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Instinct - Der geduldige Tod

Grace Boticelli ermittelt 5

von Johanna Marthens (Autor:in)
190 Seiten
Reihe: Grace Boticelli ermittelt, Band 5

Zusammenfassung

Privatdetektivin Grace Boticelli sieht sich voller Entsetzen das Video an, das ein Unbekannter vor ihrer Türe abgelegt hat: Eine Frau wird bei lebendigem Leibe begraben. Grace wird erst ihren Aufenthaltsort erfahren, wenn sie den Sohn einer seit über fünfzig Jahren toten Frau findet. Als ihr klar wird, dass es sich bei der Vergrabenen um Rosie handelt, die Frau, mit der sie sich angefreundet hat, setzt sie alles daran, um sie zu finden. Und sie erfährt, dass Rosie in den vergangenen Tagen selbst einen Fall verfolgt hat. Rosie wollte herausfinden, wer vor über fünfzig Jahren ihre Freundin entführt und getötet hat. Grace weiß weder, was Rosie herausgefunden hat, noch wer der Entführer sein kann oder wie sie den Sohn der Toten finden soll. Sie hat vierundzwanzig Stunden, um Rosie zu retten. Die Uhr tickt ... ***** Es geht ab der ersten Seite Schlag auf Schlag. Wenn ich könnte würde ich gerne mehr Sterne vergeben! Vielen Dank für die tolle Unterhaltung!!!!! ***** Tolle Serie, schade, dass die Serie schon zu Ende ist. ***** Einfach nur schön. Alle 5 Teile fand ich gleich spannend. Die Autorin schreibt sehr flüssig, ich mag sie und kann jedem raten, diese Reihe zu lesen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

INSTINCT

 

Der geduldige Tod

 

 

 

JOHANNA MARTHENS


Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 


Copyright © Johanna Marthens, 2016, 2021

 



Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.

 


Mehr über die Autorin unter
www.johannamarthens.de

oder Facebook/Johanna.Marthens.

Kontakt: Johanna.Marthens@gmx.de

 

 

 

 



Wir beklagen uns unaufhörlich, dass unserer Tage so wenige seien,
und betragen uns trotzdem so, als ob sie nie enden würden.

 

Lucius Annaeus Seneca

INHALTSVERZEICHNIS

 

 

 

PROLOG

NOCH DREIUNDZWANZIG STUNDEN

NOCH ZWEIUNDZWANZIG STUNDEN

NOCH NEUNZEHN STUNDEN

NOCH SIEBZEHN STUNDEN

NOCH VIERZEHN STUNDEN

NOCH ZWÖLF STUNDEN

NOCH ZEHN STUNDEN

NOCH ACHT STUNDEN

NOCH FÜNF STUNDEN

NOCH ZWEI STUNDEN

NOCH EINE STUNDE

NOCH ZEHN MINUTEN

EPILOG 20 MONATE SPÄTER

IMPRESSUM

PROLOG

 

 


ROSIE KAM LANGSAM ZU SICH. Nach und nach begann sie, eine Empfindung nach der anderen zu sortieren. Zunächst verspürte sie ein unangenehmes Gefühl im Hals. Sauer und ätzend. Ihr Brustkorb schien zusammengepresst, denn das Atmen fiel ihr schwer. Ihr Kopf glühte, als würde ihr Blut nur in diese Richtung fließen. Sie wollte sich aufrichten, doch es war nicht möglich. Für einen Moment war ihr, als würde sie schwerelos im All schweben. Ihre Füße berührten den Boden nicht, auch sonst fehlte ihr der Kontakt mit der Erde. Doch warum fühlte sich ihr Kopf dann so massig wie ein Felsblock an?

Sie verspürte Bewegung, aber das leichte Rütteln stammte nicht von ihr. Das seltsame Schaukeln verstärkte das ätzende Gefühl in ihrem Hals. Die Säure kroch in ihren Mund. Ihr Magen gab ein unangenehmes Ziehen von sich, dann ergoss sich die Säure aus ihrem Mund.

»Igitt wie eklig«, murmelte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie sich gerade übergeben hatte. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch sie sah nichts. Es war alles schwarz um sie herum. Einen furchtbaren Augenblick lang fürchtete sie, dass sie erblindet sei. Aber dann nahm sie schwache, helle Punkte wahr, die durch einen dunklen Stoff schimmerten. Offenbar hatte man sie in einen Sack gesteckt. Wieder versuchte sie, sich zu bewegen, aber es ging kaum. Jedes Aufbäumen verursachte starke Schmerzen in ihrem Brustkorb. Offenbar hing sie über einer Karre oder auf einem Wagen, dessen Rand in ihren Brustkorb schnitt. Das würde erklären, wieso sie beim Atmen solche Schwierigkeiten hatte und warum ihr Kopf sich wie ein Zementblock anfühlte.

»He! Ich kann alleine laufen. Es geht nicht mehr so schnell wie früher, aber ich kann es noch.« Sie wollte eigentlich empört rufen, aber ihre Stimme klang kläglich leise. Und kratzig von der verbliebenen Säure in ihrem Hals. »Was soll das?«, krächzte sie.

Die alte Frau erhielt keine Antwort. Deshalb fing sie an, vorsichtig zu zappeln. Sie bewegte ihre Beine hin und her und schaukelte mit dem Oberkörper. Schnell gab sie die Bewegung wieder auf. Ihre Wange berührte das Erbrochene, und die Kante schnitt noch tiefer in ihren Körper ein, aber einen größeren Effekt hatte es nicht, dass sie sich wehrte.

Ich hätte mehr essen sollen, dann könnte man mich nicht so leicht wegbringen, dachte sie und sehnte sich nach Donuts mit Zuckerguss, die sie als Teenager geliebt hatte, und an Entenbrust mit Cranberry-Gelee, mit der sie einst ihren Mann bezaubert hatte. Sie war hungrig, aber nicht nur nach Donuts und Entenbrust, sondern nach Luft und Freiheit. Dann strampelte sie erneut. Doch auch dieses Mal zeigte es keinen Erfolg. Stattdessen fühlte sie, wie der Karren stoppte.

»He, lassen Sie mich raus!« Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie in diese Situation gekommen war. Aber sie schaffte es nur bis zu dem Gespräch mit dem ehemaligen Kindermädchen der Fedderbeers. Was sie gehört hatte, war so furchtbar gewesen, dass sie sich gewünscht hatte, niemals nach Rachels Schicksal geforscht zu haben. Danach verließ sie die Erinnerung.

Der Karren stand still. »Wer ist da? Was wollen Sie?«, rief sie. Dieses Mal etwas lauter.

Sie spürte, wie jemand den Sack, in dem sie steckte, ein Stück nach oben zerrte. Der Jemand keuchte schwer.

»Lassen Sie mich raus!«, rief Rosie. »Ich bekomme keine Luft hier drin!«

Sie glaubte, ein heiseres Kichern zu hören, dann spürte sie, wie derjenige, von dem das Kichern stammte, sie unsanft auf den Boden gleiten ließ und dann schubste, so dass sie zur Seite rollte. Danach fiel sie nach unten. Mit einem Krachen kam sie etwa einen Meter tiefer auf einem Holzboden auf. Der Aufprall jagte das letzte bisschen Luft aus ihren Lungen. Sie lag in dem Sack auf dem Bauch und ächzte. Mühsam drehte sie sich zur Seite, um Luft holen zu können.

»Hilfe!«, murmelte sie mit jämmerlich leiser Stimme, während sie hörte, dass ein Holzdeckel über ihr zufiel. »Hilfe!« Dieses Mal war ihr Ruf lauter, laut genug, um in einem Umkreis von mehreren Metern gehört zu werden. Aber er nützte nichts mehr. Sie war plötzlich von ungewöhnlicher Ruhe umgeben. Etwas Erde fiel auf das Holz über ihr, mehr war nicht zu hören. Kein Verkehrsrauschen, kein Vogelgezwitscher, kein Wind. Und selbst das feine Rieseln der Erde blieb nach wenigen Augenblicken aus.

Rosie schnappte entsetzt nach Luft, als ihr langsam bewusst wurde, dass jemand sie bei lebendigem Leibe begraben hatte. Und dass niemand wusste, wo sie sich befand und sie retten könnte. Nicht einmal Grace.

 

 


***

 

 


DIE DARK OAK BAY LAG IM SCHATTEN. Hinter den Bergen im Osten ging zögerlich die Sonne auf und färbte den Himmel in ein leuchtendes Orange mit goldenen Wolken, die über den Bergspitzen zu kleben schienen. Doch das Licht schaffte es noch nicht, das Meer und die Bucht im Westen zu beleuchten. Der Weg zwischen den Bäumen zog sich im Dunkeln. Was zwischen den Büschen raschelte, blieb in der Finsternis verborgen. Nur der Tau lag funkelnd auf Gräsern und Blättern und reflektierte den Schimmer des erwachenden Morgens. Grace fröstelte leicht und knöpfte ihre Jacke zu. Zu ihren Füßen rauschte das Meer und brandete unermüdlich gegen die Felsen, pausenlos und dröhnend wie ihre Gedanken. Immer wieder dachte sie an Roan, an den Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass sie in ihn verliebt sei. Der, der ihr wochenlang heimlich Blumen gebracht und ihr gesagt hatte, dass sie ihm unendlich viel bedeutete. Doch er war auch der Mann, der Grace betrogen und sich mit einer anderen Frau verlobt hatte. Die Verlobung war sein Auftrag gewesen, sein Job. Dennoch hatte er Grace damit zutiefst verletzt und enttäuscht. Außerdem zwang ihn seine Arbeit zu ständiger Heimlichtuerei und zu unregelmäßigen Arbeitszeiten. Doch Roan wollte, dass Grace ihm verzieh und mit ihm zusammenkam. Sollte sie? Würde er sich für sie ändern und seinen Job aufgeben?

Und dann war da Travis, der für sie da gewesen war, als sie ihn gebraucht hatte. Er hatte sie vor dem sicheren Tod von der Hand eines Psychopathen gerettet und war auch im Krankenhaus nicht von ihrer Seite gewichen. Er hatte gesagt, dass er um sie kämpfen wolle. Wen sollte sie wählen?

Wenn sie tief in sich hineinlauschte, spürte sie, dass ihr Herz noch immer für Roan schlug. Hier in der Dark Oak Bay hatte sie ihn das erste Mal richtig getroffen und ihn nach seinem Namen gefragt. Und hier hatte er sie das erste Mal geküsst. Noch deutlich sah sie seine leuchtenden Augen und seinen zärtlichen Blick vor sich.

