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Bardenlieder von Silbersee - Die Drachenreiter 3

Dämonenspuren

von Manuela P. Forst (Autor:in)
190 Seiten

Zusammenfassung

Verell Eries, die alte Königsstadt der Elfen, ist im Laufe der Jahrhunderte fast in Vergessenheit geraten. Dementsprechend schwierig gestaltet sich für Linara und ihre Gefährten die Suche nach diesem sagenumwobenen Ort, an dem sich die Elfe weitere Hinweise auf ihre Herkunft zu finden erhofft. Doch auch die Siath, die Schattenelfen, haben großes Interesse an dem verlorenen Land und der sogenannten Quelle der Macht, die dort verborgen liegen soll. Um sie an sich zu reißen, ist ihnen jedes Mittel recht. Eine neue Bedrohung zieht eine Spur des Todes durch das Land. Illustrierte Ausgabe!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

1 – Erinnerungen

 

 

Die Landschaft zog wie hinter einem Nebel an ihm vorbei – Erinnerungen an eine Vergangenheit, die nicht länger seine eigene zu sein schien.

War er Teil dieser Welt?

Er fühlte sich wie ein Beobachter seiner selbst. Er sah sich auf einem gehörnten Dämonenpferd durch das Land der Menschen galoppieren. Im Süden ragten die Gipfel eines Gebirges auf, das er einmal Heimat hatte nennen wollen und nun doch zu viele Jahre lang Gefängnis genannt hatte. Die Sonne schickte ihre Strahlen durch eine Lücke in der Wolkendecke, doch sie schienen ihn nicht zu berühren.

Er fühlte nichts. Nicht die Angst und Verzweiflung, welcher er in Pencurys Kerker ausgesetzt gewesen war, noch Freude oder zumindest Hoffnung, da er die Oberflächenwelt doch noch wiedersehen durfte.

War er wirklich hier?

Oder war all dies lediglich ein Hirngespinst, das Pencury in seinen Kopf gepflanzt hatte, um ihn zu bewegen, etwas preiszugeben?

Was wollte sie von ihm?

Was war es, das er zu schützen versucht hatte?

Sein Kopf war leer.

Pencurys zwingender Wille war nicht länger darin.

Jetzt war nichts mehr da – kein fremder Wille ... und auch kein eigener.

 

 

»Ich bin die Tochter von Saire Sindarfee und Linothos. Meine Kindheit verbrachte ich in der kleinen Waldsiedlung am Fuße des Kalkspitzengebirges. Heute findet man dort nur noch verbrannte Mauerreste und Scherben, überwuchert mit Gestrüpp. Und genau so erscheinen mir meine Erinnerungen. Der größte Teil meiner Kindheit liegt immer noch unter dem Mantel des Vergessens – Gedankentrümmer, welche der Zauber hinterlassen hat, der mich meiner Vergangenheit beraubt hat. Manchmal, wenn ich an meine Eltern denke, sehe ich nicht mehr als verzerrte Schatten, die flüchtige Emotionen hervorrufen. Ein anderes Mal stürzen die Erinnerungen mit einer Intensität auf mich ein, die mich zu überwältigen droht, und ich höre ihre Stimmen klar und deutlich in meinem Kopf. Nur eine Erinnerung bleibt immer allgegenwärtig – und diese Bilder verfolgen mich zu jeder Zeit. Es ist jene schicksalhafte Nacht vor anderthalb Dekaden. Mein Vater hatte mich mit zur Jagd genommen.« Linara zog ihr Messer und betrachtete nachdenklich die Klinge, die im Schein des zunehmenden Mondes schwach glänzte. »Er hat mich oft zur Jagd mitgenommen und mich die Sprache des Waldes und der Tiere gelehrt.« Ihre Finger strichen behutsam über das blanke Metall. »Er hatte ein ganz ähnliches Messer.« Sie steckte die Waffe zurück an den Gürtel. Der Blick ihrer saphirblauen Augen wanderte hinauf zum Himmel, wo unzählige Sterne blinkten. Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Züge der jungen Elfe. »Wir hatten Pilze gesammelt und Linothos hatte einen prächtigen Rehbock erlegt. Es war spät – vielleicht etwas später als sonst –, als wir uns auf den Heimweg machten. Da hielt mich mein Vater plötzlich zurück. Über den Bäumen glomm ein seltsames Licht. Es hockte über dem Wald wie eine unheilvolle Wolke. Blutrot. Und es machte mir Angst. Heute weiß ich, dass es der Schein des Feuers war, der sich an den aufsteigenden Rauchschwaden widerspiegelte. Doch damals flößte es mir einfach nur Furcht ein. Linothos wies mich an, Deckung zu suchen, und ging alleine zu unserem Dorf. Hätte er mich nicht zurückgelassen, wäre ich heute wohl nicht mehr am Leben.« Ihre Stimme zitterte leicht. Seit sie sich wieder vollständig an jenen tragischen Tag erinnern konnte, hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Auch jetzt kamen ihr die Worte nur schwer über die Lippen.

»Überall war dieses gespenstische Glühen. Die Tiere flohen. Panik lag in der Luft. Und dann hörte ich ihn! Ich werde diesen Schrei niemals vergessen! Selbst als der Vergessenszauber alles ausgelöscht hatte, hörte ich ihn ab und an in meinen Träumen. Und zuweilen klingt er noch heute in meinen Gedanken nach. Ich höre meinen Vater schreien.« Linaras Brust hob sich in einem Schluchzen. »All die Jahre habe ich gespürt, dass ich etwas verloren hatte. Nun zu wissen, was es ist, macht den Schmerz nicht erträglicher. Im Gegenteil! Der Gedanke, dass Schattenelfen alle ge... get...« Ihre Stimme versagte.

Jacharthis strich ihr behutsam über die Wange. Sie wandte ihm zögernd den Blick zu und er bemerkte das helle Glitzern der Tränen in ihren Augen. Fieberhaft suchte er nach Worten, um sie zu beruhigen, und wusste doch, dass es nichts gab, was er sagen konnte. Mittlerweile verstand er, was Meister Makantheo dazu bewogen hatte, einen Vergessenszauber auf die Elfe zu legen, und weshalb Atharis solchen Wert darauf gelegt hatte, ihre Vergangenheit geheim zu halten. Wenn er die Möglichkeit hätte, die Magie zu erneuern und Linara ein weiteres Mal ihrer Erinnerungen zu berauben, so war er sich nun nicht mehr sicher, was er tun würde.

»Es mag deinen Schmerz nicht lindern, doch ich glaube fest daran, dass deine Eltern zufrieden ins Reich der Sterne gegangen sind, wissend, dass die Siath letztendlich erfolglos waren. Weder haben die Schattenelfen das Geheimnis der Illas ar’Fee enträtselt, noch konnten sie deine Sippe vollständig auslöschen. Du bist am Leben, Linara Sindarfee. Ich mag nur ein Beobachter sein, nicht verwoben in das Schicksal der Feenkinder, doch es erfüllt mein Herz mit Freude, dich erneut heil unter dem Dach des Himmels zu sehen. Und ich glaube ermessen zu können, wie glücklich deine Eltern sein müssen, ihre Tochter frei von den Schatten zu wissen.«

Linara blickte zu ihm auf und Verzweiflung spiegelte sich in ihren Augen. »Wer bin ich, Jacharthis? Ich war eine Waldelfe aus den Tälern von Silbersee, Meister Makantheos Adoptivtochter und Schülerin der Akademie der Krieger. Ich hatte keine Vergangenheit, doch ich hatte eine Zukunft. Nun sehe ich mich plötzlich verstrickt in die Legende eines fast vergessenen Volkes.« Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sich die Tränen von der Wange. »Das verlorene Reich der Feenkinder, der Könige der Elfen! Dort sollen meine Wurzeln liegen? Ich bin eine einfache Waldelfe, in der Einsamkeit der Natur zu Hause. Königreiche, Kriege, Macht und Adel ... Das ist nicht meine Welt!«

Jacharthis sah ihr tief in die saphirblauen Augen. Er hätte lügen müssen, hätte er behauptet, dass diese bildhübsche, junge Elfenfrau den Schilderungen über die Illas ar’Fee, die Kinder der Feen und Vorväter aller Elfenvölker, nicht in sämtlichen Punkten gerecht wurde. Mochte sie im Herzen auch eine Waldelfe sein, so konnte sie ihr hohes Erbe doch nicht abstreiten.

Sindarfee … Das war ein geschichtsträchtiger Name. Unglücklicherweise waren Jacharthis’ Kenntnisse über die Illas ar’Fee und den Krieg der Elfen lückenhaft. Hinzu kam, dass seit Jahrhunderten lediglich Gerüchte über das Schicksal der alten Elfenrasse ihren Weg nach Intirana oder gar Silbersee gefunden hatten. Seine eigenen Vermutungen über Linaras Herkunft waren daher nicht mehr als wilde Spekulation. Es gab noch zu viele Puzzleteile, die ihm zu einer Antwort auf seine Fragen fehlten, Hinweise, die er sich in den verschütteten Erinnerungen der Elfe zu finden erhoffte. Doch er musste Geduld mit ihr haben.

Linaras Hand fuhr nervös durch das taufeuchte Gras. Nachdenklich wickelte sie einen Halm um ihren Zeigefinger und rupfte dann entschlossen daran. »Jacharthis, kannst du zaubern?«

Der Elf legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und seufzte. »Ich dachte, dieses Thema hätten wir hinter uns.«

Unweigerlich musste er an ihr erstes Zusammentreffen denken, als die junge Elfe ihn mit dem Schwert bedroht hatte, da sie ihn für einen Feind gehalten hatte. Jacharthis besaß ein Amulett, das ihm die Fähigkeit verlieh, sich in einen Phönix zu verwandeln. Aus diesem Grund hatte Linara gefürchtet, es mit einem Illusionisten oder gar mit einem dunklen Magier zu tun zu haben, der über die Kunst des Gestaltwandels verfügte. Es hatte Jacharthis einiges an Mühe gekostet, sie von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen.

»Ich bin kein Magier, Illusionist oder Hexer«, erklärte er gezwungen geduldig. »Und das weißt du auch.«

Linara nickte. Natürlich wusste sie, dass er nicht mit Feuerbällen werfen konnte.

»Das meine ich nicht! Ich rede von der Magie, die in uns steckt, Fähigkeiten, die jedem Elfen angeboren sein sollen.« Sie drehte den Grashalm zwischen den Fingern. »Kannst du ein Engelslicht herbeirufen?«

Jacharthis antwortete nicht. Stattdessen las er einen Kiesel vom Boden auf und schloss die Hand darum. Als er sie wieder öffnete, war der Stein von einem blauen Leuchten umgeben. Doch es verbrannte seine Haut nicht und strahlte auch keine Hitze aus.

Linara starrte fasziniert in das Licht, das schwach pulsierte.

»Wie machst du das?«, wisperte sie, als könne sie das magische Leuchten verschrecken. Zögernd streckte sie die Finger danach aus, wagte jedoch nicht, den Kiesel zu berühren. »Warum hast du in den vielen Monden, die wir uns nun schon kennen, nie ein solches Licht beschworen?«

»Es bestand kein Anlass dazu.«

»Kannst du es mir beibringen?« In ihren Augen spiegelte sich das blaue Glimmen, als sie bettelnd zu ihm aufsah.

Wie hätte er ihr widerstehen können? Doch, so leid es ihm tat, er musste diese Augen enttäuschen.

»Ich fürchte, ich kann es dir nicht beibringen. Es gibt keinen Zauberspruch und keine komplizierte Handbewegung, die du ausführen musst.« Er legte den Stein neben sich ins Gras.

Das Licht pulsierte weiterhin um die raue Oberfläche.

Squizi streckte neugierig den Kopf aus Linaras Gürteltasche, wo er ein Nickerchen gehalten hatte. Das blaue Glühen war einfach zu spannend und musste sofort näher untersucht werden! Das Eichhörnchen turnte aus seiner Schlafstatt heraus und näherte sich tapsend dem leuchtenden Gegenstand. Wie die Elfe zuvor, wagte Squizi es nicht, den Stein zu berühren. Sein Schwanz zuckte nervös und er stieß ein aufforderndes Pfeifen aus.

»Jemand muss es dich gelehrt haben!«, setzte Linara nach. So leicht wollte sie sich nicht abwimmeln lassen.

Jacharthis lehnte sich zurück und blickte empor zum sternenklaren Himmel, der sich wie eine Kuppel schwarzen Glases über das Land spannte. Einen Moment lang saß er nur so da und forschte in den Weiten des Universums nach den Erinnerungen an seine Vergangenheit.

