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Vanity - Der Preis der Schönheit

von Johanna Marthens (Autor:in)
270 Seiten
Reihe: Grace Boticelli ermittelt, Band 1

Zusammenfassung

Die junge Polizistin Grace Boticelli vom San Antonio Police Department arbeitet zwar in der Abteilung für Diebstahl und Raubüberfälle, doch als ein Serienmörder in der Stadt sein Unwesen treibt, wird sie in die Task Force zur Ergreifung des »Lippenstift-Mörders« gerufen. Der Mörder scheint es ausschließlich auf hübsche, junge Frauen abgesehen zu haben, denen er noch vor deren Tod das Gesicht zerstört. Die graue Maus Grace freut sich über die Beförderung, nicht nur aus beruflichen Gründen. Sie hegt nämlich eine heimliche Schwäche für ihren Kollegen Tim. Doch die Arbeit im Team ist nicht einfach für Grace. Und sie erhält erst Respekt, als sie ihr Äußeres verändert und sich anbietet, als Lockvogel für den irren Killer zu dienen. Der Lippenstift-Mörder beißt tatsächlich an ... ***** Kann ich jedem nur empfehlen, der Thriller mag ***** Gut gemachter Krimi. Der Krimi ist super spannend und flüssig geschrieben ***** Ich konnte es nicht aus der Hand legen. Sehr spannend, ein toller Krimi ***** Spannende Geschichte, hervorragender Schreibstil und es weckt die Lust auf mehr. ***** Spannend bis zum Schluss. Hervorragend und spannend geschrieben. ***** Gut zu lesen, logisch aufgebaut, ein Buch, mit dem man gern seine Freizeit verbringt! Sehr zu empfehlen. ***** Einfach KLASSE! ***** Top Schreibstil, sehr flüssig zu lesen und total spannend bis zum Schluss. ***** Super Buch ***** Wow. Diesen Thriller finde ich echt super spannend, konnte nicht aufhören zu lesen ... ***** Spannungsaufbau und Story sind toll, dazu kommt der schöne Schreibstil. Klare Leseempfehlung ... ***** Spannend von der ersten bis zur letzten Seite! Einfach toll! ***** Es war so fesselnd und spannend, dass ich die Zeit komplett vergessen habe. ***** Nervenkitzel pur ... verdiente 5 Sterne. Danke für das Lesevergnügen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 


VANITY

Der Preis der Schönheit



Johanna Marthens




Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.


Copyright © Johanna Marthens, 2015, 2021


Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.

 

Mehr über die Autorin unter www.johannamarthens.de oder Facebook/Johanna.Marthens.

Kontakt: Johanna.Marthens@gmx.de


Inhaltsverzeichnis

 

PROLOG

DER BRIEF

PUZZLE

EXPERTISE

DAS ALTE HAUS

MABELS GESTÄNDNIS

FLOHMARKT

SERENA

SECHS NULLEN

DER SCHWAN

ZU VIEL WEIN

FOTOBEWEISE

LIEBE IST BLIND

ICE BABY

ALLEIN MIT DEM MÖRDER

GUTE ARGUMENTE

IHRE ANKUNFT

Impressum





Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu werden, geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr trotz seiner selbst.

 

Victor Hugo

PROLOG



SIE BÜRSTETE ZUERST ihr langes, blondes Haar. Es fiel in weichen, sanften Wellen wie ein goldener Wasserfall über ihre Schultern in die Mitte ihres Rückens hinab.

Zufrieden lächelte sie ihr Spiegelbild an. Das Licht im Badezimmer zauberte einen seidigen Schimmer auf die Haare und einen Perlmuttton auf ihre zart gebräunte Haut.

Nach einem prüfenden Blick auf ihre schlanke Figur lief sie, nackt wie sie war, barfuß hinüber in ihr Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Er war nicht voll, so dass sie nicht lange suchen musste, bis sie eine leuchtendrote Bluse und einen passenden BH fand. Dann holte sie einen schwarzen Slip und eine dunkle Strumpfhose aus dem Schubfach. Nachdem sie die Sachen angezogen hatte, streifte sie einen engen, kurzen Rock über ihre Hüften. Er saß wie angegossen.

Danach lief sie zurück ins Badezimmer und stellte sich dicht vor den Spiegel, um ihre Augen mit einem Kajalstift zu betonen. Mit etwas Mascara verdichtete sie ihre langen Wimpern, so dass sie noch ausdrucksvoller wirkten. Anschließend nahm sie einen erdbeerroten Lippenstift und trug ihn auf ihrem Mund auf. Sie presste die Lippen aufeinander, um die Farbe besser zu verteilen, dann trat sie einen Schritt zurück, um sich erneut prüfend zu betrachten.

Sie sah umwerfend aus. Attraktiv, sexy und verführerisch.

Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln, bevor sie ihrem Spiegelbild in spielerischem Flirt eine Kusshand zuwarf.

Sie löschte das Licht im Badezimmer und ging in den Flur, wo sie sich schwarze, hochhackige Pumps anzog. Neben den High Heels standen, wie ungeliebte Stiefbrüder, schwere Männerschuhe und ausgetretene Hauslatschen. Sie würdigte die alten Schuhe keines Blickes und nahm eine schmale, schwarze Handtasche von der Kommode neben der Tür. Danach verließ sie die Wohnung.

 

Mit einem eleganten Hüftschwung betrat sie nur wenig später die Bar und sah sich um. Die meisten Tische waren besetzt, an der Bar lehnten und saßen ebenfalls Gäste. Bei ihrem Eintreten hatten sich ihr sofort mehrere Gesichter zugewandt. Ein Mann nickte ihr wohlwollend zu, ein zweiter lächelte verlangend.

Sie sah wirklich gut aus, das bemerkten auch die Fremden.

Sie ging an die Bar und bestellte einen Gin mit Tonic. Als sie sich auf einen Barhocker setzen wollte, ertönte eine tiefe Männerstimme hinter ihr. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Aber du bist eigentlich viel zu schön für dieses Etablissement.«

Sie lächelte und drehte sich zu dem Sprechenden um. »Danke für das Kompliment. Ich habe gehofft, dass ich dir gefalle.« Sie betrachtete ihr Gegenüber kritisch und nickte zufrieden. Er hatte ebenfalls nicht zu viel versprochen.

»Du gefällst mir mehr, als ich erwartet habe«, erwiderte er charmant. Er nahm ihre Hand und drückte einen sanften Kuss auf ihr Handgelenk.

Ein feiner Schauer durchrieselte ihren Körper bei dieser altmodischen Geste und dem Gefühl seiner warmen Lippen auf ihrer Haut.

»Irgendwie habe ich geahnt, dass du ein Gentleman alter Schule bist«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen scherzhaft, lockeren Klang zu geben, um ein freundschaftliches Miteinander vorzutäuschen, obwohl ihr bereits klar war, dass er nicht mehr viel tun musste, um sie zu verführen.

»Woher wusstest du das? Von meinen langweiligen Mails im Chatroom?«

»Sie waren niemals langweilig, eher aufregend. Ich mag, was du über dich erzählt hast. Ich liebe Männer in Uniform.«

Er lachte. »Das tun so gut wie alle Frauen. Ich frage mich immer, warum?«

»Weil wir das Gefühl haben, dass uns ein Mann in Uniform beschützen kann. Und weil er Autorität ausstrahlt.«

»Das findest du sexy?«

Sie nickte. »Und wie!«

Er kam einen Schritt näher und hielt seinen Mund an ihr Ohr. »Du hast geschrieben, dass du es magst, wenn ein Mann dich fesselt. Hast du das im übertragenen Sinne gemeint oder im wortwörtlichen?«

Sie lächelte. »Das verrate ich dir nicht. Das musst du selbst herausfinden.«

»Wollen wir dafür hierbleiben oder lieber woanders hingehen?«, fragte er leise.

»Entführe mich irgendwohin«, flüsterte sie.

»Ich kenne einen Ort, wo wir ungestört sind und wo du mit deiner Schönheit hingehörst.«

»Wo wäre das?«

»Lass dich überraschen.«

Er lächelte und zog sie sanft vom Barhocker. Um ihre Nervosität loszuwerden, nahm sie einen Schluck von ihrem Gin Tonic, den der Barkeeper unbemerkt neben sie gestellt hatte. Dann lief sie an der Hand des Mannes aus der Bar.

Zurück blieb der erdbeerfarbene Abdruck ihres Lippenstiftes auf dem Glas.

DER BRIEF



GRACE BOTICELLI HIELT DEN BRIEF mit spitzen Fingern weit von sich gestreckt, als wäre er eine kranke Ratte mit einer tickenden Bombe am Schwanz. Das Schreiben war aus festem, beige farbenem Papier mit dezentem Streifenmuster. Das Material fühlte sich hart und rau an, fast ein wenig wie Packpapier. In der linken Ecke prangte in prunkvollen, goldenen Lettern die Adresse des Absenders:
Boden, Fernandez & Collier, 900 Ocean Drive, San Francisco. Eine Anwaltskanzlei von der Westküste.

Es ist erstaunlich, wie viel Respekt eine sonst sehr mutige, junge Frau vor dem Schreiben einer Anwaltskanzlei haben kann. Grace hatte in ihrem Leben bereits einen bewaffneten Einbrecher angeschossen, einen erfahrenen Autodieb verfolgt, bis dieser aufgab, und im Alleingang einen brutalen Räuber verhaftet. Aber als sie den Brief von Boden, Fernandez & Collier in den Händen hielt, klopfte ihr Herz, als wäre er die Aufforderung zu einem Kampf, bei dem es um Leben oder Tod ging.

Um gleich von Anfang an ganz ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass ich den Umschlag ohne Zögern aufgerissen und den Inhalt gelesen hätte, ohne mich lange damit zu quälen. Ich habe von jeher Autoritäten und Respektpersonen behandelt wie meinesgleichen. Ich finde, es ist besser, wenn man ihnen ebenbürtig entgegentritt. Aber meine Meinung spielt in diesem Fall keine Rolle. Denn das ist nicht meine Geschichte, jedenfalls noch nicht. Das wird sie erst später. Jetzt ist es noch die Geschichte von Grace Boticelli, die ich erzähle, und Grace hatte viel zu viel Respekt vor Anwälten und verspürte ein äußerst ungutes Gefühl in der Magengegend beim Anblick des Briefes.

Post von Anwälten bedeutet selten etwas Gutes, dachte Grace. Habe ich was ausgefressen? Will mich jemand verklagen?

Grace studierte den Namen und die Anschrift des Adressaten, als wären sie der tickende Zünder an einer Bombe. Grace Boticelli, 1439 Houston Street, San Antonio/Texas. Es gab keinen Zweifel. Der Brief galt ihr. Und da er nicht an ihre Arbeitsstelle gerichtet war, musste seine Nachricht etwas mit ihr persönlich zu tun haben und sich nicht auf die Arbeit beziehen.

Verdammt! Darin stand bestimmt nichts Gutes!