Die junge Frau mit dem hübschen Gesicht und den großen, ausdrucksvollen Augen seufzte tief. Warum war das Leben so kompliziert? Wieso verliebte sie sich in einen Mann wie Roan, der wegen seines Berufs als Agent nicht offiziell mit ihr leben konnte, aber mit anderen Frauen zusammen sein musste? Er hatte ihr gestern Nacht versprochen, seinen Job zu kündigen, um sie nicht mehr zu enttäuschen. Aber wollte sie wirklich, dass er wegen ihr alles aufgab? Würde sein Verzicht nicht immer zwischen ihnen stehen? Und wollte sie für Roan im Gegenzug Travis aufgeben?

Bei dem Gedanken an den Polizisten schlug ihr Herz ebenfalls schneller. Auch er war ihr in den vergangenen Tagen näher gekommen, und sie spürte ganz deutlich die Zuneigung für ihn in ihrem Herzen.

Also? Was sollte sie tun?

Zunächst einmal seufzte sie erneut und beobachtete einen Lichtstrahl, der sich zwischen zwei Bergspitzen hindurch bis zur Bucht vorgewagt hatte. Er kroch langsam über einen Grasflecken, dann schob er sich über einen runden Stein auf Sand und Kies, bis er an Grace‘ Fuß ankam. Sie spürte, wie das Licht ihr Bein hinaufkroch und ihre Haut wärmte. Als das Licht endlich auf ihrem Gesicht lag, blinzelte sie. Sie wusste zwar immer noch nicht, was sie tun und wie sie sich entscheiden sollte, aber sie fühlte sich plötzlich etwas besser. Als würde das Licht ihre trüben Gedanken verscheuchen und das nicht enden wollende Karussell in ihrem Kopf langsamer werden lassen. Der Kreisel war noch nicht verschwunden, drehte sich jedoch mit jedem Moment ruhiger. Sogar ein kleines Lächeln legte sich auf Grace‘ Lippen.

Sie warf einen Blick auf die Brandung am Fuße der Klippen. Sie würde hier sowieso keine Lösung für ihr Liebesdilemma finden. Da konnte sie auch in Ruhe frühstücken gehen.

Sie löste sich von ihrem Platz und ging den Weg zwischen den Bäumen entlang, der inzwischen teilweise von der Sonne beschienen wurde, zurück zu ihrem Auto. Sie setzte sich hinein und fuhr nach Hause, wo sie den Wagen parkte und zum Haus ging. Sie wollte die Tür öffnen, doch als sie einen Brief entdeckte, der auf der Fußmatte lag, stockte ihr Schritt. Ihr Herz schlug eine Spur schneller, weil sie glaubte, die Nachricht sei von Roan.

Als sie den Brief öffnete, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Die Nachricht stammte nicht von Roan, auch nicht von Travis. Und sie war ganz bestimmt keine Botschaft, die mit ihren Liebesabenteuern zu tun hatte.

NOCH DREIUNDZWANZIG STUNDEN

 

 


FASSUNGSLOS HIELT GRACE DIE NACHRICHT in den Händen. Der Zettel mit den wenigen Worten befand sich in der linken Hand, in der anderen lag ein USB-Stick, der zwischen dem Blatt eingeklemmt mitgeschickt worden war.

»Du hast 24 Stunden oder sie endet wie Rachel«, stand auf dem Papier.

Mit einem Schlag war das Gedankenkarussell um Roan und Travis zum Stillstand gekommen. Aufgeregt lief Grace zu ihrem Computer, schaltete ihn an und steckte den USB-Stick hinein. Es dauerte einen Moment, bis der Ordner sich öffnete und das Gerät betriebsbereit war. Mit zitternden Fingern öffnete Grace die Datei, die sich auf dem Stick befand. Es handelte sich um ein Video. Sie hätte es eigentlich zuerst von einem Virenprogramm überprüfen lassen müssen, aber sie war zu ungeduldig. Sie spielte es sofort ab und hielt die Luft an, als die ersten Bilder erschienen. Der Film zeigte eine dunkle Grube, in der ein Mensch lag. Ein Sack war über den Kopf gezogen, so dass nicht zu erkennen war, um wen es sich handelte. Nicht einmal das Geschlecht konnte Grace bestimmen.

Jemand legte einen Deckel über das Opfer, dann steckte derjenige einen Schlauch zwischen das Holz des Deckels. Das andere Ende des Deckels verband er mit einem Sauerstoffgerät.

Grace‘ Herz klopfte bis zum Hals, als sie beobachtete, wie der Fremde das Gerät anschaltete. Sie konnte jedoch nur seine Hand sehen, mehr war von ihm nicht zu erkennen.

»Der Sauerstoff reicht vierundzwanzig Stunden«, sagte plötzlich eine Stimme in dem Video. »So lange hast du Zeit, Rachels Sohn zu finden und mir zu bringen. Ansonsten ist sie tot und es ist deine Schuld.«

»Wohin soll ich ihn bringen? Wer sind Sie?«, rief Grace, als die Kamera, die das Video filmte, stark zu wackeln begann.

»Ein kurzer Uhrenvergleich: Jetzt ist es sechs Uhr morgens«, sagte der Mann in dem Video. »Ach ja: Keine Polizei, oder sie ist sofort tot.« Wie zum Beweis schaltete er in dem Film für einen Moment das Sauerstoffgerät ab. »Alles klar?« Er stellte das Gerät wieder an. »Vierundzwanzig Stunden. Die Uhr tickt.« Dann wurde der Bildschirm schwarz. Die Kamera war aus.

»Nein! Nicht ausschalten! Wer ist das in der Grube? Wer ist Rachels Sohn?« Grace hätte noch viel mehr Fragen gehabt, aber ihr wurde bewusst, dass der Mann keine davon beantworten würde. Der Bildschirm ihres Computers zeigte nur noch den Ordner an, in dem sich das Video befand.

Geschockt starrte Grace auf das Gerät, dann sah sie auf die Uhr. Es war bereits kurz vor sieben. Eine Stunde hatte sie verloren, weil sie in der Dark Oak Bay gewesen war. Entsetzt spielte sie das Video erneut ab und versuchte dieses Mal auf Details zu achten. Sie entdeckte jedoch nicht viel, was ihr weiterhelfen würde, den Mann oder das Opfer in der Grube zu identifizieren.

Deshalb nahm sie mit klopfendem Herzen den USB-Stick an sich und setzte sich wieder in ihr Auto, um mit quietschenden Reifen zu Mabel zu fahren.

 

 

***

 


MABEL WURDE VON EINER HAND an ihrer Hüfte geweckt. Sie blinzelte in die Dämmerung des Schlafzimmers und lächelte, als sie die Konturen des Mannes unter der Bettdecke entdeckte. Sheriff Rosewater. Seine Hand lag ruhig an Mabels Hüfte, aus seinem Mund drang ein leises Schnarchen. Mabel streckte sich behaglich und betrachtete sein Profil, seine scharfe Nase, die kluge Stirn. Er war ein attraktiver Mann mit einem großen Herzen. Ein glückliches Herzklopfen breitete sich in ihrer Brust aus bei dem Gedanken, dass er gestern zurückgekehrt war. Allerdings in Begleitung seiner Tochter. Mabel hatte nicht einmal geahnt, dass es Reena gab, er hatte sie bisher vor ihr verheimlicht. Die Kleine schlief jetzt im Gästezimmer nebenan.

Mabel wusste noch nicht genau, was sie von der neuen Situation halten sollte und wie sich ihr Verhältnis mit Rosewater in Zukunft entwickeln würde, aber sie verdrängte die Gedanken daran schnell. Es war zu früh für Sorgen. Jetzt wollte sie zunächst einmal die Anwesenheit ihres Liebhabers genießen.

Sie suchte unter der Bettdecke nach seinem Körper und strich zärtlich verlangend über seinen Bauch. Er rührte sich nicht, sondern schlief seelenruhig weiter. Erst als sie mit ihrer Hand in seine empfindlichste Region glitt, die unter einer Boxershorts versteckt lag, begannen seine Augenlider zu flattern.

»Hey«, murmelte er lächelnd. »Es ist angenehm, so geweckt zu werden.«

»Guten Morgen.« Mabel küsste seine Brust, die aus der Bettdecke hervorlugte. »Gut geschlafen?«

»Ja, nur zu kurz. Wir hätten gestern nicht so lange reden sollen.«

Mabel lächelte. Sie hatten bis weit nach Mitternacht auf dem Sofa gesessen und über Dinge gesprochen, die bisher nie Thema gewesen waren, zum Beispiel Rosewaters Frau, die vor fünf Jahren an Leukämie gestorben war und ihn mit einer kleinen Tochter zurückgelassen hatte, die er nun zusammen mit seinen Schwiegereltern großzog. Reena, die neunjährige Tochter, war zwischendurch im Sessel eingeschlafen. Erst, als alle wichtigsten offenen Fragen geklärt worden waren, hatten Mabel und Rosewater ihr Gespräch beendet und Reena zu Bett gebracht, bevor sie selbst schlafen gegangen waren. Das war gegen Morgen gewesen. Es fehlten definitiv ein paar erholsame Stunden Schlaf.

»Das können wir noch nachholen«, murmelte Mabel und küsste seine Brust erneut, dann wanderten ihre Küsse tiefer. Nachdem sie die Bettdecke zur Seite geschoben hatte, strich sie über seinen Oberschenkel und küsste seinen Nabel. Sie spürte seine Hände sanft in ihrem Haar. Als ihre Lippen den Gummizug seiner Boxershorts berührten und ihre Finger die Hose nach unten streifen wollten, klingelte es stürmisch an der Haustür. Danach ertönte ein ungeduldiges Klopfen aus dem Erdgeschoss.

Mabel richtete sich erstaunt auf und strich die Haare aus ihrem Gesicht. »War das nur in meinem Kopf zu hören oder klingelt und klopft da wirklich jemand?«

»Wer stört denn jetzt um diese Uhrzeit?«, knurrte Rosewater unwillig.

»Mabel! Mach die Tür auf! Es ist dringend!«, ertönte auf einmal die Stimme von Grace von unten durch das Fenster.

»Das klingt, als müssten wir alles auf später verschieben.« Rasch sprang Mabel auf, zog sich einen Bademantel über und warf Rosewater einen bedauernden Blick zu, bevor sie die Treppe nach unten zur Haustür eilte. »Was ist los?«, fragte sie, als sie die Tür weit öffnete, um die Freundin hineinzulassen.