»Ich habe mein erstes Engelslicht gezaubert, da war ich noch keine Zehn.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Damals war ich mächtig stolz! Nur unserer Katze, auf die ich den Zauber gelegt hatte, gefiel es weniger. Die Ärmste ist vor Schreck vom Baum gefallen.« Er richtete sich wieder auf und sah Linara direkt an. »Ich bin von der Wiege an mit dem Wissen erzogen worden, dass diese Kraft in mir steckt. Magie war für mich von klein auf etwas ganz Natürliches. Ich habe meine Mutter immer wieder beobachtet, wenn sie ein solches Licht über mein Bett zauberte. Und insgeheim habe ich geübt. Ich habe mein Innerstes nach den Kräften erforscht, so wie ein Kleinkind immer wieder versucht, aufrecht zu stehen. Und wie ein Erwachsener heute keinen Gedanken mehr verschwenden muss, um laufen zu können, so ist für mich auch dieser Zauber selbstverständlich geworden. Ich kann dir keine Anleitung geben. Doch diese Kraft steckt in dir, davon bin ich überzeugt. Sie zu finden und zu beherrschen, liegt jedoch allein in deiner Hand. Du musst es nur versuchen und darfst nicht aufgeben.«

Linara schüttelte energisch den Kopf. »Nein, lieber nicht! Ich habe dir erzählt, was die letzten beiden Male geschehen ist, als ich es versucht habe. Wer weiß, was ich diesmal in die Luft sprengen würde!«

Jacharthis hob den Stein hoch und blickte nachdenklich ins Licht. Neben ihm reckte sich Squizi auf den Hinterbeinen, doch der Elf nahm von dem Treiben des Eichhörnchens keine Notiz.

»Du besitzt weit mehr magische Kraft, als ich jemals heraufbeschwören könnte. Ich gebe zu, dass ich mich nicht besonders um Magie gekümmert habe. Die Erlernung der Kampfkunst und die Beherrschung meines Körpers lagen mir stets näher als geistige Experimente. Doch selbst wenn es nicht so wäre, würde meine Macht heute kaum über illusionistische Täuschungen und einfache Heilzauber hinausgehen und könnte sich nicht im Mindesten mit dem messen, was in dir steckt. Es bedarf eines Mächtigeren als mich, dich zu lehren, diese Kräfte zu kontrollieren.«

Linara schlang die Arme um ihren Oberkörper, als könne sie so die Magie in ihr einschließen. »Es macht mir Angst, wenn du so sprichst«, gestand sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das volle Ausmaß dieser Kraft, von der du redest, überhaupt erfahren möchte. Jacharthis! Ich habe einen kompletten Raum aus massivem Fels zum Einsturz gebracht!« Sie erschauderte bei dem Gedanken an das zerstörerische Ausmaß ihrer eigenen Stärke – einer Energie, die all die Jahre lang unbemerkt in ihr geruht hatte. Die Tatsache, dass sie jetzt ans Licht kam, es ihr jedoch nicht möglich schien, sie zu kontrollieren, ängstigte sie.

Jacharthis beobachtete sie aufmerksam. »Fürchte dich nicht vor dem, was du bist. Du trägst die Kraft deiner Vorfahren in dir. Es ist ein Segen, nicht ein Fluch.«

Er löschte das Engelslicht und legte den Stein zurück auf den Boden.

Squizi umschlich das suspekte Objekt, schnupperte und wagte schließlich sogar, es mit der Pfote anzustoßen. Doch nichts geschah. Der Stein blieb grau – dunkel in der Nacht.

Enttäuscht trottete das Eichhörnchen bis an die Kante des nahen Felsabbruchs, wo auf der Wiese unterhalb das Lagerfeuer der Drachenreiter einladend warm leuchtete.

 

 

2 – Führungsfragen

 

 

Atharis schritt unentwegt neben der Feuerstelle auf und ab. Den Blick hielt er vor sich auf den Boden gerichtet. Seine Gedanken waren weit fort.

Imares’ wasserblaue Augen folgten mehrere Minuten der rastlosen Gestalt.

»Atharis, du nervst«, maulte er, als der Mann erneut an ihm vorbei stapfte. Doch Atharis schüttelte nur abwehrend den Kopf und setzte seinen Marsch fort.

Aster seufzte übertrieben auf. »Nun komm schon, du Dickschädel! Setz dich zu uns und erzähle, was dich dermaßen bedrückt. Du läufst bereits Furchen in den Boden!«

Atharis trat ans Feuer, blieb stehen und starrte in die Flammen.

Die Gefährten hatten das Nachtlager in einer sandigen Mulde am Fuße eines Berges unter einem steilen Felssturz aufgeschlagen. Ihre Drachen waren unweit mit dicken Seilen an Bäumen festgebunden. Sie dösten mit zusammengefalteten Schwingen. Selbst Mondkristall, der keine Leinen und Ketten duldete, schlief friedlich eingerollt nach dem langen Flug.

Während Jacharthis und Linara die Felsen erklommen hatten, um das Gelände zu überblicken, saßen Aster, Cirano, Imares und Sindra dicht am Feuer, denn der Herbst war weit fortgeschritten und die Nächte waren kalt. Nur Atharis fand an diesem Abend keine Ruhe.

»Und?« Aster sah fordernd zu ihm auf, als er nach einer geraumen Weile immer noch schweigend dastand.

»Die Drachenreiter brauchen einen neuen Anführer!«, platzte er heraus. Er hob bestimmt den Kopf, sah aber keinen der Umsitzenden direkt an.

Sindra sprang entsetzt auf. »Wieso? Was ist mit dir? Du wirst doch nicht ...«

»Nein, ich werde euch nicht verlassen«, schnitt Atharis ihr das Wort ab, da er fürchtete, sie könnte Spekulationen über sein baldiges Ableben anstellen. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und schüttelte unwillig den Kopf. »Es ist nun einmal so, dass ich jeden Einzelnen von euch im Auftrag der Herrin Kartiana rekrutiert habe. Ihr ward Söldner im Dienste des Landes. Zum Dank gelten wir jetzt als Kriminelle. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Herzog uns alle des Hochverrats angeklagt hat, da wir die Drachen mitgenommen haben. Auch ich bin nicht länger ein Soldat Silbersees – ich bin fahnenflüchtig. Ich habe keine Weisungsbefugnis mehr über euch. Ihr wurdet vor die Wahl gestellt und habt euch entschieden, Linara und mich auf diesem Abenteuer zu begleiten. Dies ist keiner unserer Einsätze unter der Flagge von Silbersee. Und ich finde, es wird Zeit, Überlegungen anzustellen, welcher Ordnung diese Gruppe in Zukunft folgen soll.«

»Ich dachte, das wäre klar«, meinte Imares, der keinen Grund für eine hierarchische Umstrukturierung sah. Er hatte ohnehin keine Aussichten, dadurch etwas zu gewinnen.

»Das ist es in der Tat nicht«, widersprach Cirano.

»Für mich ist die Situation nicht neu«, bemerkte Sindra. »Ich stand vorher schon auf der Verbrecherliste. Drachendiebstahl und Hochverrat – das ist wenigstens mal etwas Ordentliches! Das klingt doch besser als Taschendiebstahl und Äpfel klauen!« Sie warf stolz den Kopf in den Nacken, als sie sich dieses Karrieresprungs bewusst wurde.

»Wir sollten die Elfen an diesen Überlegungen teilhaben lassen«, gab Aster zu bedenken.

»Du hast recht«, pflichtete Atharis der Katze bei und spähte die Felswand empor, unter deren Schutz sie das Lager aufgeschlagen hatten. Niemand war zu sehen. Daher führte er eine Hand an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus. Ein Kopf erschien über dem Rand der Felsen – ein heller Schemen gegen den nächtlichen Himmel. Atharis winkte mit ausladenden Gesten. Die Gestalt verschwand.

Wenige Augenblicke später traten Linara und Jacharthis in den Lichtkreis des Feuers.

Cirano zog eine Augenbraue hoch und warf Imares einen vielsagenden Blick zu. »Sie folgen auf Pfiff? Ich wusste nicht, dass es derart schlimm um die Ehre der Elfen bestellt ist!« Er gab sich keine Mühe, leise zu sprechen. Er wollte, dass Jacharthis seine Bemerkung hörte. Aufmerksam beobachtete er die Reaktion des Elfen, doch der ließ sich nichts anmerken.

»Wie viel habt ihr von unserer Unterredung mitbekommen?«, fragte Atharis, da auch ihm bewusst war, dass Elfen ein ausgezeichnetes Gehör hatten.

Die Angesprochenen wechselten einen Blick. »Nichts«, gestand Jacharthis wahrheitsgemäß.

Atharis legte die Stirn in Falten. »Ihr solltet Augen und Ohren offen halten. Ist dies die Art, wie ihr euren Pflichten als Wache nachkommt? Banditen hätten uns seelenruhig abschlachten können und ihr hättet es erst bemerkt, wenn der Verwesungsgestank in eure Nasen gestiegen wäre.«

»Es scheint, dass du für uns wiederholen musst, worum es geht«, bemerkte Linara ungerührt, die ihren Bruder gut genug kannte, um zu wissen, dass sein Tadel nur zur Hälfte ernst gemeint war. Ja, sie hatten ihre Aufgabe vernachlässigt. Angesichts dessen, dass fünf Drachen in unmittelbarer Nähe dösten, schien ihr eine Wache ohnehin überflüssig. Sie war überzeugt, dass der Groll ihres Bruders einzig darauf zurückzuführen war, dass er ihretwegen nochmals erklären musste, weshalb er sie gerufen hatte.

Atharis holte tief Luft. »Bis vor Kurzem sind die Drachenreiter einem einfachen Prinzip gefolgt. Ihr habt Geld von mir erhalten und meinen Befehlen gehorcht und ich habe Geld von der Herrin Kartiana erhalten und ihren Befehlen gehorcht. Unglücklicherweise konnten wir Herzog Karatek von Hufwald nicht von der Notwendigkeit eines derartigen Flugtrupps innerhalb der Landesgrenzen überzeugen. Nun stehe ich hier vor euch als Fahnenflüchtiger und ohne finanzielle Mittel. Meine letzte Anweisung an euch ist daher, einen neuen Anführer der Drachenreiter zu ernennen. Ich habe nicht länger Anspruch auf diesen Rang.«

Cirano stand auf und schlug mit der flachen Hand gegen seine Streitaxt. »In meiner Heimat treten die Kandidaten für einen neuen Stammesführer im Zweikampf gegeneinander an.«

»Ich hatte gehofft, ihr würdet eine unblutige Form der Abstimmung wählen«, meinte Atharis und breitete die Arme aus, um zu bekräftigen, dass die Dinge nicht länger in seiner Hand lagen. Wenn Cirano darauf bestand, seinen Anspruch mit der Axt geltend zu machen, würde er nichts dagegen unternehmen.

Da trat Jacharthis nahe an das Feuer, direkt vor Atharis hin. Er zog seine Dolche, präsentierte sie mit den Griffen voran und ließ sich auf ein Knie nieder.

»Als Einziger der hier Anwesenden hast du mir nie einen Treueschwur abverlangt. Dennoch habe ich deine Stellung als Anführer nie infrage gestellt und tue es auch heute nicht.« Er legte seine Waffen auf den Boden. »Erlaube mir daher, den Schwur hier und heute nachzuholen.«

Atharis schwieg, nicht wissend, wie er reagierend sollte. Der Elf hatte ihn durch seine Handlung zu Ciranos Konkurrenten gemacht, ohne dass er diese Position begehrt hatte, und gewiss gedachte er sie nicht in einem Kampf zu verteidigen. Schon wollte er sich an Cirano wenden, um ihm zu sagen, dass er keinen Wettstreit zwischen ihnen wünschte, da bemerkte er, dass Sindra und Imares aufgestanden waren. Sie kicherten verlegen und stießen sich gegenseitig auffordernd an. Und dann fielen sie neben Jacharthis auf die Knie. Imares versuchte sein Schwert zu ziehen, scheiterte aufgrund seiner zusammengekauerten Haltung und murmelte an Atharis gewandt: »Na ja, meinen Schwur hast du ja schon.«

Linara trat ebenfalls näher. Eigentlich wollte sie die formelle Geste umgehen. Atharis war, obgleich sie von Blutes her nicht verwandt waren, für sie der ältere Bruder. Egal wie hoch sein Rang innerhalb der Gruppe sein mochte, sie würde in ihm niemals etwas anderes sehen. Doch sie fühlte sich unwohl, als Einzige in der Reihe stehend und alle anderen überragend. Deshalb, und weil sie gegenüber Cirano die Ernsthaftigkeit ihrer Wahl verdeutlichen wollte, zog sie die Drachenschwerter, legte sie nieder und sank auf ein Knie.