Grace fühlte den Umschlag an, als ob sie von außen schon auf den Inhalt schließen könnte, aber es raschelte nur leicht. Mehr war nicht zu ertasten. Ihr Hirn ratterte auf Hochtouren. Der Brief war nicht dick, also konnte sich darin keine komplette Klageschrift befinden. Höchstens eine Information über eine Klageschrift. Möglicherweise handelte es sich aber auch um eine Vorladung. Nein, die sahen meistens anders aus. Oder war es ein Bogen zur Zeugenbefragung? Der würde in einem größeren Umschlag kommen. Oder wollte ihr jemand einen Streich spielen? Der Brief wirkte pompös, eher einschmeichelnd als bedrohlich. Wollten die Herren Boden, Fernandez und Collier ihr vielleicht einen Job anbieten? Aber in San Francisco? Dorthin hatte es sie ihren Lebtag noch nicht verschlagen. Oder war es eine Mitteilung von ihrer Mutter? War sie nach Kalifornien gezogen und teilte ihr nun ihre neue Anschrift mit? Oder war es etwas völlig anderes? Was, zum Teufel, befand sich in diesem Brief?

Sie seufzte laut und musste zugeben, dass sie das Rätsel nicht würde lösen können, wenn sie den Umschlag nicht öffnete.

Sie sah auf die Uhr. 7:12 Uhr. In drei Minuten musste sie aufbrechen, wenn sie pünktlich im Büro erscheinen wollte. Sie hatte Zweifel, dass sie es rechtzeitig schaffen würde, wenn sie jetzt den Brief öffnete. Einerseits, weil sie zunächst alles lesen und verstehen musste. Und das war bei Briefen von Anwälten nicht immer so einfach. Andererseits, weil sie bei einer schlechten Nachricht noch einen Beruhigungstee brauchte. Und der musste mindestens acht Minuten ziehen.

Vielleicht sollte ich ihn erst nach dem Feierabend öffnen, wenn ich wieder da bin, dachte sie. Aber dann werde ich den ganzen Tag grübeln, was sich darin befindet.

Sie sah erneut auf die Uhr. Noch zwei Minuten, bis sie aufbrechen musste.

Sie schielte zum Brotmesser, das auf dem Küchentisch lag. Ein kurzer Schnitt, und das Rätselraten hätte ein Ende. Dann würde zwar ihr Chef ein tadelndes Gesicht ziehen, weil sie zu spät kam, aber sie wüsste wenigstens, woran sie war.

Kurzerhand griff sie zum Messer und schnitt den Brief auf, als würde sie bei der kranken Ratte den Schwanz mit der tickenden Bombe entfernen.

Mit spitzen Fingern holte sie ein einzelnes Blatt aus dem Umschlag und hielt es mit klopfendem Herzen vor ihre Brille.

 

Sehr geehrte Miss Boticelli,

 

wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Klientin Mrs. Felicitas Graham nicht mehr unter uns weilt. Unser herzliches Beileid gilt Ihnen und Ihren Angehörigen.

Mrs. Graham hat uns mit der Erfüllung ihres Testaments betraut. Daher informieren wir Sie darüber, dass Sie die einzige Erbin des Vermögens von Mrs. Graham sind und bitten Sie, zur Klärung der Erbschaft in unsere Kanzlei zu kommen. Zur Festlegung eines Termins bitten wir Sie um baldestmögliche Rücksprache.

 

Mit freundlichen Grüßen

Daniel Boden

Rechtsanwalt und Notar

 

Mit zitternden Händen ließ Grace den Brief sinken. Sie atmete hörbar auf. Keine Klageschrift, nicht einmal eine Vorladung. Es handelte sich lediglich um eine Erbschaft. Aber wer war Felicitas Graham? Der Name sagte ihr etwas, irgendwo in ihrem Kopf klingelte etwas. Sie wusste im Moment jedoch nicht, woher sie den Namen kannte. Sie besaß jedenfalls keine Tante oder Urgroßmutter, die so hieß.

Das Schreiben musste ein Irrtum sein.

Grace überlegte für einen Moment, Mr. Boden sofort anzurufen und über den Fehler zu informieren, doch ein Blick auf die Uhr belehrte sie eines Besseren. Sie musste unbedingt sofort zur Arbeit fahren, dann besaß sie eine winzige Chance, doch noch pünktlich zu erscheinen.

Sie legte den Brief in ein Buch in ihrem Zimmer und eilte zur Tür. Neben der schweren Eichenpforte befand sich die Garderobe mit mehreren bunten Jacken. Sie zog sich einen einfachen dunkelblauen Blazer über, der zu ihren schlichten Hosen passte, und warf einen Blick in den Spiegel. Sie sah aus wie immer: Ihre großen ausdrucksstarken Augen blickten klug und offen in die Welt, ihr voller Mund mit den geschwungenen Lippen blieb ernst und fast ein wenig schmollend. Grace war eigentlich eine hübsche Frau. Ihr Problem bestand darin, dass sie ihre Schönheit noch nicht entdeckt hatte. Grace sah im Spiegel etwas völlig anderes. Sie hielt sich für unscheinbar und langweilig und sogar hässlich. Sie wünschte sich, dass ihr braunes Haar nicht so dünn und glatt wäre, damit sie es auch mal anders als nur in einem strengen Pferdeschwanz tragen konnte. Sie verwünschte ihre Haut, die an Kinn, Stirn und Nase speckig glänzte. Ein roter Pickel, der genau auf der Mitte des Kinns saß, ärgerte sie. Und sie hasste ihre Brille, die in der Hektik des Morgens leicht verrutscht war und schief auf ihrer Nase hing.

Sie schob das braune Brillengestell mit einem Finger nach oben und versuchte, ihr Spiegelbild anzulächeln. Doch kaum lag das Lächeln auf ihren Lippen, verscheuchte sie es wieder. Ihrer Meinung nach sah es alles andere als charmant aus, nicht einmal freundlich. Stattdessen kamen ihre schiefen Zähne zum Vorschein und es bildeten sich kleine Fältchen an ihren Augen.

Grace seufzte tief. Sie hielt sich wahrlich nicht für eine Sexbombe, nicht einmal, wenn sie sich durch halb geschlossene Lider betrachtete. Sie sah eher aus wie die hässliche Cousine, die bei Familienfeiern niemand gern am Tisch haben will. Kein Wunder, dass Timothy sie bisher nicht auf ein Date eingeladen hatte. Und kein Wunder, dass sie noch immer keinen Freund hatte.

Deprimiert wandte sie sich von ihrem Anblick ab und eilte hinaus in den Morgen. Mit einem Krachen fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

 

GRACE BOTICELLI WURDE in San Antonio im US-Bundesstaat Texas geboren und hatte ihre Heimatstadt bisher nur zweimal verlassen. Das erste Mal kurz nach ihrem siebzehnten Geburtstag, als ihre Großmutter sie nach dem Unfall ihres Vaters zu sich nach Kentucky holte. Die alte Frau besaß eine kleine Farm in einer der langweiligsten Ecken Kentuckys, wo der Wind ungehindert über die Ebenen fegte und der Himmel in den Nächten so klar war, dass man das Gefühl hatte, die Sterne berühren zu können. Für ein junges Mädchen wie Grace war dieser Ort die reine Hölle gewesen. In der Nähe der Farm gab es keinen Jugendclub, kein Kino, nicht einmal eine Bücherei. Wenn Grace Unterhaltung wollte, musste sie mit ihrer Großmutter reden, die jedoch schon seit Jahren nur mit ihrem schwerhörigen Ehemann und mit neunzig Kühen Kontakt gehabt hatte. Oder Grace musste den Fernseher anschalten. Oder sich ebenfalls mit den Kühen unterhalten. Sie hätte eigentlich die High School in der nächst größeren Stadt besuchen müssen, aber der Weg dahin war zu weit, so dass sie es bleiben ließ.

Sobald sie achtzehn und gesetzlich volljährig war, zog sie zurück nach San Antonio, mietete sich mit zwei Freundinnen aus der Schulzeit ein Apartment und holte ihren Schulabschluss nach. Ich an ihrer Stelle hätte keinen Fuß mehr nach San Antonio gesetzt. Die Stadt im Süden von Texas steht, meiner Meinung nach, Kentucky an Trostlosigkeit in nichts nach. In den öden Straßen liegen Farmen mit Kühen und Pferden, in enger Nachbarschaft befinden sich hässliche Industriebrachen. Die Männer spucken ihren Kautabak aus, wo sie gehen und stehen. Es gibt mehr abgetragene Cowboystiefel als schicke High Heels, und selbst die Villenviertel sehen aus wie anderswo die Armensiedlungen. Wer kein Land besitzt, hat schlechte Karten und muss sich in einem Apartment in den heruntergekommenen Mietwohnungsvierteln einquartieren. Für mich wäre es ein Albtraum. Doch, wie schon erwähnt, hier geht es noch nicht um mich, sondern um Grace. Und Grace kannte nichts anderes als San Antonio. Es war ihre Heimat, hier war sie aufgewachsen und glücklich gewesen. Deshalb kehrte sie zurück und versuchte, ein behagliches Leben zu führen. Sie bewarb sich auf der Polizeischule in San Antonio, um wie ihr Vater Polizist zu werden.

Im zweiten Jahr an der Polizeiakademie führte ein Lehrgang Grace nach Daytona Beach in Florida – das war das zweite Mal, dass die junge Frau San Antonio verließ. Sie fand Daytona interessant, sogar regelrecht aufregend. Immerhin gab es dort einen berühmten Strand und eine noch berühmtere Motorrennstrecke. Und die braungebrannten jungen Surfer ließen ihr Herz höher schlagen. Nicht dass sie etwas mit einem der Jungs angefangen hätte – die Männer hatten nur Augen für langbeinige Strandschönheiten und schienen Grace kaum wahrzunehmen. Und Grace war ohnehin viel zu intensiv mit ihrer Ausbildung beschäftigt, so dass sie sich nicht ernsthaft um eine Liebelei kümmern konnte.

Nach einem Monat in Daytona Beach kehrte sie zurück nach San Antonio, beendete die Grundausbildung, bewarb sich für die Laufbahn einer Kommissarin und wurde in die Youth Squad gewählt, ein Programm, das es Nachwuchspolizisten ermöglichte, schon früh höhere Laufbahnen einzuschlagen. Und Grace verliebte sich schwer. Timothy Clarkson hieß der junge Mann, für den ihr Herz schlug und der wie sie zur Youth Squad gehörte. Er besaß sandfarbenes Haar wie jene Surfer von Daytona, Augen wie das Meer, wo es am tiefsten ist, und einen Körper wie ein Filmstar. Allerdings hatte Timothy nicht das geringste Interesse an Grace. Er arbeitete seit ihrem gemeinsamen Studium zwar als Detective in demselben Gebäude, auf derselben Etage wie Grace, aber das war schon alles, was ihn mit ihr verband. Er steckte in der Abteilung für Mordfälle, Grace hingegen in der für Einbrüche, Diebstähle und leichtere Raubüberfälle. Timothy wusste auch nichts von den Gefühlen, die Grace für ihn hegte. Und, ehrlich gesagt, sie waren ihm auch egal.