»Jemand ist entführt und bei lebendigem Leibe vergraben worden.« Fast atemlos vor Anspannung stürmte Grace in das Wohnzimmer von Mabels Haus. Normalerweise verhielt sie sich nicht so unhöflich, aber sie war viel zu aufgeregt, um an einen Morgengruß zu denken. »Der Entführer hat ein Video von der Tat geschickt. Wo ist dein Computer?«

Mabel holte den Laptop vom Küchentisch und schaltete ihn an. Danach steckte Grace den USB-Stick hinein, der ihr geschickt worden war, und zeigte Mabel das Video.

»Verdammter Mist«, murmelte Mabel, nachdem sie den Film gesehen hatte. »Wer liegt da in dem Grab?«

»Ich habe keine Ahnung. Es sieht nicht gut aus.«

»Und welchen Sohn von Rachel meint er?«

»Ich bin mir nicht sicher. Meint er vielleicht das Kind von Rachel, deren Verschwinden ich aufklären wollte. Sie ... «

»Was ist los?«, fragte Rosewater plötzlich, der sich ein Hemd übergeworfen hatte und zu ihnen getreten war. Er war zwar inzwischen einigermaßen wach, doch sein Haar klebte am Kopf und der Abdruck des Kopfkissens zierte seine Wange. Er hätte vor dem Kontakt mit der Damenwelt, außerhalb des Schlafzimmers, lieber einen Kaffee getrunken. Aber den gab es noch nicht. Also fuhr er mit den Händen über seinen Kopf, so dass das Haar sich wieder aufrichtete, und holte tief Luft, um sich fit zu machen.

Grace fuhr erschrocken herum, als sie seine Stimme vernahm. Vor lauter Aufregung hatte sie ihn gar nicht kommen gehört. Sie sammelte sich jedoch schnell. Es gab momentan Wichtigeres, als sich über das unerwartete Auftauchen von Mabels Freund zu wundern. »Das lag heute vor meiner Tür.«

»Wer ist Rachel?«, wollte er wissen, nachdem er das Video ebenfalls gesehen und die Nachricht auf dem Zettel gelesen hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, aber der Kerl meint möglicherweise eine Frau, die vor mehr als fünfzig Jahren verschwand. Rosie und ich haben versucht, ihr Verschwinden aufzuklären, sind aber nicht sonderlich gut vorangekommen. Allerdings finde ich es mehr als seltsam, dass ein Fall heute etwas mit der alten Geschichte zu tun haben soll. Die Sache ist längst vergessen. Niemand erinnert sich mehr an Rachel, nur Rosie. Vielleicht ist eine andere Rachel gemeint, ich kenne jedoch keine. Aber ...«

»Gibt es Frühstück?« Die erneute Unterbrechung stammte von einer hellen Kinderstimme hinter Grace. Abermals fuhr Grace erschrocken herum und entdeckte ein neunjähriges Mädchen im Nachthemd, das erstaunt die Gruppe in Mabels Wohnzimmer betrachtete.

»Nein, kein Frühstück.« Nun wunderte sich Grace doch ein wenig, wen Mabel alles so beherbergte, verschob ihre Fragen jedoch auf später. Sie wandte sich wieder an Rosewater und Mabel. »Ich war zu sehr mit dem Fall des irren Malers beschäftigt, so dass Rosie in den vergangenen Tagen allein wegen Rachel weitergeforscht hat. Ich habe keine Ahnung, was sie herausgefunden hat. Sie …« Erschrocken hielt sie inne. Ein schrecklicher Gedanke war durch ihren Kopf geschossen. Sie begann, das Video noch einmal von vorn zu spielen und versuchte erneut, auf Details zu achten, um herauszufinden, um wen es sich bei dem vergrabenen Opfer handeln könnte. Doch wieder konnte sie nichts entdecken. Der Sack verdeckte fast den ganzen Körper.

»Verdammt. Es ist nichts zu erkennen.«

»Was ist das?« Reena stellte sich an den Computer und starrte gebannt auf den Film.

»Du solltest lieber wieder ins Bett gehen. Das ist nichts für dich. Denke ich.« Mabel fühlte sich unsicher im Umgang mit dem Mädchen. Sie selbst hatte keine Kinder und wusste nicht, ob sie ihre Kompetenzen als Gastgeberin überschritt, wenn sie Reena Anweisungen gab. Verlegen sah sie zu Rosewater, in der Hoffnung, dass der sie unterstützte. Er beachtete die beiden jedoch gar nicht weiter, sondern starrte gebannt auf den Bildschirm.

»Es ist eine Frau in dem Grab«, stellte er fest. »Man sieht einen leichten Absatz am Schuh.«

Grace beugte sich näher zum Monitor und entdeckte nun auch einen Damenschuh vor dem dunklen Holz. Ihr wurde übel. Sollte der Gedanke, der ihr soeben gekommen war, tatsächlich die Wahrheit sein? »Es kann sein, dass er Rosie hat.« Sie flüsterte nur, als hätte sie Angst, die Vermutung würde zur Gewissheit, wenn sie sie laut aussprach.

»Wer ist Rosie?«

Grace erklärte ihm, dass es sich um eine alte Frau handelte, die mit Rachel bis zu deren Verschwinden befreundet gewesen war. Als Grace in das Haus in San Francisco eingezogen war, war Rosie immer wieder aufgetaucht, bis sie mit Grace zusammen versuchte, das Verschwinden von Rachel aufzuklären.

»Dann ist es möglich, dass sie es wirklich ist.«

Grace wurde noch übler zumute. »Das darf nicht sein!«

»Was habt ihr über diese Rachel herausgefunden?«

»Sie war mit einem Afroamerikaner liiert, der zu der Zeit ebenfalls verschwand. Und sie war schwanger. Zuletzt hat Rosie herausgefunden, dass Rachel am Tag ihres Verschwindens zu einem Mann ins Auto stieg.«

»Das ergibt Sinn«, murmelte Mabel nachdenklich. »Den einzigen Namen, den der Kerl in dem Video nennt, ist der von Rachel. Also geht er davon aus, dass du Bescheid weißt. Das kann er nur von Rosie wissen. Das ist sie in dem Grab.«

»Wer wusste noch von dem Kind?« Rosewater zog in Gedanken vertieft die Augenbrauen zusammen.

Grace‘ Stimme begann zu zittern. »Nicht viele. Nicht einmal Carls Familie wusste etwas. Wir haben es in dem Tagebuch entdeckt, das Rachels Freundin Felicitas geschrieben hat. Es war mit dem Code SEXY verschlüsselt. Rachel hat niemandem davon erzählt, ihre Freundin hat es nur vermutet.«

»Wenn der Entführer von einem Sohn spricht, bedeutet das, er hat mit Rachel nach ihrem Verschwinden gesprochen.« Mabel sah Grace gedankenvoll an. Reena hatte sie schon vergessen. »Und er hat Rachel getötet oder war zumindest daran beteiligt. Denn er sagt: Sonst endet sie so wie Rachel. Damit meint er bestimmt ihren Tod.«

»O Gott. Das ist möglich.« Grace flüsterte vor Entsetzen. Sie verspürte ein grauenhaftes Gefühl in ihrer Magengrube. Eigentlich war es nicht ihr Magen, sondern eher ihr Herz. »Ich fühle mich schrecklich«, sagte sie leise. »Ich habe Rosie im Stich gelassen mit der Ermittlung. Ich habe die Sache nicht ernst genug genommen, weil ich dachte, der Fall ist so lange her, wir können sowieso nichts mehr ausrichten. Doch nun ist sie in den Händen eines irren Entführers und Mörders und hat nur noch einen Tag zu leben.« Ein Anflug von Panik schnürte ihre Kehle zusammen. Tränen sammelten sich in ihren Augen.

Mabel legte beruhigend ihre Hand auf Grace‘ Arm. »Das konnte niemand wissen. Ich hätte vermutlich genau wie du gehandelt und zuerst die aktuellen Fälle gelöst. Wenn ein Fall so lange ruht, dann kommt es auf ein paar Tage oder Wochen mehr oder weniger nicht an.«

»Kommt es wohl doch.« Grace wischte eine voreilige Träne weg, die über ihre Wange gerollt war.

»Zumindest wissen wir, dass diese Rosie etwas herausgefunden hat, was ihr noch nicht gewusst habt. Sonst wäre sie nicht in dem Grab gelandet. Und wir wissen, dass Rachels Sohn lebt.« Rosewater versuchte, freundlich zu klingen, seine Worte trafen Grace dennoch mitten in ihr verwundetes Herz.

Sie schluckte. »Es sieht ganz danach aus.«

»Aber was hat Rosie herausgefunden? Hat Rosie Rachels Mörder getroffen? Ist er ihr Entführer? Warum will er den Sohn sehen? Ist er der Vater des Kindes? Es gibt noch viele offene Fragen. Wir müssen eine nach der anderen klären, dann können wir Rosie finden.« Rosewater klang ruhig und gefasst, so dass sich Grace ein wenig besser fühlte. Es war noch nicht alles verloren. Sie konnten Rosie retten. Dennoch hatte sich ein unangenehmes, beklemmendes Gefühl in ihrer Brust festgesetzt und wollte nicht weichen.

»Uns rennt die Zeit davon.« Grace schloss für einen Augenblick die Augen, um sich zu sammeln und ihren Kopf freizubekommen. Sie musste klar denken, wenn sie Rosie aus den Fängen den Irren retten wollte. »Womit fangen wir an?« Sie blickte zu Rosewater, dann zu Mabel. »Vielleicht sollten wir uns aufteilen, damit wir es schaffen?«

Mabel nickte zustimmend. »Du solltest Travis zu Hilfe rufen.«

»Der Entführer hat gesagt, die Polizei darf nicht eingeschaltet werden!« Grace schüttelte entsetzt den Kopf. »Sonst stirbt Rosie sofort.«

»Dann sprich im Vertrauen mit Travis, nicht in offizieller Manier. Wir brauchen ihn.« Eindringlich strich Mabel über Grace‘ Schulter. »Wir schaffen das. Wir finden Rosie rechtzeitig.«

Grace nickte unglücklich. »Das hoffe ich.«

»Wir sollten aber auch versuchen, die Forderung des Kidnappers zu erfüllen und den Sohn von Rachel aufzustöbern.« Rosewater kratzte sich am Kinn. Ein schabendes Geräusch entstand bei der Bewegung, weil er sich noch nicht rasiert hatte.

»Wie alt ist er?« Bei der geflüsterten Frage wandten sich die Köpfe von Mabel, Grace und Rosewater erschrocken dem Kind zu, das sie ausgesprochen hatte. Die Erwachsenen hatten sie völlig vergessen. Reena wirkte bleich und erschüttert, das Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ist er ein Kind wie ich?«

Mabel schüttelte schnell den Kopf. »Nein, er ist schon erwachsen. Eher so alt wie ich.« Sie sah hilfesuchend zu Grace.