Letztendlich hätte er wissen müssen, dass es so kommen würde, gestand sich Atharis ein, ohne dass ein Hauch von Egoismus in diesem Gedanken lag. Vielmehr sah er jetzt, dass sein Rücktritt reinem Selbstmitleid entsprungen war. Wohl hatte er gewusst, dass Sindra niemand anderen als ihn wählen würde. Sie verdankte ihm viel, vielleicht sogar ihr Leben, und sie wusste das. Auch Linaras Wahl war für ihn vorhersehbar gewesen. Die Elfe besaß eine Ausbildung, die es gerechtfertigt hätte, Anspruch auf die Führung einer ganzen Heerschar zu erheben. Doch sie war jung, nach den Maßstäben ihres Volkes war sie noch fast ein Kind. Atharis hatte erwartet, dass seine Schwester und das Halbling-Mädchen gegen seinen Rücktritt protestieren würden, ja, er hätte darauf gewettet. Dass es nun aber Jacharthis war, der ihn als erneuten Anführer vorschlug, damit hatte er nicht gerechnet. Genau genommen hatte Atharis den Elfen als seinen bevorzugten Nachfolger gesehen. Jacharthis war weitaus beherrschter als Cirano. Und Atharis war sich sicher, dass auch Sindra und Linara mit dem Elfen als Anführer einverstanden gewesen wären. Doch Jacharthis hatte ihn gewählt. Und die Drachenreiter hatten sich seiner Wahl angeschlossen – alle, bis auf Cirano und bis auf Aster, die sichtlich zögerte.

Es war nicht, dass Aster unentschlossen war. Auch sie wünschte keine hierarchischen Veränderungen innerhalb der Gruppe und hätte sich gerne in der Reihe neben Jacharthis niedergelassen. Aber viel länger, als sie eine Drachenreiterin war, war sie nun schon Ciranos Kampfgefährtin. Würde der Krieger ihre Wahl als persönliche Zurückweisung werten?

Atharis erkannte ihr Dilemma. Da ihre Entscheidung für den Ausgang der Wahl nicht relevant war, versuchte er sie aus ihrer Lage zu befreien und richtete den Blick entschlossen auf Cirano. »Ich werde die Führung dieser Gruppe nicht übernehmen, wenn nicht jedes Mitglied damit einverstanden ist.«

Cirano erwiderte den Blick lange und ausdruckslos. »Ich akzeptiere dich als Anführer. Aber ich werde nicht vor dir knien.«

Atharis lächelte erleichtert. »Das verlange ich auch nicht.«

Sein Blick schweifte zu Aster, die ihm dankbar zunickte. Niemand forderte ihre Zustimmung, denn selbst Cirano kannte ihre Haltung auch ohne, dass sie es aussprach.

 

3 – Der Weg nach Norden

 

 

»Wenn meine Beobachtungen mich nicht täuschen, ist das die Siedlung, die wir gestern Nachmittag im Osten gesehen haben.« Atharis’ Finger fuhr auf die Karte nieder.

Kleine Vierecke symbolisierten Häuser an der Linie eines sich schlängelnden Baches. Sowohl die Gebäude als auch der Wasserlauf waren dem Kartografen nicht die Mühe einer Beschriftung wert gewesen.

»Das bedeutet, wir befinden uns jetzt etwa hier!« Der Finger wanderte an den oberen Rand der Karte und kreiste um eine leere Stelle auf dem Pergament. »Ab jetzt müssen wir uns auf Elfen-Legenden verlassen.« Atharis stoppte in der Bewegung, ließ die flache Hand auf die Karte niederklatschen und beugte sich vor, um seinem Gegenüber in die tiefgrünen Augen zu schauen.

Jacharthis wiegte nachdenklich den Kopf, den Blick auf das Pergament gesenkt, das vor seinen Knien auf dem Boden ausgebreitet lag, so als könnte sich dort ein Pfad materialisieren, wenn er nur lange genug darauf starrte.

»Du kennst die Geschichten besser als jeder andere von uns«, hakte Atharis nach.

Der Elf nickte, ohne den Blick zu heben. »Verell Eries, die Stadt der Elfenkönige und Heimat der Illas ar’Fee, liegt in einem weiten Tal im Herzen des Eissteingebirges. Man sagt, die Gipfel der Berge ragen bis über die Wolken, und da sie das ganze Jahr über mit Eis und Schnee bedeckt sind, erscheinen sie dem Betrachter wie die Spitzen gewaltiger Bergkristalle, die in der Sonne funkeln. Es gibt zahlreiche Schriften und auch bildliche Darstellungen. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Überlieferungen der Wahrheit entspricht und nicht der Schwärmereien von Dichtern und Malern entspringt, so werden wir die Gebirgsformation zweifelsfrei erkennen, sobald sie am Horizont auftaucht.« Er hob den Kopf und sah nach Norden. Unmittelbar neben dem Lagerplatz ragte eine lotrechte Felswand auf, sodass sein Blick lediglich wenige Meter weit reichte. »Über das Land jenseits des Gebirges wird kaum etwas erzählt. Die Feenkinder waren bekannt für ihren Prunk und ihre Macht. Sie waren die Schutzbeauftragten ihres heiligen Tals. Weltoffenheit zählte nicht zu ihren Stärken. Obwohl sie über Jahrtausende die alleinige Regentschaft aller Elfen für sich beanspruchten, kann man doch behaupten, dass ihr Horizont nicht nur geografisch mit dem Gebirgskamm endete.«

»Du sprichst nicht gerade löblich über die Stammväter deines Volkes«, kommentierte Atharis.

Diese Bemerkung brachte Jacharthis dazu, ihm direkt ins Gesicht zu schauen. »Und wäre ich der einzige Elf, der so denkt, hätte es den großen Krieg nie gegeben.«

Atharis stutzte. »Waren es nicht die Schattenelfen, die sich gegen den König erhoben? Ich hielt dich bislang nicht für einen Sympathisanten der Siath.«

»Das bin ich auch nicht!«

Die Stimme des Elfen war merklich lauter geworden, sodass die übrigen Drachenreiter, die bereits damit beschäftigt waren, das Lager abzubrechen, innehielten und sich verwundert ihm zuwandten.

Jacharthis schüttelte abwehrend sein goldblondes Haar. Wieder gefasst sagte er: »Glaubst du, Verell Eries hätte jemals zur Legende verblassen können, wenn die Fürstentümer ihre neu gewonnene Unabhängigkeit nicht begrüßt hätten? Gewiss, sie haben sich nicht offen gegen den König gestellt, so wie die Siath, denn sie strebten nie danach, den Platz der Feenkinder einzunehmen. Doch sie ließen zu, dass die Macht der Illas ar’Fee schwand und das heilige Tal in Vergessenheit geriet.«

»Wisst ihr schon, wohin wir fliegen?« Ciranos Gestalt schob sich vor die noch tief stehende Sonne und warf einen langen Schatten auf die Karte.

Atharis blinzelte zu ihm auf. »Wir werden den Kurs Richtung Norden beibehalten.«

»Wir hätten in Intirana Karten besorgen sollen, so wie ich es gesagt hatte«, grollte der Südländer. »Aber unser Elflein hier hatte ja Angst, in seine eigene Stadt zu gehen!«

»Es wäre ein Umweg gewesen«, entgegnete Jacharthis.

»Von einem halben Tagesflug«, erinnerte Cirano ihn. »Und wie viele Wochen des Umherirrens hätten wir uns erspart?«

Der Elf erhob sich, um mit dem Südländer auf Augenhöhe zu sein. Doch selbst stehend reichte er diesem Hünen von einem Mann gerade bis zum Kinn. »Man hätte uns kaum willkommen geheißen! Karten über das alte Königreich befinden sich in der Bibliothek des Fürstenhofs. Menschen erhalten dort nur in Ausnahmefällen Zutritt.«

»Du bist ein Elf, Elflein!« Cirano stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust.

»Wie ich gerade erklärte, ist man in Intirana ganz froh darüber, dass die Illas ar’Fee quasi verschwunden sind. Ich hätte viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen, hätte ich im Archiv des Fürsten nach Karten und Schriften gefragt, die uns zu ihnen führen könnten. Mehr Aufmerksamkeit, als sich flüchtige Söldner Silbersees leisten sollten!«

Cirano legte die Stirn in Falten.

»Wir halten uns weiter Richtung Norden.« Atharis rollte den Plan zusammen und stand ebenfalls auf. »Wenn wir auf eine Siedlung treffen, können wir dort nach Karten dieser Region fragen. Bei der Gelegenheit sollten wir auch unsere Vorräte auffüllen.« Er schlug die Pergamentrolle gegen die Handfläche. »Lasst uns aufbrechen!«

 

 

Die in mystischem Feuer glühenden Hufe donnerten über die Ebene. Im gestreckten Galopp jagten die Nachtmahre dahin, ohne Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. Sie waren Dämonenpferde aus der Züchtung des obersten Magus der Schattenelfen, Seliath Elisthor. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der sie seit Stunden entlang der Grenze des Fürstentums Intirana nach Norden preschten, stellte für sie keine Herausforderung dar.

Anders erging es da ihren Reitern. Für die sieben Siath-Krieger war diese Reise alles andere als ein gemütlicher Ausflug. All die Jahre ihres bisherigen Lebens hatten sie in dem gedämpften Licht ihrer unterirdischen Heimatstadt Thyl Desphera oder in der absoluten Dunkelheit der Tunnel und Höhlen unter dem Kalkspitzengebirge verbracht. Nur wenige von ihnen hatten je die Welt auf der Oberfläche gesehen oder waren gar Sonnenlicht ausgesetzt gewesen. In der Zeit ihrer Ausbildung zu Soldaten für das Haus Pencury hatten sie gelernt, sich in den Schatten zu bewegen, ungesehen und ungehört. Die meisten von ihnen sahen es als Teil ihres Naturells, Aufmerksamkeit jeglicher Art zu vermeiden. Nun ritten sie nicht nur bei Nacht, sondern auch am helllichten Tage auf riesigen Pferden mit pechschwarzem Fell und Mähnen aus ultraviolettem Feuer entlang des Territoriums ihrer Todfeinde. Wann immer sie auf Tiere, Menschen oder auch Elfen trafen, lösten sie Panik aus. Doch einen Wimpernschlag später war die berittene Truppe schon wieder viele hundert Meter weit fort, sodass derartige Zusammentreffen für die Reiter keine unmittelbaren Konsequenzen nach sich zogen.

Einzig um die Mittagszeit, wenn das Sonnenlicht unerträglich schien, gönnte ihr Anführer Ribeiyon ihnen wenige Stunden Ruhe. Dann lagerten sie im Schutz einer Barriere, welche Nekhom, der einzige Magier, der die Soldaten begleitete, jeden Tag aufs Neue beschwor, um die Nachtmahre an der Flucht zu hindern und nicht zuletzt, um die Gruppe vor fremden Blicken wie auch vor den grellen Strahlen der späten Herbstsonne zu schützen.

Nekhom war einer der wenigen unter ihnen, der sich weder an dem Umgang mit den Dämonenpferden störte, noch Unruhe oder gar Furcht beim Anblick des Himmels und der weiten Landschaft um ihn her verspürte. Wie Ribeiyon war auch er schon an mehreren Expeditionen und Plünderungen an der Oberfläche beteiligt gewesen. Gerade deshalb missfiel es ihm über die Maßen, dass Lady Pencury ihn dem Soldatenhauptmann unterstellt hatte. Sie hatte ihn, den mächtigen Magus, mit Kriegern gleichgestellt! Es war eine Beleidigung und eine offene Missachtung seines gesellschaftlichen Standes! Als Magiewirkender sollte er automatisch über alle anderen erhaben sein!

Bislang hatte er es dennoch unterlassen, sich aufzulehnen, da er begriff, wie viel Ansehen er gewinnen konnte, würde diese Mission glücken. Sollte sie fehlschlagen, wäre jedoch nicht er selbst verantwortlich. Und noch sprach einiges dafür, dass es ein Fehlschlag werden würde.

In dieser Welt der unendlichen Weite und unbekannten Kreaturen fühlte sich selbst der Magier fremd und ungewohnt verletzlich. Und ihr Führer war wenig vertrauenswürdig. Er war der Einzige in der Gruppe, der kein Siath war. Ein Lichtelf – ein Waldläufer. Lady Pencury hatte darauf bestanden, dass er Teil der Expedition war, da er den Weg nach Verell Eries kannte wie kein Zweiter. Er hatte die Reise vom heiligen Tal bis zum Kalkspitzengebirge vor vielen Jahren selbst angetreten, behauptete sie. Seine magischen Bande würden ihn zwingen, die Truppe auf sicheren Pfaden zum Versteck der Feenkinder zu führen.

