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Wolkenleichte Dünenküsse

von Ben Bertram (Autor:in) Kerry Greine (Autor:in)
280 Seiten

Zusammenfassung

Als ihr Mann zum wiederholten Mal wegen seiner Arbeit den gemeinsamen Urlaub auf Sylt absagt, ist Zoe nicht nur verletzt, sondern auch stinksauer. Sie beschließt, ohne ihn zu fahren und sich gemeinsam mit ihrer Hündin Percy eine schöne Zeit zu machen – nicht ahnend, dass eine Begegnung am Strand ihr ganzes Leben verändern wird. Liebe war weder geplant noch gewollt, doch wenn zwischen Dünen und Meer ein Feuerwerk im Bauch entsteht, ist man machtlos. Auch Percy und ihr neuer Hundefreund Anton sind daran nicht ganz unschuldig …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


~*~ Nicht ernsthaft ~*~



Hamburg, 01. März



„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Nick!“ In meinem Bauch brodelte es, als ich meinen Mann anschaute, doch dieser zuckte nur gelassen mit den Schultern.

„Ach komm, Zoe. Ich kann doch nichts dafür, dass das Projekt in Dubai nicht läuft. Da muss ich halt nach dem Rechten sehen.“ Versöhnlich strich Nick mir über den Arm und legte lächelnd den Kopf ein wenig schief. Eine Geste, bei der ich normalerweise dahinschmolz wie ein Eiswürfel in der heißen Sommersonne. Doch nicht heute, dafür war ich viel zu wütend und enttäuscht.

„Hat das nicht Zeit bis nach unserem Urlaub? Wir haben die Ferienwohnung schon vor Monaten gebucht.“

„Fahr doch ohne mich. Die Arbeit geht leider vor. Außerdem ist es ja nicht so, als wärst du nicht eh alle naselang auf Sylt. Wie oft war es im letzten Jahr? Und da warst du auch jedes Mal allein da. Ich denke nicht, dass du mich jetzt zum Händchenhalten brauchst. Pack deinen Laptop ein, dann kannst du ein bisschen arbeiten, wenn dir langweilig wird. Und ansonsten machst du dir halt eine schöne Zeit. Außerdem hast du ja auch noch Doro auf Sylt. Du bist also nicht ganz allein. Mach dir einfach ein paar schöne Mädelstage mit deiner Freundin.“ Nick versuchte, mich in seine Arme zu ziehen, doch ich trat drei Schritte zurück, bis ich die Fensterbank des Küchenfensters in meinem Rücken spürte.

„Darum geht es doch gar nicht! Auch wenn Doro meine beste Freundin ist, kann sie dich ja wohl kaum ersetzen. Außerdem … Ich möchte auf Sylt nicht arbeiten – ich wollte Zeit mit dir verbringen. Ich habe mich auf diesen Urlaub gefreut. Wir waren im gesamten letzten Jahr nicht ein einziges Mal zusammen verreist. Diese anderthalb Wochen sind so lange geplant – und nun ist dir die Arbeit schon wieder wichtiger. Das kann es doch nicht sein, oder?“ Ich sah, wie sich Nicks Hände zu Fäusten ballten, seine Augen verengten sich – ein deutliches Zeichen, dass auch ihn jetzt die Wut erfasste.

„Es ist mein Job, Zoe! Ein Job, bei dem ich sehr gutes Geld verdiene. Da ist es doch wohl selbstverständlich, dass ich dafür auch ein bisschen was leisten muss – dazu gehört nun mal auch, bei den Bauprojekten nach dem Rechten zu sehen und dorthin zu fahren, wenn etwas nicht so läuft, wie es geplant war. Natürlich ist es blöd, dass es gerade mit unserem Urlaub zusammenfällt, aber was soll ich denn machen? Dem Auftraggeber sagen, dass ich nicht komme? Dass meine Frau mir eine Szene macht, weil sie mit mir zehn Tage nach Sylt fahren will? Einem Ort, an dem sie sowieso ständig allein ist? Ehrlich, Zoe, ich glaube nicht, dass er dafür Verständnis hätte. Er würde mich auslachen – und mein Chef mich vermutlich feuern! Morgen früh um sieben geht mein Flieger. Keine Sorge, der Chauffeurdienst der Fluggesellschaft holt mich ab. Du musst mich nicht mal zum Flughafen fahren.“ Damit drehte er sich um und ließ mich stehen. Tränen der Wut stiegen mir in die Augen, als ich ihm hinterherschaute. Ich konnte nicht fassen, dass er mich so hängen ließ. Was sollte ich nur machen? Sollte ich wirklich fahren? Meine Lust, übermorgen allein in mein Auto zu steigen und nach Sylt zu reisen, hielt sich gerade in Grenzen. Aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass ich unglaublich sauer auf meinen Mann war.

Seit mittlerweile acht Jahren waren wir ein Paar, davon drei Jahre verheiratet. Aber seit einem Jahr hatte er sich verändert. Früher war es ihm wichtig gewesen, Zeit mit mir zu verbringen. Wir waren auf Konzerten gewesen, hatten Musicals besucht, waren an die Elbe gefahren und hatten uns einen schönen Tag gemacht. An den Wochenenden hatten wir spontan unsere Sachen gepackt, waren ins Auto gestiegen und hatten uns treiben lassen. Ich wusste nicht mehr, wie viele kuschelige, kleine Landgasthöfe wir in den Jahren unserer Beziehung besucht hatten. Wir waren einfach losgefahren und dort über Nacht geblieben, wo es uns gefiel. Mindestens dreimal im Jahr waren wir gemeinsam auf Sylt gewesen, zumindest für ein Wochenende, da Nick die Insel ebenso sehr liebte wie ich.

Doch irgendwann hatte sich all das geändert. Es war nicht der Alltag, der uns eingeholt hatte – es war Nicks neuer Job. Als Architekt hatte er vor knapp anderthalb Jahren bei einer internationalen Firma angefangen, die weltweit Großprojekte betreute. Für ihn war es eine riesengroße Chance. Nicht nur der Verdienst dort war enorm, es war auch eine Herausforderung und sein Traum, international zu arbeiten. Anfangs hatte ich mich für ihn gefreut, doch bereits wenige Wochen, nachdem er dort angefangen hatte, merkte ich, dass er sich von mir entfernte. Ständig war Nick unterwegs, flog in der Weltgeschichte herum, um sich die Bauprojekte vor Ort anzusehen. Oftmals musste er von einem auf den anderen Tag los, und alles, was wir vielleicht geplant hatten, fiel dafür ins Wasser. Immer häufiger war ich allein, und selbst wenn er da war, war er in Gedanken nur noch bei seinem Job. Es gab für ihn kaum ein anderes Gesprächsthema mehr. Sosehr ich mich auch über seinen Erfolg freute, ich vermisste meinen Mann. Meinen Lieblingsmenschen, mit dem ich lachen und Spaß haben konnte. Der abends nach Hause kam und die Arbeit auch gedanklich im Büro ließ. Ich wollte meinen Nick zurück, den Menschen, in den ich mich vor acht Jahren verliebt und den ich geheiratet hatte. Meine große Liebe. Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffen sollte, ihn zurückzubekommen. Es kam mir vor, als würde ich mit seiner Arbeit konkurrieren – aber konnte ich diesen Konkurrenzkampf gewinnen?

Eine nasse Nase, die sich unter meine herabhängende Hand schob, riss mich aus meinen trüben Gedanken. Automatisch fing ich an, meine Mischlingshündin im Nacken zu kraulen.

„Na, Percy, wollen wir mal raus?“, fragte ich und sah hinab in ihre treuen hellbraunen Augen. Ein freudiges Schwanzwedeln war die Antwort und so schnappte ich mir die Leine.

„Ich geh mit dem Hund! Bis gleich“, rief ich meinem Mann, der im Schlafzimmer vor dem offenen Kleiderschrank stand, im Vorbeigehen zu. Auf dem Bett lag sein Koffer. Der Koffer, den er bereits gestern für unseren Urlaub auf Sylt vom Dachboden geholt hatte. Es versetzte mir einen Stich. Nun würde dieser Koffer nicht mit dem Auto nach Sylt fahren, sondern mit Emirates nach Dubai fliegen.



Es tat mir gut, mit Percy durch den naheliegenden Stadtpark zu laufen. Meine schnellen Schritte und die klare, kühle Frühlingsluft schafften es, dass ich mich allmählich abregte. Es blieb mir eh keine Wahl. Ich konnte mich weiter darüber ärgern, dass Nick mich – wie so oft in den letzten Monaten – versetzte, oder ich konnte es einfach akzeptieren und das Beste daraus machen.

„Weißt du was, Percy? Wir lassen uns unseren Urlaub nicht verderben. Die Wohnung ist bezahlt – warum sollten wir stornieren? Wir packen unseren Koffer und fahren allein nach Sylt!“ Nachdem ich meiner Hündin meinen Entschluss mitgeteilt hatte, hockte ich mich neben sie und kraulte sie unter dem Kinn. Als hätte sie meine Worte verstanden und würde einwilligen, leckte sie mir über die Hand.

„Ja, meine Süße, wir machen es uns hübsch. Nick hat recht – wir brauchen ihn nicht zum Händchenhalten. Wir können uns auch allein tolle Tage auf der Insel machen – ist ja schließlich nicht das erste Mal.“



Als ich in die Wohnung zurückkehrte, hörte ich Nick im Arbeitszimmer telefonieren. Um ihn nicht zu stören, verzog ich mich in die Küche und machte mich daran, das Abendessen vorzubereiten und zu kochen. In dem Moment, als der Backofen piepte und mir mitteilte, dass die Baked Potatoes fertig waren, kam Nick aus dem Arbeitszimmer.

„Oh, das riecht aber gut! Was gibt es denn Feines?“, fragte er und schaute mir über die Schulter.

„Steak mit Kartoffeln und Knoblauchbrot“, antwortete ich lächelnd, weil ich wusste, dass Nick sich freuen würde – immerhin war das sein Lieblingsessen.

„Womit habe ich das denn verdient?“, fragte er grinsend und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Ich drehte mich zu ihm herum. „Na, sicher nicht damit, dass du unseren Urlaub abgesagt hast“, antwortete ich augenzwinkernd. Meine Wut von vorhin war verflogen – ich konnte ihm nie lange böse sein, dafür liebte ich Nick viel zu sehr.

„Es tut mir leid, Zoe. Ich wäre auch lieber mit dir weggefahren.“ Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Ich werde dich vermissen!“, sagte ich und legte meine Arme um Nicks Hals. „Weißt du schon, wann du wiederkommst?“, fragte ich leise und spürte, wie Nicks Brust sich hob, als würde er tief durchatmen, bevor er antwortete: „Ich schätze mal in ungefähr zwei Wochen.“

„Das ist lang!“, sagte ich traurig.

„Ja, aber wir werden jeden Tag telefonieren und skypen. Versprochen!“ Ich nickte. Sprechen konnte ich nicht, denn ein Kloß steckte in meinem Hals. Auch wenn meine Wut verraucht war, war ich noch immer enttäuscht. Ich hatte mich so auf unsere gemeinsame Zeit gefreut!

Einen Moment lang standen wir einfach nur so da, genossen die Nähe des anderen, und mein Herz wurde ein wenig schwer. Ja, ich würde ihn wirklich sehr vermissen. Aber hatte ich das Recht, ihm eine Szene zu machen, weil sein Chef von ihm verlangte, nach Dubai zu fliegen? Musste ich nicht meine eigenen Gefühle zurückstellen? Es war immerhin sein Job – und wenn er sich weigerte, würde er diesen Job vermutlich nicht mehr lange haben.

„Wenn wir hier noch länger herumstehen, werden die Steaks kalt. Und das wäre doch schade“, sagte Nick irgendwann und gab mir einen liebevollen Kuss auf die Haare. Dann löste er sich von mir und griff nach der Flasche Rotwein, die bereits geöffnet auf der Arbeitsfläche stand, während ich uns auffüllte.





~*~ Gemeinsamkeiten ~*~



Westerland auf Sylt, 02. März



„Okay!“ Brav war mein Hund sitzen geblieben und erst nach meiner Erlaubnis hinter dem Ball hergelaufen. Im Vollsprint rannte er nun los, und ich freute mich darüber, dass sich unser tägliches Training bemerkbar machte. Stolz sah ich ihm entgegen, während Anton schwanzwedelnd auf dem Rückweg zu mir war.

„Fein, Anton! Toll hast du das gemacht.“ Als ich in meine Hosentasche griff, ließ Anton den Ball vor meine Füße fallen und setzte sich mit einem erwartungsvollen Blick in den Sand. Selbstverständlich wusste er ganz genau, dass er sich dafür ein Leckerchen verdient hatte.

Nicht nur ich liebte diese wunderschöne Insel, die mit ihren vielen Facetten das schönste Fleckchen Erde für mich war. Nein, auch Anton schien hier auf Sylt, vor allem natürlich am Strand, noch glücklicher als in Hamburg zu sein.

„Bleib.“ Ich holte aus und warf den Ball erneut über den Strand.

Okay, es kann nicht immer klappen, dachte ich und lächelte trotzdem. Anton war längst losgelaufen und hatte diesmal nicht auf meinen Befehl gewartet. Sein Spieltrieb war einfach zu groß. Allerdings störte es mich keinesfalls. Ganz im Gegenteil, er sollte Spaß am Leben haben.

Dann saß mein vierbeiniger Freund auch schon wieder vor mir. Allerdings ohne Ball, da er allem Anschein nach unterwegs etwas Wichtigeres entdeckt und darüber seinen runden Gefährten vergessen hatte.

„Wo ist der Ball? Such!“ Prompt machte sich Anton auf den Weg und stand kurze Zeit später stolz und schwanzwedelnd vor mir.