Grace nickte zustimmend. »Rachel ist 1963 verschwunden. Sie muss das Kind 1964 geboren haben. Das ist über fünfzig Jahre her, er ist also wirklich so alt wie Mabel und längst kein Kind mehr.«

Reena wirkte nur geringfügig beruhigt. »Passiert dieser Rosie etwas?«, fragte sie vorsichtig. »Wird der Mörder sie einfach umbringen?«

Rosewater ging ein paar Schritte auf seine Tochter zu, um sie an der Schulter zu fassen und sanft in die Küche zu führen. »Wir werden dafür sorgen, dass Rosie nichts geschieht. Du weißt, dass es mein Job ist, Menschen zu beschützen. Ich werde alles tun, um Rosie zu retten. Okay?«

Reena nickte. Das Entsetzen war aus ihrem Gesicht gewichen. Offenbar besaß sie großes Vertrauen in ihren Vater. »Okay, Daddy.«

Er drehte sie liebevoll dem Kühlschrank zu. »Aber jetzt wird erst einmal gefrühstückt. Und dann machen wir uns mit vereinten Kräften an die Arbeit und holen Rosie da raus.«

Reena nickte und öffnete den Kühlschrank, um nach Leckereien zu suchen.

Grace hingegen machte eine Kopie des Films, die sie auf dem Computer von Mabel speicherte. Dann wandte sie sich an Mabel. »Ich werde als Erstes versuchen, den Sohn aufzustöbern.«

»Mit Travis.« Mabel nahm Grace in den Arm. »Ruf ihn an und bitte ihn um Hilfe. Wir brauchen ihn und den Zugang zu Polizei-Datenbanken. Der Entführer wird es nicht erfahren.«

»Okay.« Grace löste sich von der Freundin. »Könnt ihr euch darum kümmern, herauszufinden, was Rosie zuletzt getan hat, wo sie war und mit wem sie gesprochen hat? Ich glaube, sie wollte mit meiner Nachbarin Sophie reden und ein Phantombild von dem Mann anfertigen lassen, der in dem Auto saß, in das Rachel vor ihrem Verschwinden einstieg.«

»Wir werden Sophie aufsuchen und danach fragen.«

»Danke.«

Grace ging zur Haustür und öffnete. Sie sah auf die Uhr. Ihnen blieben noch genau zweiundzwanzig Stunden und neunzehn Minuten, um Rosie zu retten.

 

 


***

 

 


GRACE FÜHLTE SICH HUNDEELEND, als sie wieder in ihrem Auto saß und mit hohem Tempo zum Polizeirevier fuhr. Wenn Rosie starb, war Grace daran schuld. Sie hatte Rosie vernachlässigt, hatte sie den Fall allein bearbeiten lassen, obwohl Rosie weder Polizistin noch Privatdetektivin, sondern eine alte Frau war. Dass sie jetzt in Gefahr geraten war, hatte sich Grace ganz allein zuzuschreiben.

Sie schluckte schwer. Angst machte sich in ihr breit. Was, wenn der Entführer sie überwachen ließ, um zu kontrollieren, ob sie wirklich keine Polizei verständigte? Dann würde er Rosie umbringen, sobald sie bei Travis angekommen war.

Abrupt bremste sie ab, so dass der Fahrer hinter ihr verärgert hupte. Sie parkte den Wagen am Straßenrand und lief zu Fuß weiter, bis sie in irgendeinen Bus an der Haltestelle sprang. Drei Stopps später stieg sie aus und rannte mehrere Häuserblocks auf den Hafen zu. Dann stieg sie in den nächsten Bus, bis sie das Gefühl hatte, einen möglichen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Anschließend stieg sie wieder aus und lief durch ein Einkaufszentrum, um es auf der anderen Seite durch den hinteren Ausgang zu verlassen. Danach nahm sie ein Taxi, das vor dem Gebäude stand, und ließ sich bis zum Polizeirevier fahren, wo sie an der Ecke ausstieg und sich vorsichtig umsah. Dann eilte sie in das große Haus und schlich am Pförtner vorbei, der glücklicherweise gerade mit drei Besuchern beschäftigt war und sie nicht entdeckte. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in das oberste Stockwerk und klopfte an das Büro, in dem Travis normalerweise mit mehreren weiteren Kollegen saß. Doch niemand öffnete. Grace betätigte die Klinke, aber die Tür war abgeschlossen.

Unruhig lief sie den Gang hinunter und zog dabei ihr Handy aus der Tasche, um die private Nummer von Travis anzurufen. Er antwortete nicht, nur die Mailbox sprang an.

Langsam wurde Grace verzweifelt. Sie konnte nicht so viel Zeit mit der Suche nach Travis verschwenden!

Sie rannte zurück zum Fahrstuhl. Sie drückte auf den Knopf und fuhr zurück ins Erdgeschoss, um aus dem Gebäude zu laufen. Doch in diesem Moment klingelte ihr Telefon.

»Guten Morgen, Grace«, ertönte Travis‘ Stimme leise. »Ich sitze gerade in einer Besprechung. Ich will nur kurz Hallo sagen, weil du angerufen hast. Ich ruf dich aber später in Ruhe zurück.«

»Nein, Travis, nicht auflegen! Es eilt!« Grace klang so verzweifelt, dass Travis sofort hellhörig wurde.

»Was ist los?«

»Ich muss dich sprechen. Ich brauche deine Hilfe. Es ist wichtig!«

»Jetzt?«

»Ja, sofort.«

Travis zögerte einen winzigen Moment, dann stimmte er zu. »Ich komme zu dir. Wo bist du?«

»Im Erdgeschoss des Polizeireviers.«

»Bis gleich.« Sie hörte, wie er die Verbindung trennte.

Erleichtert lehnte sie sich an die Wand und merkte plötzlich, wie sehr sie sich danach sehnte, ihre Sorgen um Rosie Travis anvertrauen zu können. Sie mochte ihn nicht nur, sie vertraute ihm auch. Hoffentlich konnte er ihr wirklich helfen.

Als sie nur wenige Augenblicke später seine Schritte im Flur vernahm, löste sie sich von der Wand und rannte auf ihn zu. »Es ist ein Notfall. Ich habe vierundzwanzig Stunden Zeit, um einen fünfzigjährigen Mann zu finden, von dem ich weder den Namen noch den Geburtstag weiß. Das heißt, es sind inzwischen nur noch zweiundzwanzig Stunden und fünf Minuten.« Sie holte tief Luft. »Und wenn ich ihn nicht finde, wird Rosie sterben.«

Travis runzelte erschrocken die Stirn. »Was ist passiert?«

Grace erklärte ihm in kurzen Sätzen, was passiert war, dann sah sie auf die Uhr. »Und jetzt sind es nur noch zweiundzwanzig Stunden und zwei Minuten.«

NOCH ZWEIUNDZWANZIG STUNDEN

 

 


MABEL UND ROSEWATER KLOPFTEN an die Tür der Galerie von Sophie Mondahl. Drinnen brannte kein Licht, es war noch zu früh für Besucherverkehr. Als niemand öffnete, gingen sie um das Haus herum und fanden eine kleine Pforte auf der Hinterseite, wo sich eine Klingel befand. Nach dreimaligem Läuten öffnete sich die Tür und Sophie sah heraus. Ihr Haar war zerwühlt, sie trug einen Schlafanzug.

»Was wollen Sie?« Sophie klang ungehalten. »Wir waren gestern lange im Krankenhaus bei meiner Nichte.«

Mabel trat einen Schritt vor. »Es geht um eine ältere Frau namens Rosie, die bei Ihnen war und eine Phantomzeichnung anfertigen ließ. Wissen Sie, um wen es sich handelte?«

Sophie wirkte plötzlich wacher. »Gehören Sie zu ihr?«

»Zu Grace. Sie hat uns gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«

»Grace?« Überrascht strich sich die kleine Frau durch das unordentliche Haar. Nach der Nennung des Namens wurde sie jedoch sofort mitteilsam. »Ja, Rosie war hier bei mir, und ich habe nach ihrer Beschreibung eine Zeichnung angefertigt. Aber wer es ist, den ich da gezeichnet habe, kann ich nicht sagen. Sie hat nur etwas von einem Sebastian gebrummelt. Und dass sie ihn kennt. Dann ging sie. Mehr weiß ich nicht.«

»Sebastian? Hat sie einen Familiennamen genannt?«

»Nein, leider nicht.«

»Haben Sie die Zeichnung hier?«

»Nein, auch nicht. Sie hat sie mitgenommen. Was ist mit ihr?«

»Sie wurde entführt. Wir versuchen, sie zu finden.«

Sophie hielt bestürzt ihre Hand an den Mund, ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Das tut mir leid. Ich weiß aber wirklich nicht mehr. Ich könnte Ihnen die Zeichnung auch nicht mehr reproduzieren, weil ich das Bild nicht mehr in Ruhe betrachten konnte. Rosie riss mir das Blatt sofort aus der Hand, als sie den Mann darauf erkannte.«

»Wissen Sie, wohin sie wollte, nachdem sie bei Ihnen war?« Rosewater mischte sich ein.

»Nein, das weiß ich nicht. Sie stürmte hinaus, das ist alles, was ich weiß.«

»Danke, Sophie, vielen Dank«, sagte Mabel.

»Wenn ich noch etwas tun kann, sagen Sie mir bitte Bescheid. Grace hat mir mit der Rettung meiner Nichte einen enorm großen Gefallen getan. Ich stehe tief in ihrer Schuld.«

Mabel lächelte. »Ich werde es ihr ausrichten. Etwas Aufmunterung wird ihr momentan guttun.«

»Viel Erfolg!«

Mabel dankte ihr erneut, dann wandte sie sich mit Rosewater ab und ging zum Auto, wo Reena auf sie wartete. Das Mädchen hatte nicht allein im Haus bleiben wollen und darauf bestanden, ihren Vater und Mabel zu begleiten. Sie sollte jedoch im Auto warten, wenn die beiden Erwachsenen ihren Auftrag erledigten. Da ihr Vater ihr ein Tablet gegeben hatte, mit dem sie spielen durfte, verhielt sie sich erstaunlich geduldig und saß versunken in ein Computerspiel.

»Wir müssen zu Rosies Wohnung fahren.« Rosewater setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Wagen. Als Mabel neben ihm saß und die Tür geschlossen hatte, fuhr er los.

