. »Ihr müsst es wissen.«


Zu meinem Neid musste ich gestehen, dass Madelaine ein Händchen für Pferde besaß. Sie strahlte Ruhe aus, verfügte über Geduld, scheute sich nicht davor, sich dreckig zu machen, und schien alles, was ihr Vater sagte, in sich aufzusaugen. Erstaunlicherweise hielt sie bei der Arbeit den Mund und war voll konzentriert. Weil die beiden ohne Worte prima miteinander zusammenarbeiteten, waren wir schneller fertig als geplant. Wir gingen zu den Rehapferden. Wenn sich Madelaine einmischte und eine Frage stellte, war sie knapp. Aufmerksam beobachtete sie die Bewegungsabläufe, bat mich bei Gavan, den ich am Führstrick vorführte, zweimal, eine Wendung zu wiederholen.

»Wie lautet die Diagnose bei Gavan?«, fragte sie schließlich mit gerunzelter Stirn.

»Er hat auf der Weide herumgetobt, ist gestürzt und hatte Schwierigkeiten, wieder aufzustehen. Am nächsten Tag lahmte er heftig. Der Tierarzt sagte, es wäre ein Problem mit dem Kreuzdarmbeingelenk, und verordnete Boxenruhe. Doch es brachte nichts. Dann versuchten sie es mit einem langsamen Training, aber die Besitzer sind recht unerfahren.« Ich strich ihm über den Hals. »Gavan war der Sieger im Bundeschampionat Vielseitigkeit. Sie haben ihn für ihre Tochter gekauft. Die Eltern reiten beide nicht. Es sind Einsteller auf dem Wiesenhof. Lasse trainiert das Mädchen. Auf seine Empfehlung hin haben sie sich an mich gewendet.«

Madelaine tastete mit den Fingern Gavans Rücken ab. Vor allem im hinteren Bereich, dort wo das Gelenk lag, reagierte er und wich dem Druck aus, legte die Ohren an, ja ging einmal regelrecht in die Knie.

»Wie alt?«

»In zwei Monaten wird er sechs.«

»Ganz ruhig, ich tue dir nichts. Papa?«

Er ging auf die andere Seite, während ich versuchte, Gavan ruhig zu halten und ein wenig abzulenken. Auch Madelaines Vater tastete mit gerunzelter Stirn die Wirbelsäule entlang.

»Wurde er geröntgt?«, wollte sie wissen.

»Er war kein günstiges Pferd, ich denke, dass eine sorgfältige Ankaufuntersuchung stattfand.«

»Manchmal entsteht Kissing Spine auch durch eine zu frühe Belastung und zeigt sich erst später.«

»Lasse ist ein ausgezeichneter Trainer, er hat auch mich und Thomas unterrichtet«, protestierte ich. Diese Diagnose konnte das Aus für das Pferd bedeuten.

»Die jungen Leute sind heutzutage manchmal weniger gelehrig und vor allem weniger geduldig. Vergiss nicht, wie oft Lasse für seine Schüler Zeit hat. Einmal im Monat ein Workshop?«, merkte Madelaine an.

»Dennoch, wäre es nicht schon früher aufgefallen?«

»Schau, rein theoretisch kann es auch erst durch den Weideunfall und die Boxenruhe zum Vorschein gekommen sein. Vielleicht kommt auch beides zusammen, eine Blockade des Kreuzdarmbeingelenks und Kissing Spine.«

»Na super«, stöhnte ich.

»Du weißt, dass das heute nicht mehr das Ende für ein Pferd bedeutet. Es ist nur umso wichtiger, dass die Muskulatur sauber aufgebaut und die Reitweise entsprechend feinfühlig angepasst wird. Kein zwanghaftes Aufrichten mit Hilfsmitteln. Wie schätzt du das Pferd ein?«

»Unglaublich lauf- und arbeitswillig, er bietet sich an, ein Pferd, das gerne zeigt, was in ihm steckt. Lasse ist ganz begeistert von ihm.«

»Wäre typisch für eine zu frühe Belastung. Generell plädiere ich dafür, dass die Leistungsanforderungen an die Pferde wieder runtergeschraubt werden. Späteres Anreiten, späterer Einstieg in die schweren Klassen, und zwar gerade beim Springen und der Vielseitigkeit Parcours, die das reiterliche Geschick und das Zusammenspiel von Mensch und Pferd in den Vordergrund stellen, statt höher, weiter, länger und immer schneller. Übrigens gilt das in meinen Augen auch für den Hochleistungssport bei Menschen«, dozierte Madelaine für ihre jungen Jahre ziemlich altklug. Dr. Brenner huschte ein Lächeln über das Gesicht. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Soll ich mit den Besitzern sprechen?«, wollte sie wissen.