„Fein hast du das gemacht.“ Erneut saß mein Hund, bevor ich etwas Leckeres aus der Hosentasche genommen hatte.



Eine Stunde später war ich in der Friedrichstraße und hatte einen leckeren Cappuccino vor mir auf dem Tisch stehen. Anton hatte sich brav zwischen meinen Füßen platziert und war am Dösen. Tiefenentspannt war das richtige Wort für unsere Gemütslage, was nicht nur unserem zweistündigen Strandspaziergang geschuldet war.

Mein Blick richtete sich irgendwie ins Nichts. Trotzdem nahm ich viele Pärchen wahr, die Hand in Hand und mit freudigen Gesichtern durch die City von Westerland schlenderten.

Ich möchte auch wieder mit Steffi so verliebt sein. Sehnsüchtig seufzte ich. Eigentlich haben wir doch viele Gemeinsamkeiten und ein schönes Leben. Warum kommt es mir dann so vor, als ob es nicht so wäre? Nicht nur heute stellte ich mir diese Frage. Schon oft hatte ich mir darüber Gedanken gemacht, leider aber bisher keine Antwort gefunden.

Im selben Jahr, 1983, waren wir geboren und jeder von uns führte in diesem Jahrgang die Statistik der beliebtesten Vornamen an. Christian und Stefanie. Wir hatten häufig zusammen darüber gelacht, dass unsere Eltern nicht wirklich kreativ bei unserer Namensgebung gewesen waren.

Da es bereits in der Grundschule mehrere Christians in meiner Klasse gegeben hatte, wurde ich schon damals von allen nur mit meinem Nachnamen Matz angesprochen, und das war bis heute so geblieben.

Wir sahen beide gern den Tatort und tranken unser Bier am liebsten aus der Flasche. Keiner von uns schrieb Karten aus dem Urlaub und langweilige Spieleabende waren uns ein Gräuel.

Dann ging das nächste Paar an mir vorbei. Auch dieses alberte herum, und ich konnte erkennen, wie glücklich sie miteinander waren.

Ob die wohl auch im selben Jahr geboren wurden? Da sie jünger sind als Steffi und ich, heißen sie bestimmt Lisa und Jan. Mein Grinsen war ganz sicher deutlich zu erkennen. Ich hatte gerade neulich erst gelesen, dass irgendwann zu Beginn der Neunziger diese beiden Namen die Namensliste angeführt hatten.

Dann schossen mir andere Gedanken in den Kopf. Welche, an die ich zwar schon manchmal gedacht, die ich allerdings immer mit einem Kopfschütteln davongewischt hatte. Heute blieben sie jedoch bei mir. Ich orderte einen neuen Cappuccino und dachte über die Dinge nach, die noch immer in meinem Kopf umher schwirrten. Es waren viele Kleinigkeiten dabei, über die ich mich schon immer aufgeregt hatte. Am meisten enttäuschte mich jedoch, dass Steffi noch niemals mit mir meine Insel besucht hatte. Ich liebte Sylt, sie hingegen konnte meine Liebe zu diesem Eiland nicht nachvollziehen. In all den sechs gemeinsamen Jahren hatten wir es nicht ein Mal geschafft, zumindest auch nur ein Wochenende hier zu verbringen. Steffi hatte Angst vor einem Inselkoller, obwohl sie diese Erfahrung noch nie gemacht hatte. Wiederum war ich noch nie mit ihr im Skiurlaub gewesen, da ich mit dem weißen Zeug, das sich auf den Bergen befand, nichts anfangen konnte.

Oder war unsere Beziehung etwa doch nicht so perfekt? Reichten die Gemeinsamkeiten vielleicht nicht, um die Unterschiede zwischen uns aufzuwiegen?

„Schluss jetzt. Rede dir nicht alles schlecht!“ Nicht nur Anton sah mich erstaunt an, auch die Urlauber an den Nebentischen taten es, nachdem ich mich selbst laut gemaßregelt hatte.

Nein, ich durfte mir unsere Beziehung nicht kaputtreden. Immerhin bestand sie bereits seit sechs Jahren. Außerdem waren wir im selben Jahr geboren und führten mit unseren Vornamen die Liste aus 1983 an. Das musste doch etwas bedeuten.



Mein Radio lief, und die neusten Hits drangen in mein Ohr, während ich in meiner Ein-Zimmer-Ferienwohnung stand und meine köstlichen Leckereien ausbreitete. Vorhin war ich in der Salatkogge gewesen und hatte mir nicht nur drei Stücke geräucherten Fisch, sondern auch noch einige Salate gekauft. Als ich gerade das letzte kleine Schälchen und meine Bierflasche auf den Wohnzimmertisch stellen wollte, verharrte ich kurz.

Mein Lied wurde gespielt! Natürlich war es nicht meine Stimme, die ich aus dem Radio vernahm. Felix Boldsen sang das Lied, das ziemlich schnell in den deutschen Top 10 gelandet und von mir geschrieben worden war. Ja, ich war Songwriter und liebte es, meine Gedanken in Liedern freizulassen. In meinen Texten konnte ich von den großen Gefühlen schreiben, nach denen ich mich sehnte. In meinen Texten wurden Menschen zu Traumpaaren, die Sehnsucht siegte, und die Liebe war es, die immer gewann.

Wäre ich doch nur eine Person aus meinen Texten. Schnell schob ich meine Gedanken zur Seite.

Stattdessen setzte ich mich und kümmerte mich um die Leckereien, die darauf warteten, von mir verspeist zu werden. Während ich es mir schmecken ließ, wunderte ich mich darüber, dass ich erst heute Fisch gekauft hatte. Schließlich war ich bereits seit gestern auf Sylt, und am ersten Tag Fisch zu essen, war normalerweise ein festes Ritual für mich. Doch immerhin hatte ich am gestrigen Tag an der Promenade ein Fischbrötchen gegessen. Das zählte schließlich auch.



Zum Glück begann mein Telefon erst zu klingeln, als ich bereits aufgegessen hatte. Lust, aufzustehen und mein Handy zu suchen, verspürte ich zwar kaum, tat es jedoch trotzdem, da es nur Steffi sein konnte, die mich um diese Uhrzeit anrief.

„Hallo. Geht es dir gut?“ Freudig begrüßte ich meine Freundin.

„Ach, Matz. Du glaubst nicht, was heute wieder los war. Eine Kundin war schlimmer als die andere. Alle waren nur am Mosern.“ In Hamburg hatte sich also nichts verändert. Tagtäglich musste ich mir die Beschwerden von Steffi anhören. Sie konnte sich in solche Dinge reinsteigern, auch wenn ich häufig der Meinung war, dass die Kunden gar nichts Außergewöhnliches verlangt hatten.

„Das ist ja nicht so schön. Ich habe übrigens gerade Fisch gegessen. Total leckeren geräucherten Butterfisch und dann gab es …“

„Igittigitt. Du und dieser ekelige Kram. Wie kann man nur so ein Zeug zu sich nehmen. Ich mach mir gleich einen Nudelauflauf.“ Da ich keine Lust hatte, erneut in eine Fischdiskussion einzusteigen, hielt ich mich bei diesem Thema lieber zurück. Dass sie keinen Fisch mochte, war das eine, ihn aber als eklig abzustempeln und mir das Fischessen ausreden zu wollen, war eine ganz andere Sache. Immerhin war ich alt genug, selbst zu entscheiden, was ich mochte.

„Nudelauflauf klingt super. Am Strand war es vorhin total schön. Anton hatte auch mächtig Spaß und wir haben ordentlich getobt. Auch wenn wir keine Sonne hatten und der Wind ziemlich kräftig war, genießen wir es sehr, hier zu sein. Die Luft tut mir einfach gut und …“

„Ich werde nie verstehen, was du daran so toll findest. Zu dieser Jahreszeit gibt es für mich nur zwei Möglichkeiten: entweder Ski fahren oder ab in die Wärme. Ach Matz, du wirst nie begreifen, wie gut das tut. Ich freue mich schon auf die fünf Tage Gran Canaria mit meinen Freundinnen.“ Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass Steffi direkt an dem Tag, wenn ich zurück nach Hamburg kam, in die Sonne fliegen würde.

„Stimmt. Du hast ja bald Urlaub. Ich freue mich heute total auf einen ruhigen und entspannten Abend. Wenn ich mit Anton gleich noch eine kurze Runde gedreht habe, werde ich mich in die Badewanne legen und es mir dann auf der Couch gemütlich machen. Außerdem möchte ich …“ Zum dritten Mal wurde ich unterbrochen. Doch nicht nur das. Steffi ging auch zum dritten Mal nicht auf meine Worte ein.

„Von was entspannen? Geh raus und mach Party. Oder gibt es auf dem kleinen Eiland etwa keine vernünftigen Lokalitäten? Mensch, Matz, was bist du nur für ein Langweiler geworden!?“ Steffi war fertig mit ihren Ausführungen. Da ich keinerlei Verlangen verspürte, unsere Konversation fortzusetzen, verabschiedete ich mich mit einer kleinen Notlüge von ihr.

„Ich muss jetzt schnell mit Anton raus. Er quengelt schon seit einigen Minuten. Bis morgen.“ Nachdem ich mein Handy auf den Tisch gelegt hatte, begann ich damit, Anton zu kraulen. Er musste natürlich nicht raus, sondern hatte nur als Ausrede hergehalten. In Wirklichkeit hatte er sich während des Telefonates neben mich gelegt und genoss es nun, von mir verwöhnt zu werden.

„Ja, wir haben einige Gemeinsamkeiten.“ Leise und langsam wiederholte ich diese Worte. Dann lachte ich ironisch auf.





~*~ Ankunft ~*~



Westerland auf Sylt, 03. März



Sehnsüchtig ließ ich meinen Blick über das Watt gleiten. Nicht mehr lange und ich war endlich angekommen. Vor mir in der Ferne konnte ich bereits das Hochhaus, das direkt in Westerland an der Promenade stand, erkennen, doch ich wusste, es würde noch fast eine halbe Stunde dauern, bis ich endlich am Bahnhof von Westerland vom Autozug fahren konnte. Ein leises Winseln war von der Rückbank meines Autos zu hören und lächelnd drehte ich mich zu Percy um.

„Ich weiß, Süße. Mir geht’s genauso. Aber gleich haben wir es geschafft. Dann holen wir schnell die Schlüssel, entladen das Auto und dann ab an den Strand.“ Ich war mittlerweile schon so oft mit ihr nach Sylt gefahren, dass sie genau wusste, was vor uns lag. Jedes Mal war es so. Die Fahrt bis zum Sylt Shuttle verschlief Percy, aber kaum dass wir auf den Autozug fuhren, war sie hellwach und schaute aufgeregt aus dem Fenster. Meine sonst so ruhige Hündin vibrierte förmlich vor lauter Vorfreude und mir ging es genauso.



Endlich war es so weit. Nachdem wir im Bahnhof angekommen waren, wurden die vordersten Gitter des Zuges abgenommen und langsam setzte sich die Autoschlange in Bewegung. Zum Glück war es nicht weit bis zur Ferienwohnungsvermietung, und eine halbe Stunde später stand ich in meiner Ferienwohnung, die direkt hinter den Dünen nahe der Fußgängerzone lag. Ich liebte Westerland, aber diese Ecke hier hatte es mir besonders angetan, und ich versuchte jedes Mal, hier im Gebäude eine Ferienwohnung zu bekommen. Auch diese Wohnung kannte ich bereits von einem meiner früheren Besuche. Sie war nicht sonderlich groß, hatte nur anderthalb Zimmer, doch es reichte mir. Na gut, eigentlich uns … Denn der Plan war ja gewesen, meinen Urlaub gemeinsam mit meinem Mann hier zu verbringen. Gestern früh war er nach Dubai abgeflogen und außer ein paar WhatsApp-Nachrichten hatte ich bisher nichts von Nick gehört. Er hatte mit der Baustelle so viel um die Ohren, dass er keine Zeit zum Telefonieren hatte. Ich hoffte, dass ich ihn heute gegen Abend erreichte.

Noch immer machte es mich traurig, dass er nicht hier sein konnte. Natürlich konnte ich verstehen, dass er für seinen Traumjob alles gab, aber unser Urlaub war so lange geplant gewesen, dass die Enttäuschung tief saß.

Da ich meine Zeit hier allein verbringen würde, hatte ich Nicks Vorschlag in die Tat umgesetzt und meinen Laptop zum Arbeiten mitgenommen. Ein paar Rechnungen oder Kostenvoranschläge für Praxen fielen immer an, und auch wenn es nichts Eiliges war, konnte ich mich ebenso gut von hier aus in die Rechner der Zahnärzte einloggen und die anliegenden Sachen abarbeiten. Für eine gewisse Zeit reichte mir mein Laptop, um zu arbeiten. Nur ab und an fuhr ich direkt zu meinen Auftraggebern in die Praxen, um von dort aus zu arbeiten. Das meiste konnte ich per Homeoffice erledigen, in freier Zeiteinteilung – ein Traumjob.

Nachdem ich meinen Wagen entladen hatte, stellte ich meinen Koffer erst einmal nur ins Schlafzimmer. Auch meinen Laptop konnte ich in aller Ruhe heute Abend noch anschließen. Jetzt wollte ich an den Strand und ein wenig laufen. Ich wollte schnellstmöglich den Sand unter meinen Füßen spüren, mit Percy toben und dem Rauschen der Wellen zuhören. Schnell schickte ich Nick eine WhatsApp, dass ich heil angekommen war und mich gegen Abend bei ihm melden würde, dann griff ich nach der Leine.

Aufgeregt sprang Percy im Kreis um mich herum und fiepte vor Freude.