An jenem Morgen, als Grace nach dem seltsamen Brief von den Anwälten aus San Francisco mit ihrem klapprigen Ford zur Arbeit ins Polizeirevier von San Antonio fuhr und wegen ihres defekten Auspuffs eine dunkle Abgaswolke hinter sich herzog, dachte sie seit langer Zeit zum ersten Mal nicht an Timothy, wie sonst an jedem Morgen. Normalerweise überlegte sie auf dem Weg zur Arbeit, unter welchem Vorwand sie zu Tim gehen und mit ihm sprechen könnte. Irgendetwas fiel ihr meistens ein – Grace war eine Frau, die sehr viel Fantasie besaß – so dass sie wenigstens einen Blick in seine Augen werfen und sein sexy Lächeln sehen konnte.

An jenem Tag nahm der Brief von Mr. Boden aus San Francisco ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und Grace suchte in den Tiefen ihrer Erinnerung nach einer Frau mit dem Namen Felicitas Graham, die ihr Geld vermacht haben könnte. Doch es fiel ihr niemand ein. Wahrscheinlich, weil sie in den falschen Ecken ihres Hirns danach kramte. Im Geist ging sie alle Frauen aus ihrer Zeit im Kindergarten durch, ob es vielleicht eine wohlmeinende Erzieherin gegeben haben könnte, die sich mit etwas Geld dafür bedanken wollte, dass Grace solch ein liebes und stilles Kind gewesen war. Dann dachte sie zurück an ihre Schulzeit, wenn auch mit einem unguten Gefühl, denn diese Zeit war keine der schönsten in ihrem Leben gewesen. Aber auch da tauchte keine Felicitas Graham auf. Als sie zu den Monaten in Kentucky kam und schon alle Kühe und deren Namen überdachte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Mehrere Polizeiwagen mit Blaulicht und Wail-Signal kamen aus der Richtung, in die sie gerade fuhr, und rasten an ihr vorüber den Highway hinunter, von dem sie gerade gekommen war.

Grace drehte sich um, weil sie sehen wollte, wohin die Kollegen so eilig fuhren, konnte aber nichts erkennen, denn die Einsatzwagen bogen an der Kreuzung rechts ab und verschwanden hinter einer Häuserfront.

Sie überlegte, ob sie im Revier anrufen und anfragen sollte, ob ihre Anwesenheit am Einsatzort erforderlich wäre, entschied sich jedoch dagegen. Sie hätten sie schon informiert, wenn sie sie gebraucht hätten.

Stirnrunzelnd fuhr sie weiter und versuchte, an ihre unterbrochenen Gedankengänge anzuknüpfen, doch sie fand den Faden nicht mehr. Schließlich kam sie mit nur drei Minuten Verspätung im Polizeirevier von San Antonio an. Das Hauptquartier der Polizei von San Antonio lag in der Santa Rosa Avenue mitten in der Stadt und war ein großes, helles, mehrstöckiges Gebäude.

Grace parkte ihren alten Wagen in der großen Garage, wo sie jeden Morgen versuchte, einen Platz direkt neben Timothys Chrysler zu ergattern. Danach fuhr sie mit dem Lift in den vierten Stock, wo sie sich das kleine Büro der Abteilung für Diebstähle und Einbrüche mit vier Kollegen teilte. Sie steuerte jedoch nicht sofort ihren Schreibtisch an, sondern das etwas größere Zimmer am anderen Ende des Ganges, in der die Männer von der Mordkommission saßen.

Vorsichtig klopfte sie an den Rahmen der Tür, die offen stand, und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Guten Morgen, allerseits, guten Morgen, Tim«, sagte sie munter in den Raum, in dem drei Kriminalbeamte saßen. Sie blickte jedoch ausschließlich zu Timothy, der an seinem Computer eine Mail an den Kollegen in der Spurensicherung schrieb. Er war der Jüngste in der Gruppe der Kriminalbeamten in der Mordkommission und trug Jeans und ein weißes Hemd. Seine sandblonden Haare hatte er nach der neuesten Mode gekämmt und mit Gel fixiert. Grace seufzte unhörbar. Er sah umwerfend aus.

»Wisst ihr, was passiert ist?«, fragte sie, ohne auf eine Erwiderung zu warten. »Ich habe auf meinem Weg gerade mehrere Polizeiwagen vorüberfahren sehen. Irgendetwas Aufregendes?« Sie versuchte bei dem Wort »Aufregendes« ein ironisches Lachen, um den Männern anzudeuten, dass sie das tägliche Einerlei, mit dem sie es im Job normalerweise zu tun hatte, total langweilig fand und gern mehr Action hätte und deshalb eigentlich eine spannende Braut war. Sie liebte es, am Tatort das Puzzle zu lösen, wie eingebrochen worden war, womit und vor allem, wer es getan hatte. Eine Schießerei oder Verfolgungsjagd brauchte sie dabei allerdings normalerweise nicht. Aber das wollte sie Timothy gegenüber nicht zugeben, da sie wusste, dass der junge Mann gern von fesselnden Abenteuern berichtete.

Doch ihre Worte und das Lachen kamen kaum bei den drei Männern an. Sie sahen kurz auf, um zu sehen, wer mit ihnen sprach, dann widmeten sie sich sofort wieder ihrer Arbeit.

»Keine Ahnung«, erwiderte Timothy schließlich. Allerdings klang es eher wie ein Knurren.

»Es waren fünf Wagen«, ergänzte Grace in der Hoffnung, damit sein Interesse zu wecken. Fünf Wagen auf dem Weg zu einem Einsatz waren ungewöhnlich. Dann musste es sich um etwas Bedeutendes handeln.

»Hm«, knurrte Timothy, war aber immer noch mit seiner Mail beschäftigt.

»Vielleicht ist es ein Einbruch, den ich zu lösen habe«, sagte Grace und lächelte aufmunternd. Doch Timothy stieg immer noch nicht auf das Gespräch ein.

»Oder ein Raubüberfall?«

Immer noch keine Reaktion. Das Gespräch verlief, wie so oft, recht einseitig.

Grace überlegte, ob sie Timothy von der Erbschaft erzählen sollte, um damit sein Interesse an ihrer Person zu wecken. Doch sie ließ es lieber sein. Wer weiß, vielleicht erbte sie nur einen alten Gaul, einen Stall oder sogar einen Haufen Schulden. Dann wäre sie das Gespött der Männer, und das wollte sie auf keinen Fall.

»Ich bin jedenfalls gespannt, was bei dem Einsatz herauskommt. Vielleicht nur eine Katze auf einem Baum und die Besitzerin schreit Zeter und Mordio wegen des Tieres«, lachte sie gekünstelt.

»Hast du nichts zu tun?«, fragte Timothy genervt.

»Die Sache beschäftigt mich eben«, erwiderte Grace getroffen und ging einen Schritt rückwärts zur Tür. »Entschuldigt, wenn ich gestört habe.«

»Die Sache beschäftigt uns alle«, sagte auf einmal eine weibliche Stimme hinter Grace. »Und die Herren von der Mordkommission ganz besonders.«

Die Stimme gehörte zu einer Frau, die Grace noch nie gesehen hatte. Sie hatte kurze, blonde Haare und überragte Grace um fast einen Kopf. Sie war um die fünfzig und trug einen beige farbigen Anzug, dazu eine hellblaue Bluse, die ihre strahlendblauen Augen betonte. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen Mund, der sanft zu lächeln schien, wobei sich in ihren Wangen kleine Grübchen zeigten. Trotz ihres Alters sah sie aus, wie aus einem Katalog für Traumfrauen entsprungen.

»Guten Morgen«, sagte die Frau, als sie alle Blicke auf sich ruhen sah. »Mein Name ist Mabel Spring, ich bin Hauptkommissarin der Landes-Mordkommission von Texas in Austin und hierher gebeten worden, um Ihnen bei der Aufklärung der Lippenstift-Morde zu helfen. Der Mörder hat heute Nacht wieder zugeschlagen.«

Grace hielt die Luft an. Seit einiger Zeit hielt ein Irrer San Antonio in Atem. Er tötete Frauen und nahm an ihnen groteske Operationen und Veränderungen vor. Und er malte ihre Lippen mit einem knallroten Lippenstift an, was ihm den Namen Lippenstift-Mörder eingefangen hatte.

Die Männer im Raum beendeten bei diesen Worten sofort die Tätigkeiten, die sie gerade ausübten, und konzentrierten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Blonde, die ihnen diese Neuigkeit übermittelt hatte.

»Wo?«, fragte Richard, ein älterer Kollege. Er saß neben Tim und strich sich bei der Frage sorgenvoll durch seinen grauen Bart.

»In einem Apartmentkomplex in der Orchid Street. Die Putzfrau hat die Leiche gefunden und die Polizei informiert. Es sind soeben fünf Einsatzwagen zum Tatort gefahren. Ich würde sagen, wir sollten ihnen so schnell wie möglich folgen.«

»Er hat eine Weile Ruhe gegeben, aber heute schlägt er wieder zu?«, fragte Tim ungläubig.

»Ja, vielleicht finden wir heraus, was ihn veranlasst hat, erneut zu töten.«

»Wieso sind Sie schon hier?«, fragte Frank skeptisch, der dritte der drei Männer im Raum. Er war Ende dreißig und hatte rötliches Haar, das wie seine Haut nach Talg roch, wenn man ihm zu nahe kam.

»Ich bin seit einer Woche auf Abruf in der Stadt. Seitdem der letzte Mord passiert ist, ermittle ich unabhängig von Ihnen und stehe in engem Kontakt mit Ihrem Boss, Captain Welles. Er rief mich sofort an, nachdem ihn die Mitteilung der Putzfrau erreicht hatte, und bat mich, zu Ihnen ins Büro zu kommen. Er wäre gern selber hier, aber er muss zum Staatsanwalt, Rede und Antwort stehen, wieso es noch keinen Verdächtigen gibt. Aber ich bin hier.« Sie lächelte ein umwerfendes Lächeln, bei dem sogar das Herz von Grace dahinschmolz. Wenn Grace ein Mann oder sexuell anders orientiert gewesen wäre, hätte sie sich vermutlich sofort in dieses Lächeln verliebt. Aber für sie gab es nur das von Tim. Der jedoch hatte momentan nur Augen für die Hauptkommissarin aus Austin.

»Glauben Sie, dass wir nicht gut genug sind?«, brummte Frank leise. Er wollte sich von dem charmanten Lächeln der Hauptkommissarin nicht so schnell einnehmen lassen und leistete Widerstand, wenn auch nur schwach. »Der Kerl hinterlässt keine Spuren, wir haben überhaupt keine Anhaltspunkte, wonach wir suchen sollen.«

»Nein, ich glaube nicht, dass Sie nicht gut genug sind. Aber ich wollte mich von Ihren Ermittlungen nicht beeinflussen lassen und mit meinen eigenen Ideen arbeiten. Und Captain Welles hielt es für besser, Sie nicht zu informieren, damit Sie nicht denken, dass Sie versagt hätten. Der Mörder hinterlässt uns alle ratlos. Er hat mit der heutigen Leiche bereits vier Frauen auf dem Gewissen, doch wir stehen ohne Spuren oder gar Verdächtigen da. Die Presse und der Staatsanwalt machen Druck. Wir müssen endlich Ergebnisse bringen. Deshalb sollten wir uns nun zusammentun.«

»Ich bringe Ihnen einen Kaffee«, sagte Timothy und stand auf.