Nekhom selbst vergewisserte sich immer wieder, dass die Energiefesseln weder Verrat noch Flucht zuließen. Wann immer er konnte, beobachtete er den Gefangenen aufmerksam. Deshalb war ihm auch die Veränderung nicht entgangen, welche der Lichtelf durchlaufen hatte, gleich nachdem sie die Tunnel des Kalkspitzengebirges verlassen hatten. Es war nichts Offensichtliches, lediglich ein subtiles Leuchten in seinen Augen. Dies war die Heimat des Waldläufers, und wider der Behauptungen seiner Peinigerin war sein Geist nicht weit genug gebrochen, sodass er sich dieses Umstandes mit jedem Tag unter der Sonne und den Sternen etwas mehr bewusst wurde. Ja, er kannte diese Landschaft, er konnte die Gruppe führen. Und genau das war es, was Nekhom so sehr beunruhigte.

 

 

 

Regenschwere Wolken schoben sich vor den Mond. Atharis kniff die Augen zusammen. Es half nichts. In der Dunkelheit konnte er die Landschaft tief unten beim besten Willen nicht mehr erkennen. Er konnte nicht einmal sagen, wie hoch sich Moorfee über dem Boden hielt.

Die Nacht kam früh zu dieser späten Jahreszeit und es schien Atharis, als breche sie mit jedem Tag, den sie gen Norden flogen, eher herein.

Doch er wollte nicht landen. Er wollte nicht erneut das Lager aufschlagen in diesem Landstrich, der so bar jeder Zivilisation zu sein schien. Seit Tagen hatte er keine Siedlung gesehen – nicht einmal einen einzelnen Hof! Es kam ihm vor, als hätte nicht nur seine Karte geendet, sondern die ganze Welt der Menschen.

Am vergangenen Morgen hatte er sich geschworen, keine einzige Nacht mehr in der Wildnis zu verbringen und weiterzufliegen, bis sie eine Stadt, ein Dorf oder zumindest einen Menschen fanden, der ihnen sagen konnte, wo sie sich befanden. Der Tag war vergangen, die Nacht war gekommen und Atharis hatte den Anblick von Bäumen und Wiesen, Bergen und Flüssen satt.

Aber jetzt sah er überhaupt nichts mehr. Es schien so passend – im Blindflug durchs Niemandsland.

»Wir müssen runter!«, hörte er Ciranos Stimme zum wiederholten Male. »Das hat doch keinen Sinn! In dieser Dunkelheit fliegen wir noch gegen einen Berg!«

Atharis warf einen Hilfe suchenden Blick nach rechts, wo Linara und Jacharthis auf Mondkristall ritten. Den Eisdrachen nahm er lediglich noch als hellen Schemen war, obwohl dieser unmittelbar neben Moorfee herflog. Seine Reiter konnte er überhaupt nicht erkennen.

Er hatte die Elfen bei Einbruch der Dämmerung an seine Seite gerufen, da sie ihm mit ihren Augen behilflich sein sollten.

»Drachen haben ausgezeichnete Sinne. Ein Flug bei Nacht stellt für sie keine Gefahr dar«, beantwortete Jacharthis seine unausgesprochene Frage. »Aber meine Nachtsicht reicht nicht annähernd so weit wie mein Blick bei Tage. Wenn wir also weiterfliegen, laufen wir Gefahr, dass mir Hinweise entgehen, die uns Aufschluss über unseren Aufenthaltsort oder unseren weiteren Weg liefern könnten.«

Jacharthis und Cirano waren selten einer Meinung. Dass der Elf dem Südländer in dieser Form beipflichtete, bewies Atharis, dass es in der Tat höchste Zeit war, die Suche für heute abzubrechen.

»Einverstanden! Wir landen! Linara! Flieg voran und such einen geeigneten Rastplatz. Alle anderen folgten dichtauf! Ich will niemanden in der Dunkelheit verlieren!«

Hinter seinem Rücken reckte Sindra ihre steifen Glieder. »Eine gute Idee!«, kommentierte sie und gähnte herzhaft. »Das Abendessen ist auch längst überfällig!«

»Freu dich nicht zu früh! Unsere Vorräte sind bereits arg zusammengeschrumpft. Ich bezweifle, dass es dir gelingen wird, eine Mahlzeit für jeden von uns zu bereiten, die du selbst auch nur annähernd als ausreichend bezeichnen würdest«, dämpfte Atharis ihre Vorfreude.

»Lass mich nur machen!«, gab sich das Halbling-Mädchen zuversichtlich und grub ihre Finger in das dichte Fell des Hündchens, das sich in dem schmalen Spalt zwischen ihrem Bauch und Atharis’ Rücken eingerollt hatte. »Zur Not schicke ich meinen Elaka auf die Jagd!«

»Und was soll er fangen? Mäuse?«, stichelte ihr Anführer. Und damit lag er wohl nicht so sehr im Unrecht. Das Tierchen mit den kurzen Flügeln war kaum größer als eine durchschnittliche Katze.

»Unterschätze ihn nicht!«, warnte Sindra und gab sich eingeschnappt.

In dem Moment wurde ihr klar, dass er genau das tat. Er unterschätzte Elaka. Denn er wusste nicht, dass das geflügelte Hündchen in seiner wahren Gestalt ein fürchterlicher Wolfsdämon war. Einzig das Halsband mit dem magischen Amulett bannte die Kreatur in diese harmlose Form. Würde Sindra das Band entfernen, könnte Elak Arakon, wie er mit vollständigem Namen hieß, in der Tat ein effektiver Jäger sein. Sie hatte zugesehen, wie er eine ganze Schafherde binnen weniger Minuten zu einem Haufen Hackfleisch verarbeitet hatte. Und es war ihr gelungen, ihn danach von Neuem zu bannen – mit geringfügiger Hilfe des Elfen. Vielleicht müsste sie nur ein wenig mit Elak Arakon trainieren. Dann gäbe es nie wieder einen Engpass bei der Fleischversorgung. Aber dann müsste sie ihrem Anführer erst einmal gestehen, dass sie einen Dämon aus dem Turm eines Magiers gestohlen hatte, weil sie ein eigenes geflügeltes Reittier wollte. Die Wahrheit sagen – davor fürchtete sich Sindra mehr als vor den reißenden Klauen des Nebelwolfes.

Mittlerweile setzte Moorfee neben Mondkristall im hohen Gras einer Waldlichtung auf. Atharis schwang sich aus dem Sattel und machte sich umgehend daran zu schaffen, seinem Reittier das Geschirr abzunehmen.

Sindra spähte missmutig von ihrem Hochsitz.

»Du zuerst!« Sie gab Elaka einen Schubs.

Das Hündchen jaulte überrascht auf und flatterte hektisch mit den zu kleinen Flügeln, um seinen Fall abzufangen. Seine Herrin folgte ihm nicht minder unelegant, auf den Bauch über die Seite des Drachen rutschend, und landete mit einem Plumps neben ihm im Gras. Ja, es war wirklich höchste Zeit, dass sie ein fliegendes Reittier bekam, das ihrem Format entsprach!

Atharis versorgte Moorfee und legte Sattel, Zaumzeug sowie sein spärliches Gepäck zu einem Stapel an den Stamm einer ausladenden Eiche. Als er fertig war, bog er seinen Rücken durch und wollte sich dem Zentrum der Lichtung zuwenden, wo die Elfen soeben damit begonnen hatten, Holz für ein Feuer zusammenzutragen. Da stand Cirano unvermutet vor ihm. Mit den Armen in die Seiten gestemmt, wirkte er in der Dunkelheit wie eine massive Wand.

»Auf ein Wort!«, forderte der Südländer und winkte mit einer Hand.

Atharis folgte ihm wenige Schritte in den Wald, blieb jedoch bald stehen, da er überhaupt nichts erkennen konnte und nicht Gefahr laufen wollte, zu stolpern.

Cirano hielt ebenfalls an. »Hast du eigentlich auch nur eine ungefähre Ahnung, wo wir uns befinden?«

Angesichts dessen, dass er überhaupt nichts sehen konnte, schien Atharis die Frage geradezu lächerlich. Er wusste nicht einmal, was sich unmittelbar neben oder vor ihm befand.

»Nein. Aber Jacharthis sagt, dass ...« Er wollte erklären, dass er aufgrund der Schilderungen des Elfen annahm, das Eissteingebirge befände sich nordöstlich des Binnenmeeres Akarta, und dass er genau wusste, wie viele Flugstunden sie sich von der Küste entfernt hatten, wenn er auch nicht sagen konnte, wie das Land hieß, das sie durchquerten, noch, wer hier lebte oder herrschte.

Aber Cirano ließ ihn nicht aussprechen.

»Ist Jacharthis jetzt unser Anführer?«

»Nein! Aber er ...« Atharis wusste nicht recht, was er sagen sollte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er dem Elfen tatsächlich die Führerschaft abgetreten. Jetzt fühlte er sich auf unangenehme Weise ertappt.

»Du vertraust ihm nach all dem immer noch blind, nicht wahr?«

»Ich verstehe nicht ...« Nun war Atharis ehrlich verwirrt. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was der Elf in jüngster Zeit getan hatte, um diese Reaktion von Cirano zu rechtfertigen.

»Mach deine Augen auf, Atharis! Wir sind hier abseits aller Lande der Menschen und wohl auch der Elfen! Dieses vergessene Tal der Feenkinder könnte sonst wo sein! Wir wissen nicht einmal, ob wir in die richtige Himmelsrichtung fliegen!«

Atharis winkte entschieden ab. »Die Legende besagt, das Eissteingebirge liegt nordöstlich des Binnenmeeres.« Er hielt es nicht für nötig, anzufügen, dass sie seit Tagen diesen Kurs beibehielten. Cirano war kein Anfänger. Er konnte Himmelsrichtungen stets exakt bestimmen.

»Die Legende, die uns wer erzählt?«, hakte der Südländer nach. »Ein Elf, der gleichzeitig zugibt, dass es ihm und seinesgleichen lieber wäre, wenn wir den Ort, nach dem wir suchen, niemals finden! Hast du dir schon einmal überlegt, dass dies alles eine Lüge sein könnte? Dieser Jacharthis ist nicht ehrlich zu uns. Das war er nie!«

»Was redest du da!« Atharis fand, dass er heute keine Lust mehr auf derartigen Unfug hatte. Er war nahe daran, sich umzuwenden und den Krieger stehen zu lassen.

Von der Lichtung glomm der Schein eines Feuers auf. Jetzt war es nicht mehr ganz so dunkel zwischen den Bäumen und Atharis konnte seine Umgebung endlich erkennen. Und er sah die offene Beunruhigung, die sich auf den kantigen Zügen des Südländers widerspiegelte. Es war Cirano tatsächlich ernst mit seinen Bedenken. Atharis beschloss, zu bleiben und ihn zu Ende sprechen zu lassen.

»Er sagt, er stammt aus Intirana. Dennoch meidet er seine eigene Heimatstadt, als sei sie pestverseucht! Hätte er uns und Linara wirklich helfen wollen, hätte er Kontakte im Fürstentum geknüpft, die uns mit Informationen versorgt hätten. Stattdessen erfindet er immer neue Ausreden, weshalb er eben dies nicht getan hat!«

Atharis schüttelte hilflos den Kopf. »Cirano, ich habe dein Misstrauen gegenüber magischen und halbmagischen Geschöpfen immer respektiert. Aber ich finde, jetzt übertreibst du es mit deiner Paranoia!«

Der Krieger stieß aufgebracht die Luft aus. »Paranoia?«, echote er. »Allein, dass ich einen Drachen reite, sollte dir Beweis genug dafür sein, dass ich nicht unter Paranoia gegenüber magischen Wesen leide! Dass der Elf mit seiner Engelszunge und den schönen Augen die Köpfe der Mädchen verdreht, will mir ja noch einleuchten. Aber wenn du wirklich der Anführer der Drachenreiter sein willst, solltest du Objektivität beweisen und endlich deine Augen öffnen, bevor es für uns alle zu spät ist!«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ließ Atharis verdutzt und etwas ratlos zwischen den Bäumen zurück.

Es war nicht das erste Mal, dass Cirano an Atharis appellierte, diesem dahergelaufenen Elfen nicht zu sehr zu vertrauen. Und erneut stieß er auf taube Ohren! Warum machte er sich überhaupt noch die Mühe? Warum war er nicht seinen eigenen Weg gegangen, wie er es vorgehabt hatte, als klar geworden war, dass die Drachenreiter die Gunst Silbersees verloren hatten?