»Ich rufe sie an.«

Madelaine sah mich an und ich merkte, dass sie noch mehr auf dem Herzen hatte. Neugierig wartete ich ab.

»Ich bin gerade an einer Studie dran, bei der es um Behandlungsmethoden für Kissing Spine geht. Eine Kombination aus Medikamenten, Reitweise, Training mit Muskulaturaufbau, Haltung und Fütterung. Gavan wäre ein ideales Pferd dafür.«

»Wenn die Diagnose stimmt«, bremste ich sie. »Für viele Besitzer ist das ein Schock, und ich hoffe, ehrlich gesagt, dass ihr beide es falsch einschätzt. Er sollte das Turnierpferd der Tochter werden. Weder können sie es mit Kissing Spine verkaufen noch es für den Zweck einsetzen, für den sie es erworben haben.«

»Es muss keineswegs ein generelles Aus für den Einsatz im Sport sein«, wandte Madelaine ein.

»Würdest du es in einem Turnier reiten?«

»Es kommt darauf an. Genau das ist einer meiner Schwerpunkte: Wie kann das Pferd mit der Diagnose noch im Sport oder in der Freizeit eingesetzt werden?«

Ich schüttelte den Kopf, strich Gavan über seinen weichen Nüstern. Er war ein unglaublich lieber Kerl. Sanftmütig, leicht im Umgang, ohne irgendwelche Mucken. Die Tochter der Besitzer war bisher nur einmal vorbeigekommen. Sie war mitten im Abitur und hatte angeblich keine Zeit, weil sie lernen musste. Ich konnte das nicht nachvollziehen. Mit dem Auto, und selbstverständlich besaß sie ein eigenes, dauerte es maximal eine halbe Stunde zu uns.

»Ich hoffe auch, dass es eine Fehleinschätzung von uns ist, aber wenn nicht …«

»Liegt es in den Händen der Besitzer.« Ich schluckte, weil ich ahnte, wie diese darauf reagieren würden. Warum konnten Pferde nicht einfach ein Teil der Familie sein? Wäre es nach allen anderen gegangen, einschließlich Dr. Brenner, hätten wir Duke eingeschläfert. Ich durfte gar nicht daran denken, dann wurde mir immer noch ganz schlecht. Ich konnte nur hoffen, dass die Brenners eine Fehldiagnose getroffen hatten.

8

ERKENNTNISSE

Loreen war noch nicht aufgetaucht. Ich hatte Duke bereits gesattelt, weil ich diesmal im Vorfeld mit ihm ein wenig trainieren wollte. Mir war durch Gavan bewusst geworden, wie wichtig es für ihn war, wieder mehr Muskulatur aufzubauen. Er war ein Hochleistungssportler, ob ich es wollte oder nicht. Langsam wärmten wir uns auf. Es war immer wieder eine Wonne, ihn zu reiten, nicht nur im Gelände. Trotz allem, was er erlebt hatte, liebte er die Arbeit. Mit minimalen Hilfen wechselte er in die verschiedenen Gangarten. Halb schloss ich die Augen, tauchte ein in das Gefühl seiner Bewegungen, denen ich mich mühelos anpasste. Es kam mir vor, als könnte ich jeden Muskel spüren, jedes Abfedern, jeden Tritt. Ganz von selbst hörte ich einen Song in meinem Kopf, der zu unserem gemeinsamen Rhythmus passte.