Grace traute ihren Ohren kaum. Tim hatte noch nie irgendjemandem einen Kaffee gebracht. Er wollte an Mabel Spring vorbeigehen, um in der Küche das Gewünschte zu holen, doch die Hauptkommissarin hielt ihn auf.

»Danke, das ist nett von Ihnen, aber dafür haben wir keine Zeit. Ich würde vorschlagen, Sie kommen alle sofort mit mir zum Tatort.«

Tim machte auf dem Absatz kehrt und schnappte sich seine Jacke, die über seinem Stuhl hing. Dann steuerte er, wie seine beiden älteren Kollegen, auf die Blonde zu und wartete auf weitere Anweisungen.

»Gehören Sie dazu?«, fragte Mabel Grace, deren Mund vor Erstaunen über Tims Verhalten offenstand.

»Nein, ich habe mit Morden und Mördern nichts zu tun, nur mit Einbrüchen und Raubüberfällen«, erwiderte sie und klappte ihren Mund schnell wieder zu.

»Dann entschuldigen Sie uns bitte«, sagte Mabel höflich und lächelte dabei freundlich. Ihr attraktives Gesicht wirkte dabei sogar aufrichtig nett.

»Natürlich«, murmelte Grace und trat zur Seite, um die Männer aus der Tür zu lassen, die wie Gänse der Hauptkommissarin folgten und zum Fahrstuhl liefen, ohne Grace eines weiteren Blickes zu würdigen. Danach wollte sie ihnen eigentlich unauffällig folgen und in ihr Büro gehen, doch in diesem Moment machte etwas klick in ihrem Kopf. Es war vermutlich die Erwähnung des Mörders und Grace‘ Antwort, dass sie mit Morden nichts zu tun hatte, die die Erinnerung an Felicitas Graham auslösten.

»Der tote Anwalt!«, rief sie erstaunt aus, woraufhin sich Hauptkommissarin Mabel Spring, Timothy Clarkson und die beiden anderen Detectives überrascht zu ihr umsahen.

»Welcher tote Anwalt?«, fragte Mabel.

Grace konnte spüren, dass sie hoffnungslos errötete. »Nichts. Es ist nichts. Mir fiel nur gerade ein alter Fall ein. Er hat mit dem aktuellen nichts zu tun. Rein gar nichts.«

Mabel runzelte ungehalten über die Störung die Stirn, so dass sich die Röte in Grace‘ Gesicht noch vertiefte. »Wirklich nichts«, murmelte Grace. »Tut mir leid. Ich will Sie nicht aufhalten.« Sie sah zu Timothy, der verständnislos den Kopf schüttelte und Grace mit einem verächtlichen Blick bedachte.

Mabel nickte wortlos und wandte sich abermals dem Fahrstuhl zu, die Männer erneut im Schlepptau.

Grace ärgerte sich über ihren unüberlegten Ausruf und ging in großem Abstand hinter der Gruppe nachdenklich den Gang hinunter. Sie lief jedoch nicht zum Fahrstuhl, sondern zu dem verwaisten Büro des Dezernats für Einbruch und Diebstahl, wo sie sich auf ihren Stuhl setzte und geistesabwesend die Nachrichten auf ihrem Schreibtisch durchging. Es hatte nichts Aufregendes in der Nacht gegeben. Ein paar Einbrüche in den Türmen an der Park Lane, aber da waren die Kollegen schon dran. Ein Raubüberfall in Terrell Hills, doch der Täter war nach einer Belagerung seiner Wohnung bereits gefasst worden und wurde nun verhört. Dazu kamen noch ein paar alte Fälle, die nicht eilten. Sie hatte also Zeit und zudem ein leeres Büro zur Verfügung, um sich um andere Dinge zu kümmern, beispielsweise um Felicitas Graham und ihr mysteriöses Erbe an sie.

Grace erinnerte sich plötzlich sehr genau an die alte Frau, die vor etwa zwei Jahren Grace um Hilfe gebeten hatte. Genau genommen hatte sie die Abteilung des Dezernats für Einbruch und Diebstahl gebeten, den Fall ihres Sohnes zu lösen, doch nur Grace hatte sich der alten Frau angenommen. Felicitas Graham hatte so elend ausgesehen, enttäuscht und unendlich traurig über den Tod ihres einzigen Sohnes, so dass Grace ihr die Bitte nicht abschlagen konnte. Und Grace hatte den Fall auch tatsächlich aufklären können und festgestellt, dass es sich nicht um einen schiefgegangenen Einbruch, sondern um einen perfiden Mord an Jonathan Graham gehandelt hatte. Vermutlich war die alte Frau darüber so dankbar gewesen, dass sie Grace in ihrem Testament erwähnte.

Allerdings hatte Felicitas Graham nicht so ausgesehen, als ob sie viel zu vererben hätte. Ihr Mantel war abgetragen und alt gewesen, ihre Schuhe stammten aus einem anderen Jahrhundert, und ihre Fingernägel waren schmutzig und abgenutzt, als müsste sie trotz ihres Alters sehr hart arbeiten.

Grace fuhr den Computer hoch und googelte den Namen Felicitas Graham, in der Hoffnung, ein paar Informationen über die alte Frau zu erhalten, bevor sie in der Anwaltskanzlei anrief. Doch es gab online so gut wie nichts über sie. Ein Artikel in einer Regionalzeitung von San Francisco erwähnte sie im Zusammenhang mit dem Tod ihres Sohnes. Außerdem erschien sie an der Seite eines Freundes, der ein Tierheim führte. Sie war zum Zeitpunkt des Fotos, das sie in ihrem abgetragenen Mantel zeigte, 79 Jahre alt. Das Foto wurde vor drei Jahren gemacht. Also war sie im Alter von zweiundachtzig Jahren verstorben. Aber mehr war nicht über sie zu finden.

Als nächstes suchte Grace im Internet nach der Anwaltskanzlei Boden, Fernandez und Collier. Über die gab es wesentlich mehr zu entdecken. Sie besaßen mehrere Klienten, deren Interessen sie im Familienrecht, Erbrecht, Vermögensrecht und sogar Strafrecht vertreten hatten und daher in deren medienwirksamen Fällen immer wieder erwähnt wurden. Gustavo Fernandez spielte zudem Golf in der ersten Amateurliga und konnte mehrere Trophäen sein Eigen nennen. David Collier kümmerte sich in seiner Freizeit um die Belange von Golfkriegs-Veteranen, und Daniel Boden war mit der Schwester der Schwiegertochter vom Bürgermeister von San Francisco verheiratet. Alles nichts Aufregendes, aber immerhin wusste sie in etwa, mit wem sie es zu tun hatte.

Grace nahm den Telefonhörer zur Hand und wählte die Nummer von Daniel Boden.

»Anwaltskanzlei Boden, Fernandez und Collier. Susan Pryce am Apparat, was kann ich für Sie tun?«, meldete sich eine helle Frauenstimme.

»Hi, hier ist Grace Boticelli. Ich habe heute einen Brief von Mr. Boden erhalten, der besagt, dass ich geerbt habe. Ich würde gern Näheres dazu wissen, auch wie ich das Erbe ausschlagen kann.«

»Einen Moment, ich stelle Sie zu Mr. Boden durch.«

Sie verschwand vom Apparat und ließ Grace für einen Moment in der Warteschleife zurück. Ein älterer Song von Hurts ertönte, während Grace auf die Stimme von Mr. Boden wartete. Er meldete sich nur einen Augenblick später.

»Mrs. Boticelli, vielen Dank, dass Sie so prompt anrufen!«, rief er enthusiastisch in den Hörer. »Es wäre auch in unserem Interesse, wenn wir die Angelegenheit so schnell wie möglich klären könnten. Wann könnten Sie nach San Francisco kommen?«

Grace lächelte fein. Mr. Boden war offensichtlich ein Mann, der ruckzuck Nägel mit Köpfen machte.

»Ich dachte, wir könnten alles am Telefon klären«, erwiderte sie ruhig. »Ich denke nicht, dass ich das Erbe annehmen möchte.«

»Oh«, sagte er. Seine Enttäuschung war bis nach San Antonio deutlich zu hören. »Das ist sehr bedauerlich. Darf ich fragen, warum?«

»Weil ich Mrs. Graham kaum gekannt habe. Sie war nur kurze Zeit hier, um den Fall ihres getöteten Sohnes aufklären zu lassen, das habe ich getan. Es war mein Job, und der Staat Texas hat mich dafür bezahlt. Mein Gehalt ist nicht sonderlich großzügig, aber ich könnte davon leben, wenn ich nicht ... Aber das interessiert Sie sicherlich nicht. Mehr verdiene ich jedenfalls nicht. Und auf keinen Fall die mühsam ersparten Cents einer alten Frau.«

»Na, so mühsam erspart war das Geld von Mrs. Graham nicht«, erwiderte Boden trocken. »Es handelt sich um ein beträchtliches Vermögen sowie um eine Immobilie. Aber selbst wenn Sie das Erbe wirklich ausschlagen wollen, müssen Sie herkommen und die Papiere vor unseren Augen unterschreiben. Tut mir leid.«

»Ein beträchtliches Vermögen?«, hakte Grace erstaunt nach. »Wie viel ist es denn?«

»Die genaue Summe kann ich Ihnen auf die Schnelle jetzt nicht sagen, aber es ist nicht gerade wenig. Ich denke, es wäre wirklich besser, wenn Sie zu uns kämen und wir alles in Ruhe besprechen würden.«

Grace schluckte. Ein beträchtliches Vermögen? Das klang nach einem angenehmen Leben mit einem neuen Auto, einer eigenen Wohnung und vielleicht sogar hin und wieder einem kleinen Urlaub in Florida in Daytona Beach, um die Surfer zu beobachten. Vielleicht sollte sie doch ...?

»Wann würde es Ihnen denn passen?«, fragte Grace heiser und räusperte sich.

»Einen Moment«, sagte Boden und fragte mit zugehaltener Muschel seine Sekretärin nach dem nächsten Termin. »Am Freitag 14 Uhr«, schlug er Grace vor, nachdem er den Hörer wieder freigemacht hatte. »Würde Ihnen das passen?«

»Das ist ja schon übermorgen!«, rief Grace und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

»Ist Ihnen das zu kurzfristig?«

»Nein, nein, ich weiß nicht. Ich denke schon. Ich werde sehen, ob es klappt«, erwiderte sie.

»Dann vielen Dank nochmals für Ihren Anruf und bis übermorgen. Wenn etwas dazwischenkommt, melden Sie sich einfach nochmal. Dann vereinbaren wir etwas Neues.«

»Das mache ich. Vielen Dank und auf Wiederhören.«

Sie wartete, bis Daniel Boden die Verbindung unterbrochen hatte, dann legte auch sie den Hörer zurück auf die Gabel.