 

 


***

 

 


NACHDEM GRACE MIT IHREM BERICHT fertig war, sah Travis sie mit entsetztem Blick an. »Ein mutmaßlicher Mörder hat eine alte Frau entführt und bei lebendigem Leibe begraben? Das solltest du auf keinen Fall im Alleingang lösen. Wir müssen die Kollegen einschalten.«

»Nein, bloß nicht!«, wehrte Grace ab. »Er hat gesagt, er bringt sie sofort um, wenn ich die Polizei benachrichtige. Ich fühle mich schon schuldig genug, weil ich Rosie bei den Ermittlungen allein gelassen habe. Ich werde ihr Leben nicht noch dadurch gefährden!«

Travis betrachtete sie nachdenklich. »Und wenn es schiefgeht, weil du die Polizei nicht eingeweiht hast?«

»Daran werde ich jetzt nicht denken.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Wir müssen es schaffen! Bitte, hilf mir, aber ohne deine Kollegen.« Sie klang so eindringlich und unglücklich, dass Travis zustimmend mit dem Kopf nickte. Er konnte ihr die Bitte nicht abschlagen.

»Ich bin dabei. Ich gehe jedoch zu meinem Chef und sage ihm, dass ich einen wichtigen Tipp von einem Informanten bekommen hätte und deshalb die Besprechung frühzeitig verlassen muss.«

»Danke. Bitte beeil dich. Ich warte hier auf dich.«

Travis zögerte noch einen Moment, als würde er überlegen, Grace doch noch davon zu überzeugen, die Kollegen einzuschalten. Doch dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zur Besprechung, um sich zu entschuldigen.

Grace blieb unruhig allein zurück und überlegte fieberhaft, wie sie etwas über Rachels Sohn in Erfahrung bringen könnte. Wie findet man einen Menschen, von dem man nichts weiß, nur den Namen der Mutter und das Geburtsjahr? In San Francisco lebten achthunderttausend Einwohner, in der ganzen Region über vier Millionen. Was, wenn Rachels Sohn in Oakland, in Los Angeles oder in San Diego wohnte? Oder in New York? War er womöglich nach Europa gezogen oder arbeitete in Japan? Jemanden ohne weitere Angaben zu finden, war genauso schlimm, wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen aufzustöbern.

Als Travis endlich zurückkehrte, hatte Grace dennoch eine Idee.

»Wir sollten das Geburtenregister von 1964 nach Unregelmäßigkeiten durchsuchen. Vielleicht finden wir ihn so.«

Travis runzelte die Stirn. »Wir müssen Tausende Namen überprüfen. Das wird lange dauern.«

»Aber es ist eine Möglichkeit.« Grace klammerte sich an ihren Einfall, als wäre er ein Rettungsring auf stürmischer See. Es war momentan die einzige Idee, die zu etwas führen könnte.

»Ja, das ist es. Aber ich habe ebenfalls einen Plan.« Er hielt seine Hand auf. »Gib mir das Video von dem Entführer. Ich will es mir ansehen und dann einem Kollegen aus der IT-Abteilung geben.«

»Nein, das darfst du nicht! Der Entführer wird davon erfahren und Rosie töten.«

»Phil, der IT-Experte, wird es nicht weitertragen. Ich habe gerade schon mit ihm gesprochen und gesagt, dass es eine Top Secret-Operation ist. Er wird sich den Stick samt Inhalt ansehen und vielleicht etwas über den Regisseur herausfinden können. Und er wird nur mir davon berichten. Der Entführer wird es nicht erfahren. Ganz sicher nicht.«

Grace schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht unnötig das Leben von Rosie riskieren. »Es geht nicht.«

»Grace, vertrau mir. Bitte!«

Grace sah auf und blickte in die blauen Augen von Travis. »Ich möchte sie lebendig finden«, flüsterte sie.

»Ich auch. Deshalb müssen wir alles versuchen. Gib mir bitte den Stick.«

Grace schluckte. Was, wenn das Rosies Ende bedeutete? Aber Travis hatte Recht. Der Stick konnte wichtige Informationen beinhalten, die sie für die Suche benötigten. Zögerlich griff sie in ihre Tasche und holte ihn hervor. »Hier ist er. Bitte sei vorsichtig.«

»Ich verspreche es dir.« Er beugte sich vor, um Grace einen Kuss auf die Wange zu geben. »Keine Angst.« Dann nahm er den Stick an sich. »Du kannst mitkommen und selbst mit Phil sprechen.«

Grace folgte Travis in einen abgetrennten Bereich im dritten Stock, wo die Cyberabteilung der Polizei von San Francisco ansässig war. Phil saß an einem Computer in einem Zweierbüro mit Blick auf den Hinterhof. Mehrere Monitore standen auf seinem Schreibtisch, die alle eingeschaltet waren.

»Das ist Grace«, stellte Travis seine Begleiterin vor und trat zu Phil.

»Danke, dass du mich von der langweiligen Konferenz erlöst hast.« Der junge Mann grinste. Er war Mitte zwanzig und hatte einen kahlen Kopf. Die Leere auf dem Schädel wurde jedoch durch einen dichten, langen Bart ausgeglichen. Phils Augen waren groß und grau, seine Nase etwas zu klein für sein Gesicht. Am Handgelenk prangte ein Tattoo mit chinesischen Schriftzeichen.

»Es ist wirklich äußerst wichtig, dass nichts davon nach außen dringt.« Grace wirkte so ernst, dass Phils Grinsen erstarb und er sofort zustimmte.

»Kein Problem. Ich sehe mir die Sache an und versuche, etwas zu entdecken, was euch weiterhilft. Mehr nicht.«

»Danke.« Travis reichte ihm den Stick. Phil steckte ihn in einen der Computer an seinem Schreibtisch und wartete, bis sich der Ordner zeigte. Dann spielte er den Film ab.

Travis starrte gebannt auf die Geschehnisse auf dem Monitor, dann sah er zu Grace, die blass geworden war. Jedes Mal, wenn sie die arme Rosie in dem Sack liegen sah, drehte sich ihr Herz um.

»Du bist dir sicher, dass es sich um Rosie handelt?«, fragte Travis. »Es ist nicht viel zu erkennen.«

»Ich weiß. Aber ich denke, dass sie es ist. Sie war an dem Fall dran und hat allein weitergeforscht. Wer sollte es sonst sein?«

»Keine Ahnung. Hast du bei Rosie angerufen?«

»Nein.«

»Dann solltest du es tun. Einfach, um sicher zu gehen.« Travis sah sie aufmunternd an, so dass Grace ihr Handy zur Hand nahm. Sie wählte die Nummer der alten Frau, während ihr Herz aufgeregt klopfte. Vielleicht handelte es sich um einen Irrtum und Rosie saß friedlich am Frühstückstisch?

Niemand antwortete.

Grace legte auf und versuchte es erneut, für den Fall, dass sie die falsche Nummer erwischt hätte. Dieses Mal erwiderte tatsächlich eine Frauenstimme den Anruf.

»Ja?«, fragte die Angerufene kurz angebunden. Sie klang jedoch nicht wie Rosie.

»Ist das der Anschluss von Rosie?«

»Wer will das wissen?«

»Ich bin Grace Boticelli, eine Freundin von Rosie.«

»Sind Sie diejenige, die meine Mutter in diese Sache mit den Menschenhändlern hineingezogen hat, so dass sie grün und blau geschlagen wurde?«

»Ja, das könnte sein.« Es war die Wahrheit. Rosie hatte unbedingt bei dem Fall mitwirken wollen und war dadurch in die Hände skrupelloser Verbrecher geraten. Grace fühlte sich plötzlich noch schlechter, weil sie schon damals Rosie nicht hatte beschützen können. »Das ist vorbei. Dieses Mal ist es ...«

Rosies Tochter ließ Grace nicht aussprechen. »Lassen Sie meine Mutter in Ruhe!«

»Ist sie zu Hause?« Grace klang hoffnungsvoll.

»Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie heute jedenfalls noch nicht gesehen. Sie ist vermutlich im Supermarkt, um ein Buch zu kaufen.«

»Können Sie nachsehen, ob sie sich vielleicht doch in ihrem Zimmer aufhält? Bitte. Es ist wichtig.«

»Wenn Sie sie wieder in irgendetwas Gefährliches hineinziehen wollen, verklage ich Sie!« Die Frau klang bitterernst.

Grace schloss die Augen. »Es kann sein, dass es für die Warnung zu spät ist«, sagte sie leise.

Die andere antwortete nicht. Grace hörte nur, wie eine Tür geöffnet wurde. »Mom, bist du da?«, rief Rosies Tochter. Zum Glück hielt sie das Telefon nicht mehr in die Nähe ihres Mundes, so dass es nicht allzu laut in Grace‘ Ohren schallte.

Grace hielt hoffnungsvoll die Luft an.

»Mom?«, rief die Frau im Hörer.

Grace‘ Hoffnung wurde enttäuscht. »Sie ist nicht hier«, sagte Rosies Tochter, als sie das Telefon wieder ans Ohr hielt. »Was meinten Sie eben, es kann sein, dass es für die Warnung zu spät ist? Was haben Sie mit ihr angestellt?«

Grace wollte schweren Herzens antworten. Doch da hörte sie ein Klingeln im Telefon. »Es ist jemand an der Tür«, sagte Rosies Tochter. »Vielleicht ist das meine Mutter.«

Es kam Grace in dem Moment nicht seltsam vor, dass Rosie in ihrem eigenen Haus klingeln würde, wenn sie hineinwollte, deshalb lauschte sie gespannt und wartete voller Ungeduld darauf, dass sich die Tür öffnete und sich der Besucher oder die Besucherin zu erkennen gab. Als sie die Stimme von Mabel und Sheriff Rosewater vernahm, legte sie jedoch enttäuscht auf.

»Sie ist nicht zu Hause«, stellte sie mit unglücklicher Stimme fest und deutete auf das Video. »Ich fürchte, sie liegt wirklich da drin.«

»Ich habe etwas gefunden.« Phil öffnete eine Datei mit den Eigenschaften des Videos. »Die Aufnahme von der Beerdigung wurde mit einer Canon Kompaktkamera gemacht, die es hier in Amerika seit fünf Jahren nicht mehr zu kaufen gibt. Dafür aber in Mexiko und Panama. Ich weiß nicht, ob euch das weiterhilft.«

»Nicht unbedingt.« Grace ließ die Schultern hängen.

»Jedenfalls nicht in diesem Moment«, sagte Travis.