Als würde er ihn genauso hören wie ich, wurden seine Schritte raumgreifender, wurden die Galoppsprünge kraftvoller, runder. Bei Gott, er bot mir wirklich alles an. Ganz von selbst lenkte ich ihn auf den Zaun zu und wir setzten über. Er prustete, schüttelte kurz den Kopf, schlug mit dem Schweif. Ich konnte seine Freude unter mir spüren. Ich lachte, ließ die Zügel aus der Hand gleiten und klopfte ihm mit beiden Händen im Takt seiner Galoppsprünge den Hals. Ein leichter Richtungswechsel und wir setzten über den Zaun unseres Springplatzes. Wir hatten einen M-Parcours aufgebaut. Ich breitete die Arme aus, als ob ich fliegen wollte, lenkte ihn auf die Dreifach-Kombination zu. Er sprang, als wären es lediglich auf dem Boden liegende Baumstämme. Unglaublich, diese Sprungkraft, die er besaß, dieses genaue Gefühl für das Tempo, den exakten Absprungpunkt, wie er die Hinterbeine anzog. Ich nahm die Zügel auf, bekam ihn mühelos wieder zurück und wir absolvierten den gesamten Parcours mit derselben Freude und Lockerheit wie zuvor. Ich parierte ihn durch. Wie eine Statue blieb er stehen. Sein Atem ging rasch, Schweiß hatte sich auf seinem Hals gebildet. Das Bein über seinen Kopf schwingend, rutschte ich hinunter. Er schüttelte sich, prustete, dann sah er mich an und stupste mir sanft den Arm.

»Ich weiß. Du bist der Beste, den es je gab, aber das, mein Süßer, bleibt unser Geheimnis. Niemand wird dich je wieder unter Druck setzen und dir die Freude am Springen nehmen, versprochen«, flüsterte ich und lehnte meine Stirn an seine. Für einen Moment tauchte ich ein in eine andere Zeit, zu einem anderen Pferd. Damals stand ich mit ihm genauso da, nur dass ich ein gebrochenes Herz hatte und jemand den Augenblick mit einer Kamera festhielt. Ich öffnete die Augen, küsste seine weichen Nüstern und wandte mich ab. Ohne dass ich die Zügel hätte nehmen müssen, trottete Duke mir brav hinterher, als ich auf das Eingangstor zum Springplatz zusteuerte. Zwei Menschen standen dort. Loreen, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, und David, dem die Kinnlade herunterhing. Ich sah in seinen Augen, was ich bei jedem ambitionierten Turnierreiter sehen würde, der uns beim Springen beobachtete. Ich baute sorgsam meinen Schutzwall auf.


»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. David hat mich aufgehalten, weil er unbedingt mitwollte«, erklärte Loreen.

»Mir tut es überhaupt nicht leid. Ist dir klar, was du da reitest?«

»Ein Pferd?«, versuchte ich der Begeisterung, die aus jeder seiner Poren zu leuchten schien, mit Spott zu begegnen.

»Ein Pferd? Nein, er wird das nächste Pferd sein, dem ein Denkmal in der Halle des Springsports gebaut wird. Der könnte ohne Problem die doppelte Höhe springen und hätte vermutlich noch Luft darunter.«

»David, du übertreibst«, versuchte Loreen, ihn zu bremsen.

»Vera es ist eine Schande, dass du ihn hier auf dem Hof versauern lässt. Du hast kein Recht, ihn vor der Welt zu verstecken!«

Verärgert runzelte ich die Stirn. »Kein Recht? Er ist mein Pferd, und wie deine Schwester bereits sagte, du übertreibst maßlos.«

Bevor ich erkannte, was er vorhatte, schlüpfte David durch den Zaun, kam auf uns beide zu. Forschen Schrittes, mit hektischen Flecken auf den Wangen und einem erregten Glänzen in den Augen kam er auf mich zu. Mit regelrecht gebleckten Zähnen schoss Duke hinter mir hervor, geistesgegenwärtig fasste ich David am Ärmel, zerrte ihn zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht, musste einen Seitwärtsschritt machen. Rasch ließ ich ihn los, ergriff die Zügel und bremste den Hengst. Duke hatte die Ohren noch immer flach angelegt. Ich atmete tief durch, ruckte einmal kurz an den Zügeln, der Hengst wich gehorsam einen Schritt zurück. Seine Aufmerksamkeit blieb aber auf David gerichtet, der, ein wenig blass um die Nase, die Sicherheit hinter dem Zaun suchte.