Ein beträchtliches Vermögen hatte er gesagt. Wie viel mochte das sein? Zehntausend Dollar? Zwanzigtausend? Für Grace wären schon fünftausend Dollar viel Geld gewesen. Sie verdiente zwar wirklich nicht schlecht in ihrem Job, aber mehr als die Hälfte davon ging für die Pflege ihres Vaters drauf, der in einer Klinik dahinvegetierte und ohne Pflegekräfte und teure Medikamente nicht auskam.

Mit zehntausend Dollar könnte sie ihren alten Ford reparieren lassen. Sie könnte sich eine Woche Urlaub in Florida leisten und sogar einen Surfkurs belegen. Natürlich müsste sie vorher einen neuen Badeanzug kaufen und ein paar Mal in der Sonne liegen, um ihre bleiche Haut zu bräunen. Sie könnte jeden Tag Eis am Stiel essen und in einem Club einem Nackttänzer eine Dollarnote in den Slip stecken. Sie könnte vermutlich sogar ein ganzes Regal voller Bücher kaufen, um ihr Bedürfnis nach Liebesromanen mit attraktiven männlichen Helden zu befriedigen.

Darüber hinaus hatte die alte Frau offenbar Immobilien besessen. Sie könnte vielleicht in ein eigenes Haus ziehen! Lilly und Bella könnte sie ja mitnehmen. In einem Haus, selbst wenn es nur eine alte Hütte wäre, hätten sie wesentlich mehr Platz als in einer kleinen Wohnung. Es war allerdings fraglich, ob sich die Immobilie in San Antonio und somit in ihrer Reichweite befand. Aber das würden die Anwälte schon wissen und ihr bei dem Termin mitteilen.

Auf der anderen Seite jedoch konnte sie unmöglich Geld von einer ihr fast unbekannten Frau annehmen, für die sie nur einen Job erledigt hatte. Sie hatte vielleicht ein bisschen mehr gemacht, als andere getan hätten – und de facto getan hatten – und vielleicht auch ein bisschen mehr, als üblich war, aber es war dennoch ihr Job gewesen. Und dafür jetzt noch extra Geld zu nehmen, fühlte sich irgendwie falsch an. Als würde sie von einer armen Frau eine Belohnung dafür verlangen, dass sie deren arme Katze aus dem Baum gerettet hatte. So etwas machte man nicht. Allerdings ...

»Boticelli, hör auf zu träumen, es gibt Arbeit«, drang auf einmal die Stimme von Captain Welles an ihr Ohr. Der kräftige Mann um die Vierzig mit der Figur eines Bodybuilders stand in der Tür und reichte Grace einen Stapel mit Papieren. »Ich komme gerade vom Staatsanwalt zurück, was nicht gerade angenehm war. Kaum bin ich hier, finde ich eine neue Meldung auf meinem Schreibtisch. Ein Einbruch in der Dakota Avenue. Ein Einfamilienhaus wurde leergeräumt, während die Familie beim Essen saß. Viel Spaß damit.«

Grace nickte und nahm die Unterlagen in Empfang, um sofort danach aufzuspringen und einen Officer aus dem ersten Stock zu bitten, mit ihr zum Tatort zu fahren.

PUZZLE



WER ETWAS ÜBER TEXAS im Zusammenhang mit Kriminalität hört, wird sicherlich unweigerlich an die Todesstrafe denken. Texas gehört zu den amerikanischen Bundesstaaten, in denen schwere Verbrechen mit dem Tod durch Injektion eines letalen Giftcocktails bestraft werden. Und es ist der Bundesstaat mit den meisten Hinrichtungen. Allerdings scheint diese Art der Buße die Verbrecher trotzdem nicht davon abzuhalten, ihre Taten durchzuführen. Im Dezember 2014 gab es 273 Insassen in den texanischen Todeszellen, darunter sieben Frauen. Jährlich werden über hunderttausend Gewaltverbrechen in Texas verübt, die meisten davon sind schwere Körperverletzungen und Raubüberfälle. Bei den weniger brutalen Verbrechen führen Diebstähle die Liste an, nämlich mit über sechshunderttausend jährlich. An zweiter Stelle stehen Einbrüche. Fast zweihundert Autos werden täglich gestohlen, und – diese Zahl sollte auf keinen Fall unterschlagen werden – statistisch gesehen werden in Texas mehr als drei Menschen pro Tag ermordet, das sind insgesamt mehr als eintausend pro Jahr.

Grace Boticelli arbeitete seit zwei Jahren im Dezernat für Einbruch und Diebstahl und gehörte zu jenen Beamten, die ihre Arbeit sehr ernst nahmen. An jenem Morgen fuhr sie konzentriert zum Tatort im Osten von San Antonio, beziehungsweise, sie ließ sich fahren. Am Steuer des Polizeiwagens saß Hank Williams, ein fünfzigjähriger Police Officer mit großer Erfahrung. Er hatte als Trooper bei der Verkehrspolizei angefangen und zwanzig Jahre lang die texanischen Highways patrouilliert. Er sagte einmal, dass er die Straßenkarte von Texas und San Antonio besser kenne als den Grundriss seines Hauses. Und das könnte sogar wirklich stimmen. Als er fünfundvierzig wurde, geriet er nach einer Verfolgungsjagd auf dem Highway 35 Richtung Mexiko in einen Schusswechsel mit einer mexikanischen Bande, bei der er schwer verletzt wurde. Eine Kugel perforierte seinen linken Lungenflügel und zerschmetterte ein paar Rippen. Es dauerte ein Jahr, bis er wieder völlig regeneriert war und arbeiten konnte. Doch danach war er nicht mehr er selbst. Er ließ sich für Schreibtischarbeit einteilen, organisierte Einsätze und fuhr die Kriminalbeamten zu den Tatorten. Er besaß ein gutes Auge fürs Detail, für Menschen und deren Lebensumstände, so dass er bei den Untersuchungen eine große Hilfe war. Er durchkämmte an der Seite der Detectives die Umgebung, befragte Nachbarn und Passanten und hatte mit seiner Menschenkenntnis schon manchen Lügner überführt. Wenn es um Verfolgungen von flüchtigen Dieben und Räubern ging, hielt er sich jedoch lieber im Hintergrund, nicht nur wegen des Attests, was ihm die Ärzte gegeben hatten, sondern auch weil er Angst hatte. Er hatte noch vierzehn Jahre bis zur Pensionierung und hoffte, diese Zeit unbeschadet zu überstehen, vor allem, seitdem seine Enkeltochter zur Welt gekommen war.

»Wie kann das Haus leergeräumt werden, während man beim Essen sitzt?!« Hank schüttelte den Kopf, als er mit Grace in die Dakota Avenue einbog. »So was kriegt man doch mit!«

Sie befanden sich in einem Stadtviertel mit den typischen Häusern der Mittelschicht, mit einem kleinen Rasen vor dem Haus, einem Mittelklassewagen in der Einfahrt und einer Schaukel neben der Eingangstür.

»Vielleicht saßen sie draußen auf der Veranda beim Frühstück«, mutmaßte Grace und legte den Sicherheitsgurt ab, während Hank den Wagen gegenüber einem gelb gestrichenen, zweistöckigen Haus parkte.

»Es sind jetzt schon dreißig Grad draußen«, erwiderte Hank. »Niemand frühstückt da draußen.«

Grace lächelte. Es waren vierundzwanzig Grad, um genau zu sein. Der Temperaturfühler des Wagens zeigte diese Temperatur exakt an. Außerdem war das Frühstück bereits etwa eine Stunde her, und im Schatten des Hauses war es mit Sicherheit kühler. »Es ist müßig, darüber zu spekulieren«, sagte sie. »Wir werden es gleich erfahren.«

»Immer so diplomatisch«, knurrte Hank gutmütig und knallte die Autotür zu. »Vielleicht wissen sie es gar nicht, weil sie ihr Gedächtnis verloren haben.« Hank schmunzelte.

»Oh ja, ganz bestimmt«, erwiderte Grace. »Es könnten Aliens sein, die sie entführt haben, in der Zwischenzeit ihr Haus ausraubten, dann das Gedächtnis der Menschen löschten und sie dann zurück an den Frühstückstisch brachten.« Sie mochte Hank, weil er nicht nur stur an Paragrafen und Dienstvorschriften dachte, sondern auch Fantasie besaß. Außerdem scherzte er gern mit ihr und schätzte sie obendrein als gute Polizistin. Er gehörte zu den Männern, denen das Aussehen einer Frau offensichtlich nicht so wichtig war.

»Genau. Ich hätte es nicht besser formulieren können«, grinste Hank, wurde aber sofort danach ernst. Sie waren am Haus angekommen, wo ein Streifenpolizist neben dem Eingang stand und auf sie wartete.

»Wir übernehmen jetzt«, sagte Grace zu dem älteren Mann mit einem vollen, bärtigen Gesicht.

»Endlich«, erwiderte der Streifenpolizist erleichtert. »Ich stehe schon eine Weile hier. Der Hausbesitzer ist inzwischen zur Arbeit gefahren und hat die Kinder mitgenommen. Nur die Ehefrau ist noch hier.«

»Was ist genau passiert?«

»Vier Personen saßen am Frühstückstisch im Esszimmer, das zum Garten führt, zwei Erwachsene, zwei Kinder. Als die erwachsene weibliche Person ins Badezimmer im ersten Stock geht, um ein nasses Handtuch zu holen, bemerkt sie einen Schatten auf dem Gang. Sie folgt ihm und sieht einen Mann aus dem Kinderzimmer auf das Garagendach klettern. Der Safe im Schlafzimmer steht offen, das Geld ist verschwunden, zusammen mit Reisepässen und ein paar Aktien.«

»Wie viel Bargeld?«

»Etwa siebzehntausend Dollar.«

»Hui«, sagte Grace und pfiff anerkennend durch die Zähne. Das war viel Geld, um es zu Hause aufzubewahren. Offenbar hielten die Leute nicht viel von Banken. Oder sie wollten nicht, dass andere, speziell die Behörden, von ihrem Geld erfuhren.

Für einen Moment huschte der Gedanke an ihre Erbschaft durch ihren Kopf, sie schob ihn jedoch ganz schnell in eine hintere Ecke ihres Gehirns. Sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Ist die Spurensicherung informiert?«

»Ja, aber die Kollegen können erst später kommen, weil sie bei einem Mordfall sind«, erwiderte der Bärtige.

Natürlich. Sie sind bei dem Opfer des Lippenstift-Mörders. »Danke«, sagte sie und betrat das Haus, während Hank sich draußen umsah.

Innen war es angenehm kühl. Sie stand in einer Art Diele, in der an der Garderobe mehrere leichte Mäntel und Jacken hingen, darunter befand sich eine kleinere Kleiderablage für Kindersachen. Ein Schuhschrank stand auf der rechten Seite neben der Tür. Darüber hing ein unscheinbares weißes Kästchen, das grün blinkte. Die Alarmanlage.