»Jede andere Meta-Information wurde entfernt. Wie es aussieht, weiß der Täter, wie er seine Spuren verwischt.«

»Oder er hat jemanden, der ihm hilft.« Travis sah über Phils Schulter und deutete auf das Video. »Kannst du die Hände des Entführers näher heranholen? Und kann man was mit der Stimme machen, so dass sie identifizierbar ist?«

»Für eine Identifizierung brauchst du einen Vergleich. Wenn seine Stimme nicht in einer Datenbank gespeichert ist, nützt sie dir nichts. Aber ich kann trotzdem eine Stimmanalyse vom Video anfertigen.«

»Das wäre gut. Was weißt du noch über den Stick?«

»Den gibt es in jedem Supermarkt. Er hat keine besonderen Merkmale. Der Computer, von dem das Video auf den Stick gespielt wurde, ist ein Apple mit Namen ›Meiner‹, sehr originell. Er steht hier bei uns in Amerika, aber mehr kann ich nicht herausfinden. Er ist nicht registriert und hat kein Zertifikat. Auch hier wurden alle anderen Infos entfernt.«

»Und die Hände?«

Phil zoomte die Hände heran, die an einer Stelle im Film auftauchten, so dass sie zu sehen waren. Dann ließ er sie mit Hilfe eines Programms vergrößern und schärfer einstellen.

»Der Entführer ist ein alter Kerl.« Phil deutete auf mehrere Altersflecken auf der Haut. »Seht ihr die Falten und braunen Stellen? Mehr ist nicht zu erkennen. Kein Ehering und auch keine Narbe.«

Grace runzelte die Stirn. »Ein alter Mann? Das bedeutet, dass der Entführer jemand aus Rachels und Rosies Vergangenheit sein könnte.«

»Der Vater des Kindes?« Travis sah fragend zu Grace.

Grace schüttelte den Kopf. »Der ist ein Schwarzer und außerdem vermutlich tot.«

»Wer kann es dann sein?«

Grace zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich fühle mich in diesem Fall so ratlos und durcheinander wie noch nie in meinem Leben. Es ist entsetzlich!«

»Das kommt davon, weil du Rosie kennst. Du solltest den Fall anderen überlassen. Ermittlern, die objektiv herangehen.«

»Nein, Rosie braucht mich. Ich kann nicht einfach tatenlos zusehen.«

»Wir werden sie finden. Wir haben noch Zeit.«

Grace sah auf die Uhr. »Noch einundzwanzig Stunden und dreiunddreißig Minuten.«

 

 

***

 

 

MABEL HÄTTE AM LIEBSTEN GESCHRIEN, wenn das etwas gebracht hätte. »Es kann sein, dass Rosie in Gefahr ist. Bitte lassen Sie uns hinein, damit wir nach der Zeichnung sehen können.« Sie kam sich vor, als hätte sie den Satz schon mehrere tausend Mal gesagt, dabei war es erst das dritte Mal.

»Gehören Sie zu dieser Grace, die meine Mutter in Schwierigkeiten bringt?«

»Ja, aber dieses Mal wollen wir Ihrer Mutter helfen. Bitte zeigen Sie uns ihr Zimmer!«

»Das tue ich nicht. Sie ist im Supermarkt oder im Park ihren Morgenspaziergang machen. Kommen Sie wieder, wenn sie oben ist.«

Rosies Tochter war drauf und dran, Mabel und Rosewater die Tür vor der Nase zuzuknallen.

»Es ist wirklich dringend. Wir haben ein Video, das Ihre Mutter als Entführungsopfer zeigt«, mischte sich Rosewater ein. Es half. Die Tochter wurde skeptisch.

»Ist das wahr? Ich glaube Ihnen kein Wort, bis ich es nicht gesehen habe. Wieso weiß die Polizei nichts davon?«

»Weil wir den Fall ohne Polizei aufklären wollen, um Ihre Mutter nicht in Gefahr zu bringen. Im Übrigen bin ich Sheriff.« Er zeigte ihr seinen Stern, den er in der Jackentasche trug, weil er eigentlich nicht in dienstlicher Mission in San Francisco war.

Langsam schien sie ihm Glauben zu schenken, wirkte jedoch immer noch höchst misstrauisch. »Wo ist das Video?«

Rosewater ging zum Auto und kam mit einem USB-Stick zurück, den er der Frau zeigte. »Bitte lassen Sie uns ein, dann zeigen wir Ihnen, was passiert ist.«

Die Frau zögerte noch einen Moment, doch dann ließ sie die beiden herein.

»Wo ist der Computer?« Rosewater ging als Erster hinein. Als die Hausherrin im Wohnzimmer verschwand und nach dem Laptop kramte, gab er Mabel ein Zeichen mit den Augen, sich nach Rosies Zimmer umzusehen. Mabel nickte verstehend und musterte das Haus. Im Untergeschoss deutete nichts auf die Wohnung einer älteren Frau hin. Außerdem hatte die Tochter gesagt, sie sollten wiederkommen, wenn Rosie »oben« ist. Vermutlich befand sich Rosies Reich im Obergeschoss. Tatsächlich führte eine Treppe nach oben, wo es eine weitere Wohnungstür gab. Als Rosewater mit Rosies Tochter sprach und mit ihr am Computer stand, rief Mabel »Ich geh mal kurz auf die Toilette« ins Wohnzimmer, dann schlich sie vorsichtig und leise auf der Treppe nach oben. Die Tür war nicht abgeschlossen. Vorsichtig öffnete sie sie und sah sich in den kleinen Räumen um. Die Wohnung war ordentlich und aufgeräumt. Sie roch nur etwas muffig nach veraltetem Parfüm. Auf Zehenspitzen schlich Mabel zu einer Tür hinter dem Sofa, die nur angelehnt war. Dahinter befand sich das Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, als hätte in der Nacht niemand darin geschlafen. Leise ging sie zurück zum Sofa. Auf dem Tisch davor fand sie schließlich die Bleistift-Zeichnung von einem Mann. Sie nahm sie auf und sah sie an, als sie von unten die empörte Stimme von Rosies Tochter hörte.

»Sie haben mich belogen. Ich rufe die Polizei!«

Schnell steckte Mabel die Zeichnung ein und eilte nach unten.

»Es muss der falsche Stick sein, bitte entschuldigen Sie!« Rosewater wich zurück, als hätte er Angst, dass die Frau ihn schlagen würde.

»Sie haben gar kein Video, stimmt’s? Warten Sie, ich hole die Cops.« Sie wollte nach ihrem Handy greifen, doch Rosewater hielt ihre Hand fest.

»Bitte tun Sie das nicht. Ihre Mutter ist wirklich in Gefahr. Es gibt tatsächlich ein Video, wir haben es nur nicht dabei. Bitte glauben Sie uns!«

Sie wollte sich losreißen, doch Mabel trat zu ihr und zeigte ihr die Zeichnung, die sie aus Rosies Wohnung genommen hatte. »Kennen Sie diesen Mann? Wir vermuten, dass die Entführung Ihrer Mutter mit ihm zu tun hat. Er soll Sebastian heißen.«

Die Frau kniff die Augen zusammen und wollte schreien, doch als sie Mabels ernstes Gesicht sah und merkte, dass es tatsächlich um eine Zeichnung ging, kam ihr die Sache langsam seltsam vor. Es dämmerte ihr, dass sie wohl doch glauben sollte, was die beiden Besucher ihr erzählten. »Sie ist wirklich entführt worden?«, fragte sie vorsichtig.

»Es deutet vieles darauf hin.«

»Was meinen Sie?«

»Ihre Mutter hat mit Grace den Fall ihrer verschwundenen Freundin Rachel untersucht. Heute erhielt Grace nun ein Video mit der Nachricht, dass Grace den Sohn von Rachel finden soll, oder eine entführte Frau stirbt. Es ist auf dem Video schlecht zu erkennen, um wen es sich bei dem Entführungsopfer handelt, aber wir gehen davon aus, dass es Rosie ist.« Mabel ersparte der Frau das Detail mit dem Grab, in dem Rosie bei lebendigem Leibe steckte. Die Information war auch so schon schwer genug zu verdauen.

»Es ist also wirklich wahr?« Rosies Tochter taumelte leicht, als sie begriff, was die Worte bedeuteten. Sie musste sich am Tisch anlehnen. »Hat Grace deshalb hier angerufen und nach Rosie gefragt?«

»Grace kümmert sich darum, die Forderung des Erpressers zu erfüllen und den Sohn zu finden.«

»Wir müssen die Polizei holen«, rief die Frau, als sie sich endlich wieder etwas gefangen hatte. Sie griff erneut nach dem Handy. Mabel nahm es ihr sanft ab.

»Bitte tun Sie nichts im Alleingang. Den Kontakt mit den Behörden hat der Entführer in dem Video ausdrücklich verboten. Grace ist in diesem Moment jedoch im Polizeirevier und holt Hilfe. Glauben Sie uns, wir werden alles tun, um Ihre Mutter zu finden.«

Rosies Tochter nickte wie betäubt. »Okay. Okay.«

»Kennen Sie diesen Mann?« Mabel hielt ihr abermals die Zeichnung vor die Nase. Dieses Mal betrachtete Rosies Tochter sie genauer. Sie schüttelte jedoch den Kopf. »Er kommt mir nicht bekannt vor. Er soll Sebastian heißen? Der Name sagt mir nichts.«

»Schade. Wir nehmen diese Zeichnung mit, damit sie uns hilft, den Mann zu identifizieren.«

»In Ordnung.«

»Ist Ihnen vielleicht etwas aufgefallen? War gestern jemand hier? Oder in der Nacht? Hat Ihre Mutter etwas gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe sie heute den ganzen Morgen nicht gesehen und auch nicht gehört, deshalb dachte ich, sie sei eines ihrer Bücher kaufen. Aber vermutlich war sie die ganze Nacht nicht hier. Das Bett sah aus, als sei es nicht angerührt worden.«

»Das heißt wohl, dass der Kerl sie schon gestern erwischt haben muss. Wissen Sie, wo sie war oder hinwollte?«

»Nein, ich habe keine Ahnung. Wir haben in letzter Zeit wenig gesprochen. Sie ging ihrer Wege und wirkte beschäftigt, da wollte ich sie nicht stören. Ich dachte, sie hat endlich ein schönes Hobby gefunden.«

»Das Hobby bestand darin, den Fall der verschwundenen Rachel aufzuklären.«

»O Gott«, stöhnte die Frau. »Wenn ich das nur gewusst hätte!«

»Sie hätten sie nicht bremsen können.« Rosewater steckte den falschen USB-Stick wieder ein.

»Vielleicht doch. Seitdem sie diese Grace kennt, passiert ihr nur Schreckliches.«

Mabel verzog getroffen den Mund. Wenn jemand etwas gegen ihre Freundin sagte, fühlte sie sich ebenfalls angesprochen. »Wir werden Ihre Mutter finden und wohlbehalten zu Ihnen zurückbringen. Das verspreche ich Ihnen.«

Die Frau nickte kläglich. »Okay. Und Sie sind sich sicher, dass es ohne Polizei geht?«

»Ja, ganz bestimmt. Und wie gesagt, Grace kümmert sich inoffiziell um polizeiliche Verstärkung.«

»Außerdem bin ich wirklich Sheriff.« Rosewater versuchte ein vertrauensvolles Lächeln. Es sah so überzeugend aus, dass die Frau erleichtert nickte.