Murrend stapfte er durchs Unterholz, den Blick vor sich zu Boden gerichtet. Deshalb bemerkte er die schlanke Gestalt, die fast mit einem Baumstamm verschmolz, erst, als er dicht neben ihr vorbei kam.

»Aster!«, stieß er überrascht hervor, da ihm klar war, dass sie hier nicht stand, um die frische Nachtluft zu genießen. Sie hatte sein Gespräch mit Atharis belauscht und wahrscheinlich jedes einzelne Wort gehört.

Die Katze verschränkte provokant die Arme vor der Brust. »So, so. Mein Kopf ist also verdreht?«

»Du weißt genau, wie ich es meine«, behauptete Cirano.

»Vielleicht erklärst du es mir noch einmal«, gab sie gereizt zurück.

Cirano seufzte. Er kannte Aster schon viele Jahre lang. Seit er nach Silbersee gekommen war und sich dort Rikastors Bande aus Dieben und Meuchelmördern angeschlossen hatte, war ihm die Katze stets mit Verständnis begegnet. Sie teilten ein Stück Vergangenheit, das Aster als dunkel zu bezeichnen pflegte, auch wenn er selbst von derartigen Wertungen nicht viel hielt. Genau deshalb glaubte er, dass sie seine Bedenken nur zu gut verstehen müsste, wenn da nicht der Umstand wäre, dass sie dem Elfenjüngling seit dem ersten Tag schöne Augen zu machen pflegte.

»Du musst doch auch zugeben, dass sich der Elf eigenartig verhält!« Es schien ihm überflüssig, all seine Argumente noch einmal anzuführen. Sie hatte sie ohnehin gerade eben gehört.

»Der Einzige, den ich sehe, der sich eigenartig verhält, bist du«, gab sie zurück.

»Du warst schon immer zu leicht bereit, jemandem zu vertrauen, der in dein romantisches Weltbild passt.«

Aster erwiderte nichts. Natürlich nicht. Immerhin hatte er recht. Wäre sie nicht stets bemüht, niederträchtige Taten schönzureden, hätte sie längst Rikastor und all seine Helfer ans Messer liefern müssen. Doch sie tat es nicht, denn dann hätte sie sich auch selbst die Klinge an die Kehle halten müssen. So suchte sie immer Ausreden, um in den Spiegel blicken zu können, ohne die kaltblütige Mörderin zu sehen, die sie in der Tat war.

»Bist du denn so sicher, dass du auch in sein Weltbild passt?«

Wieder antwortete sie nicht. Doch er konnte in ihren Augen sehen, dass seine Worte nicht einfach an ihr abprallten.

»Glaubst du, seine Loyalität dir gegenüber geht weiter als jene zu seinem eigenen Volk? Was würde er tun, wenn er um all deine Taten wüsste – wenn er um unsere Taten wüsste?«

»Vergangenheit wird so genannt, weil sie vorbei ist«, gab sie leise zurück. »Jacharthis weiß, dass wir unsere Hände in Blut gebadet haben. Aber er beurteilt uns nach unseren aktuellen Taten. Das solltest du auch tun.«

»Und wenn er wüsste, dass Elfenblut darunter war?«

Aster schluckte. An diesen einen Auftrag wollte sie nicht gern erinnert werden.

Er beschloss, es dabei bewendet zu lassen. Seine Botschaft war angekommen, das wusste er, auch wenn sie vermutlich etwas anderes behaupten würde.

 

4 – Eine Nacht in warmen Betten

 

 

Rauch am Horizont!

Atharis heftete den Blick auf den dünnen grauen Faden, der sich gen Himmel schlängelte, und betete inständig, er möge aus dem Schornstein eines Hauses kommen, das in einer Stadt stand, die von einem freundlich gesinnten Volk bewohnt wurde.

Angesichts dessen, dass sie seit Tagen über Wildnis hinwegflogen, schien ihm dieser Wunsch zu kühn, um Realität werden zu können. Wahrscheinlicher war doch, dass dort ein wilder Drache einen Baum entzündet hatte oder dass Dampf aus einer heißen Quelle stieg.

Hinter seinem Rücken schwärmte Sindra bereits in einer Tour von den leckeren Speisen, die sie sich in einem Gasthaus auftischen lassen würde, von gekühltem Bier, einem heißen Bad und von mit Daunen gefüllter Bettwäsche.

Atharis versuchte, nicht hinzuhören. Aber sein Magen knurrte, sein Mund fühlte sich mit einem Male trocken an und seine Glieder begannen zu schmerzen.

»Ich sehe Häuser!«, kam von Jacharthis da die ersehnte Bestätigung. »Es scheint sich um ein Dorf zu handeln.«

Sindra jauchzte! »Wir schlafen heute Nacht in einem Bett, wir schlafen in einem Bett …«, trällerte sie zu einer Melodie, die sich anhörte, als habe sie die Biere, von denen sie geschwärmt hatte, bereits getrunken.

Atharis rieb sich die Augen. Er hatte plötzlich das Gefühl, sich keine Minute länger im Sattel halten zu können. »Sindra, hör auf!«, murrte er.

»Aber es stimmt doch, oder? Oder?!«, protestierte das Halbling-Mädchen.

Die kleine Siedlung rückte quälend langsam näher.

Sie lag auf der Kuppe eines Hügels, der sich über ein Meer aus Bäumen erhob. Zu dieser späten Jahreszeit trug der Wald ein Kleid in Goldbraun und dunklem Rot. Darin saß die halbrunde Erhebung wie ein Knopf, gestreift von Feldern mit gelbem Korn und grünen Wiesen und bekrönt von grauen und braunen Häuschen mit strohgedeckten Dächern.

»Ich bezweifle, dass die dort Landkarten besitzen, oder auch nur lesen und schreiben können«, murmelte Atharis bei sich, während Sindra hinter ihm ein Liedchen über Apfelkuchen und Honigmilch komponierte.

»Was machen wir eigentlich mit den Drachen?«, hörte er Asters Stimme zwischen schrägen Tönen über Zuckerguss und Vanillesoße.

Schon wollte er mit »Das, was wir immer machen!« antworten, da wurde ihm bewusst, dass die Frage durchaus gerechtfertigt war. Sie befanden sich längst weit außerhalb des Einflussgebietes von Silbersee und auch weit entfernt von Intirana. Die Bewohner hier mochten auf das Erscheinen von fünf Drachen mit Panik reagieren.

»Wir suchen einen sicheren Rastplatz außerhalb der Siedlung und holen die Drachen, sobald wir geklärt haben, ob die Bewohner sie dulden.«

»Wir wissen nicht, welche Kreaturen hier leben«, gab die Katze zu bedenken. »Können wir sie guten Gewissens alleine lassen?«

Weiter hinten lachte Imares auf. »Gibt es überhaupt etwas, das einem Drachen gefährlich werden kann!?«

»Alles eine Frage der Größe«, behauptete Cirano.

Zweifelnd blickte Atharis zur Siedlung, der sie sich mittlerweile so weit genähert hatten, dass er die Häuser erkennen konnte. Sehr wehrhaft wirkte das Dorf nicht. Ein einziger Funke aus dem Maul eines Drachen hätte sämtliche Gebäude binnen Augenblicken niederbrennen lassen. Und die hölzerne Palisade, welche die Hügelkuppe umgab, war kaum in der Lage, eine wild gewordene Rinderherde aufzuhalten.

»Ich denke nicht, dass wir hier auf derartige Kreaturen treffen. Lasst uns landen. Die Bäume sollten guten Schutz vor allzu neugierigen Blicken bieten.«

Kaum hatte er dies ausgesprochen, dirigierte er Moorfee in einen langsamen Sinkflug.

Die Bäume waren alt und hoch. Und sie standen so dicht, dass es sich schwierig gestaltete, eine Lücke zwischen ihren Kronen zu finden.

Für Moorfee stellte die Landung keine große Herausforderung dar. Von den fünf Drachen war sie am kleinsten und der Wald war ihr bevorzugter Lebensraum. Atharis gab die Zügel frei und ließ sie ihren eigenen Weg suchen, als er merkte, dass sie versuchte, sich seiner Führung zu widersetzen. Das Walddrachenweibchen wählte einen besonders hohen Baum, dessen Krone über die anderen hinausragte. Als wäre sie ein vierbeiniger Vogel, krallte sie nach einem der Äste und lief mit schlängelnden Bewegungen entlang des meterdicken Stammes hinunter.

Ein regelrechtes Dickicht aus Blättern und Zweigen raste auf Atharis zu. Er legte sich auf den Hals seines Reittiers und schlang die Arme über den Kopf. Hinter ihm kreischte Sindra auf, aber es blieb ihm keine Zeit mehr, das Halbling-Mädchen vor sich zu holen, um es mit seinem eigenen Körper zu schützen.

Moorfee hatte ihre Flügel eng an ihren Rumpf gelegt, doch jetzt zog sie diese wie ein schützendes Dach über ihre Reiter, um sie vor den peitschenden Zweigen zu schützen.

»Danke, mein Mädchen!«, lobte Atharis, als sie sicher den Waldboden erreicht hatten.

Weiter oben kreisten die übrigen Drachen über der Stelle, an welcher das Walddrachenweibchen gelandet war.

»Wer will es als Nächstes versuchten?«, fragte Aster zögerlich und spähte zu den Elfen hinüber, in der Hoffnung, dass diesen mit ihrem ausgezeichneten Verständnis für die Natur bereits ein Weg eingefallen war, wie der Abstieg mit einem Drachen zu schaffen sei, der den Wald nicht sein Territorium nannte. Mondkristall war ein Eisdrache. Sein bevorzugtes Revier waren verschneite Gebirgskämme, wo er in Höhlen Unterschlupf fand. Er musste mit der Landung zwischen derart dicht stehenden Bäumen mindestens ebensolche Schwierigkeiten haben wie der Feuerdrache, auf dem Aster ritt.

»Was? Nein! Wir sind nicht die Nächsten! Warte noch! Warte!«, kreischte Imares auf.

Als Aster sich verwundert nach dem Lärm umsah, bemerkte sie, dass der Schwarze Drache des Jünglings heftig mit den Flügeln flatterte und den Hals nach unten gebogen hielt, sodass es aussah, als wolle er sich in ein tiefes Gewässer stürzen, um Fische zu fangen. Auf seinem Rücken ruderte Imares verzweifelt mit den Armen und zog die Zügel einmal in diese und einmal in jene Richtung.

Nachtfalter ignorierte ihn völlig.

Im nächsten Moment warf der Drache unvermutet den Kopf hoch, klappte die Flügel wie ein Zelt zusammen und fiel gleich einer schwarzen Bombe vom Himmel.

Äste knackten und splitterten.

Tief unten auf dem Boden stieß Atharis einen Schrei aus, als er eine schwarze Masse auf sich zurasen sah. Zum Glück reagierte Moorfee, bevor er noch einen klaren Gedanken fassen konnte, und zog sich mit den windenden Bewegungen einer Echse tiefer in den Wald zurück.

Imares sah nichts. Es war alles schwarz. Das lag zum einen daran, dass ihn ein Dach aus Flügeln umgab, zum anderen an seinen fest zugekniffenen Augen. Er spürte nur, dass er fiel. Er hörte seine eigene Stimme ungewöhnlich schrill kreischen und dann ohrenbetäubenden Donner. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und sein Rückgrat unangenehm gestaucht.

Langsam wurde es heller hinter seinen geschlossenen Augenlidern. Etwas, das sich anfühlte wie ein nasses Badetuch, wischte über sein Gesicht.

Imares schnappte nach Luft und blinzelte. Er sah gerade noch Nachtfalters gespaltene Zunge, als sie in dessen Maul verschwand. Die riesigen Nüstern des Drachen befanden sich nur wenige Zentimeter vor seiner eigenen Nase und beschnupperten ihn.

»Was? Phä! Pfui! Was tust du da?« Der Junge fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht und schüttelte angewidert den Kopf.

Ein zufriedenes Schnauben aus den geweiteten Nasenlöchern hüllte ihn in einen Sinne beraubenden Nebel.

»Bist du übergeschnappt! Pfui Teufel!«, schimpfte Imares. Dann bemerkte er die großen Augen oberhalb der viel zu nahen Schnauze, die ihn mit liebevoller Besorgnis musterten.

»Ja, es geht mir gut! Danke!« Es klang nicht herzlich. Aber Nachtfalter war zufrieden, wandte endlich den Kopf ab und schüttelte Holzsplitter aus den Flügeln.