»Hallo? Jemand hier?«, rief Grace ins Haus.

»Ich bin hier!«, antwortete eine weibliche Stimme aus dem linken Teil des Hauses. Nur einen Moment später erschien eine schlanke, fast dürre Frau Anfang dreißig. Sie trug eine enge Jeans und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift »Beste Mutter der Welt«. Sie wirkte verstört und nervös. Ihre dünnen Hände zitterten. »Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie, als sie Grace erblickte.

»Ich bin Detective Grace Boticelli vom Dezernat für Einbruch und Diebstahl.«

»Mein Name ist Anna Winter. Sie sind allein? Kein Kollege dabei?«

Grace nickte. Offenbar waren es die Leute von San Antonio immer noch nicht gewöhnt, dass Frauen auch gute Kriminalbeamte sein konnten. Sie erlebte es öfter, dass jemand skeptisch reagierte, wenn sie allein auftauchte. »Ein Officer untersucht draußen das Grundstück. Es ist nicht das erste Mal, dass ich zu einem Einbruchsdiebstahl gerufen werde und ihn allein löse.«

Die Frau nickte erleichtert und ergriff die gereichte Hand von Grace, um sie zu schütteln. »Es ist furchtbar, was passiert ist. Treten Sie ein.« Sie führte Grace ins Wohnzimmer, das elegant und modern eingerichtet war. Es wirkte sauber und ordentlich. Nichts deutete darauf hin, dass hier eingebrochen worden war.

»Erzählen Sie mir bitte genau, was geschehen ist.«

»Wir haben gefrühstückt und danach habe ich ihn gesehen. Er ist geflohen und war weg.«

»Wer?«

»Der Einbrecher.«

»Haben Sie ihn erkennen können?«

»Nein. Ich habe nur seinen Kopf und den Rücken gesehen, und das auch nur kurz. Er kletterte zum Fenster hinaus.«

»Was war das für ein Kopf? Haben Sie die Haarfarbe erkennen können?«

»Er trug ein weißes Basecap, da konnte ich keine Haare sehen.«

»War ein Logo auf dem Basecap?«

»Nein. Keines.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Sie werden ihn nie fassen, stimmts? Ich habe gelesen, dass nicht einmal zehn Prozent der Fälle aufgeklärt werden.«

»Die Statistik stimmt nicht ganz. Aber um Ihnen helfen zu können, benötigen wir so viele Angaben von Ihnen wie möglich. Erzählen Sie mir doch bitte, was geschehen ist, bevor Sie den Eindringling entdeckten.«

Die Frau begann nun, in allen Einzelheiten zu berichten, wie sie das Frühstück vorbereitete, welche ungesüßte Marmelade sie auf den Tisch stellte, warum sie lieber fettarme Milch trank und wie viel Prozent Fett die Butter hatte. Sie beschrieb sogar die Speckwürfel, die ihr Mann zusammen mit seinen Rühreiern vertilgte. Sie selbst hatte nur ein Knäckebrot gegessen, darauf etwas Magerquark und Schnittlauch. Und selbst das kam ihr zu viel vor, so dass sie eigentlich nach dem Essen joggen gehen wollte, durch den Diebstahl jedoch davon abgehalten wurde. Sie fühlte sich ganz kribbelig und unglücklich, weil ihr die Bewegung fehlte. Offenbar litt sie an einem schon fast krankhaften Schlankheitswahn.

»Warum sind Sie ins Badezimmer im ersten Stock gegangen?«

»Ed hatte sich mit Marmelade beschmiert. Ich wollte ihn saubermachen und brauchte dafür ein nasses Handtuch.«

»Wer ist Ed?«

»Mein Sohn. Er ist sechs.«

»Wo sind Ihr Mann und die Kinder jetzt?«, fragte Grace, die sich während der Erzählung im Wohnzimmer und anschließendem Esszimmer umgesehen hatte.

»Mein Mann musste zur Arbeit. Er hat die Kinder mitgenommen und zur Schule gebracht.«

»Können Sie mir noch sagen, was genau gestohlen wurde?«

»Der ganze Inhalt unseres Safes. Geld, Personaldokumente, Aktien. Sogar ein Schmuckstück meiner Mutter. Es ist eine Katastrophe.« Sie schluchzte auf. »Es ist wirklich eine Katastrophe.«

»Bitte zeigen Sie mir den Safe.«

Die Frau führte Grace nach oben in den ersten Stock in ein großes Zimmer auf der rechten Seite. Der Raum besaß ein riesiges Fenster und bot einen schönen Blick in den Garten. Gegenüber vom Bett befand sich in Kniehöhe hinter einem Stuhl versteckt der Safe. Er stand offen. Ein paar Papiere lagen davor verstreut auf dem Boden, außerdem ein Paar Socken, das vom Stuhl gerutscht war.

Grace ging zum Fenster und sah hinaus. Die Wand war glatt, kein Baum stand davor, kein Balken ragte als Kletterhilfe aus der Wand. Um zu diesem Fenster zu klettern, hätte er eine Leiter benötigt.

»Ist er hier hinaus geflohen?«, fragte Grace.

»Nein, aus Eds Zimmer am Ende des Flures.«

Sie führte Grace einen Gang entlang zu einem kleinen Zimmer, das ganz offensichtlich einem sechsjährigen Jungen gehörte. Ein großes Poster vom Computerspiel »Cars« hing an der Wand, außerdem Harry-Potter-Bilder in allen Größen. Außerdem prangte ein überdimensionales Poster von »Transformers« am Schrank. Auf dem Bett, das mit Saurierbettwäsche bezogen war, lag ein funkelndes Laserschwert.

Grace trat zum Fenster, das offenstand, und sah hinaus. Etwa einen Meter unter dem Zimmer befand sich das Dach der Garage. Wer hineinklettern wollte, musste sich nicht einmal strecken. Sie sah, dass Hank zu demselben Ergebnis wie sie gekommen war, denn er betrachtete die Garage von unten genau und gründlich. Eine Hecke auf der Seite der Nachbarn verdeckte den Blick von der Straße auf die Garage. Etwas weiter vorn befanden sich die Mülltonnen.

»Siehst du was?«, rief Grace nach unten.

»Fußabdrücke im Garten der Nachbarn«, erwiderte er.

»Hast du schon bei ihnen geklingelt?«

»Ja, aber sie sind nicht da. Sie seien verreist, sagen die Leute von gegenüber. Die haben jedoch nichts Auffälliges gesehen.«

Hinter der Hecke wäre ein Einbrecher kaum sichtbar gewesen, nur für einen Moment auf dem Dach. »Danke.«

Grace trat zurück und ging wieder hinüber ins Schlafzimmer.

»Weiß jemand, dass Sie hier einen Safe haben? Und wie viel Geld Sie darin aufbewahren?«

Anna Winter schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Wir erzählen so etwas natürlich niemandem, das wäre ja verrückt.«

»Und trotzdem kam jemand direkt zu Ihnen ins Schlafzimmer. Er hat nicht im Wohnzimmer oder Arbeitszimmer gesucht, sondern hier. Also wusste er davon. Denken Sie bitte noch einmal darüber nach, wer Ihr Geheimnis gekannt haben könnte.«

Sie überlegte lange, mehrere Minuten lang, kam aber dennoch zu keinem Ergebnis.

»Wer hat den Safe eingebaut?«, fragte Grace nach.

»Ein Bekannter von einem Freund meines Mannes. Ihm gehört eine Firma für Sicherheitstüren und Tresore.«

»Können Sie mir bitte den Namen und die Anschrift geben?«

»Natürlich. Denken Sie etwa ...?« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Offenbar wagte sie es nicht, solch einen Verdacht zu denken, geschweige denn, ihn laut zu formulieren.

»Wir müssen jeder Spur nachgehen. Wie Sie sehen, wurde er nicht gesprengt, sondern einfach geöffnet. Wer hat den Code für den Tresor?«

»Nur mein Mann und ich«, erwiderte sie verdutzt. »Aber es geht doch nicht, dass die Leute, die den Tresor einbauen, bei ihren Kunden einbrechen und ihn dann heimlich öffnen! Das wäre doch extrem geschäftsschädigend.«

»Das wäre es wirklich. Allerdings ist es auch möglich, dass jemand die Unterlagen dieser Firma gestohlen hat und sich nun bei den Kunden bedient. Ich werde auf jeden Fall eine Liste der Kunden dieser Firma benötigen, um nachzufragen, ob noch mehr Klienten betroffen sind.«

Anna Winter nickte. »Ich bringe Ihnen die Telefonnummer.«

Sie verließ das Schlafzimmer und lief hinunter in das Arbeitszimmer, das neben dem Essbereich lag. Grace ging in der Zwischenzeit zurück zum Zimmer des Sohnes und betrachtete erneut das Fenster. Es gab keine Spuren von Gewaltanwendung. Es war nicht aufgebrochen worden.

Als die Hausherrin mit einer Visitenkarte der Tresorfirma zu ihr trat, deutete Grace auf das saubere Fensterbrett.

»Stand das Fenster offen?«

»Ich lüfte täglich Eds Zimmer, sobald er aufgestanden ist.«

»Wie lange?«

»Nur während wir frühstücken. Danach gehe ich nach oben und mache die Betten. Dabei schließe ich auch das Fenster.«

Grace runzelte die Stirn. »Das heißt, es ist relativ wahrscheinlich, dass der Einbrecher Ihre Routine kannte. Entweder lebt er hier in der Nachbarschaft oder er hat Sie seit einiger Zeit beobachtet.«

Frau Winter wirkte perplex. »Ein Stalker? Wie kommen Sie denn darauf? Er könnte doch auch das offene Fenster gesehen und die Chance genutzt haben.«

Grace kam langsam in Fahrt. Sie liebte solche Rätsel, zu denen es eine eindeutige Lösung gab. Jemand war hier eingebrochen. Jemand hatte gewusst, dass das Fenster offenstand. Jemand hatte gewusst, dass die Nachbarn verreist waren, so dass er auf ihrem Grundstück auf die Garage klettern konnte. Und jemand hatte den Code zum Tresor gekannt. Das konnte kein Zufall sein.

»Am helllichten Tag? Das passiert zwar hin und wieder, ist aber in Ihrem Fall sehr unwahrscheinlich, zumal er den Code wusste. Ist Ihnen in letzter Zeit jemand aufgefallen, der sich hier herumtrieb, obwohl er nicht hierher gehörte?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Sie wirkte immer noch verdutzt. »Nein, niemand.«

»Seit wann sind Ihre Nachbarn vereist?«

»Seit drei Tagen.«

»Was ist heute anders als gestern und vorgestern?«

»Nichts!«

»Doch. Irgendetwas ist anders heute, sonst hätte sich der Dieb nicht den heutigen Tag ausgesucht.«

»Meine Tochter hat mittwochs immer etwas später Schule, weil sie den Sportunterricht nicht mitmacht. Sie hat schweres Asthma. Wir sitzen dann länger beim Frühstück. Wusste der Dieb das etwa auch?« Sie klang entsetzt.