„Ja, es geht ja schon los!“, sagte ich lachend und öffnete die Wohnungstür. Sofort lief meine Hündin voraus und die Stufen hinab. Da es zum Strand nicht weit war und meine Süße aufs Wort gehorchte, hängte ich mir die Leine um den Hals und verließ mit ihr das Haus.



„Anton! Anton, Stopp!“ Ich war am Strand bereits die halbe Strecke zwischen Westerland und Wenningstedt gelaufen, als ich ein lautes Rufen hinter mir vernahm. „Anton, komm her!“

Ich drehte mich um und sah einen bernsteinfarbenen Hund von Weitem auf uns zu sprinten. Einige Meter hinter ihm kam ein Mann, anscheinend Antons Herrchen, und ruderte wie wild mit den Armen. Verzweifelt versuchte er, seinen Hund zu sich zu rufen, doch Anton hatte nicht vor, auf sein Herrchen zu reagieren. Da Percy wusste, dass sie nicht einfach auf fremde Hunde zu rennen durfte, saß sie artig neben mir, doch ich sah an ihrer Körperhaltung, dass sie in diesem Moment nichts lieber wollte, als mit dem anderen Hund zu toben. Als Anton noch ungefähr zehn Meter von uns entfernt war, gab ich meine Hündin frei.

„Okay, Percy, lauf!“ Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und Sekunden später rannten die beiden Hunde im Vollsprint über den Strand. Einen Moment lang beobachtete ich die zwei lächelnd. Ich fand es immer wieder schön, zu sehen, wie glücklich Percy war, wenn sie jemanden zum Rennen gefunden hatte. Es gab für sie nichts Größeres, als am Strand und im flachen Wasser des Meeres Vollgas zu geben.

„Es tut mir leid, so was macht er sonst nie!“ Eine männliche Stimme riss mich aus meinen Betrachtungen, und ich schaute auf Antons Besitzer, der ordentlich aus der Puste vor mir stand und mich zerknirscht mit seinen braunen Augen anschaute. Meiner Schätzung nach war er bestimmt 1,85 Meter groß und wirkte gut trainiert.

„Ja, nee, ist klar!“, antwortete ich grinsend. Wenn ich für jedes Mal, das ich diesen Satz von anderen Hundebesitzern gehört hatte, einen Euro bekommen hätte, wäre ich mittlerweile locker bei einem Monatsgehalt angekommen. Es war ein Standardspruch, den Hundehalter gebrauchten, um nicht zuzugeben, dass ihr Hund schlicht und ergreifend nicht gehorchte.

„Ich weiß, das sagen sie alle!“, gab Antons Herrchen zu und lachte, während er sich mit einer Hand über seine kurz geschorenen schwarzen Haare strich. „Aber es stimmt wirklich. Normalerweise hört er. Ich weiß auch nicht, was er mit Ihrem Hund eben hatte. Allerdings tobt er normalerweise auch nicht gleich so los, wenn er den anderen Hund nicht kennt. Anton ist da eher zurückhaltend.“ Er deutete auf unsere Fellnasen, die auf den Hinterbeinen stehend miteinander rauften. Dann gaben sie erneut Gas und rannten fast bis zu den Dünen hinauf über den breiten Sandstrand.

„Percy ist normalerweise auch nicht so. Also nicht, dass sie sich mit anderen Hunden nicht verstehen würde, sie braucht nur meist einen Moment, um aufzutauen.“ Da wir anscheinend beide in dieselbe Richtung wollten, gingen wir gemeinsam weiter. So hatten die Hunde noch länger die Gelegenheit, sich auszutoben.

Ein paar Minuten später gesellten sich die beiden zu uns. Antons Herrchen griff in seine Tasche und zog ein paar Leckerchen heraus. „Darf sie auch?“, fragte er, und als ich nickte, gab er beiden ein paar Leckerlis. Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, mir Anton genauer anzuschauen. Ich stutzte, als ich den Hund betrachtete, und mein Blick wanderte zwischen Percy und ihm hin und her.

„Die könnten glatt Geschwister sein“, sagte ich und schüttelte erstaunt den Kopf. Antons Herrchen blieb stehen und musterte nun auch unsere Hunde.

„Stimmt! Das ist ja unglaublich. Die gleiche Größe, der gleiche Körperbau – nur die Farbe ist anders.“

Ja, während sein Anton komplett bernsteinfarben war, war meine Percy braun-schwarz gezeichnet. Was innerhalb eines Wurfes bei Hunden nicht ungewöhnlich war, vor allem bei Mischlingen fand man unter Geschwistern komplett andere Farbkombinationen. Ansonsten gab es bei den beiden kaum einen Unterschied auszumachen. Noch nie hatte ich einen Hund gesehen, der so aussah wie meine Percy. Sie war ein Mischling, deren Rassen ich nicht zuordnen konnte. Ich hatte die Vermutung, dass ein Windhund in ihr steckte, da sie nicht nur sehr schlank war, sondern auch alle Spielgefährten hinter sich ließ, wenn sie wollte.

„Wo kommt er her?“, fragte ich und deutete auf Anton, der nun wieder mit Percy vorauslief.

„Aus Rumänien. Er ist jetzt ungefähr zwei. Sein erstes Jahr hat er auf der Straße gelebt, bevor er dort von Tierschützern eingefangen und nach Deutschland gebracht wurde. Seit einem Jahr ist er nun bei mir. Und Ihre?“

„Okay, damit steht auf jeden Fall fest, dass sie nicht verwandt sind. Percy hatte es auch nicht sonderlich gut. Sie lebte bei einem Tier-Messie in Thüringen auf einem alten, verfallenen Hof zusammen mit ungefähr fünfzig anderen Tieren. Katzen, Hunde, Kaninchen, Papageien, selbst eine Bartagame hatte er da und alle waren total vernachlässigt. Eine Bekannte arbeitet für den Tierschutz und hat sie damals an mich vermittelt. Sie war noch ein Welpe, als ich sie bekommen habe. Aber es war furchtbar. Sie war komplett verwurmt und hatte richtig offene Stellen im Fell.“

Noch heute lief mir ein Schauer über den Rücken, und ich wollte heulen, wenn ich an diese Zeit zurückdachte. Meine geliebte Percy war so klein und hatte bereits so viel mitgemacht. Monatelang waren wir beim Tierarzt in Behandlung gewesen, bis sie endlich gesund geworden war. Nick konnte es nicht verstehen, dass ich so viel Geld für die Tierarztkosten ausgab. Er war der Meinung, ich hätte mir einen gesunden Welpen von irgendeinem renommierten Züchter holen sollen. Aber Percy hatte bereits auf den ersten Blick mein Herz berührt, und ich war mir ziemlich sicher, hätte ich sie nicht genommen und aufgepäppelt, wäre sie eingeschläfert worden.

„Es ist so grausam, was manche Menschen den Tieren antun“, murmelte Antons Herrchen betroffen und ich nickte zustimmend.



Langsam machten wir uns auf den Rückweg nach Westerland. Mittlerweile war es bereits später Nachmittag und wir hatten noch ein gutes Stück zu laufen.

Erst als ich wieder in meiner Wohnung war, stellte ich fest, dass ich nun zwar einiges über Anton wusste, doch rein gar nichts über sein Herrchen. Also nichts außer seiner Größe, der Frisur und dass er einen coolen Dreitagebart trug. Es war auch irgendwie typisch, wenn man andere Hundebesitzer traf. Die Tiere waren das Hauptgesprächsthema. Wenn nicht sogar das einzige.

Lächelnd griff ich nach meinem Handy. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es in Dubai jetzt zwanzig Uhr war – drei Stunden Zeitverschiebung zu Deutschland. Nick hatte hoffentlich bereits Feierabend, daher rief ich ihn an.





~*~ Leuchtturm ~*~



Hörnum auf Sylt, 04. März



Meine Fotoausrüstung hatte ich bereits am gestrigen Abend vorbereitet und an der Garderobe neben Antons Leine platziert. Auch wenn ich schon seit vielen Jahren leidenschaftlich gerne fotografierte und bereits einige kleinere Fotowettbewerbe gewonnen hatte, vergaß ich leider sehr häufig, meine Ausrüstung mitzunehmen. Gestern hatte ich sie zum Beispiel nicht dabeigehabt, was mich noch immer ordentlich ärgerte. Zu gerne hätte ich Anton am Strand beim Toben fotografiert. So wie mit dem anderen Hund hatte ich ihn noch nie erlebt. Meine Güte hatten die beiden Spaß gehabt am Strand, und wenn wir nicht irgendwann gegangen wären, würden die Hunde wahrscheinlich noch immer toben.

Während ich meine Jacke anzog, tanzte Anton um mich herum und sprang an mir hoch. Er wusste genau, was jetzt kam.

„Ist ja gut, Anton. Ich bin gleich fertig, dann können wir los.“ Es schien fast, als würde mich mein Hund verstehen, und ich amüsierte mich darüber, dass ich mir einbildete, ihn nicken zu sehen.

Dann machten wir uns auf den Weg. Unser Wohnhaus verließen wir durch den Hinterausgang, da ich dort bei meiner Ankunft einen Parkplatz gefunden und mein Auto bis zu diesem Moment noch nicht wieder bewegt hatte.

Drei Minuten später gingen Anton und ich den gleichen Weg wieder zurück. Ich Vollpfosten hatte es tatsächlich erneut geschafft, meine Fotoausrüstung in der Wohnung liegen zu lassen.

Mit der Ausrüstung in der Hand machten wir uns ein paar Minuten später erneut auf den Weg zum Auto. „Das wäre ja was geworden. Extra nach Hörnum fahren, um den Leuchtturm zu fotografieren, und dann die Kamera vergessen.“ Ich sprach mit Anton, nein, eigentlich eher mit mir, während ich den Zündschlüssel ins Schloss steckte. Dann ging die Fahrt los, in ungefähr zwanzig Minuten würden wir Hörnum erreichen und ich konnte Bilder machen. Fotos von der Odde und welche vom Leuchtturm, mit denen ich an einem Wettbewerb teilnehmen wollte. Drei Bilder durfte ich einschicken, und ich freute mich bereits darauf, meinen rot und weiß gestreiften „Freund“ zu knipsen. Eigentlich hätte es genügt, meine Festplatte zu durchstöbern. Dort befanden sich ganz sicher einige hundert Bilder vom Hörnumer Leuchtturm. Doch so war ich nicht. Wenn es eine neue Ausschreibung, einen frischen Wettbewerb gab, dann wollte ich auch mit neuen Bildern aufwarten. Zugegeben, ich hatte auch schon mal zu Fotos aus der Konserve gegriffen, allerdings war dies nicht meiner Faulheit, sondern dem miserablen Wetter geschuldet gewesen.

Heute war das Wetter toll, und ich freute mich bereits auf dem Hinweg darauf, gleich mit dem Fotografieren beginnen zu können.



„Okay.“ Ich stand an der offenen hinteren Tür meines Autos und hatte Anton abgeschnallt. Jetzt durfte er aus dem Fahrzeug hüpfen und tat es auch sofort, nachdem ich ihn dazu aufgefordert hatte. Da ich mich auf ihn verlassen konnte und sich auch nicht viele Fahrzeuge auf dem Parkplatz befanden, richtete ich noch kurz seine Decke auf der Rückbank meines Autos. Als ich fertig war, saß mein Kumpel direkt neben meinen Füßen und sah mich erwartungsvoll an. Er liebte den Strand ebenso wie ich und konnte es kaum erwarten, gleich unten an der Wasserkante flitzen zu dürfen.

Allerdings musste er sich heute etwas gedulden. Zunächst wollte ich den Leuchtturm von hier aus fotografieren. Nur von dieser Seite aus konnte ich die kleine Holzhütte fantastisch mit auf das Bild bekommen. Das kleine Häuschen, das in den Farben des Turms gestrichen war und vor mir in der Sonne glänzte.

„Gleich, Anton. Ich bin sofort fertig.“ Ein grummelndes Geräusch war seine Antwort und ich konnte ihn sogar verstehen. Wahrscheinlich hatte ich diesen Satz bereits drei bis fünf Mal zu ihm gesagt und trotzdem weiter den Leuchtturm geknipst.

„Fertig.“ Stolz sah ich zu meinem vierbeinigen Freund, der ganz brav neben mir saß und mich ansah. Es war ein Blick, der in Worten wahrscheinlich bedeutete: „Bist du dir wirklich sicher? Oder machst du gleich doch noch weiter Fotos von dem gestreiften Teil?“

„Komm, Anton. Jetzt aber.“ Ein heftiges Schwanzwedeln war seine Antwort, die schnell von einem fragenden Blick abgelöst wurde. Es war der Moment, als ich nicht direkt zum Strand ging, sondern linksherum abbog. Unser Weg führte uns zunächst zum Hörnumer Hafen. Am Crêpesstand stoppten wir. Es war schon fast eine Tradition von uns, hier eine kleine Pause einzulegen. Anton machte sich sofort auf den Weg zu der Trinkschale, die immer neben der kleinen Bude für Hunde bereitstand, während ich mich in die kurze Schlange einreihte. Einige Minuten später hielt ich einen Crêpes mit Nutella in meiner Hand und hatte ein freudiges Lächeln auf den Lippen. Die Crêpes hier waren einfach die genialsten, und ich ließ mir meinen schmecken, während ich mich mit Anton auf den Weg zum Strand machte.

Immer wieder sprang mein vierbeiniger Geselle an mir hoch. Er forderte mich auf, zu spielen, und ich konnte seinem Wunsch nicht widerstehen. Wir jagten und stupsten uns immer wieder und hatten eine Menge Spaß. Sogar so sehr, dass ich tatsächlich vergaß, den Leuchtturm von hier aus zu fotografieren. Als es mir endlich auffiel, blieb uns nichts anderes übrig, als den Strand wieder ungefähr zweihundert Meter zurückzugehen. Dorthin, wo ich die besten Bilder machen konnte.