 

 

Etwa hundert Meter oberhalb starrten Aster, Cirano, Linara und Jacharthis schockiert in das Loch, das der Absturz des Schwarzen in das Blätterdach des Waldes gerissen hatte.

»Damit sollten wir Platz genug haben für eine normale Landung«, kommentierte Cirano, der sich als Erster wieder gefangen hatte. »Manchmal ist dieser Katastrophen-Lindwurm also doch zu etwas nützlich!«

Durch die Bresche, welche Nachtfalter geschlagen hatte, konnten die übrigen drei Drachen nun ohne größere Mühe landen.

Linara lenkte Mondkristall als Letzte hinab zwischen die Bäume.

Augenblicklich fiel ihr auf, wie anders dieser Wald war, verglichen mit jenem, in dem sie selbst aufgewachsen war und der die Hänge des Kalkspitzengebirges säumte. Alles schien hier größer und üppiger. Waren die Wälder in der Region von Silbersee dominiert von Nadelbäumen, so wuchsen hier vermehrt Laubbäume mit dicken Stämmen, die ein unglaubliches Alter vermuten ließen. Ihre ausladenden Kronen streckten sie hoch in den Himmel. Aufgrund der späten Jahreszeit hatten viele ihre Blätter bereits weitgehend abgeworfen. Dennoch drangen kaum Sonnenstrahlen durch das dichte Dach aus Zweigen und der Waldboden lag in düsterem Zwielicht. Trotzdem gedieh auch hier das Leben üppig. Niedere Sträucher trugen kleine Beeren. Zahllose Insekten schwirrten durch die Luft. Linara bemerkte ein paar kleinwüchsige Säugetiere, die im Dickicht Zuflucht suchten. Und sie hörte Vögel hoch über ihrem Kopf schimpfen, wohl weil die Drachen ihren Frieden empfindlich gestört hatten.

Obgleich sich dieser Wald so sehr von jenem in ihrer Heimat unterschied, fühlte sich die junge Elfe sofort wohl und auch irgendwie beschützt, als würde sie diese Bäume und seine Bewohner schon ewig kennen.

Dass es ihren Gefährten da ganz anders erging, erkannte sie, als sie deren wachsame Haltung bemerkte. Aster und Cirano hielten gar ihre Waffen in den Händen.

Linara wandte sich ihrem Bruder zu, der auf Moorfees Rücken sitzen geblieben war. »Ich denke, wir sind die einzigen Störenfriede in der Nähe. Der Lärm, den wir verursacht haben, hat die Waldbewohner verschreckt.«

»Mir gefällt dieser Wald nicht!«, grollte Cirano. »Wenn wir seine Bewohner verärgert haben, sind wir nicht sicher. Wir sollten verschwinden!«

»Du verstehst nicht!« Linara hob beschwichtigend die Arme. »Wir sind hier die größte Gefahr!«

»Und wenn sie sich zusammenschließen, um den Eindringling zu vertreiben – wer immer sie sind?«, gab Imares zu bedenken und sah sich um, als erwarte er bereits ein Geschwader von Vögeln, das Rache für ihren beschädigten Baum zu nehmen gedachte.

»Ein derart organisierter Angriff zahlreicher Tiere wäre doch recht ungewöhnlich und auch unnatürlich«, behauptete Jacharthis. Er sah sich ebenfalls um, doch wirkte seine Haltung ebenso gelassen wie jene von Linara. »Im Augenblick haben sie mindestens so viel Angst vor uns wie ihr vor dem Wald.«

Die Aussage schien nur begrenzt eine beruhigende Wirkung auf die Gefährten zu haben. Zumindest Aster steckte ihr Schwert wieder in die Scheide.

»Diese Bäume sind hoch genug, um selbst den größten Drachen zu verbergen«, bemerkte sie. »Und sie stehen dicht. Ich denke, wir können uns dem Dorf bis auf wenige hundert Meter nähern, ohne von den Bewohnern bemerkt zu werden.« Sie sah auffordernd zu Atharis hinüber, in der Erwartung, dass er ihr zustimmte und sie rasch aus diesem unheimlichen Wald führte.

»Sofern das Erdbeben, das Nachtfalter verursacht hat, nicht bereits alle in Alarmbereitschaft versetzt hat und wir mit gespannten Bögen erwartet werden«, gab Atharis zu bedenken. »Aber ich glaube auch, dass wir die Drachen zu unserem und ihrem eigenen Schutz so nah wie möglich zu dem Dorf mitnehmen sollten.« Er klopfte Moorfee tätschelnd den Hals. »Ich werde vorausreiten. Ich möchte, dass ihr etwas Abstand zu uns haltet, aber nie so viel, dass ihr uns aus den Augen verliert. Und vermeidet unnötigen Lärm!« Sein Blick richtete sich auf Nachtfalter und Imares.

Der Jüngling nickte eingeschüchtert. Von der Bruchlandung hatte er sich immer noch nicht ganz erholt und die momentane Umgebung war auch nicht dazu angetan, sein gewohntes Selbstvertrauen zurückzuholen.

So machten sie sich auf den beschwerlichen Weg durch das dichte Unterholz des Waldes.

Jeglicher Versuch, sich leise fortzubewegen, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Die massigen Körper der Drachen brachen Äste ab und walzten Sträucher nieder.

»Wir wüten hier, wie es eine Horde Berserkerzwerge in den Gläsernen Gärten des Elfenfürsten kaum schlimmer könnte«, behauptete Jacharthis und blickte bedauernd über die Schulter zurück auf die Schneise der Zerstörung, die sie hinterließen.

»Ich versuche ja mein Bestes, aber es ist fast, als strecke der Wald uns absichtlich seine Zweige entgegen, um uns zu verraten«, klagte Aster und suchte ratlos nach einem Pfad, um Moorfee zu folgen.

»Machs wie ich!«, riet ihr Cirano. »Halte dich hinter Nachtfalter! Da gibt es keine Zweige mehr!«

Entgegen seinen eigenen Anweisungen rief Atharis seine Schwester bald näher an seine Seite und bat sie schließlich sogar, mit Sindra Platz zu tauschen und ihren eigenen Drachen Jacharthis zu überlassen, da er in dem Wald sehr schnell die Orientierung zu verlieren drohte und nicht mehr zu sagen vermochte, wo genau das Dorf lag.

Selbst Linara hatte Schwierigkeiten, Entfernungen richtig abzuschätzen. So bemerkte sie den Hügel, auf welchem die Siedlung lag, erst, als sie nur noch wenige Bäume vom Waldsaum trennten und das Gelände bereits leicht anzusteigen begann.

Mit gemischten Gefühlen ließen die Gefährten ihre Drachen zurück und machten sich zu Fuß an den Aufstieg der Anhöhe. Zu Atharis’ Überraschung wurden sie nicht bereits von Wachen mit gezückten Waffen in Empfang genommen. Stattdessen bemerkten sie auf dem Weg über die Wiesen und Felder, welche sich in schmalen Bändern die Flanken des Hügels hinab bis zum Wald zogen, keine einzige Menschenseele. Auch auf den niederen Türmen der Palisade war keine Bewegung auszumachen. So gelangten die Drachenreiter unbehelligt bis vor das geschlossene hölzerne Tor.

»Hallo?«, rief Atharis.

Nichts regte sich.

Cirano drückte prüfend gegen das Tor. Die Flügel gaben ein Stück nach. Dabei knarrten die Angeln widerstrebend. »Ein wirkliches Hindernis stellt das nicht dar«, kommentierte der Südländer und schob eine Schulter vor, als wolle er sogleich gegen das Holz anrennen.

»Nein, warte noch!«, hielt ihn sein Anführer zurück. »Sie sollen nicht denken, dass wir ihr Dorf stürmen wollen.«

Sindra drängte sich näher heran und spähte durch den Spalt, welcher sich zwischen den Torflügeln geöffnet hatte. »Falls hier überhaupt jemand wohnt«, überlegte sie. »Ich sehe absolut niemanden.«

»Jemand muss diese Felder bestellt haben«, gab Aster zu bedenken und machte eine ausladende Geste den Hang hinab.

Goldene Ähren wiegten sanft im Wind. Mancherorts war das Korn bereits geschnitten und lediglich Stoppeln ragten aus der dunklen Erde. Etwas abseits stand ein kleiner Handkarren, auf welchem Bündeln von Getreide gestapelt lagen. Die Katze kniff die Augen zusammen. War das ein Jutesack da unter dem Wagen? Das Häuflein schien leicht zu zittern.

Warnend hob Aster die Hand, um ihre Kameraden zu alarmieren, und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Gefährt.

Sogleich nahm Cirano seine Armbrust von der Schulter und schickte sich an, einen Bolzen einzuspannen. Doch Atharis gebot ihm mit einer knappen Bewegung Einhalt und schüttelte entschieden den Kopf. Dann winkte er Aster und Linara, ihm zu folgen, während er den Übrigen zu verstehen gab, sich im Hintergrund bereitzuhalten.

Langsam näherte er sich mit der Katze und der Elfe dem Karren. Das Bündel zitterte noch etwas heftiger und rutschte weiter in den Schatten zurück.

»Hab keine Angst. Wir wollen dir nichts Böses.« Atharis ließ sich in einiger Entfernung zu dem Gefährt auf die Knie nieder.

Zwei angstgeweitete Augen starrten ihm entgegen.

»Komm hervor, damit wir uns unterhalten können«, sagte er und gab seinen Kameraden mit einer knappen Geste zu verstehen, dass keine Gefahr drohte. Es war lediglich ein Kind, das da unter dem Karren versteckt hockte.

»Renn, Kara, renn!«, hörten die Gefährten eine verzweifelte Stimme von der Palisade her.

Aber Kara saß nur da und zitterte umso heftiger.

Atharis richtete sich auf und wandte sich dem unsichtbaren Sprecher hinter der Wehranlage zu. »Wir sind lediglich Reisende auf der Suche nach einer Unterkunft und einem Ort, wo wir Proviant kaufen können!«

»Seid Ihr vor den Dämonen geflohen?« Ein behelmter Kopf erschien am oberen Rand der hölzernen Mauer.

»Welche Dämonen?«

»Wir sahen fliegende Dämonen vor kaum einer Stunde im Süden kreisen. Dann bebte der Boden, als habe sich die Erde aufgetan!«

Der Mann sprach in der Handelssprache der Menschen, jedoch mit einem markanten Akzent, sodass sich Atharis konzentrieren musste, um ihn zu verstehen.

»Ich kann Euch beruhigen! Das waren keine Dämonen, sondern unsere zahmen Reittiere.«

»Naja, zahm …«, zischte Aster hinter seinem Rücken Linara zu, die zur Antwort nur die Schultern zuckte.

»Und das Beben ist ebenfalls einem kleinen Missgeschick unsererseits zuzuschreiben!«

»Hier haben wir seit über einem Jahr keine Reisenden mehr gesehen. Sag mir, warum wir euch einlassen sollten?«

Atharis zögerte. Eine derartige Frage hatte er nicht erwartet. Kam es ihm nur so vor, oder wusste dieser Wächter tatsächlich nicht, was in solch einer Situation zu tun sei?

»Weil Ihr vom Handel mit uns ebenfalls profitieren würdet«, antwortete Aster an seiner statt. »Außerdem solltet Ihr aufmachen, damit dieses arme Kind nach Hause laufen kann.« Sie zeigte auf die kleine Kara unter dem Handkarren.

Der Kopf mit dem Helm verschwand.

Kurz darauf hörten die Drachenreiter, wie ein Riegel beiseitegeschoben wurde. Erwartungsvoll versammelten sie sich.

Augenblicke verstrichen. Nichts geschah.

Atharis sah seine Gefährten der Reihe nach an und zuckte die Achseln. Dann streckte er die Hand nach dem Tor aus und schob einen Flügel auf. Langsam trat er gefolgt von den anderen in das Dorf. Dicht hinter ihnen huschte Kara herein und verschwand sofort in einer Hütte.

Sie befanden sich auf einer Art Vorplatz. Ringsum standen Menschen und musterten die Neuankömmlinge stumm mit teils ängstlichen, teils erstaunten Mienen. Der Kleidung nach zu urteilen waren sie einfache Leute und auch die schlichte Bauart ihrer Hütten ließ darauf schließen, dass sie hier lediglich von dem lebten, was ihnen die umliegenden Felder und der Wald lieferten.

Nur ein Mann trug eine Rüstung aus Leder und Metallringen. Er trat durch den Kreis der Umstehenden und nahm den Helm vom Kopf. Zum Vorschein kam das runde Gesicht eines Mannes mittleren Alters, umrahmt von einem vollen Bart und weit weniger dichtem Haupthaar, das ihm in Strähnen in die Stirn hing.