»Vermutlich.« Grace überlegte. Es fehlte nur noch ein Puzzleteil, dann hätte sie den Fall gelöst.

»Bitte überlegen Sie genau, wer von dem Geld in Ihrem Tresor wusste. Wem haben Sie davon erzählt?«

»Niemandem!«, rief Anna Winter. »Wirklich niemand wusste davon.«

»Woher stammt es?«

»Es ist das Geld meines Bruders. Wir hatten es ihm geliehen, weil er einen Traktor für seine Farm kaufen wollte. Die Bank hatte ihm den Kredit verweigert, denn die Erträge waren schlecht in letzter Zeit. Er muss hart arbeiten, und trotzdem kommt er auf keinen grünen Zweig. Er würde niemals ...!« Wieder beendete sie den Satz nicht.

»Wann hat er Ihnen das Geld gebracht?«

»Vorige Woche.«

»Wie wirkte er auf Sie?«

»Wie immer. Etwas niedergeschlagen, aber er lässt sich nicht so einfach unterkriegen. Er ist ein Kämpfer.«

»Wann war Ihr Bruder das letzte Mal hier?«

»Am Sonntag. Er hat uns zum Mittagessen besucht.«

»Er wusste also, dass die Nachbarn verreist sind.«

»Sie fuhren gerade los, als er kam. O mein Gott.« So langsam dämmerte ihr, dass Grace Recht haben könnte. »Er kennt auch den Code zum Tresor. Es ist mein Geburtstag. Ich habe es ihm mal gesagt, für den Fall, dass etwas passiert.« Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Er kann es nicht gewesen sein. Ich hätte ihn erkannt.«

»Dann hatte er einen Helfer.«

»Und warum sollte er unsere Ausweispapiere auch noch entwenden, wenn es ihm nur um das Geld ging?«

»Vielleicht, um sie zu verkaufen. Auf dem Schwarzmarkt erhalten Sie eine Menge Geld für gestohlene Pässe. Oder er wollte es so aussehen lassen, als ob jemand nicht nur am Geld interessiert wäre. Wir schicken auf jeden Fall einen Wagen zu Ihrem Bruder. Geben Sie mir bitte die Anschrift.«

Anna Winter wirkte wie betäubt, als sie Grace das Gewünschte nannte und diese sich die Adresse in ihrem Notizbuch notierte. Danach ging Grace hinunter zu Hank, der gerade mit den Nachbarn von gegenüber sprach. Aber die hatten ebenfalls nichts gesehen.

»Ich habe einen Verdacht«, sagte Grace und holte ihr Handy aus der Tasche, um in der Zentrale anzurufen und einen Wagen nach Pipe Creek zu schicken, wo die Farm des Bruders lag.

»Ich wette, er ist es«, sagte Hank mit einem breiten Grinsen. »Du hast das Rätsel mal wieder geknackt.«

Grace verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Das werden wir sehen, wenn die Spurensicherung den Schuhabdruck im Nachbargarten vergleicht. Seine Fingerabdrücke dürften von seinen Besuchen ohnehin überall im Haus sein. Ich denke aber, dass er Hilfe hatte. Warten wir es ab.«

»Du bist nicht schlecht, Mädel«, sagte Hank und klopfte Grace anerkennend auf die Schulter. Bei diesen Worten erlaubte sich Grace ein stolzes Lächeln. Sie genehmigte es sich nicht oft, aber in diesem Fall und nach diesem Lob hielt sie es durchaus für angebracht.

 

Hanks nette Worte waren allerdings die einzige Anerkennung, die Grace für ihre Leistung in der Aufklärung des Falles erhielt. Als sie nach einem kurzen Halt bei Burger King ins Revier zurückkehrte, scherte sich niemand um sie, selbst später nicht, als feststand, dass sie das Rätsel tatsächlich in Rekordzeit gelöst hatte. Sobald der Polizeiwagen in Pike Creek auf der Farm des Bruders von Anna Winter auftauchte, gestand der Mann nämlich heulend die Tat, deckte jedoch seinen Komplizen und nahm dafür alle Schuld auf sich. Er ließ sich widerstandslos abführen.

Doch die Kollegen von Grace interessierten sich nicht für Grace‘ überdurchschnittlich gute Leistung. Und Grace nahm resigniert zur Kenntnis, dass dieser Tag wie immer völlig unspektakulär für sie verlief. Sie hätte wenigstens gern Tim von ihrer rasanten Aufklärung berichtet, selbst auf die Gefahr hin, dass er nur eine unwillige Erwiderung grunzte und sie danach aus dem Zimmer scheuchte. Aber Tim war noch mit der Kollegin aus Austin und den anderen Kriminalbeamten im Apartmentkomplex in der Orchid Street beschäftigt, wo der Lippenstift-Mörder zugeschlagen hatte.

Also setzte sich Grace still an ihren Schreibtisch und begann, im Computer den Bericht über den heutigen Fall zu schreiben. Doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren, denn nun schummelten sich immer wieder Gedanken über die Erbschaft in ihre geistige Arbeit. Wäre es wirklich so pfiffig, sich eine Immobilie ans Bein zu binden? Sie hatte doch gerade erst gesehen, was es bedeutete, ein Haus zu haben. Ein Haus würde immer Neider, Diebe und Einbrecher anziehen. Nicht zu vergessen Alarmanlagen, die sie installieren musste, das Dach, das gedeckt werden wollte, Rohre mussten gewartet und gepflegt werden und und und. Ein Haus bedeutete Probleme und Arbeit ohne Ende. Wenn sie in Ruhe leben wollte, musste sie von der Immobilie Abstand nehmen. Kein Geld der Welt, kein neues Auto und kein Urlaub in Daytona Beach könnten sie für diese Schwierigkeiten entschädigen. Also würde sie wohl die Erbschaft doch ausschlagen.

Sie wollte gerade seufzend den Abschnitt im Bericht ausfüllen, in dem es um die Aussage des Opfers ging, als ihr Handy klingelte. Ihr Privathandy. Entweder Lilly oder Bella hatte ein Problem. Oder der Anruf kam aus Fort Sam Houston.

Als Grace die Nummer auf dem Display sah, verspürte sie ein flaues Gefühl im Magen. Sie bedeutete niemals etwas Gutes.

»Hi, hier ist Stephen«, meldete sich eine ernste männliche Stimme, sobald Grace ihren Namen genannt hatte.

»Was ist mit ihm?«, fragte Grace und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.

»Er hatte heute Nacht einen schweren Anfall. Wir haben ihn ruhiggestellt, aber ich fürchte, es geht ihm nicht gut. Sein Zustand hat sich verschlimmert und der Arzt meint, er hatte wohl wieder eine leichte Blutung. In einer Stunde sind die Ergebnisse vom CT da.«

»Ich komme«, sagte Grace.

»Grace, ich weiß nicht, ob es etwas bringt. Er wird dich nicht erkennen.«

»Das ist egal. Ich komme.«

»Okay, bis gleich.« Stephen legte auf.

Grace ließ den Bericht unvollendet im Computer und stand auf. Sie nahm ihren Autoschlüssel und ging aus dem Büro, den Gang hinunter zum Zimmer ihres Chefs.

Sie klopfte, es erfolgte jedoch keine Antwort. Sie klopfte erneut, aber wieder kam keine Antwort. Durch die Glastür konnte sie jedoch deutlich sehen, dass er an seinem Schreibtisch saß.

Vorsichtig öffnete Grace die Tür.

»Darf ich stören?«

Überrascht sah Captain Welles von seiner Arbeit auf. Kopfhörer saßen auf seinen Ohren, so dass er das Klopfen nicht gehört hatte.

»Was ist?«, brüllte er in den stillen Raum, um die Musik in seinen Ohren zu übertönen.

Grace verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln und deutete mit der Hand an, dass er die Kopfhörer abnehmen sollte. Er nickte und zog sie von seinem kahlrasierten Schädel. Geigenmusik ertönte daraus.

»Das Konzert für zwei Violinen von Bach. Grandiose Musik!«, schwärmte er und lauschte mit halbem Ohr in den Kopfhörer, bevor er wieder zu Grace sah. »Damit kann ich mich besser konzentrieren und den Ärger über den Staatsanwalt verarbeiten. Was ist los? Was macht der Diebstahl in der Dakota Avenue?«

»Gelöst«, erwiderte Grace bescheiden.

»So schnell? War der Täter noch vor Ort?«

»Nein, aber der Fall war leicht zu knacken.«

»Offenbar sind Sie cleverer, als andere aussehen«, grinste Welles, wurde jedoch sofort wieder ernst. Er durfte nichts Negatives über Frauen sagen, sonst bekam er sofort eine Klage wegen sexueller Belästigung oder Diskriminierung an den Hals. Die Zeiten, in denen ein Mann seinen Worten einfach freien Lauf lassen konnte, waren auch in Texas längst vorbei. »Es heißt ja, dass hübsche Frauen nichts im Hirn haben, weil Gott sich nur für eine Sache entscheiden konnte. Entweder Schönheit oder Klugheit. Deshalb bin ich sehr froh, dass Gott sich bei Ihnen für ein kluges Hirn entschieden hat und ich Sie im Team habe. Sie sind nicht stundenlang mit sich selbst und Ihrem Aussehen beschäftigt, sondern lösen Fälle.«

Grace war sich nicht ganz sicher, ob diese Aussage genauso beleidigend gemeint war, wie sie bei ihr ankam, aber Welles machte nicht den Eindruck, als wolle er sie mit Gemeinheiten verletzen. Er lauschte schon wieder sehnsüchtig in den Kopfhörer, wo zwei Violinen in wunderschönen Melodien gegeneinander und miteinander antraten. Nichtsdestotrotz lief Grace knallrot an.

»Es gibt mit Sicherheit sehr viele hübsche Frauen, die auch etwas im Kopf haben. Captain Mabel Spring zum Beispiel«, erwiderte sie.

Welles winkte ab. »Sie ist eine Ausnahme und vermutlich trotzdem völlig überbewertet. Aber weswegen wollten Sie eigentlich mit mir sprechen?«

»Ich müsste für zwei Stunden außer Haus fahren und etwas Persönliches erledigen.«

Welles zog für einen Moment die Augenbrauen zusammen, doch dann nickte er. »In Ordnung. Solange ich trotzdem heute Abend den Bericht auf meinem Tisch habe.«

»Das werden Sie mit Sicherheit, Sir.«

Welles winkte sie nach draußen und setzte die Kopfhörer wieder auf, um mit Bachs Geigenmusik weiterzuarbeiten, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Grace eilte zum Fahrstuhl und fuhr in die Garage, wo sie ihren alten Ford startete und mit einem lauten Knattern und stinkenden Abgasen nach draußen fuhr.