»Kann ich etwas tun, um Ihnen bei der Aufklärung zu helfen?«

»Ja, bleiben Sie hier und bewachen Sie das Telefon, falls sich der Kerl bei Ihnen melden sollte. Ich denke, er wird es nicht tun, aber man weiß ja nie.«

»Okay.«

»Vielen Dank. Wir melden uns, sobald wir Näheres wissen.«

Rosies Tochter verabschiedete die beiden Besucher und ließ sie hinaus. Sobald sie draußen standen, holte Mabel tief Luft. »Das war nicht einfach.«

»Nein. Aber wir haben ihre Unterstützung.«

Mabel ging zum Auto, um sich hineinzusetzen. Rosewater folgte ihr.

»Was war das für ein USB-Stick? Was befand sich darauf?«, fragte Mabel, sobald er neben ihr auf dem Fahrersitz saß.

»Musik für unterwegs. Und ein Kinderbuch, das wir auf der Herfahrt gehört haben.«

Mabel lächelte. »Die Idee, sie mit dem Stick zu ködern, war gewagt, aber ziemlich clever.«

Er grinste. »Ich weiß. In über dreißig Jahren im Beruf lernt man so einige Tricks und Kniffe kennen.«

»Sexy.« Sie merkte, wie sehr sie es mochte, dass Rosewater bei ihr war und ihr Leben aufwirbelte. Es war so lange her, dass sie einem Mann so nahe gekommen war. Sie hoffte, dass die Beziehung mit ihm noch weiterging, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie mit seiner Tochter umgehen sollte.

»Küsst ihr euch jetzt?«, ertönte auf einmal Reenas Stimme vom Rücksitz. Sie blickte von dem Computerspiel auf, das sie die ganze Zeit auf Rosewaters Tablet spielte.

Mabel zuckte zurück. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie Rosewater immer näher gekommen war. Auch der Sheriff setzte sich aufrecht hin und räusperte sich. Die Sehnsucht nach einem Kuss war bei beiden verflogen.

»Nein. Jetzt nicht.«

»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte die Kleine.

»Wir müssen mit Grace sprechen und das weitere Vorgehen klären.«

»Und dann?«

Mabel dachte nach. Wen konnte man noch befragen? Wo war Rosie gewesen? Mit wem hatte sie gesprochen? Hatte sie jemandem mitgeteilt, wohin sie gehen wollte? Hatte sie alte Geschehnisse aufgespürt oder war sie möglicherweise einem zufälligen Verbrecher zum Opfer gefallen? Mabel wusste gar nichts über die alte Frau. Bei anderen Opfern konnte man meist davon ausgehen, dass der Täter aus dem Bekanntenkreis stammte oder zumindest den Weg des Opfers irgendwann gekreuzt hatte, da dieser einer Routine entsprach und bekannt war. Doch Rosie hatte einen alten Fall untersucht und war eigene Wege gegangen, über die sie niemanden informiert hatte. Es gab wenige Anhaltspunkte und viele unbekannte Größen. Es war lange her, dass sich Mabel bei einem Fall so ratlos gefühlt hatte wie jetzt. »Ich fürchte, wir müssen auf ein Wunder hoffen.«

 

 


***

 

 


GRACE MUSTERTE SKEPTISCH DAS GEBÄUDE mit dem Archiv des Geburtenregisters. Es war eines der höchsten Häuser in San Francisco. Die Sonnenstrahlen funkelten in dem Wolkenkratzer aus Glas und Chrom. Der Himmel spiegelte sich darin, es sah aus, als würden die Wolken über die Oberfläche des Gebäudes ziehen.

Doch Grace hatte kein Auge für diesen malerischen Anblick. Hastig folgte sie Travis und lief durch die verhältnismäßig kleine Schwingtür, die in das Gebäude führte. Im Foyer angekommen wollte sie sich an der Wand mit den Wegweisern orientieren und nach dem richtigen Stockwerk suchen, als ihr Handy klingelte.

»Hallo Mabel, Travis ist im Boot«, sagte sie, sobald sie gesehen hatte, wer anrief. Sie wollte auch am Telefon nicht unnötig Zeit verlieren.

»Zum Glück. Wir waren gerade bei Rosies Tochter. Sie weiß von nichts. Immerhin haben wir die Zeichnung gefunden. Es ist ein junger Mann darauf abgebildet. Angeblich heißt er Sebastian, wie uns Sophie mitteilte.«

»Sebastian?« Der Name kam Grace bekannt vor. »Wie weiter?«

»Das ist alles, was wir erfahren haben. Und du?«

»Travis hat das Video einem IT-Experten gezeigt, der nur wenig Nützliches herausfinden konnte. Wir wissen immerhin, dass der Entführer ein alter Mann ist.«

»Ein alter Mann?«

»Ja, seine Hände sind voller Falten und Altersflecken.«

»Ein alter Bekannter von Rosie?«

»Kann sein.« Grace spürte ein unangenehmes Gefühl in ihrem Hinterkopf, als würde dort ein Gedanke sitzen, der gern ans Tageslicht kommen wollte, aber den Weg nicht finden konnte.

Mabel schwieg einen Augenblick. »Heißt das, wir müssen in der Vergangenheit von Rosie kramen, um den Entführer aufzutreiben?«

»Das ist möglich. Vielleicht geht ihr zurück zu Rosies Haus und seht nach Fotoalben mit alten Bildern. Vielleicht findet ihr jemanden, der euch mehr aus der Zeit von damals erzählen kann. Und den solltet ihr nach Sebastian fragen.«

»Okay, das ist etwas, was wir sofort tun können. Ich melde mich, sobald wir wieder etwas Neues wissen.«

»Danke, Mabel.«

»Bis später. Viel Glück!«

Sie legte auf.

»Dreizehnter Stock.« Travis trat zu ihr.

»Dreizehn? Das ist kein gutes Zeichen.« Grace seufzte unglücklich.

Travis lächelte und nahm ihre Hand in die seine. »Warte, was wir herausfinden. Vielleicht bedeutet die Dreizehn bei uns ja etwas Gutes.«

Grace hielt seine Hand fest. Es fühlte sich gut an, Travis an ihrer Seite zu haben. Als würden die Sorgen in seiner Gegenwart etwas leichter werden.

»Okay, gehen wir.«

Sie stiegen in den Fahrstuhl und fuhren in den dreizehnten Stock, wo sich die Tür auf einem kahlen Flur öffnete. Graue Wände, brauner Fußboden und eigenartige Bilder mit abstrakten Formen an den Wänden ließen darauf schließen, dass der Innendesigner entweder an Depressionen litt oder sich etwas ganz besonders Hässliches für diese Etage hatte einfallen lassen.

»Das Polizeigebäude ist schon nicht besonders hübsch, aber das hier wirkt noch schrecklicher.« Travis runzelte die Stirn beim Anblick eines Bildes, das an einen Hundehaufen auf einem Grillrost erinnerte.

Grace antwortete nicht. Sie hatte eine Tür entdeckt, an der ein Schild darauf hinwies, dass sie hier beim Geburtenregister richtig waren. Sie öffnete und stand mit Travis einer Frau gegenüber, die gerade herzhaft in ein Sandwich biss. Erschrocken sah die Beamtin auf, als sie die Besucher bemerkte, und legte unwillig das Sandwich zur Seite, um zu ihnen zu gehen.

»Guten Morgen.« Grace trat ihr entgegen und stellte sich an den Tresen, hinter den die Frau getreten war. Routiniert öffnete die Beamtin ein Buch und sah Grace und Travis erwartungsvoll an. »Genauen Geburtstermin, Geschlecht, Name und Namen der Eltern.« Sie kaute noch, während sie sprach.

Grace sah Travis verdutzt an. Sie waren doch hier, um genau das in Erfahrung zu bringen! Travis zuckte ratlos mit den Schultern.

»Vierundsechzig. Es ist ein Junge.« Grace überlegte, ob sie noch mehr Daten geben konnte, aber ihr fiel nichts ein.

»Die Mutter heißt Rachel«, fügte Travis schnell hinzu.

Die Beamtin sah verdutzt von Grace zu Travis, dann wieder zu Grace. »An welchem Tag ist er geboren?«

»Das wissen wir nicht.«

Nun zog die Frau misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Wieso wissen Sie das nicht? Wenn Sie die Geburt Ihres Kindes eintragen lassen wollen, müssen Sie doch wissen, wann er geboren wurde! Außerdem ist Vierundsechzig kein richtiger Name für einen Jungen!«

»Aber wir wollen ihn nicht eintragen!« Grace spürte, dass sie errötete. »Wir sind nicht die Eltern.« Verlegen schielte sie zu Travis, der amüsiert über das Missverständnis schmunzelte. »Wir wollen wissen, ob ein Kind von einer Mutter namens Rachel angegeben wurde. Es war irgendwann 1964.«

Die Beamtin atmete erleichtert auf und schielte sehnsüchtig zu ihrem Sandwich. »Dann sind Sie hier falsch. Sie müssen zu meinen Kollegen im vierzehnten Stock gehen. Sie kümmern sich um das Archiv von 1945 bis 1990. Ich weiß allerdings nicht, ob man Ihnen dort die Auskunft geben kann, die Sie wünschen.«

»Danke.«

Grace wandte sich ab und lief mit Travis aus dem Büro, wo die Frau sich endlich in Ruhe ihrem Sandwich widmen konnte.

Ein Stockwerk höher wurden Grace und Travis von einer schweren Stahltür aufgehalten. Eine winzige Klingel befand sich an der Seite, die Travis drückte. Von drinnen war ein leises Summen zu hören. Es dauerte etwa eine Minute, bis jemand an der Stahltür erschien. Bei dem Beamten handelte es sich um einen Mann um die dreißig. Seine Brille saß auf seiner Nasenspitze wie bei einem sehschwachen Rentner. Er trug enge Jeans und einen hellblauen Pullover mit grauen Totenköpfen darauf. »Ja?«, fragte er unhöflich.

»Wir sind hier, um nach einem Jungen zu forschen, der im Jahre 1964 geboren wurde. Können wir Ihre Akten einsehen?« Dieses Mal ging Grace mit ihrer Erklärung auf Nummer Sicher, damit nicht wieder ein Missverständnis für Verwirrung sorgte.

Der Archivar runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Sie müssen einen Antrag ausfüllen, dann können wir Ihnen vielleicht Akteneinsicht gewähren.«

»Okay, geben Sie uns den Antrag.«

»Sie können ihn im Internet runterladen.«

»Wir brauchen ihn aber jetzt«, drängte Travis.