»Mein Name ist Bekor! Ich begrüße Euch in unserem bescheidenen Heim Waldwart!«

Atharis deutete eine Verbeugung an und stellte jeden seiner Truppe mit Namen vor. »Wir befinden uns auf der Durchreise und benötigen Proviant. Außerdem würden wir uns einer trockenen Unterkunft und warmem Essen nicht abgeneigt zeigen«, schloss er ab.

Bekor runzelte misstrauisch die Stirn. »Ihr spracht von Reittieren, als ich Dämonen erwähnte. Welcher Art sind diese Tiere und wo haltet ihr sie versteckt?«

Atharis war froh, dass der Mann dieses heikle Thema von sich aus ansprach. »Wir sind Drachenreiter.«

Diese Offenbarung ließ manche der Umstehenden verschreckt zurückweichen, weshalb er sich beeilte, anzufügen: »Es handelt sich um eine Züchtung aus der Stadt Silbersee. Unsere Drachen sind den Menschen ebenso treu und gefügig wie beispielsweise Pferde. Wir ließen sie nahe dem Dorf im Wald, um Euch nicht unnötig zu verängstigen. Doch mit Euerer Erlaubnis würden wir sie gerne an einem sicheren Ort unterbringen, wo wir sie während unseres Aufenthaltes im Auge behalten können.«

In Bekors Blick lag der Funken der Neugierde und Begeisterung. Trotzdem zögerte er, bevor er sagte: »Ihr könnt sie herbringen, sofern Ihr für sie bürgt und mir Euer Wort gebt, dass niemandem durch sie ein Leid widerfährt.«

Dem stimmte Atharis bereitwillig und auch erleichtert zu.

Wenig später zogen die Drachenreiter in Waldwart ein. Die eindrucksvolle Prozession aus den ungewöhnlich gewandeten Kriegern und ihren imposanten Reittieren wurde von den Bewohnern mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung verfolgt. Manch einer beobachtete die riesigen Reptilien mit Sorge, während Kinderaugen vor Entzücken leuchteten, da die Kreaturen aus ihren Gutenachtgeschichten lebendig geworden zu sein schienen. So manchen jungen Mann packte die Sehnsucht nach einer abenteuerlichen Reise, während Frauen vor allem den Reitern wohlwollende Blicke zuwarfen.

»Das ist wie beim Einzug des Zirkus!«, jauchzte Sindra und winkte den Schaulustigen überschwänglich zu.

Cirano rümpfte missmutig die Nase. »Vielleicht solltest du deinem Köter schon mal beibringen, durch Flammenringe zu springen. Und für die Vorstellung verlangst du Proviant. Denn ich bezweifle, dass unsere Münzen aus Silbersee hier ein willkommenes Zahlungsmittel sind.«

»Das ist eine hervorragende Idee!« Das Halbling-Mädchen klatschte in die Hände.

Cirano stöhnte auf.

»Ich fürchte, unser bescheidenes Dorf besitzt keine geeigneten Stallungen für Eure ... ähm ... Reittiere, mein Herr Atharis«, erklärte Bekor, der mit dem Anführer der Drachenreiter die Spitze des Zuges bildete. »Aber es gibt eine Weide mit einer gemauerten Einfassung etwas abseits der Häuser. Vielleicht wollt Ihr Eure Drachen dort unterbringen?«

Atharis nickte wohlwollend. Eine Mauer war selbstverständlich nicht dazu angetan, Drachen an der Flucht zu hindern. Aber sie konnte nützlich sein, um allzu neugierige Dorfbewohner auf Abstand zu den Reptilien zu halten.

»Für Euch und Eure Gefährten werde ich eine Unterbringung und reichliche Verpflegung im Heißen Topf veranlassen. Es ist unser einziges Gasthaus hier. Ich hoffe, es genügt Euren Ansprüchen.«

»Wir haben die Nächte der letzten Wochen unter freiem Himmel verbracht. Unsere Ansprüche sind gewiss nicht hoch«, versicherte Atharis.

Wie von Bekor angekündigt, gelangten sie kurz darauf zu einer Weide, die von einer Mauer aus Bruchsteinen umgeben war. Eine junge Frau mühte sich ab, eine Ziegenherde in den nahe gelegenen Stall zu treiben, um die Fläche für die Gasttiere freizugeben.

Beim Anblick der hüpfenden Böcke und Zicklein brummte Moorfee und leckte sich übers Maul.

»Das ist nicht dein Abendessen«, zischte ihr Atharis zu und nahm den Zügel kürzer.

Bekor war die Bemerkung wohl nicht entgangen, denn er fragte mit Besorgnis: »Benötigt Ihr etwas, um Eure Tiere zu versorgen?«

Atharis winkte ab. »Wir verfügen über Ketten und Vorrichtungen, um sie im Boden zu verankern.«

»Ich meinte eigentlich das Futter.« Bekor sah der letzten Ziege nach, die soeben durch das Stalltor verschwand.

»Macht Euch keine Sorgen! Drachen benötigen lediglich alle paar Tage frisches Fleisch. Seid versichert, dass sie auf unserer Reise ausreichend Gelegenheit hatten, Wild zu jagen. Es wird nicht nötig sein, sie heute Abend zu füttern.«

Bekor atmete hörbar auf. »Wenn Ihr weiters nichts braucht, werde ich vorgehen und mich um Eure Unterbringung kümmern. Ich erwarte Euch später im Heißen Topf

Er schien es plötzlich sehr eilig zu haben, sich von den Drachen zu entfernen, und wartete Atharis’ dankbare Erwiderung kaum ab, bevor er in Richtung des Dorfzentrums davoneilte.

 

 

Der Heiße Topf bildete die Mitte von Waldwart und überragte alle umstehenden Gebäude um ein Stockwerk. Das Gasthaus hätte besser in eines der Städtchen an der Straße zwischen Silbersee und Intirana gepasst, als in diese winzige Siedlung, wo kaum ein Reisender vorbeikam.

Bekor erklärte seinen Gästen den Umstand dadurch, dass hier vor vielen Jahren tatsächlich eine rege Handelsroute bestanden hatte. »Die Straßen sind mittlerweile überwuchert. Seit Jahrzehnten kommen hier keine Handelskarawanen mehr durch. Viele Leute sind weggegangen. Aber nicht alle sind bereit, ihre Heimat aufzugeben. So leben wir in Waldwart und sind auf uns allein gestellt. Kaum jemand wagt noch die Reise von mehreren Tagen zur nächsten Stadt. Der Wald beschützt uns.«

»Vor wem?« Atharis nahm einen Schluck aus dem Becher mit Apfelwein, den ihm der Dorfoberste gönnend zuschob. Es war der Dritte … Oder war es der Vierte? So genau hatte er nicht mitgezählt und es schien ihm auch nicht wichtig. Heute musste er nicht mehr fliegen, nicht kämpfen und gedachte auch keine bedeutenderen Entscheidungen mehr zu treffen, als jene, ob er sich nun von dem Lammbraten oder dem Spanferkel noch ein Stück genehmigen sollte.

»Uns erreichten Berichte – oder sollte ich besser sagen, Gerüchte – dass die Menschen im Norden und Osten mit gar blutrünstigen Bestien zu kämpfen hätten. Besonders in Selth-Tor nahe der Lerelinor-Schlucht rüsten sich die Leute und bauen Gräben und steinerne Wachtürme.«

Selth ... Lerelinor ... Atharis erkannte den elfischen Ursprung dieser Namen und wurde hellhörig. »Wo liegt Selth-Tor?«

»Das ist weit von hier im Nordosten. Aber mit Euren Drachen solltet Ihr in vielleicht zwei Tagen dort sein. Obwohl ich Euch das nicht raten würde. Die Menschen dort sind misstrauisch geworden angesichts der ständigen Bedrohung durch die Kreaturen, die aus dem Gebirge kommen.«

»Gebirge?!« Atharis verschluckte sich fast.

»Ja, das Selth al Lhir-Gebirge«, bestätigte Bekor.

Atharis ließ enttäuscht die Schultern hängen und versenkte den Blick in seinem Krug. Er hatte wirklich gehofft, einen Hinweis auf das Eissteingebirge gefunden zu haben. Seine Vermutung, dass es in diesem Dorf keine Aufzeichnungen und Karten über die Region gab, hatte ihm sein Gastgeber bereits bestätigt. Nun wusste er absolut nicht mehr, in welche Richtung er die Drachenreiter weiter führen sollte.

Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass er angestarrt wurde. Irritiert hob er den Kopf. Jacharthis, der am anderen Ende des Tisches bei Sindra und Linara saß, schien ihn mit seinem Blick regelrecht durchbohren zu wollen.

Atharis runzelte fragend die Stirn.

»Selth al Lhir bedeutet Eis, das leuchtet«, sagte der Elf.

Nicht recht wissend, was er mit dieser Information anfangen sollte, zog Atharis die Schultern hoch. Dann erinnerte er sich an die Beschreibung, die ihm Jacharthis von den Bergen rund um das Tal der Elfen gegeben hatte. »Du meinst ...?«

»Selth al Lhir ist ein alter, elfischer Name für das Eissteingebirge.«

»Eissteingebirge?«, wiederholte Bekor. »Ja, so wird es von manchen genannt.«

Atharis schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Umsitzenden erschrocken zusammenzuckten. »Das ist es! Wir haben es gefunden!«

»Ihr wollt zum Selth al Lhir?«, vergewisserte sich Bekor. »Verzeiht, doch ich halte das für keine so gute Idee.«

»Wegen dieser Kreaturen?«, erkundigte sich Atharis.

»Das wohl! Und wegen der fehlenden Gastfreundschaft der Menschen dort. Es geht mich natürlich nichts an, aber welche Angelegenheit führt Euch in diese Gegend?«

»Wir ... ähm ... suchen Schätze«, log Atharis, da es sich in seinen Ohren plausibler anhörte als die Wahrheit. »Wir hörten von einer verlassenen Elfenstadt jenseits des Gebirges.«

Die Miene des Dorfoberhauptes verdüsterte sich. »Dann seid Ihr töricht und des Todes, solltet Ihr diesen Weg weiter verfolgen. Die Gier nach den Schätzen der Elfen hat schon viele zum Selth al Lhir gelockt. Niemand kann diesen mächtigen Wall aus Stein und Eis bezwingen. Ihr werdet in Gletscherspalten stürzen, sofern Euch die Bestien, welche das Gebirge durchstreifen, nicht zuvor zerreißen.«

»Wir haben Drachen«, erinnerte Atharis selbstsicher und auch ein wenig stolz. »Erlaubt uns, dass wir uns selbst ein Bild von der Lage machen, und weist uns den Weg nach Selth-Tor.«

Bekor musterte ihn nachdenklich und ein wenig mitleidig. »Hochmut war schon vieler großer Männer Verhängnis«, philosophierte er. »Ich würde Euch den Weg nicht nennen, selbst wenn er mir bekannt wäre. Ich kann Euch den Weg nach Süden weisen, wo Ihr auf eine Straße und etwa eine Tagesreise darauf auch auf eine Ortschaft treffen werdet. Von dort werdet Ihr den Weg nach Hause finden. Nach Selth-Tor kann ich Euch nicht ruhigen Gewissens schicken.« Mit diesen Worten erhob er sich. »Seid unsere Gäste in dieser Nacht. Es soll Euch an nichts mangeln. Doch, ich bitte Euch, verschiebt die Wahl Eures weiteren Weges bis zum Morgen, wenn der Alkohol nicht mehr aus Euch spricht.«

Atharis zuckte angesichts der Anschuldigung zurück und blickte betroffen auf den Tonkrug nieder, der leer vor ihm stand. »Ich ... äh ... Ja. Gute Nacht.«

Er starrte Bekor bedauernd hinterher, während dieser zum Tresen ging, um dort mit dem Wirt zu sprechen. Als er wieder auf seinen Krug niedersah, war dieser von Neuem gefüllt. Neben ihm, auf demselben Stuhl, auf dem zuvor Bekor gesessen hatte, nahm soeben eine junge Frau Platz.

»Bitte, trink!« Sie goss noch ein wenig Apfelwein in seinen Becher und rückte verlegen an dem tönernen Gefäß. »Das geht auf mich!«

»Was verschafft mir die Ehre?« Mechanisch griff Atharis danach und trank einen Schluck.