Ich war voll in meinem Element und hatte schon diverse Male den Auslöser betätigt. Erst im Stehen, dann aus der Hocke und jetzt wollte ich auch im Liegen einige Fotos machen. Von Anton bekam ich nichts mit. Was nicht an meinem Desinteresse, sondern ausschließlich daran lag, dass er sich komplett ruhig verhielt. Wahrscheinlich saß er brav hinter mir oder hatte sich gemütlich in den Sand gelegt. Genau so, wie ich es jetzt auch machen wollte.

„Hier, für dich.“ Meinen Arm hatte ich nach hinten gestreckt und in meiner Hand hielt ich eine kleine Belohnung für meinen braven Hund. Ja, er hatte sie sich verdient, da er ganz lieb bei mir verweilte, während ich dabei war, Fotos zu schießen.

„Nimm doch, Anton.“ Ich war verwundert, dass er mir das Leckerchen nicht aus der Hand nahm.

„Anton? Hey, Anton, wo bist du?“ Ich hatte mich dorthin umgedreht, wo ich meinen Hund vermutet hatte. Doch er war nicht da. Noch nie war er einfach verschwunden. Normalerweise blieb er immer bei mir. Leider brachte mir dieses „Normalerweise“ jetzt rein gar nichts. Anton war weg und ich bekam Angst!

Zumindest für einen kurzen Augenblick. Dann sah ich ihn mit einem anderen Hund über den Strand rennen. Es war die Hündin von gestern, und ich wunderte mich darüber, dass ich mir ihren Namen gemerkt hatte. Normalerweise war ich nicht in der Lage, mir Namen zu merken. Doch ich war mir sicher, dass diese hübsche Hündin Peggy hieß – dachte ich zumindest. Wahrscheinlich hatte ich mir den Namen deshalb merken können, da ich fand, dass dieser Name so gar nicht zu diesem außergewöhnlichen Hund passte.

Dann musste ich lachen. Ich war tatsächlich innerhalb kürzester Zeit zu einem echten Hundehalter geworden. Gestern hatte ich mich mit dem Frauchen von Peggy eine ganze Zeit unterhalten. Sogar gemeinsam spazieren waren wir gewesen. Doch ihren Namen kannte ich nicht, und ich war mir sehr sicher, dass es in diesem Fall nicht an meinem schlechten Namensgedächtnis lag. Wir hatten uns nicht vorgestellt, sondern fast ausschließlich über unsere Vierbeiner gesprochen.

„Anton.“ Laut rief ich den Namen meines Hundes über den Strand und es war wie immer. Sofort machte sich mein Hund auf den Weg zu mir. Allerdings nicht allein, da Peggy ihm hinterherlief und sich ebenfalls zu mir gesellte.

„Na, ihr zwei. Schön, dass ihr einen solchen Spaß habt.“ Dann setzten sie sich hin. Es war genau der Moment, als ich in meine Tasche griff und die Leckerli herausholte. Gestern durfte ich die Hündin auch füttern, was sollte also heute dagegensprechen? Schnell hatten die beiden nach dem Hundekeks geschnappt und sich anschließend wieder auf den Weg zur Wasserkante gemacht. Ich beobachtete sie lächelnd und erschrak etwas, als ich plötzlich angesprochen wurde.

„Ihr schon wieder.“ Lachend drangen diese Worte in mein Ohr.

„Ja. Welch Zufall.“ Meine Antwort kam nicht nur prompt, sondern merkwürdigerweise auch voller Freude. „Peggy ist echt cool.“ Ich war es, der auch die nächsten Worte gesagt hatte.

„Percy.“ Kurz und knapp war die Antwort von Peggys Frauchen.

„Stimmt, wir hatten uns gestern gar nicht vorgestellt. Hallo, Percy, Matz ist mein Name. Allerdings mit tz am Ende.“ Völlig selbstverständlich stellte ich mich mit meinem Nachnamen vor, da mich sowieso niemand beim Vornamen nannte. Lächelnd streckte ich Peggys Frauchen die Hand entgegen, was sie mit einem lauten Lachen quittierte.

„Nein. Percy heißt mein Hund. Mein Name ist Zoe.“ Nur kurz stutzte ich, dann lachten wir zusammen.

„Sorry.“ Mehr bekam ich nicht heraus, was allerdings nicht nur dem Lachen geschuldet war. Für einen Moment lang war ich wie gefesselt. Ihre langen, hellblonden Haare passten so fantastisch zu ihrem Gesicht. Nein, zu ihrem gesamten Körper, der sportlich und weiblich zugleich war. So wie wir jetzt voreinander standen, schätzte ich sie auf höchstens 1,70 Meter und empfand diese Größe als perfekt.

„Ist ja nicht schlimm.“ Erst bei diesen Worten ging mein Blick zu ihren Augen, die so wunderschön waren. Sie leuchteten in der Sonne. Nein, sie strahlten mit der Sonne um die Wette, und ich war mir sicher, dass ich noch nie in solch schöne Augen geschaut hatte. Dunkelblau waren sie und ich hatte diese Farbe vorher niemals gesehen. Es war eine Farbe, die außergewöhnlich und schön zugleich war. In Zusammenspiel mit dem leuchtenden Strahlen waren sie einfach besonders und ich hätte am liebsten sofort meine Kamera genommen und sie fotografiert. Jeden Wettbewerb hätte ich mit diesen Bildern gewonnen. Da war ich mir sofort sicher.

„Hallo?“ Ein Wort riss mich aus meinen Gedanken.

„Ja?“ Ich sah Zoe fragend an.

„Wollen wir?“ Leider konnte ich mit ihrer Frage nichts anfangen.

„Wollen wir was?“

„Ich hatte gefragt, ob wir die Hunde noch toben lassen wollen oder ob du dich auf den Weg machen musst?“ Ein leichtes Kopfschütteln begleitete ihre Worte. Es war ein belustigtes und nicht dieses verurteilende Kopfschütteln, das ich von Steffi gewohnt war.

„Wir können Peggy und Anton gerne noch etwas toben lassen.“

„Percy.“ Ich Dussel hatte tatsächlich schon wieder den falschen Namen gesagt und wurde verbessert.

„Das ist schön, ich heiße Matz. Spaß!“ Ich grinste, freute mich über Zoes Lachen und war froh über meinen spontanen Witz.



Eine halbe Stunde später kehrten wir gemeinsam in das gemütliche Restaurant Südkap ein und hatten Glück, einen freien Tisch am Fenster mit Blick auf die Dünen zu ergattern.

„Ich nehme einen Milchkaffee.“

„Den hätte ich auch gerne.“ Mein Blick war auf die Bedienung gerichtet. Nachdem unsere Hunde noch eine ganze Zeit lang am Strand getobt hatten, war ich auf die Idee gekommen, hier einen Kaffee zu trinken. Zoe hatte sofort zugestimmt und nun saßen wir hier und unterhielten uns. Nein, nicht über unsere Hunde, sondern über Themen, die wir gestern vergessen hatten. Über uns!





~*~ Bootshalle ~*~



List auf Sylt, 06. März



„Hey, Nick, schön, dass ich dich endlich erreiche!“ Nachdem ich es in den letzten zwei Stunden bereits mehrfach versucht hatte, war mein Mann endlich an sein Telefon gegangen. Immerhin war es in Dubai bereits 21 Uhr und er hatte längst Feierabend.

„Was soll das denn heißen? Zoe, ich arbeite hier! Deinen ironischen Unterton kannst du dir sparen. Ich kann nicht immer gleich springen, wenn du rufst“, antwortete er pampig und ich zuckte zusammen.

„Das war doch gar nicht ironisch gemeint! Ich freue mich wirklich, dass ich dich zu fassen kriege“, gab ich zurück, doch Nick schnaubte genervt. „Hat aber nicht so geklungen.“

Ich fand es ungerecht, dass er mich wegen meines Satzes so zur Schnecke machte, doch ich schluckte die Wut, die sich in meinem Bauch zusammenballen wollte, hinunter und blieb freundlich.

„Du fehlst mir, Nick“, sagte ich nur und hörte, wie er am anderen Ende der Leitung tief durchatmete, als wollte er sich wieder beruhigen.

„Du fehlst mir ja auch, Zoe! Aber weißt du, ich habe hier so viel um die Ohren, dass ich kaum zum Luftholen komme.“ Ja, das hatte ich auch bereits gemerkt. In den drei Tagen, die ich mittlerweile auf Sylt war, hatten wir es nur ein Mal geschafft, ein paar Minuten miteinander zu sprechen. Nichts mehr von wegen „Wir telefonieren und skypen jeden Tag“, wie er es mir vorher versprochen hatte. Den ganzen Tag war Nick auf der Baustelle und abends kamen noch Besprechungen mit den Bauleitern hinzu. Wie ich seinen wenigen Nachrichten entnehmen konnte, war er von frühmorgens bis spät in die Nacht unterwegs, und wenn er in sein Hotel zurückkehrte, fiel er nur noch ins Bett.

„Kommt ihr denn voran?“, fragte ich vorsichtig. Ich wusste, wenn Nick unter Stress war, reichte ein falsches Wort, eine klitzekleine Kleinigkeit, und er explodierte. Doch anscheinend riss er sich zusammen, denn ich hörte, wie er seufzte, bevor er antwortete.

„Es geht. Die Trägerbalken, die geliefert wurden, sind die falschen. Jetzt müssen wir schauen, wo wir die richtigen herbekommen. Die Maurer dürfen einige Wände wieder einreißen, weil sie schief und krumm sind, und außerdem haben sie sich nicht an die Bauzeichnungen gehalten. Es sind einfach so viele Dinge, die hier nicht richtig laufen, ich weiß gar nicht, wie ich das alles in den zwei Wochen regeln soll. Aber gut, ich hoffe einfach, dass es klappt und ich nicht verlängern muss.“ Ich hörte an seiner Stimme, wie sehr ihn das alles belastete. Der Druck, der auf ihm lag, war immens. Nicht nur dieses Bauprojekt stand auf dem Spiel, sondern auch sein Job. Wenn er diese Angelegenheit nicht regeln konnte, würde er keine weitere solche Großbaustelle zugeteilt bekommen. „Aber erzähl doch mal, wie ist Sylt?“ Nick wechselte das Thema, er wollte nicht mehr über seine Arbeit reden.

„Sylt ist wie immer großartig! Auch wenn du mir wirklich wahnsinnig fehlst. Das Wetter ist toll und ich laufe stundenlang mit Percy am Strand. Sie hat einen neuen Freund gefunden. Anton heißt er und sieht aus wie sie. Ehrlich, Nick, das ist unglaublich, die zwei könnten Geschwister sein, so ähnlich sind sie sich. Nur dass Anton bernsteinfarben ist. Aber ansonsten … Und die beiden verstehen sich so gut! Es ist, als würden sie sich schon ewig kennen.“ Lächelnd dachte ich an Percy und Anton, daran, wie die zwei am Strand in Hörnum Vollgas gegeben hatten.

„Das klingt doch toll! Hast du dich auch schon mit Doro getroffen?“

„Nein, aber das mache ich gleich. Sie holt mich in einer Stunde ab und dann wollen wir nach List zu Gosch und dort was essen gehen.“

„Okay, dann grüß sie mal ganz lieb. Ich muss auch leider wieder los. Heute steht ein Essen mit dem Auftraggeber an und ich bin schon spät dran. Hab eine schöne Zeit. Wir telefonieren die Tage wieder, ja?“

„Alles klar. Lass dich nicht stressen. Und Nick … Ich liebe dich!“ Ein Knacken war in der Leitung zu hören, kaum dass meine letzten Worte raus waren. Hatte er sie noch gehört oder bereits aufgelegt? Ich wusste es nicht. Auf jeden Fall hatte er auf mein „Ich liebe dich“ nicht reagiert. Seufzend legte ich das Handy auf den Couchtisch. Kam es mir nur so vor? Oder war Nick eben wirklich distanziert gewesen? Es war nicht das erste Mal, dass ich mir diese Frage stellte. Seit er diesen Job hatte, war mir schon mehrfach der Gedanke gekommen, dass er sich verändert hatte. Dass er sich von mir zurückzog und auf Distanz ging. In den ersten Monaten war es mir nicht so aufgefallen, die Veränderung war schleichend gekommen, doch mittlerweile zweifelte ich immer mehr. Ich wusste, ich liebte meinen Mann – doch wie war es mit ihm? Bedeutete ich ihm noch immer so viel wie vor ein oder zwei Jahren? Ich war mir nicht mehr sicher.



Anderthalb Stunden später saß ich mit Doro in der Alten Bootshalle in List. Vor mir stand ein Teller mit Garnelen-Spaghetti, der mir bereits beim Anblick das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Ich liebte Fisch und Meeresfrüchte in allen Variationen. Ich freute mich, endlich einen Abend mit meiner Freundin zu verbringen. Wir hatten uns vor zwei Jahren hier auf Sylt kennengelernt, als ich mit Percy am Strand unterwegs war. Bereits auf den ersten Blick waren wir uns sympathisch, kamen ins Gespräch, und schon bald merkten wir, dass wir auf einer Wellenlänge lagen. Auch wenn wir uns nicht so oft sahen, war sie meine beste Freundin geworden.

„Endlich sehen wir uns. Das letzte Mal ist schon wieder viel zu lange her“, sagte meine Freundin und nahm eine Gabel voll von ihrer Scholle.

„Es liegt nicht an mir. Ich bin schon seit drei Tagen auf der Insel“, erwiderte ich lächelnd und zwinkerte ihr zu. Gespielt genervt rollte Doro mit den Augen.