»Ich kann Ihnen ein Formular geben, aber es wird heute nicht mehr bearbeitet. Die Kollegin ist im Urlaub. Sie kommt erst nächste Woche wieder.«

»Es ist eilig! Wir haben nicht Zeit bis nächste Woche!« Grace spürte, wie die Enttäuschung sich in Entsetzen wandelte, als sie auf die Uhr blickte. Sie brauchten unbedingt noch heute den Namen des Kindes, wenn sie Rosie retten wollten.

»Tut mir leid, aber ich kann nichts tun.«

Travis griff in seine Tasche und holte seine Dienstmarke hervor, die ihn als Polizist auswies. »Reicht das als ausgefüllter Antrag? Es geht um einen dringenden Fall, bei dem jede Minute zählt.«

Der Archivar stutzte. »Wieso hat vorher niemand angerufen? Dann hätte ich alles vorbereitet.«

»Wie gesagt, jede Minute zählt. Wir sind sofort hergefahren. Bitte lassen Sie uns herein.«

Nach einem winzigen Zögern nickte der Mann und ließ Grace und Travis eintreten. Sie befanden sich in einem großen Raum mit unzähligen Aktenordnern an den Wänden. Mehrere Tische mit Computern standen in der Mitte des Raumes, zwei davon waren von Frauen besetzt, die Statistiken erstellten.

»Welches Jahr wollen Sie einsehen?«, fragte der Archivar nach.

»1964«, antwortete Grace.

Der Mann führte sie zu einem Aktenschrank am Ende des Raumes. Die Ziffer 1964 stand auf einem unauffälligen Schild über der ersten Schublade.

»Es kommen jedes Jahr ungefähr eine halbe Million Kinder in Kalifornien zur Welt, 1964 waren es knapp vierhunderttausend. Sie sind hier fast alle registriert. Jedenfalls die, die in einem Krankenhaus das Licht der Welt erblickten und auf diesem Wege gemeldet wurde. Bei Hausgeburten erledigen es die Eltern selbst und kommen zu uns.«

Grace wurde blass. »Aus ganz Kalifornien? Nicht nur San Francisco? Kann man sie gleich nach Geschlecht, Rasse und Geburtsort sortieren?«

»Die späteren Jahrgänge haben wir bereits digitalisiert, die können Sie im Computer einfach nachfragen und die Suchparameter selbst bestimmen. Mit 1964 sind wir noch nicht soweit.«

»Scheiße«, murmelte Travis. Es war jedoch laut genug, so dass der Archivar es hören konnte. Er warf Travis einen missbilligenden Blick zu.

»Wir sind nur zu zweit in der Abteilung, das ist nicht über Nacht zu schaffen. Hin und wieder helfen uns Praktikanten, aber es dauert trotzdem seine Zeit. Zudem kommen zwischendurch regelmäßig Anfragen, weil irgendwelche Statistiken erstellt werden müssen.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Es geht nicht anders.«

»Schon gut.« Travis wandte sich ab und nahm einen Stapel Akten aus dem Schrank. Grace tat es ihm nach. Sie legte sie auf den Tisch und begann, sie durchzusehen. Es befanden sich etwa hundert Blätter in einer Akte. Zwei oder auch manchmal fünf Bögen gehörten zu einem neugeborenen Kalifornier. Der Name der Eltern stand darin, das Geschlecht, das genaue Datum der Geburt, das Krankenhaus, in dem das Kind zur Welt gekommen war. Bei manchen Kindern waren noch Adoptiveltern eingetragen oder ein Krankenblatt hinzugefügt worden. Hinter vereinzelten Geburtsdatenblättern befand sich eine Sterbeurkunde. Dann war das Baby direkt nach oder noch bei der Geburt verstorben.

»Ich fange erst im Frühling an.« Grace schlug den Monat März auf, der sich in einem Ordner vor ihr auf dem Tisch befand. »Wenn sie bei ihrem Verschwinden im Oktober schwanger war, so dass ihr übel war, wie es in dem Tagebuch stand, aber niemand etwas gesehen hat, wird sie im zweiten oder dritten Monat gewesen sein. Dann war sie im März möglicherweise im achten Monat.«

»Und wenn es eine Frühgeburt war?«

»Dann beginnen wir eben im Januar 1964.«

Travis öffnete den Ordner mit den Novemberkindern, steckte ihn aber sofort wieder in den Schrank. »Sie hat kein Elefantenbaby zur Welt gebracht. Die Monate nach dem Juli können wir getrost weglassen. Das schränkt die Suche etwas ein.«

Grace verspürte neue Hoffnung, weil nun nur noch zwölf volle Ordner vor ihr lagen. »Ich schaue zuerst auf das Geschlecht.« Hastig suchte sie mit dem Finger den Eintrag, als sie sah, dass das erste Kind ein Mädchen war, blätterte sie weiter. Das nächste war ein Junge, doch seine Hautfarbe eindeutig weiß, seine Eltern waren bekannt.

Travis nahm sich einen anderen Ordner vor und ging nach derselben Methode vor. Nach fünfzehn Minuten hatte Grace den ersten Ordner durchgesehen, jedoch nichts Auffälliges gefunden, was auf Rachels Sohn hinweisen könnte. Hastig nahm sie den nächsten zur Hand.

»Und wenn der Kerl falsch lag?«, fragte Travis plötzlich.

»Welcher Kerl?« Irritiert sah Grace auf.

»Der Entführer. Was, wenn es ein Mädchen war? Und weiß?«

Grace verzog gequält den Mund. »Solche Fragen helfen gerade nicht weiter. Ich bin froh, dass wir überhaupt etwas haben, wonach wir schauen können.”

»Aber die Frage ist berechtigt. Wir wissen nicht, wer der Vater ist. Es könnte ein anderer sein, nicht dieser Carl.«

Grace hielt inne. Auf einmal wusste sie, woher sie den Namen Sebastian kannte. Das Wissen darum war plötzlich aus dem versteckten Winkel ihres Unterbewusstseins hervorgekommen und in ihr Bewusstsein gerutscht. »Er ist der Ex-Freund!«

»Wer?«

«Sebastian. Er war Rachels Ex-Freund. Das habe ich in dem Tagebuch von Felicitas gelesen. Er muss der Mann sein, der Rachel an dem Tag, als sie verschwand, im Auto abgeholt hat. Rosie hatte seine Beschreibung herausgefunden und zeichnen lassen. Ich muss Mabel anrufen.«

Aufgeregt sprang sie auf und holte ihr Handy hervor. Als sie merkte, dass sie in diesem hinteren Winkel des Raumes keinen Empfang hatte, eilte sie zum Fenster auf der anderen Seite.

»Sebastian ist Rachels Ex gewesen«, rief sie in den Hörer, sobald sich Mabel gemeldet hatte.

»Das haben wir auch gerade erfahren«, erwiderte Mabel. »Er ist auf einem Foto mit Rachel, Rosie, Felicitas und ein paar anderen junge Leuten. Ein Klassenfoto, sagt Rosies Tochter. Wir wissen nur leider keine Familiennamen.«

»Findet es heraus. Er hat Rachel am Tag ihres Verschwindens mit dem Auto abgeholt. Irgendwie hängt er mit drin.«

»Okay. Wir sind dran.«

Grace legte auf und kehrte zum Tisch mit den Akten und zu Travis zurück.

»Du siehst aus, als hättest du eine Spur.« Travis lächelte sie an. »Ich habe ein farbiges Baby ohne Vater gefunden, aber die Mutter heißt Holly und ist selbst schwarz.«

»Das ist nicht Rachel.« Grace seufzte. Aber sie fühlte sich schon ein kleines bisschen weniger verzweifelt.

Die Enttäuschung kehrte zurück, nachdem alle Ordner durchgesehen waren, aber kein farbiger Junge von einer ledigen Mutter namens Rachel dabei gewesen war.

»Wenn wir Zeit hätten, würde ich nochmal alle durchsehen.« Grace legte den Kopf auf die Ordner. »Und vielleicht ist er ja weiß? Dann haben wir ihn übersehen!« Sie richtete sich wieder auf und wollte die Akten erneut zur Hand nehmen, doch Travis hielt ihre Finger fest.

»Ich habe auch nach weißen Babys gesehen. Es gab keine ledige Mutter namens Rachel, jedenfalls keine im richtigen Alter. Eine ledige Mutter war über vierzig, als sie einen Jungen in Los Angeles zur Welt gebracht hatte. Sonst fiel mir keine auf.«

»Ich habe auch danach geschaut.« Grace sah auf die Uhr und stöhnte. »Wir haben fast zwei Stunden dafür gebraucht.«

»Ich wette, das ist ein Rekord in diesem Gebäude. So schnell wie wir arbeitet sonst niemand in diesem Archiv.« Er versuchte ein Lächeln, was bei Grace jedoch nicht gut ankam.

»Dieser Rekord hilft uns nicht weiter.«

»Nein, er hilft nicht. Ich wollte dich nur etwas aufmuntern.«

Grace schüttelte den Kopf. »Das funktioniert so nicht. Das schaffst du nur, wenn du mir den Jungen servierst.«

Travis stand auf. »Möglicherweise hat sie ihn nicht registrieren lassen. Oder jemand anderes hat sich als Mutter ausgegeben? Vielleicht war Rachel schon tot? Oder sie ist in einen anderen Bundesstaat gezogen? Es gibt zu viele Möglichkeiten.«

Grace erhob sich. »Du hast Recht. Wir müssen nach anderen Wegen suchen, um das Kind aufzutreiben.« Sie rannte zur Tür, so dass Travis hastig hinterher eilte, um bei ihr zu bleiben.

»Haben Sie gefunden, was Sie brauchen?«, rief ihnen der Archivar nach.

»Nein, leider nicht«, erwiderte Travis, bevor er die Tür aufriss und mit Grace zum Fahrstuhl rannte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752136364
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Rache Thriller lebendig begraben Serienmörder FBI Polizei Grab Kinderbuch Jugendbuch Krimi Ermittler

Autor

  • Johanna Marthens (Autor:in)

Johanna Marthens entdeckte schon früh ihre Liebe zum Schreiben. Sie arbeitete zunächst als Ghostwriterin und Journalistin, bevor sie 2013 hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Krimis, Romantic Thriller und Erotik und kann inzwischen auf eine stattliche Anzahl von Veröffentlichungen zurückblicken. Zu ihren größten Erfolgen zählen mehrere Nr.1-Bestseller der Amazon-Kindle-Charts sowie BILD-Bestseller.
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Titel: Instinct - Der geduldige Tod