»Ich bekomme hier selten Gelegenheit, mich mit interessanten Männern zu unterhalten.« Sie kicherte nervös. »Ich meine, hier kommen normalerweise keine Krieger und schon gar nicht Drachenreiter vorbei. Die größte Aufregung, die man hier erleben kann, ist eine Ziege, die sich im Wald verirrt hat. Davon spricht das ganze Dorf drei Tage lang. Oder über den Hagel, der das Korn niedergeschlagen hat.« Sie verdrehte theatralisch die Augen. »Übrigens, ich bin Solana!«

 

 

Linara hatte sich von ihrem Stuhl erhoben, als Bekor gegangen war, in der Absicht, sich neben ihren Bruder zu setzen und mit ihm über die Informationen zu sprechen, die sie von dem Mann erhalten hatten. In dem Moment drängte sich eine junge Frau mit langem blonden Haar, das sie zu zwei Zöpfen geflochten trug, vor sie und schnappte ihr den Sessel regelrecht weg. Irritiert blieb die Elfe stehen und beobachtete, wie sich Solana immer näher an Atharis heranschob. Ihr Bruder schien Linaras Anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken und begann ein Gespräch mit der Blondine über Drachen zu führen.

Linara entschied, dass es sein gutes Recht war und ihre Beratung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden konnte. Sie wollte soeben zu ihrem Platz zurückkehren, als Aster plötzlich neben ihr stand und sie an der Schulter berührte.

»Was ist?«, wunderte sich die Elfe über das geheimnistuerische Verhalten der Katze.

»Findest du das nicht auch merkwürdig?« Mit einer leichten Bewegung des Kopfes lenkte Aster den Blick der Elfe auf Cirano und Imares, die sich mit einem Male ebenfalls in der Gesellschaft von jungen Frauen aus dem Dorf befanden. »Die sind doch nicht nur zum Plaudern gekommen.«

Linara zögerte. »Haben wir ein Recht, uns da einzumischen?«

»Wenn wir der Meinung sind, das Urteilsvermögen eines Drachenreiters könnte getrübt sein, ist es doch sogar unsere Pflicht«, behauptete die Katze.

»Meinst du, dass es so schlimm ist?«

»Ich habe Erfahrung auf dem Gebiet.«

In der Absicht, die Lage besser einzuschätzen, ließ Aster den Blick durch den Gastraum schweifen. Weitere Frauen waren gekommen und sammelten sich an der Theke. Dort drängten sie sich zusammen und tuschelten, wobei sie immer wieder zu den Drachenreitern hinüber schauten.

»Sie beratschlagen, wer wen kriegt«, behauptete Aster. Sie sah zu Jacharthis hinüber, der immer noch neben Sindra saß und als einziges männliches Mitglied der Gruppe nicht umschwärmt wurde. »Und sie wollen keinen Elfen.«

Linara lachte nervös auf. Ihr schien das Ganze zu absurd. Allerdings konnte sie auch nicht abstreiten, was sie sah.

»Ich werde das aufklären!« Kurz entschlossen wandte sie sich auf dem Absatz um und ging zur Theke, wo Bekor jetzt alleine stand.

»Entschuldigt, wenn ich aufdringlich erscheine!«, begann sie und hoffte inständig, der Mann würde nicht auf die Idee kommen, dass sie dieselben Absichten hegte, wie jene, die Aster den Dorffrauen unterstellte.

»Keineswegs! Wie kann ich Euch helfen?« Bekor stellte seinen Apfelwein zur Seite und drehte sich zu ihr um.

»Es mag sich lediglich um eine kleine Differenz in den Sitten und Gebräuchen unserer beider Länder handeln, doch mich überrascht das Verhalten der Damenwelt hier doch etwas.« Linara fand, dass sie das wunderbar diplomatisch formuliert hatte.

Zu ihrer Überraschung lachte Bekor auf. »Ihr seid eifersüchtig wegen der Aufmerksamkeit, die Euren Gefährten zuteilwird?«

»Nun, das ist vielleicht nicht das richtige Wort!«, verteidigte sich die Elfe rasch und fühlte sich auch ein wenig beleidigt. »Nennen wir es besorgt um ihr Wohl

Wieder lachte Bekor. »Welcher Mann würde sich da unwohl fühlen? Und wenn dem so wäre, könnte er doch das Angebot abschlagen. Für mich sieht das aber nicht danach aus!« Er wies auf Imares und Cirano, die sich soeben von mehreren Frauen von ihrem Tisch fortführen ließen.

»Dann gebt Ihr also zu, dass sie sexuelle Absichten verfolgen«, mischte sich Aster ein, die angesichts der Entwicklungen schnell zu ihnen gelaufen war. »Stört es Euch als Oberhaupt dieses Dorfes nicht, wenn sich die Frauen unter Eurer Obhut derart unsittlich verhalten?«

»Unsittlich?«, wunderte sich Bekor. »Es ist ihr gutes Recht und in Anbetracht des Wohls von Waldwart sogar ihre Pflicht!«

»Ihre Pflicht?!«

»Meine Damen! Wir leben hier unter anderen Verhältnissen, als Ihr es vielleicht gewohnt seid. Dies ist ein kleines Dorf, in das sich nur selten ein Reisender verirrt, und nie wird jemand auf die Idee kommen, sich hier niederzulassen. In Waldwart ist über wenige Generationen schon jeder in irgendeiner Weise mit jedem verwandt. Frisches Blut, um es so auszudrücken, ist den Mädchen da sehr willkommen.«

»Ich verstehe ...« Aster wirkte nachdenklich. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte.

»Ich auch!« Linara eilte durch die Wirtsstube zurück zu Atharis, der Solanas Hände umfasst hatte und sich soeben erhob, wohl um sich ebenfalls von ihr fortführen zu lassen.

Unwirsch schob sich die Elfe zwischen die beiden.

Solana wagte nicht, sich zu beschweren, aber Atharis tat es.

»Was soll das, Linara?« Er versuchte, sie zur Seite zu drängen.

»Sie will nicht dich, sie will dein Blut!«, platzte Linara heraus.

Atharis zog verständnislos die Augenbrauen zusammen. »Sie ist eine Vampirin?«, wunderte er sich.

Seine Schwester schüttelte hilflos den Kopf. »Sie will frisches Blut in das Dorf bringen, indem sie ein Kind mit dir zeugt!« Sie wandte sich zu Cirano und Imares um, die sich bereits auf halbem Weg zu den Treppen zum Obergeschoss befanden, wo die Gästezimmer waren. »Das gilt auch für euch! Was haben sie euch erzählt? Dass sie euch faszinierend finden? Oder, dass ihnen keine andere Wahl bleibt, weil sie von den Männern im Dorf keine Kinder bekommen können, ohne Inzucht zu riskieren?«

»Das klingt nicht sehr romantisch, lässt sich aber wohl nicht leugnen«, gab Solana zu. »Faszinierend finde ich dich trotzdem und ich würde dich auch unter Hunderten anderen wählen.« Sie zerrte energisch an Atharis’ Arm, wohl aus Angst, er könnte es sich tatsächlich anders überlegen.

Imares jaulte vergnügt auf und zog die beiden Mädchen an seinen Seiten dich zu sich heran. »Wenn es dem Erhalt des Dorfes dient, stelle ich mich gerne zur Verfügung!«, verkündete er und ging weiter die Treppe hinauf.

 

 

Cirano wollte ihm folgen, aber Aster stellte sich ihm in den Weg. »Wie kannst du nur?« Ihre Augen schienen zu flackern.

Der Krieger sah sich in der Wirtsstube um. Es waren auch einige Männer aus dem Dorf anwesend. Sonderbarerweise schien sich keiner von ihnen an dem Verhalten der Mädchen zu stören. »Dieses Dorf kann ein paar starke Nachkommen gut gebrachen. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich mich ihnen verweigern sollte!«

Aster sah ihn schockiert an und gab dann den Weg für ihn und seine Werberinnen frei. Da bemerkte sie, dass Atharis stehen geblieben war und sichtlich zögerte.

»Willst du das wirklich?« Sie rang flehend die Arme.

»Gerade du solltest dich doch am wenigsten daran stören«, entgegnete er und klang dabei durchwegs nüchtern und beherrscht.

Aster ließ geschlagen die Schultern hängen. »Hast du eine Ahnung«, murmelte sie, während sie Atharis nachsah, der nun ebenfalls über die Treppe im Obergeschoß verschwand.

Linara und Sindra traten zu ihr. »Männer!«, entrüstete sich das Halbling-Mädchen. »Kein Sinn für Anstand!«

»Wer kann es ihnen verübeln?«, meinte Aster, aber es klang wenig überzeugt. »Keiner von ihnen ist in einer Bindung, die ihm dieses Vergnügen verwehren würde. Wem gegenüber müssten sie sich rechtfertigen?«

»Das ist keine Entschuldigung!«, behauptete Sindra.

In dem Moment trat Jacharthis zu der kleinen Gruppe. Er befand sich immer noch nicht in Gesellschaft eines der Dorfmädchen.

»Was ist mit dir?«, sprach ihn Sindra an, noch bevor er etwas sagen konnte.

Der Elf sah sich um. Die Frauen, welche sich an der Theke versammelt hatten, würdigten ihn keines Blickes. Einige von ihnen verließen bereits wieder das Gasthaus.

»Offenbar wünscht sich hier niemand halbelfische Nachkommen«, bemerkte er.

Weder Aster noch Linara oder Sindra schien diese Antwort zufriedenzustellen. Sie taxierten ihn misstrauisch, wohl um herauszufinden, ob er das nun gut oder schlecht fand.

Jacharthis beschloss, dass er sie auf andere Gedanken bringen musste. Er trat zwischen Aster und Linara und legte ihnen je einen Arm um die Schultern. »Nun, es scheint, als wären wir heute Abend nur zu viert. Lasst mich euch auf ein Getränk einladen, meine Damen.«

»Das kann ich jetzt dringend brauchen!«, stöhnte die Katze auf und ließ sich von ihm zur Theke geleiten.

 

5 – Der Zwerg in der Ecke

 

 

»Seien wir ehrlich! Letztendlich sind sie doch alle gleich! Sie nehmen deine Hilfe an, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Aber wenn sie einen anderen Kittel sehen, sind sie weg, ohne Gruß und Dank!« Aster lehnte ihren Kopf schwer gegen Linaras Schulter.

Mittlerweile war es spät in der Nacht und die Wirtsstube hatte sich fast vollständig geleert. Nur die drei Freundinnen saßen noch an einem Tisch nahe dem geöffneten Fenster, durch welches sie zum Sternenhimmel hochblicken konnten. Jacharthis hatte sich verabschiedet, da er noch nach den Drachen sehen und danach zu Bett gehen wollte, wie er gesagt hatte. Der Wirt schnarchte auf seinem Schemel hinter dem Tresen. Offenbar war er es nicht gewohnt, den Betrieb bis zur Sperrstunde aufrechtzuerhalten.

»Vielleicht liegt es daran, dass Männer und Frauen keine Freunde bleiben können – egal, welche Rasse!« Sindra lungerte auf dem Tisch und kaute an dem Rest einer Laugenbreze.

»Natürlich können sie Freunde sein!«, behauptete Linara. Sie war als Einzige nüchtern geblieben, da sie den ganzen Abend gemäß ihrer Gewohnheit ausschließlich Wasser getrunken hatte.

»Pha!«, machte Aster. »Atharis sieht in dir seine Schwester. Das zählt nicht!«

»Und was ist mit Jacharthis?«, konterte die Elfe.

Die Aussage brachte Aster dazu, sich aufzusetzen und ihre Freundin prüfend anzusehen. »Siehst du in ihm wirklich nur einen Freund?«

»Was willst du damit sagen? Natürlich ist er ein Freund!« Linara stieß sich dermaßen an dieser scheinbaren Herabwürdigung ihrer Freundschaft, dass ihr überhaupt nicht auffiel, worauf die Katze hinauswollte.

»Denkst du, dass ihm das auf Dauer genügen wird?«

Jetzt begriff Linara und sie wurde augenblicklich rot. »Naja ... ich ...« Ihr Blick wich denen ihrer Freundinnen aus und irrte in der Wirtsstube umher.

Da sah sie die Augen.

Sie hockten in einer Ecke oberhalb eines Weinkruges und leuchteten im Widerschein einer Kerze.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739387819
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Drachen Abenteuerepos Elfen Schattenelfen Fantasysaga Dämonenjagd Highfantasy Fantasy

Autor

  • Manuela P. Forst (Autor:in)

Manuela P. Forst lebt in Wien und hat sich mit Schreibfeder und Zeichenstift der Fantasy verschworen. Seit 2004 veröffentlichte sie zahlreiche Texte in Anthologien und Magazinen. Aktuell arbeitet sie vornehmlich als Selfpublisherin an Fantasy-Reihen wie "Bardenlieder von Silbersee" und "Der Adel von Ametar".
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Titel: Bardenlieder von Silbersee - Die Drachenreiter 3