„Ja, ich weiß. Es tut mir auch echt leid! Am liebsten hätte ich dich gleich am ersten Abend getroffen, aber im Moment ist so viel los. Bei der Arbeit ist eine Kollegin krank und ich musste für sie einspringen.“ Doro arbeitete als Krankenschwester in Westerland in der Klinik. Und wie wohl überall in Deutschland herrschte auch hier Personalmangel. Wenn einer ausfiel, mussten die anderen dafür mehr arbeiten. Ich war ihr nicht böse, im Gegenteil, ich hatte absolutes Verständnis und sie tat mir manchmal sogar leid. Allerdings liebte sie ihren Beruf und daher störten sie die vielen Schichten nicht allzu sehr.

„Alles gut, Süße. Es war nicht böse gemeint. Ich weiß, dass du zu tun hattest. Außerdem kannst du ja schlecht alles stehen und liegen lassen, nur weil ich gerade mal da bin.“

„Aber das würde ich gern! Mann, Zoe, wir sehen uns sowieso viel zu selten für meinen Geschmack. Aber jetzt erzähl doch mal. Wie kommt es, dass du doch allein hier bist. Wo steckt Nick?“, fragte sie und ich erzählte ihr von seiner spontanen Geschäftsreise nach Dubai.

„Und wie geht es dir damit? Also nicht nur, dass er diesen Urlaub abgesagt hat, sondern grundsätzlich damit, dass er so viel arbeitet.“

Nachdenklich sah ich auf meinen Teller und spießte eine einzelne Garnele mit der Gabel auf.

„Es ist sein Traum. Ich freue mich, dass er in seinem Job derart aufgeht“, antwortete ich dann.

„Was keine Antwort auf meine Frage ist …“ Doro hatte recht. Meine Antwort war nicht das, was sie hatte hören wollen. Seufzend legte ich meine Gabel aus der Hand und schaute sie an.

„Wie es mir damit geht? Gute Frage … Ich weiß es ehrlich gesagt selbst nicht. Ich komme mir so egoistisch vor, weil ich noch immer wütend bin, dass er unseren Urlaub gecancelt hat. Wenn ich sage, ich freue mich für ihn, meine ich das auch genau so. Trotzdem fehlt er mir. Und damit meine ich nicht nur hier auf Sylt, im Urlaub. Auch in Hamburg … Selbst wenn er da ist, wirkt er oft so weit weg. So distanziert. So … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ Ich musste keine Worte dafür finden, was ich fühlte, Doro verstand mich auch so.

„Ja, ich weiß, was du meinst. Zusammen und doch allein.“

„Genau das ist es!“, bestätigte ich. Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals. Es war eine Sache, mir selbst für mich meine Gedanken darüber zu machen, wie sehr Nick sich verändert hatte, aber etwas ganz anderes, es auszusprechen. Es war, als würde es damit nur noch realer werden, als könnte ich es jetzt nicht mehr länger verdrängen.

„Liebst du ihn denn noch?“, fragte Doro und sofort nickte ich.

„Ja, das tue ich! Er ist mein Mann, ich habe ihm ein Eheversprechen gegeben, und auch wenn ich weiß, dass das noch lange nicht bedeutet, dass die Liebe bleibt – ich liebe ihn! Da bin ich mir sicher.“

„Und er? Liebt er dich auch?“ Ja, das war die große Frage, die ich mir selbst nicht beantworten konnte, und so zuckte ich nur ein wenig hilflos mit den Schultern.

„Dann solltest du es herausfinden. Dringend! Zoe, egal, wie sehr du ihn liebst – wenn er deine Gefühle nicht mehr erwidert, musst du handeln. Ansonsten gehst du vor die Hunde.“ Sie griff über den Tisch nach meiner Hand und drückte sie aufmunternd. „Das soll jetzt nicht heißen, dass du dich von ihm trennen sollst. Ich will dir da nicht reinreden. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Du wirkst nicht glücklich. Wenn du sonst von Nick erzählt hast, hat dein Gesicht immer gestrahlt. Wenn ihr zusammen wart, hat man gesehen, wie sehr ihr euch liebt. Und jetzt … Ja, jetzt wirkst du nicht mehr glücklich. Ich möchte dir nur den Rat geben, dich nicht an etwas zu klammern, was womöglich nur noch auf dem Papier besteht.“

Mit Tränen in den Augen nickte ich. Ich wusste, Doro hatte recht. Mir fiel das Telefonat von vorhin wieder ein, dessen Ende, mein „Ich liebe dich“, auf das ich keine Reaktion bekommen hatte. War es vielleicht tatsächlich, wie Doro sagte? Liebte ich einen Mann, dessen Gefühle für mich nur noch auf einer Heiratsurkunde bestanden?

„Okay, genug davon. Was hast du in den letzten Tagen getrieben? Hast du das schöne Wetter ausgenutzt und mit deiner Süßen kilometerlange Strandspaziergänge unternommen?“ Ich war dankbar, dass Doro das Thema nicht weiter vertiefte, und fing an, zu erzählen.

„Ja, absolut. Wir haben gleich am ersten Tag am Strand einen Kumpel für Percy kennengelernt. Die beiden Hunde sind so süß zusammen! Vorgestern haben wir Anton und sein Herrchen in Hörnum wiedergetroffen. Nachdem die Hunde sich ausgetobt hatten, waren wir im Südkap noch Kaffee trinken. Matz heißt das Herrchen und er ist echt nett. Ansonsten genieße ich die Einsamkeit und die Stille.“

„So, so … Anton und sein Herrchen. Das klingt ja fantastisch!“ Ein süffisantes Grinsen hatte sich auf Doros Lippen gelegt.

„Hey, nicht, was du denkst! Hast du unser Thema von eben schon vergessen? Ich bin verheiratet und ich liebe meinen Mann – auch wenn wir gerade eine Scheißphase haben.“

Abwehrend hob Doro die Hände. „Ich habe nichts in die Richtung gesagt! Aber … werdet ihr euch noch mal treffen?“

„Ich weiß nicht. Bestimmt durch Zufall. Sylt ist ja wie ein Dorf – irgendwie trifft man immer dieselben Leute.“

Doro lachte auf. „Ja, das stimmt! Den einen Tag sieht man sich in Westerland, den nächsten in Hörnum und am Tag drauf in List. Man kann sich nicht wirklich aus dem Weg gehen hier. Zumindest nicht auf Dauer. Aber ist doch schön, wenn ihr euch gut versteht und die Hunde auch. Gemeinsame Hunderunden machen viel mehr Spaß als allein.“

Ja, sie hatte recht, und ich hoffte, ich würde Matz noch häufiger begegnen. Mit ihm war es unkompliziert und fühlte sich leicht an. Er war ein guter Gesprächspartner, und auch wenn ich die Einsamkeit genoss, war es dennoch schön, auch mal ein paar Worte mit jemandem zu wechseln. Gemeinsam in einem Café zu sitzen und etwas zu trinken, anstatt allein.





~*~ Weltfrauentag ~*~



Goschs Kneipe auf Sylt, 08. März



„Du?“ Ich war erstaunt darüber, dass Steffi mich zu dieser Uhrzeit anrief.

„Ich störe wohl?“ So ganz sicher war ich mir nicht, ob die Worte meiner Freundin ernst oder witzig gemeint waren.

„Natürlich störst du nicht. Ich wundere mich nur darüber, dass du jetzt anrufst. Und dann auch noch von zu Hause und nicht aus dem Geschäft. Oder ist etwas passiert?“ Es war 10:00 Uhr und eigentlich hatte der Frisörsalon bereits seit dreißig Minuten geöffnet.

„Ich habe mir heute freigenommen. Gestern Abend ist mir die Idee gekommen. Die paar Kunden schafft Mel auch alleine. So kann ich schon einige Dinge für unsere Mädelstour besorgen.“

„Stimmt.“ Mehr antwortete ich nicht. Tatsächlich war ich sprachlos. Sprachlos vor Enttäuschung. Für jeden Scheiß konnte sie sich freie Tage genehmigen. Nur für mich hatte sie es in den letzten zwei Jahren nie getan.

„Matz? Bist du noch dran?“

„Ja, bin ich.“ Da mir Schmollen jetzt nicht half und ja auch sowieso keine Lösung war, entschied ich mich dafür, meinen Schlechtelaunehebel wieder umzuschalten. „Ich habe neulich total schöne Fotos vom Hörnumer Leuchtturm gemacht. Von allen Seiten habe ich ihn geknipst und er strahlte im Sonnenlicht irgendwie ganz besonders. Mit den Bildern habe ich bestimmt gute Chancen bei dem Fotowettbewerb.“ Schon vor meiner Fahrt nach Sylt hatte ich Steffi von diesem Wettbewerb erzählt.

„Welcher Wettbewerb? Kannst du nicht mal vernünftige Dinge fotografieren? Vielleicht mal den Kreidefelsen oder dieses alte Gemäuer, das damals von Hitler erbaut wurde und die ganze Küste verschandelt.“

„Ich bin auf Sylt und nicht auf Rügen.“ Tatsächlich fielen mir keine anderen Worte ein. Ich hatte auch keine Lust auf einen blöden Spruch und darauf, einen Witz zu machen, schon gar nicht. Dieses Desinteresse an meinem Leben nervte mich einfach extrem. Es wurde immer schlimmer und manchmal kamen mir tatsächlich Gedanken an eine Trennung in den Kopf.

„Ach ja.“ Steffis Antwort war der Hammer.

„Gibt es noch etwas? Ansonsten schnappe ich mir Anton und gehe mit ihm an den Strand. Er hibbelt hier schon ziemlich herum, wahrscheinlich muss er pischern.“ Ich fand es netter, meinen Hund, der ja eigentlich unser Hund war, als Notlüge zu benutzen. Steffi an den Kopf zu knallen, dass ich einfach keinen Bock auf ein längeres Gespräch hatte, fand ich irgendwie doch gemein. Allerdings amüsierte ich mich auch darüber, dass Steffi nicht auffiel, dass ich Anton nun schon das zweite Mal vorschob, um ein Telefonat zu beenden.

„Ja, geht mal raus. Ich muss sowieso los, da ich noch Strohhüte, lustige Sonnenbrillen und einheitliche T-Shirts besorgen muss. Unsere Strandtage werden bestimmt total cool und wenn ich dann noch an die Abende denke. Hui, da wird die Post abgehen. Dort ist es nicht so langweilig wie bei dir an der Ostsee.“

„Nordsee.“ Den Zusatz, dass sie an lange Strohhalme und Eimer denken sollte, verkniff ich mir. Nach einem „Tschüss und viel Spaß“ legte ich einfach auf.

„Okay, wenn ich dich schon als Ausrede benutzt habe, können wir auch raus. Was meinst du?“ Als wenn mein treuer Gefährte die Worte verstanden hätte, stand er auf und machte sich auf den Weg zur Tür.



Den ganzen Tag über war ich von dem Telefonat mit Steffi genervt. Vom Telefonat? Vielmehr von ihrem Verhalten und davon, dass sie sich für andere Dinge durchaus freinehmen konnte.

Selbst nach der Nachmittagsrunde mit Anton ging es mir nicht besser. Als wir an der Promenade ankamen, erkannte ich, dass wir es bereits 17:00 Uhr hatten, und fand, dass dies genau die richtige Zeit für ein kühles Frustbier war, daher machte ich mich direkt auf den Weg in die Friedrichstraße.

Als ich keine zehn Minuten später die Gosch-Kneipe betrat, glaubte ich, in einem falschen Film zu sein. Brechend voll war es. Zumindest im hinteren Teil, da sich dort eine große Frauenclique befand und ordentlich feierte. Sie hatten merkwürdige Hüte auf und an ihrer Kleidung irgendwelche blinkenden Teile befestigt.

„Was ist denn hier los?“ Fragend sah ich eine der Bedienungen an und bekam zur Antwort, dass die Mädels bereits seit zwei Stunden den Weltfrauentag feierten.

„Na ja, wahrscheinlich feiern sie eher sich selbst. Bekomme ich ein Bier?“ Lachend und mit einem Nicken ging die Bedienung zum Tresen und gab meine Bestellung weiter.

Zum dritten kleinen Bier bekam ich einen Jägermeister dazu und sah den Kellner fragend an.

„Der ist von den Frauen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er zu der ausgelassenen Frauengruppe, die sogleich ihre Gläser hoben und mir zuprosteten.

„Auf den Weltfrauentag.“ Leise sagte ich diese Worte zu mir selbst und ließ den Schnaps anschließend durch meine Kehle laufen. Deutlich konnte ich seinen Weg bis hin zu meinem Magen verfolgen. Warm und brennend hinterließ er seine Spur, die ich mit einem Ganzkörperschütteln quittierte. Selbst Anton schien es bemerkt zu haben, da er mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen ansah. Ich mochte ein solches Zeug nicht und trank es daher normalerweise auch nie. Warum ich es heute getan hatte? Wahrscheinlich war es ein Automatismus, da die Mädels ebenfalls tranken.



Von meinem Fensterplatz aus beobachtete ich das Treiben auf der Friedrichstraße. Wonach ich Ausschau hielt? Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, war es trotzdem so, dass ich hoffte, Zoe zu erblicken. Ich wünschte mir ihre Gesellschaft, um endlich das blöde Gespräch mit Steffi zu vergessen. Zumindest wollte ich es verdrängen, und ich ging stark davon aus, dass es mir in Zoes Gegenwart gelingen würde. Auch im Südkap hatte ich mich in ihrer Gesellschaft sehr wohlgefühlt. Zoe schien sich für die gleichen Dinge wie ich zu interessieren, sie hörte zu, wenn ich etwas erzählte, und sie liebte Sylt ebenso, wie ich es tat.

„Nimmst du noch ein Bier?“ Eine Frage riss mich aus meinen Gedanken.