»Und genau das ist einer der unzähligen Gründe, warum es besser ist, dass er genau hier auf dem Hof bleibt und nirgendwo anders.«

»Warum hat er das gemacht?« Loreen wirkte nicht im Mindesten geschockt oder ängstlich. Eher sah ich eine gewisse neugierige Faszination, mit der sie Duke betrachtete. »Ich meine, gestern hat er einem Mädchen ohne zu zögern das Leben gerettet und sie brav getragen, als könne er kein Wässerchen trüben.«

Ich kraulte Duke die Mähne und spürte, wie er langsam entspannter wurde.

»Keine Ahnung. Vielleicht liegt es daran, dass er mit Männern schlechte Erfahrungen verbindet.«

»Aber als dein Vater gestern in den Stall kam und an ihm vorbeiging, machte er keinerlei Anstalten, nach ihm zu schnappen. Auch als wir hier standen, war es ihm egal. Erst als David auf den Platz kam und auf dich losstürmte, griff er ihn an.«

»Er hat ihn nicht angegriffen«, versuchte ich die Situation abzuschwächen.

»Du übertreibst, Loreen«, brummte jetzt auch David. Er wirkte nachdenklich. Sein Blick ging zwischen mir und Duke hin und her. Eine unangenehme Stille kam auf. Krampfhaft suchte ich nach einem anderen Gesprächsthema.

»Hast du noch Lust, mit mir auszureiten?«

»Total gerne.«

Zögernd sah ich David an. »Ich könnte mir anschauen, wie du mit Lady zurechtkommst.«

»Ich bin mit Thomas verabredet.«

»Oh.« Etwas Schlaueres fiel mir nicht ein.

»Therese, Selina, er und ich wollen im Anschluss noch essen gehen.«

Keine Ahnung, weshalb er mir das erzählte. Er war mir schließlich keine Rechenschaft schuldig.

»Ich habe etwas für dich«, grinste Loreen.

»Weshalb?«

»Weil ich dir eine kleine Freude machen wollte. Tataaa!« Sie nahm eine Stofftasche von der Schulter und kramte einen coolen, schlichten Gürtel mit einer Ledertasche hervor. Ich erkannte den Zweck sofort und erwiderte ihr Grinsen. Warum war mir das bisher nicht eingefallen?

»Ich dachte, das wäre für dich die praktischere Lösung bei deiner Arbeit.«

Trotz des Zaunes zwischen uns umarmte ich sie. »Danke, das war eine super Idee.«

David betrachtete uns, als hätten wir den Verstand verloren. Klar, Männer konnten sich eher für Autos begeistern als für Klamotten-Accessoires. Doch die Tasche war mehr als das, viel mehr. Ich fädelte den Gürtel in meine Reithose, nahm das Smartphone aus der Hosentasche, das mich heute die ganze Zeit bei der Arbeit genervt hatte, und packte es in die Tasche. Es passte perfekt.


Loreen wagte ihren ersten Bergaufgalopp und sogar einen Sprung über einen Baumstamm. Sie war nicht die Einzige, die den Ausritt genoss. Nobless harmonierte mit ihrer Reiterin. Sie prustete fünf Mal hintereinander, als wir eine Trabstrecke einlegten, was Loreen zum Lachen brachte.

»Am liebsten würde ich sie mitnehmen.«

Ich schluckte hart. Die beiden passten perfekt zusammen, doch unser Hof ohne Nobless? Nein. Sie gehörte hierher. Außerdem hatte Nobless, seit sie ein kleines Fohlen war, hier bei uns gelebt. Sie kannte nichts anderes, und sie von den vertrauten Weidegründen zu nehmen, kam nicht infrage. Ein Teil ihrer Ruhe und Ausgeglichenheit kam meiner Meinung nach daher, weil sie nie ein anderes Leben gekannt hatte. Alle Pferde, die zu uns kamen, egal wie hektisch und temperamentvoll, passten sich irgendwann unserem ruhigeren Rhythmus an.

»Keine Sorge, ich habe Alan gesagt, dass er erst gar nicht auf die Idee kommen soll, mit dir über sie zu verhandeln. Sie gehört auf euren Hof, das ist mir klar. Doch der Gedanke, wieder nach Kanada zu fliegen und mit dem Reiten aufzuhören, fällt mir schwer.«

Sie hielt inne. Wir ritten nebeneinander, ich musst mich ducken, als Duke und ich unter einem Ast herritten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739496542
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Pferdehof Pferdeausbildung Reiten Pferderoman Springreiten Turniere Liebesroman Liebe

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Duke vertrau mir