„Nein, ich möchte …“ Erst jetzt erkannte ich, wer mir die Frage gestellt hatte und weshalb Anton freudig wimmernd aufgestanden war. Schnell brach ich meinen Satz ab.

„Klar, gerne. Setz dich doch, Zoe.“ Mit zwei Fingern deutete ich dem Kellner und widmete mich anschließend wieder der Frau, nach der ich die ganze Zeit Ausschau gehalten hatte, die dann aber doch an mir vorbeigehuscht war.

Als wir unsere Biere bekommen hatten, griff ich nach meinem und hielt es in Zoes Richtung.

„Auf den Weltfrauentag.“ Ich lächelte. Dann stießen wir an und tranken.

„Woher weißt du denn so was?“

„Na, hör mal! Ich würde es als Allgemeinwissen bezeichnen.“ Anschließend sagte ich die Wahrheit und wir lachten. Ja, wir lachten, und es fühlte sich erneut so gut an, wie es sich auch die letzten Male angefühlt hatte.

Plötzlich hielt Zoe inne und wandte ihren Blick zu einer der Boxen, die uns mit Musik beglückten. Ich konnte förmlich erkennen, dass ihr Gehirn am Arbeiten war.

„Meine Zeit mit dir“, beantwortete ich ihr grinsend die unausgesprochene Frage.

„So heißt das Lied? Es ist wirklich schön.“ Dann hörte Zoe weiter zu. Erst als es beendet war und irgendein Fräulein etwas von einem Tretboot sang, trafen mich wieder ihre Blicke. Leider nur kurz, da Zoe nun aufstand.

„Ich gehe mal fragen, wer das Lied singt.“

„Das brauchst du nicht. Ich kann es dir auch sagen.“

„Du weißt das?“ Erstaunt wurde ich angesehen, und ich genoss es, dabei in die schönsten blauen Augen der Insel schauen zu dürfen.

„Mit Musik kenne ich mich etwas aus. Irgendetwas muss ja jeder können.“

„Dann sag es mir. Bitte!“ Das Funkeln in ihren wunderschönen dunkelblauen Augen sorgte dafür, dass ich etwas tat, wofür ich normalerweise nicht der Typ war.

„Das kostet aber einen Kuss.“ Kurz erschrak ich über meine Worte. Doch noch bevor ich sie zurücknehmen konnte, kam Zoe einen Schritt auf mich zu.

„Möchtest du erst den Kuss?“

„Ja. Infos gibt es nur gegen Vorkasse.“

Nachdem ich einen Kuss auf die Wange bekommen hatte, sahen wir uns an. Wie selbstverständlich gingen meine Hände auf die Suche nach Zoes Fingern und fanden sie schnell. Hand in Hand schauten wir uns in die Augen. Leidenschaftliche Blicke waren es, und ich merkte, wie sich eine wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitete. Dann zog ich die Frau mit den schönsten blauen Augen der Insel näher zu mir. Ich benötigte keinerlei Kraftaufwand dafür, da Zoe fast von selbst ganz dicht an mich herankam.

Leicht berührten sich unsere Lippen, die sich anschließend sofort öffneten und dadurch unseren Zungen den Platz für einen romantischen Tanz freigaben. Alles um mich herum war vergessen. Die Welt bestand nur noch aus uns, was dafür sorgte, dass unser Kuss niemals zu enden schien. Nachdem sich unsere Zungen doch irgendwann getrennt und unsere Lippen sich ebenfalls mit einigen watteweichen Küssen voneinander verabschiedet hatten, sahen wir uns noch eine ganze Weile an. Tief, fast magisch, waren unsere Blicke. Sie waren in der gleichen Intensität, wie es eben auch unsere Küsse gewesen waren.

Abrupt löste Zoe ihre Finger aus den meinen und trat einen Schritt zurück.

„Ich muss los. Bitte frag nicht warum.“ Ihr noch immer liebevoller Blick passte nicht zu ihren Worten. Trotzdem griff sie nach Percys Leine und ging.



„Nimmst du noch ein Bier?“ Es war genau die gleiche Frage, die ich vorhin auch von Zoe gestellt bekommen hatte. Leider wurde sie mir jetzt von der Bedienung gestellt.

„Ja. Aber diesmal ein großes!“

Ich saß auf meinem Barhocker und hielt das Glas mit beiden Händen fest.

„Den Interpreten kennst du noch immer nicht. Vielleicht darf ich ihn dir ja irgendwann verraten?“ Leise sprach ich zu mir selbst. Dann trank ich den ersten Schluck. Als ich das Glas wieder abgestellt hatte, schoss mir ein Gedanke in den Kopf.

Auch wenn es falsch war, dieser Kuss hat sich verdammt gut und richtig angefühlt!





~*~ Erklärung ~*~



Westerland, den 12. März



Unruhig lief ich in meiner kleinen Ferienwohnung auf und ab. Vier Tage war es her, seit Matz mich in der Kneipe geküsst hatte. Vier Tage, in denen ich versuchte, zu verdrängen, was geschehen war. In denen ich versuchte, mein schlechtes Gewissen in den Griff zu bekommen, und in denen ich versuchte, Matz aus dem Weg zu gehen. Ich hatte es vermieden, zur selben Zeit mit Percy an den Strand zu gehen wie sonst, weil ich ihm nicht begegnen wollte. Matz hatte sicher feste Zeiten, in denen er seine Hunderunden drehte, und ich hoffte, ein Aufeinandertreffen so umgehen zu können. Am Tag nach unserem Kuss in der Kneipe war ich gar nicht am Strand gewesen, sondern stattdessen durch das Südwäldchen von Westerland gelaufen.

Ich wollte ihn nicht sehen. Nein, falsch! Ich wollte ihn unbedingt sehen, aber ich durfte es nicht! Mein schlechtes Gewissen verbot es mir. Mein schlechtes Gewissen gegenüber Matz, weil ich einfach abgehauen war, und vor allem mein schlechtes Gewissen gegenüber Nick. Er war mein Mann und ich liebte ihn. Dieser Kuss hätte nicht passieren dürfen! Und vor allem hätte er sich nie so anfühlen dürfen, wie er es getan hatte. Ich hatte das Gefühl, noch niemals in meinem Leben so geküsst worden zu sein wie von ihm. Es hatte mir mehr als nur ein wenig gefallen, aber das durfte nicht sein. Verdammt, ja, ich liebte Nick, und das Letzte, was ich wollte, war, ihn zu betrügen. Und doch hatte ich es getan. Ich hatte zugelassen, dass Matz mich küsste. Hatte seinen Kuss erwidert und ich hatte es genossen. Sogar sehr genossen!

Seitdem hatte ich mich in meiner Arbeit vergraben und alle angefallenen Rechnungen und Kostenvoranschläge geschrieben und abgearbeitet. Mittlerweile war alles fertig. Ich hatte nichts mehr zu tun, und es drängte mich nach draußen, den Sonnenschein zu genießen – am liebsten natürlich am Strand. Nachdenklich schaute ich auf die Uhr an meinem Handy. Konnte ich es wagen? Es war kurz nach dreizehn Uhr. Eigentlich eine typische Zeit für Gassirunden und von daher für mich passé. Andererseits war heute mein letzter Urlaubstag, morgen ging es zurück nach Hamburg, und diesen letzten Tag wollte ich noch einmal am Strand verbringen und meiner Hündin den Sand unter den Pfoten gönnen.

Ein leises Fiepen und eine feuchte Hundenase, die mich gegen die Hand stupste, rissen mich aus meinen Überlegungen.

„Okay, Percy. Wollen wir es wagen? Wollen wir raus? Ein bisschen laufen?“, fragte ich meine Hündin mit klopfendem Herzen. Sofort wurde ihr Fiepen lauter und sie hüpfte im Kreis vor mir herum. Laufen war wie ein magisches Wort für sie. Seufzend zog ich mich an und griff nach der Leine.

Auf der Strandstraße angekommen, blieb ich zögernd stehen. Vor mir, in vielleicht hundert Metern Entfernung, lag der Übergang, der mich auf die Promenade und weiter an den Strand bringen würde. Konnte ich es wirklich wagen? Oder sollte ich doch lieber kneifen und mich auf den Weg in das Wäldchen begeben?

Percy zog an der Leine in Richtung Meer. Natürlich wusste sie genau, wohin dieser Weg führte. Wir waren ihn oft genug gemeinsam gegangen, auch wenn ich es in den letzten drei Tagen vermieden hatte. Einige Touristen waren unterwegs. So viele, dass ich darauf hoffen konnte, dass es auf der Promenade voll sein würde.

Okay, wenn es voll ist, kann ich mich in der Menge verstecken. Selbst wenn Matz irgendwo dort herumläuft, würde er mich sicher nicht sehen, dachte ich und atmete noch einmal tief durch, bevor ich mir einen Ruck gab und mich auf den Weg machte.



Wie erwartet, war die Promenade brechend voll. Vor dem kleinen Lokal von Gosch war jeder Tisch im Außenbereich bis auf den letzten Platz besetzt, und ein Blick über den Strand verriet mir, dass auch dort ordentlich was los war. Ein wenig erleichtert, dass mein Plan aufzugehen schien, schlug ich rechtsherum den Weg in Richtung Sunset Beach ein. Zu dieser Holzhütte, die für mich eine Mischung aus Restaurant, Bar und Café war. Dort wollte ich an den Strand gehen und Percy eine Runde toben lassen.



Ich war noch sicher zwanzig Meter vom Sunset Beach entfernt, als meine Hündin auf einmal wie wild an der Leine zerrte.

„Hey, du Spinnerin! Was hast du denn auf einmal?“, fragte ich sie und blieb stehen, damit sie aufhörte zu ziehen. Percy warf mir einen kurzen Blick zu, dann fing sie an zu fiepen und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Ihr Blick war wie gebannt auf etwas vor uns gerichtet.

„Was ist denn los?“, fragte ich und schaute, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein paar Sekunden später lief es mir eiskalt den Rücken hinunter und mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust.

„O nein! Bitte nicht!“ Vor uns, im Außenbereich des Sunset Beach, saß Matz auf einer der Holzbänke, vor sich auf dem Tisch eine Tasse Milchkaffee. Kurz überlegte ich, ob ich einfach umdrehen und gehen sollte, doch er hatte mich bereits entdeckt. Auch Anton hing in seiner Leine und zog sichtlich zu Percy. „Verdammt! Das musste ja passieren.“ Einen Moment lang blieb ich einfach nur stehen und sah Matz an. Sein Blick, mit dem er mich musterte, war undurchdringlich. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Abwartend und vorsichtig, als würde auch er damit rechnen, dass ich umdrehte und ihn ignorierte.

„Okay, nützt ja nichts. Vielleicht ist es auch besser so. Ich denke, ich sollte ihm da noch was erklären, oder, Percy? Immerhin habe ich ihn ganz schön dumm stehen gelassen neulich“, murmelte ich leise. Wieder warf meine Hündin mir nur einen kurzen und mittlerweile ziemlich ungeduldigen Blick zu, dann fiepte sie leise. Sie konnte es nicht länger abwarten und verstand nicht, warum sie nicht zu Anton durfte. Nach einem letzten tiefen Durchatmen machten wir uns auf den Weg zu Anton und Matz. Mit jedem Meter, den ich mich näherte, hellte sich Matz’ Gesicht mehr auf. Die Vorsicht darin verschwand, und als ich bei den beiden ankam, lächelte er.

„Hey, da bist du ja. Wir haben euch schon vermisst“, begrüßte er mich.

„Ja, ich … Matz, es tut mir leid!“, platzte ich sofort heraus. Einen Moment lang verdunkelte sich seine Miene. Er wusste genau, was ich meinte.

„Willst du dich nicht erst mal setzen?“, fragte er leise und deutete auf den leeren Platz neben sich. Nickend ließ ich mich auf die Holzbank fallen, dann startete ich erneut.

„Es tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin. Das wollte ich nicht. Nein, ich meine …“ Seufzend brach ich ab. Wie sollte ich es ihm nur erklären?

„Ganz langsam, Zoe.“ Amüsiert lächelte Matz mir zu.

„Okay … noch mal von vorn.“ Allmählich legte sich meine Aufregung und Anspannung. „Es tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin, aber … dieser Kuss. Er war ein Fehler.“ Enttäuschung huschte über Matz’ Gesicht, doch er fing sich sofort wieder. Dennoch sprach ich schnell weiter. Ich wollte es ihm erklären, wollte, dass er mich verstand.

„Matz, bitte, versteh mich nicht falsch! Der Kuss war toll, aber … ich bin verheiratet. Und ich habe damit meinen Mann betrogen. Ich weiß, du wusstest das nicht, ich hab dir nie von Nick erzählt. Aber irgendwie macht es das nicht besser, verstehst du?“

„Der Kuss war toll, ja?“ Verschmitzt lächelte Matz mich an. War das alles, was er dazu zu sagen hatte? Ich war ein wenig sprachlos, doch zum Glück musste ich auch nichts sagen, denn Matz sprach weiter. „Warum hast du mir nichts von deinem Mann erzählt?“

Tja … gute Frage!

„Ich weiß nicht. Es war nicht so, dass ich ihn mit Absicht verheimlichen wollte. Es hat sich irgendwie nicht ergeben. Keine Ahnung, wir haben über so vieles gesprochen, aber nie darüber. Ich weiß ja auch nicht, ob du nicht verheiratet bist.“ Mein Blick wanderte erst auf meine Hand, auf meinen Ehering, dann auf seine, an der ich keinen Ring erkennen konnte.

„Ich bin nicht verheiratet, aber ich habe eine Freundin. Wir sind bereits seit sechs Jahren zusammen. So gesehen habe ich sie also auch betrogen und verstehe genau, wie es dir geht. Und ganz ehrlich … ich weiß auch nicht, warum ich dich geküsst habe. Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, der einfach so Frauen küsst, die er erst ein paar Tage kennt. Aber in dem Moment … Es hat sich einfach richtig angefühlt.“

Ja, es hat sich richtig angefühlt. Genau das hat es. Und genau das war es auch, was mir Angst machte und mein schlechtes Gewissen gegenüber Nick noch weiter vergrößerte. Ich wollte nicht, dass mir die Küsse eines anderen Mannes gefielen. Ich liebte Nick, dessen war ich mir trotz allem absolut sicher.

„Wollen wir den Kuss nicht einfach vergessen und weiterhin Freunde bleiben?“, fragte Matz und legte seine Hand auf meine. „Lass uns an den Strand gehen und die Hunde toben lassen. Die sind schon ganz hibbelig.“ Lächelnd deutete er unter den Tisch, wo Percy und Anton im Sitzen miteinander rangelten.

„Okay, gute Idee. Lassen wir sie rennen und den Strand genießen. Morgen ist es wieder vorbei. Da fahren wir zurück nach Hamburg.“

„Oh, morgen schon? Na, dann sollten wir deinen letzten Tag doch erst recht genießen und uns nicht unnötig den Kopf über den Kuss zerbrechen.“

Nachdem Matz seinen Milchkaffee bezahlt hatte, machten wir uns auf den Weg. Auf halber Strecke nach Wenningstedt beschlossen wir, bis zu Gosch dort zu laufen und meinen letzten Tag mit einem gemeinsamen Essen ausklingen zu lassen.





~*~ Das Posting ~*~



Westerland, den 14. März



Morgen hieß es für mich, Abschied von Sylt zu nehmen. Leider waren zwei fantastische Wochen auf meinem Lieblingsfleckchen schon wieder fast vorbei. Wie immer war es außergewöhnlich gewesen.

Viele Augenblicke und Eindrücke begleiteten mich auf meinem letzten langen Strandspaziergang, der mich bis Kampen geführt hatte. Auch jetzt auf dem Rückweg war es so. Wenningstedt hatte ich bereits hinter mir gelassen und ich lief auf Westerland zu. Die Häuser konnte ich bereits gut erkennen, und ich bemerkte, wie ich an diesem späten Nachmittag mit jedem Schritt langsamer wurde. Es war fast so, als würde ich durch mein Trödeln versuchen, mehr Zeit auf Sylt zu gewinnen. Natürlich war es Quatsch. Trotzdem blieb ich manchmal stehen und sog die salzige Meeresluft tief durch die Nase ein.

Anton schien es wie mir zu gehen. Mein treuer Gefährte blieb die ganze Zeit in meiner Nähe und sah mich manchmal fast melancholisch an.

„Na komm. Es nützt ja nichts.“ Nachdem ich meine Worte mit einem Seufzen beendet hatte, liefen wir weiter. Immerhin wollte ich heute noch packen, da wir die Wohnung morgen um zehn Uhr verlassen haben mussten. Vor einigen Tagen hatte ich kurz darüber nachgedacht, bereits heute nach Hamburg zu fahren, damit ich Steffi vor ihrem Abflug in die Sonne noch sehen konnte, doch ich hatte meinen Plan beinahe sofort wieder verworfen. Vor einigen Tagen? Falsch! Ich kannte den Tag noch ganz genau. Es war am späten Abend des Weltfrauentages. Es war der Tag, an dem ich zum ersten Mal während unserer Beziehung eine andere Frau geküsst hatte.

Nicht nur einfach eine andere. Zoe hatte ich geküsst und ich konnte weder sie noch die schönsten blauen Augen der Insel vergessen.

Nein! Heute zurückfahren konnte ich nicht. Ich wollte Steffi nicht sehen. Mein Kopf und mein Herz waren nicht bereit dafür. Ob es fair von mir war? Leider konnte ich diese Frage nicht beantworten. Allerdings war meine Vermutung, dass ich einfach Angst hatte.



Selbst nach unserem Abschied und Zoes Erklärung, dass sie verheiratet war, gelang es mir nicht, sie aus meinem Kopf zu bekommen. Ebenso wenig wie unser zufälliges Treffen an der Promenade und auch nicht unseren anschließenden Spaziergang zu Gosch nach Wenningstedt, wo wir Fisch gegessen hatten. Ja, Fisch! Mit Zoe konnte ich Fisch essen, ohne mir anhören zu müssen, dass meine Mahlzeit stinkt. Mit ihr konnte ich auf das Meer blicken und dabei verweilen, so wie wir es auf dem Rückweg getan hatten. Auch zusammen geschwiegen hatten wir, was ich bisher lediglich mit Micha, meinem besten Freund, als angenehm empfunden hatte. Ich genoss es, in ihrer Nähe zu sein, und selbst unser verbotener Kuss fühlte sich noch immer gut und richtig an.

Manchmal glaubte ich, dass Zoe nicht nur in meinem Kopf, sondern auch schon ein kleines bisschen in meinem Herzen verankert war. Ja, ich spürte es, obwohl es nicht sein durfte und wir lediglich Freunde waren.

Lediglich Freunde? Falsch! Freundschaft war etwas Besonderes, etwas Großes. Zumindest waren wir auf dem Weg dorthin. So hatten wir es bei unserem Abschied besprochen und ich wollte dies unbedingt auch erreichen oder umsetzen.

Zumindest meistens …

Manchmal glaubte ich, dass es besser wäre, sie zu vergessen. In diesen Momenten fühlte sich unser Kontakt verboten an. Ich wollte nicht, dass Zoe meinetwegen Ärger bekommen würde. In ihre Ehe durfte ich mich nicht einmischen.

Merkwürdigerweise war mein schlechtes Gewissen gegenüber Steffi nicht sonderlich ausgeprägt. Hatten wir uns tatsächlich schon so sehr auseinandergelebt? Genügten unsere Gemeinsamkeiten nicht mehr für eine Beziehung? War es egal, dass wir im selben Jahr geboren worden waren und wir die Vornamensliste aus 1983 anführten?

Ich konnte mir diese Fragen nicht beantworten. Oder wollte ich mir die Wahrheit lediglich nur nicht eingestehen?



Wie an jedem letzten Abend auf Sylt hatte ich mir auch für den heutigen eine leckere Fisch- und Salatauswahl in der Salatkogge besorgt. Mit Aal, Krabben, Lachs und zwei verschiedenen Kartoffelsalaten war mein Esstisch dekoriert und sorgte für ein Lächeln voller Vorfreude in meinem Gesicht. Auch Anton lag bereits neben dem Tisch. Natürlich wusste er, dass ein paar Krabben für ihn abfallen würden. Stolz sah ich meinen Kumpel an, da er zwar neben mir lag, aber dennoch nicht bettelte.

„Das hast du ja auch noch nie getan.“ Leise sprach ich diese Worte zu meinem Hund. Worte, die an Anton gerichtet waren, die allerdings sofort wieder dafür sorgten, dass meine Gedanken bei Zoe waren. Fast den identischen Satz hatte ich bei unserer ersten Begegnung auch gesagt und dafür ein Lachen von ihr geerntet.

Nach dem Essen wurde es ernst. Auch wenn es mir widerstrebte, musste ich endlich damit beginnen, meinen Koffer zu packen. Als ich fast alles eingepackt hatte, fiel mir auf, dass ich in den letzten zwei Wochen nicht daran gedacht hatte, ein Mitbringsel für Steffi zu kaufen. Na ja, ganz stimmte es nicht. In den ersten Tagen hatte ich es schon im Kopf gehabt, den Kauf allerdings verschoben, da ich noch genügend Zeit dafür hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Geschäfte jetzt geschlossen waren. Morgen hatte ich auch keine Zeit dafür, da ich die Insel bereits vor den Ladenöffnungszeiten verlassen wollte. Nicht um Steffi doch noch zu treffen, sondern lediglich, da ich keine Lust auf eine Warteschlange am Autozug hatte.

Ich zuckte mit den Achseln. Eigentlich hatte ich auch gar keine Lust, etwas zu besorgen. Was hätte ich auch kaufen sollen? Zu Sylt hatte sie keine Verbindung und Schokolade gab es auch in Hamburg.

„Wenn du wüsstest, was du versäumst.“ Leise und mit einem frechen Grinsen auf den Lippen sprach ich zu mir, während ich dabei an Steffi dachte. Dann ging meine Hand zu dem kleinen Beistelltisch, auf dem die leckerste Schoki weltweit lag. Ich brach mir einen Riegel ab und führte das Stückchen Champagnertrüffel in weißer Schokolade aus der Sylter Schokoladenmanufaktur zu meinem Mund. Kurz hielt ich inne und sog den Duft ein. Dann hielt ich es nicht länger aus und biss hinein.

Einfach fantastisch. Nein, nahezu grandios. Gedanken an die Schoki flogen durch meinen Kopf. Erst jetzt erkannte ich Antons Blick, der mich von seinem Platz auf dem Sofa aus beobachtete.

„Komm her. Du sollst auch nicht leben wie ein Hund.“ Natürlich bekam er keine Schokolade, dafür allerdings einen großen Hühnchenstick, mit dem er sich auch sogleich auf den Teppich verzog.



Pünktlich zur Tagesschau waren wir von unserer kurzen Hunderunde zurück. Der Anblick des gepackten Koffers sorgte für Wehmut bei mir. Allerdings auch für den Geistesblitz, dass ich etwas vergessen hatte. Heute war Deadline, und ich hatte vergessen, die beiden hier auf Sylt geschriebenen Songtexte an Philip zu schicken. Seit einigen Jahren hatte ich mich als freiberuflicher Songschreiber selbstständig gemacht und konnte mittlerweile recht gut davon leben, Lieder für verschiedene Musiker zu schreiben. Es war schon seit frühester Jugend mein Traum gewesen, und als ich durch einen glücklichen Zufall an Philip geriet, wurde er so etwas wie mein Mentor. Er fand, dass meine Texte etwas ganz Besonderes waren. Sie waren gefühlvoll, emotional und besaßen eine Tiefe, die ihn begeisterte. Die meisten meiner Songtexte übernahm er für die von ihm produzierten Künstler. Felix Boldsen war einer von ihnen und durch ihn waren meine Texte seit einiger Zeit regelmäßig in den deutschen Musikcharts zu finden. Es war jedes Mal ein unglaubliches Gefühl, wenn ich eins meiner Lieder im Radio hörte. Ich war stolz darauf, was ich erreicht hatte, denn mir war klar, dass es nicht allzu viele Songschreiber in Deutschland gab, die allein davon leben konnten. Ich fühlte mich durch meinen Job privilegiert, denn ich konnte – im Gegensatz zu den meisten Menschen – meinen Traum leben und dort arbeiten, wo ich gerade wollte. Mit den Jahren hatte ich bemerkt, dass hier auf Sylt, auf meiner Lieblingsinsel, die besten meiner Texte entstanden. Philip sagte mir immer wieder, dass ich ein ganz besonderes Talent besaß, doch so recht glauben konnte ich es trotz allem Erfolg nicht. Ich war doch nur ich! Der Mann im Hintergrund. Nicht ich machte die Lieder erfolgreich, das waren Felix Boldsen und die anderen Sänger, die meine Texte sangen.

Wäre Micha jetzt bei mir gewesen, hätte ich mir ganz bestimmt mal wieder anhören dürfen, dass ich die Songtexte für eigene Lieder benutzen sollte. Mein bester Freund war der Ansicht, dass ich oben auf die Bühne und nicht in den Hintergrund gehörte. Wie häufig wir schon darüber gesprochen hatten? Sorry, ich konnte es beim besten Willen nicht sagen.

„Wenn ich mal singe, muss es schon ein sehr bedeutender Anlass sein.“ Ich grinste bei meinen Worten, da mir klar war, dass es einen solchen Anlass niemals geben würde und ich ganz sicher immer eine Ausrede parat haben würde.

Ich fühlte mich einfach wohl. Die zweite Reihe war meine Welt, und ich schätzte es, nirgendwo erkannt zu werden. Ja, mir gefiel mein Leben, so wie es war. Ich konnte überall arbeiten und daher viel Zeit an schönen Orten verbringen. Auch diese Texte hatte ich hier auf Sylt geschrieben und mich von der Nordsee und ihren Wellen inspirieren lassen.

Da ich meinen Laptop noch nicht eingepackt hatte, verfasste ich schnell eine E-Mail an Philip und schickte meine neuen Songtexte ab.

„Fertig.“ Anton sah mich an. Allerdings nur kurz, dann steckte er seine Schnauze wieder zwischen die Pfoten und schlief weiter.

Wenn ich schon im Internet bin, dann könnte ich ja eigentlich auch … Bereits während meiner Idee loggte ich mich auf Facebook ein und wählte eine der Syltgruppen aus. Ich besuchte die größte, in der ich auch häufig meine Syltbilder für die Allgemeinheit postete.

Heute wollte ich ebenfalls einen Sonnenuntergang posten und den Text zu meinem Posting hatte ich bereits in meinem Kopf.

Wie gerne würde ich einen solchen Sonnenuntergang auch mit Zoe erleben. Noch bevor ich einen passenden Text zu meinem Bild verfasst hatte, waren meine Gedanken an Zoe wieder da. Selbstverständlich wusste ich auch jetzt, dass aus uns kein Paar werden würde. Aber als Freunde wollte ich diesen gemeinsamen Sonnenuntergang erleben. Ja, es war mein Wunsch. Genau wie ich mir wünschte, Zoe jetzt eine Nachricht zu schicken. Da wir keine Handynummern getauscht und auch bei Facebook keinen Kontakt hatten, ging es nicht. Was wahrscheinlich auch gut war, da sie keinen Ärger bekommen sollte. Auf keinen Fall wollte ich das und trotzdem ließ mich der Gedanke an eine Nachricht für sie nicht los. Dann hatte ich eine Idee.

„So könnte es aber funktionieren.“ Erneut sprach ich zu mir und wieder hatte ich mit meinen Worten Anton geweckt. Als er mich müde ansah, war ich dabei, das bereits fertige Posting zu verwerfen.

Stattdessen griff ich nach meinem Handy, öffnete dort Facebook und wählte erneut die Syltgruppe aus. Nachdem ich ein Selfie von Anton und mir am Strand ausgesucht hatte, schrieb ich noch ein paar Worte dazu und drückte anschließend den Button Posten.

Leider sind 14 tolle Tage morgen vorbei.

Wir möchten DANKE für eine schöne Zeit sagen UND freuen uns bereits jetzt AUF ein WIEDERSEHEN.

Anton vermisst „Peggy“ sehr, und auch ich sehne mich bereits jetzt nach vielen tollen Gesprächen, dem gemeinsamen Lachen und großartigen Augenblicken HIER AUF der Insel SYLT …!

Und nach einem Bier ;-)





~*~ Wiedersehen ~*~



Hamburg, 16. März



„Allmählich kann er auch gerne mal kommen!“, murmelte ich vor mich hin und schob das Plissee am Küchenfenster ein wenig herunter, um auf die Straße vor unserem Wohnblock sehen zu können. Da Nick Businessclass geflogen war, hatte er von der Fluggesellschaft einen Chauffeurservice inklusive, der ihn nach Hause bringen würde.

Jede Minute musste es so weit sein. Nicks Flieger war bereits vor anderthalb Stunden gelandet, wie ich der Flugauskunft im Internet entnehmen konnte. Selbst mit Wartezeit an den Gepäckbändern konnte es sich nur noch um Minuten handeln, bis er hier wäre.

Ein herrlicher Duft nach Gulasch zog durch die Wohnung, als ich unser Abendessen umrührte. Dann stellte ich ein Sieb in die Spüle und goss die fertigen Spätzle ab. Neben Steak war Gulasch eines von Nicks Lieblingsessen, und heute hatte ich das Bedürfnis, meinen Mann zu verwöhnen. Wir hatten uns seit zwei Wochen nicht gesehen, und auch wenn ich meinen Urlaub auf Sylt genossen hatte, fehlte Nick mir sehr.

Als alles fertig war und die Spätzle zum Warmhalten im Backofen standen, nahm ich am Küchentisch Platz. Kurz überlegte ich, ob ich mir schon ein Glas von dem bereits offenen Rotwein einschenken sollte, doch dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte auf meinen Mann warten und mit ihm auf unser Wiedersehen anstoßen.

Gelangweilt griff ich nach meinem Handy und öffnete die Facebook-App, um mir die Wartezeit zu vertreiben. Als ich durch meine Timeline scrollte, entdeckte ich ein Foto von Doro. Ein Selfie, das sie im Sonnenuntergang gemacht hatte. Bester Wohnort der Welt! stand als Text dabei und lächelnd likte ich das Bild. Sehnsucht! Ich vermisse dich und die Insel! setzte ich dann als Kommentar unter das Foto und scrollte weiter.

Auf einmal stockte ich. Mein Herz schien für einen Moment seine Arbeit einstellen zu wollen, als ich ein weiteres Selfie entdeckte. Dieses war in einer der Syltgruppen gepostet worden, und in dem Augenblick, als ich den Mann auf dem Foto erkannte, hatte ich das Gefühl, seine Lippen erneut auf meinen zu fühlen. Matz! Genau genommen Matz und Anton lächelten mich an. Wie von selbst fuhr mein Daumen über Matz’ Gesicht, ich schaffte es nicht, meinen Blick von seinem Bild abzuwenden. Das Posting war bereits zwei Tage alt, doch da ich nicht sonderlich oft bei Facebook reinschaute, sah ich es erst jetzt.

Nachdem ich mir eine Weile nur das Foto angesehen hatte, las ich ein paar Minuten später auch seinen Text. Als ich erkannte, dass er aus Percy wieder Peggy gemacht hatte, musste ich laut lachen. So ein süßer Spinner!

Danach entdeckte ich die verteilt in Großbuchstaben geschriebenen Worte, und sofort wurde mir klar, dass er damit eine versteckte Botschaft gesendet hatte. Eine Botschaft an mich. Ich war mir sicher – immerhin hatte er Percy erwähnt und auch beim Rest seines Textes, den Gesprächen und dem gemeinsamen Lachen fühlte ich mich angesprochen.

DANKE UND AUF WIEDERSEHEN HIER AUF SYLT, lautete die Botschaft hinter seinem Posting.

„Ich danke dir, Matz. Und ich hoffe auch, dass wir uns wiedersehen“, murmelte ich leise vor mich hin. Erst dann wurde mir der letzte Satz seines Postings bewusst. War das etwa auch eine versteckte Botschaft an mich? Oder bildete ich mir das nur ein? Mein Herz schlug schnell bei diesem Gedanken.

Und nach einem Bier ;-)

In der ganzen Zeit hatten wir nur ein einziges Mal zusammen Bier getrunken. Am Abend in der Kneipe von Gosch. Als wir uns geküsst hatten. Ging es ihm wirklich um das Bier? Oder war das womöglich eine Art Synonym für unseren Kuss?

In meinem Magen kribbelte es, als ich erneut das Gefühl hatte, seine Lippen auf meinen zu spüren. Meine Finger huschten über die Tastatur und ich tippte bereits an einem Kommentar. Doch als ich ihn fertig hatte und erneut las, zögerte ich. Sollte ich wirklich?

Mein schlechtes Gewissen, das ich gegenüber Nick hatte, kam auf einen Schlag zurück. Verdammt, Zoe! Du bist verheiratet! Du kannst doch nicht mit einem anderen Mann flirten!

Ja, würde ich diesen Kommentar zu dem Bild posten, würde er mich sofort erkennen. Dann hätte er eine Möglichkeit, mich zu kontaktieren. Wollte ich das? In den letzten Tagen, seit ich wieder zu Hause war, hatte ich versucht, Matz zu vergessen. Im Nachhinein war ich ganz froh, dass wir unsere Handynummern nicht getauscht hatten. Es hätte es schwer gemacht und die Versuchung, ihn anzurufen oder anzuschreiben, wäre zu groß gewesen. Ich durfte mich nicht näher auf ihn einlassen. Denn auch wenn ich mir meiner Liebe zu Nick noch immer absolut sicher war, war mir auch klar geworden, dass Matz ein gefährlicher Mann für mich war. Irgendetwas hatte er an sich, was mich auf eine vollkommen unbekannte Art fesselte und faszinierte.

Schnell löschte ich meinen Kommentar, ohne ihn zu posten, und legte mein Handy aus der Hand. In diesem Moment ging die Wohnungstür auf. Nick war endlich zu Hause!

Freudig ging ich in den Flur, um ihn zu begrüßen.

„Hey, da bist du ja endlich! Schön, dass du wieder da bist!“ Ich legte meine Arme um seinen Hals und gab ihm zur Begrüßung einen liebevollen Kuss.

Es fühlt sich ganz anders an …, schoss es mir durch den Kopf und wieder dachte ich an den Kuss mit Matz. Das schlechte Gewissen nahm mir fast den Atem, doch ich riss mich zusammen. Nick sollte nicht merken, was in mir vorging.

„Wie war dein Flug?“, fragte ich, als wir uns voneinander gelöst hatten.

„Der Flug war super! Es ist immer wieder schön, Businessclass zu fliegen.“ Nick ging an mir vorbei und brachte seinen Koffer ins Schlafzimmer. „Was riecht hier eigentlich so gut?“, fragte er durch die offene Tür und ich folgte ihm. Im Türrahmen stehend, schaute ich zu, wie er seinen Koffer öffnete und anfing, seine Wäsche auszuräumen.

„Ich hab Gulasch gemacht. Begrüßungsessen.“ Innerlich wartete ich auf sein freudiges Lächeln, doch er schaute nicht mal auf.

„Ach, wie schade! Ich hab echt gar keinen Hunger, ich bin noch pappsatt vom Essen im Flieger. Außerdem macht mir die Zeitumstellung ein wenig zu schaffen. Ich glaube, ich räume hier nur noch schnell aus und gehe dann ins Bett. Vielleicht lese ich noch ein paar Seiten und dann … früh schlafen!“

Wie bitte? Da wartete ich sehnsüchtig auf unser Wiedersehen, hoffte, dass es Nick ebenso erging, und jetzt das?

„Ach komm, willst du nicht wenigstens ein bisschen essen? Ich hab uns auch schon einen Rotwein aufgemacht. Nur ein Glas, ja?“, fragte ich und hörte selbst, wie flehend meine Stimme klang.

„Sorry, Zoe. Ich bin wirklich platt. Den Wein können wir auch morgen trinken und das Gulasch schmeckt am nächsten Tag eh besser.“

Ich war ziemlich ernüchtert, trotzdem versuchte ich noch einmal, ihn umzustimmen. „Es ist gerade erst acht Uhr abends. Wenn du jetzt schlafen gehst, bist du mitten in der Nacht wieder wach.“

„Das macht nichts. Ich muss morgen früh wieder los ins Büro. Es gibt noch reichlich nachzuarbeiten.“ Schmollend ließ ich Nick ohne ein weiteres Wort allein und kehrte in die Küche zurück. Kurz überlegte ich, ob ich mir einen Teller fertig machen sollte, doch mir war der Appetit vergangen. Stattdessen schaltete ich den Herd und den Backofen aus, griff nach der Weinflasche und schenkte mir ein Glas ein.

Ein paar Minuten später gesellte sich Nick zu mir. „Nun sei doch nicht so bockig, Zoe. Meine letzten zwei Wochen waren echt hart, ich freue mich einfach nur noch auf mein Bett.“ Bockig? Ich war nicht bockig – zumindest war ich es bis eben nicht gewesen, jetzt allerdings ballte sich die Wut in meinem Bauch zusammen. Und die Enttäuschung über diesen verpatzten ersten Abend nach zwei Wochen, in denen wir uns nicht gesehen hatten. Um den Abend nicht vollkommen zu vermasseln, schwieg ich, tat, als wäre alles in Ordnung.

„Alles gut, Nick. Schlaf dich aus. Dann feiern wir eben morgen unser Wiedersehen.“ Nach einem flüchtigen Kuss verabschiedete Nick sich tatsächlich und ging ins Bett. Ich blieb allein in der Küche zurück. Mein Blick fiel auf mein Handy, und ohne es wirklich zu wollen, öffnete ich die Facebook-App und suchte in der Syltgruppe nach dem Foto. Diesem Foto, das mein Herz ein wenig höher schlagen ließ. Was gäbe ich jetzt darum, mit Matz in einem der Cafés in Westerland zu sitzen. Einen Kaffee oder ein Bier zu trinken und einfach nur zu reden.

Nein, hör auf, auch nur daran zu denken! Matz ist absolut tabu für mich und wir werden uns eh nie wiedersehen. Wie denn auch?, schalt ich mich in Gedanken selbst. Ich musste mich unbedingt ablenken. Matz und auch Nick aus meinen Kopf bekommen, bevor ich mich in etwas hineinsteigerte, was es nicht gab. Schnell wählte ich Doros Nummer, ich musste einfach mit jemandem reden und mich ablenken.

„Hey, Süße! Kannst du Gedanken lesen? Ich wollte dich gerade anrufen“, begrüßte meine Freundin mich.

„Ach echt? Was gibt es denn?“, fragte ich neugierig.

„Ich hab heute das Restaurant für meine Geburtstagsparty gebucht. Du kommst doch, oder?“

„Warte mal … hast du nicht dieses Jahr an einem Mittwoch Geburtstag?“ Ein Blick auf den Kalender an meiner Küchenwand verriet mir, dass der 26. April wirklich ein Mittwoch war.

„Ja, richtig, aber ich feiere den Samstag danach. Immerhin ist es ein runder – da machen wir richtig Party! Schließlich wird man nur einmal dreißig“, antwortete Doro lachend. „Also die Party steigt am 29. April in der Cohibar. Und ich erwarte, dass du dann auf der Insel bist. Ich kann ja schlecht ohne meine beste Freundin feiern. Nick ist selbstverständlich auch eingeladen, aber das ist wohl klar.“

„Okay, ich trage es mir gleich ein. Ist ja gar nicht mehr so lange hin.“ Ich wollte unter allen Umständen zu Doros Geburtstag auf Sylt sein. Nicht nur, weil sie meine Freundin war, sondern auch, weil ich einfach jede Möglichkeit nutzte, um ein paar Tage auf meiner Lieblingsinsel zu verbringen. Bereits jetzt freute ich mich wahnsinnig und hoffte, dass auch Nick es diesmal einrichten konnte. So hätten wir zumindest ein paar Tage gemeinsamen Urlaub, auch wenn es nur ein verlängertes Wochenende wäre.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739438283
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Hund Meer Trennung Begegnungen Gefühle Sylt Urlaub Liebe Vertrauen

Autoren

  • Ben Bertram (Autor:in)

  • Kerry Greine (Autor:in)

Ben Bertram ist ein Hamburger Jung. Er erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er pflegt. Er verbringt viel Zeit auf der Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Kerry Greine ist Autorin aus Leidenschaft. Sie ist eine Träumerin, Bloggerin, Tänzerin und emotionale Chaotin. Ein Dorfkind mit großer Liebe zu Hamburg. So viel Zeit wie möglich verbringt sie mit ihrer "Wauz" auf Sylt, denn im Herzen ist sie ein Inselkind.
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Titel: Wolkenleichte Dünenküsse