 

DAS ST. GREGOR VETERANEN HOSPITAL lag in einem kleinen Wäldchen bei Fort Sam Houston hinter Weidenbäumen versteckt. Es besaß drei Stockwerke und einen großen, grünen Garten mit Palmen und einem kleinen Teich, in dem Frösche quakten und den hin und wieder auch Schlangen besuchten. Im Erdgeschoss des Gebäudes befanden sich zudem eine Cafeteria mit einer großen Terrasse und ein Fitnessraum; zwei Einrichtungen, die nicht nur den Bewohnern des Hospitals dienten. Das ganze Gebäude war für die kranken und versehrten ehemaligen Angehörigen der texanischen Armee und Polizei gedacht und bis auf das letzte Bett belegt. Viele der Patienten litten an psychischen Erkrankungen wie Posttraumatischem Stress oder schwerem Burnout. Andere wiederum hatten Glieder oder Organe in Folge ihres Dienstes für Texas und die USA verloren. Weitere siechten hier dahin, weil sie sonst niemanden hatten, der sich um die kümmern konnte. Die meisten erhielten vom Staat finanzielle Hilfe, um im St. Gregor Veteranen Hospital Hilfe und Obdach in ihrer Krankheit finden zu können. Manche jedoch mussten ihren Aufenthalt aus eigener Tasche bezahlen.

»Hi Dad«, sagte Grace, während sie an das Bett eines Mannes trat, der wie ein Sterbender bleich und reglos in seinem Kissen lag. Nur die Brust hob und senkte sich langsam bei jedem Atemzug. Er zeigte keinerlei Anzeichen, dass er die Stimme seiner Tochter vernahm.

»Was machst du nur für Sachen? Was war das denn für ein Anfall?«, fragte Grace.

Es erfolgte keine Antwort. Der Kranke blinzelte nicht einmal mit den Augenlidern.

Grace holte einen Stuhl, der in dem spartanisch eingerichteten Zimmer neben einem einfachen Tisch stand, und rückte ihn ans Bett. Dann setzte sie sich und streichelte die Hand des Mannes, der eigentlich erst neunundvierzig Jahre alt war, aber aussah wie ein Hundertjähriger. Die Wangen waren eingefallen, die Haut fahl und dünn. Sein Kopf war rasiert, auf der linken Seite seines Schädels klebte ein Pflaster.

»Du darfst noch nicht gehen«, flüsterte sie. »Ich brauche dich doch.«

Er rührte sich nicht.

»Ich habe heute einen interessanten Fall gelöst, ohne Spurensicherung und DNA. Allein durch kluges Nachdenken. Du wärst bestimmt stolz auf mich gewesen.« Sie begann, ihm die Geschichte von Anna Winter und ihrem diebischen Bruder zu erzählen, wobei sie permanent seine Hand streichelte.

Etwa fünfzehn Minuten saß sie bei dem Kranken und sprach leise mit ihm, ohne dass sie eine Antwort erhielt, bis sie seine Hand zurück auf die Decke legte und das Zimmer verließ. »Ich bin gleich wieder da, Dad«, sagte sie an der Tür. Dann wandte sie sich zum Eingang, wo sich gegenüber der Tür eine Art Empfangsraum befand. Es war ein halbes Zimmer, das durch einen Tresen vom Rest der Welt getrennt war. Auf einem Stuhl saß ein junger Mann mit langen, schwarzen Rastalocken und Haut wie Milchschokolade.

»Hi Stephen«, sagte Grace und trat zu ihm an den Tresen.

»Hi Grace. Hat er dich erkannt?«

Grace schüttelte den Kopf. »Er hat mich nicht einmal gehört.«

»Wir haben ihm viel Beruhigungsmittel gegeben, damit er zur Ruhe kommt. Vielleicht morgen, wenn er aufwacht.« Stephen versuchte ein tröstliches Lächeln.

»Was sagt das CT?«, fragte sie.

»Die Stelle im Hirn, wo die Kugel saß, hat tatsächlich wieder geblutet. Sie können sie einfach nicht stillen. Sie hat zu viel Schaden angerichtet. Es tut mir leid.«

»Er ist tapfer, er wird es schaffen«, sagte Grace.

»Vielleicht«, erwiderte Stephen. »Ohne eine weitere Operation wird es jedoch sehr schwierig. Und die OP ist so gut wie unmöglich.«

»Warum kann man ihn nicht operieren?«

»Dafür müsste ein Spezialist aus Washington kommen, das kannst du nicht bezahlen. Ich weiß doch, dass dein halbes Gehalt schon jetzt dafür draufgeht, dass er überhaupt hier sein kann.«

Grace verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Ich habe geerbt«, erwiderte sie trocken. »Mal sehen, vielleicht ist eine Operation drin.«

Stephen grinste. »Ich wusste gar nicht, dass du eine reiche Erbtante hast. Dann bist du ja vielleicht eine gute Partie.« Er zwinkerte ihr in gespieltem Interesse zu, doch Grace winkte ab.

»Ich weiß noch nicht einmal, wie viel es ist. Wenn es für eine OP reicht, bleibt für mich als gute Partie nicht mehr viel übrig.«

»Schade.« Er grinste frech. »Ich hatte mich schon an dich gewöhnt.«

»Ich hoffe ja, ich komme noch ein Weilchen zu Dad. Du wirst noch ein paar Mal in den fragwürdigen Genuss meiner Anwesenheit kommen.«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte er und wurde wieder ernst. »Soll ich ihm etwas ausrichten, wenn er aufwacht?«

»Ja, sag ihm, ich komme vielleicht morgen wieder, vermutlich aber erst am Wochenende. Am Freitag bin ich in San Francisco, um die Sache mit der Erbschaft zu klären. Aber danach bin ich auf jeden Fall wieder hier.«

»Ich bin leider schon vergeben, aber ich werde die Nachricht, dass du ab Freitag eine gute Partie bist, an mögliche Interessenten weiterreichen«, grinste er.

Grace seufzte. »Warum sind die netten Männer immer schon vergeben?«

»Weil es zu viele hübsche Frauen gibt«, erwiderte Stephen.

Nur ich gehöre nicht dazu, dachte Grace, sagte es aber nicht laut. Obwohl sie fürchtete, dass Stephen genau das durch den Kopf ging. Sie sah zu ihm, doch er hatte offenbar schon das Interesse an dem Gespräch verloren, denn er blickte in den Computer, der auf dem Tresen stand.

»Dein Vater bräuchte auch dringend mehr Physiotherapie, um die Muskelatrophie aufzuhalten«, sagte er jedoch plötzlich. »Falls das in der Erbschaft noch drin ist.«

»Das weiß ich noch nicht. Ich erfahre alles erst am Freitag.«

»Dann hoffen wir mal, dass die Tante, wer auch immer sie ist, einen Bausparvertrag oder eine Lebensversicherung hatte, die sich lohnt. Wenn dein Vater noch etwas mehr Betreuung und Hilfe bekäme, könnte man vielleicht noch etwas machen. Viel Glück.«

»Danke, Stephen.«

Grace ging noch einmal zu ihrem Vater, der unverändert reglos in seinem Bett lag, bevor sie das St. Gregor Veteranen Hospital wieder verließ und zurück nach San Antonio fuhr.

 

GRACE KAM ERST AM SPÄTEN NACHMITTAG wieder in dem Polizeigebäude in der Santa Rosa Avenue an. Die meisten Kollegen waren schon nach Hause zu ihren Familien gefahren oder tranken in einer Bar einen Absacker.

Als Grace den Fahrstuhl verließ, lief sie nicht sofort in ihr Büro, sondern machte wie so oft einen Abstecher in Tims Zimmer. Doch der Raum war leer.

Enttäuscht wandte sie sich ab und prallte dabei fast mit der Hauptkommissarin aus Austin zusammen, Captain Mabel Spring.

»Hoppla, suchen Sie jemanden?«, fragte die attraktive blonde Frau, die in der Hand eine Tasse Kaffee hielt. »Die Kollegen sind gerade weggefahren.«

»Es ist nicht so wichtig«, sagte sie und wandte sich ab, doch Mabel hielt sie fest.

»Sie arbeiten für das Einbruchsdezernat, hatten Sie gesagt?«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Grace. »Einbrüche und Diebstähle.«

»Ich war zufällig vorhin in Ihrem Büro, weil ich einen Ihrer Kollegen sprechen wollte, da fiel mir der Bericht in Ihrem Computer auf. Sie haben den heutigen Fall geschickt gelöst.«

»Danke«, antwortete Grace und spürte, wie sie errötete. »Er war nicht sehr schwer.«

»Er war aber auch nicht ganz einfach. Sie sollten nicht so bescheiden sein.«

»Okay, ich war ganz gut«, gab Grace mit hochrotem Kopf zu.

Mabel lächelte. »Darf ich Sie um Ihre Expertise in einem völlig anderen Fall bitten?«

»Sie wollen ... mich um Rat fragen?«, fragte Grace erstaunt.

»Ja. Wenn Sie Zeit haben.«

»Gerne, aber nicht heute. Ich muss den Bericht noch zu Ende schreiben und bin danach mehr oder weniger verabredet.«

»Nein, heute nicht mehr«, erwiderte die Hauptkommissarin lächelnd. »Morgen früh direkt zu Dienstbeginn. Wäre Ihnen das Recht?«

Grace nickte. »Okay, das können wir machen.«

»Dann viel Spaß noch mit Ihrer Verabredung.«

»Danke. Ihnen ebenfalls einen schönen Abend.«

Mabel wandte sich ab und ging zum Büro von Captain Welles, wo sie ohne anzuklopfen eintrat.

Grace hingegen lief in ihr Büro und setzte sich an den Computer, wo sie den Bericht in Windeseile beendete und dann an ihren Chef schickte.

Dann stand sie auf und fuhr in den Feierabend.

 

LILLY REAGAN ERKANNTE MAN sofort an ihren feuerroten Haaren. Die Farbe, die sie regelmäßig benutzte, um ihr von Natur aus braunes Haar optisch aufzupeppen, hieß Purple Magnolia und ließ ihren Schopf leuchten wie eine exotische Blume. Ihr Teint wirkte dadurch etwas fahl und manchmal sogar leicht grünlich, aber das nahm sie billigend in Kauf. Ihr war es wichtig, aufzufallen, um von ihrem, wie sie meinte, gewöhnlichen Aussehen abzulenken. Sie verglich sich selbst mit einem Straßenköter, der von allem etwas besaß, aber nichts Besonderes war. Sie hatte grau-grün-blaue Augen mit einem Schuss Braun darin; eine Nase, nicht zu groß, aber auch nicht schmal; feine Lippen mit leicht nach unten hängenden Mundwinkeln und so gut wie nicht vorhandene Wangenknochen über gesunden Bäckchen.

Lilly saß in einer Bar am Ende der Jester Street in San Antonio an einem kleinen Vierertisch und wartete ungeduldig auf das Eintreffen von Grace. Neben ihr saß Isabella Olafson, genannt Bella. Bella war eine ganz andere Hausnummer als Lilly. Bella tat alles, um weniger aufzufallen. Sie band ihr langes Haar zu einem Knoten, um es vor möglichen bewundernden Blicken zu verstecken. Sie umrandete ihre Augen mit schwarzem Kajal, weil sie das Gefühl hatte, auf diese Weise eine Art Schutzbrille zu tragen und weniger nackt zu wirken. Ihren Körper verhüllte sie mit weiten, meist grauen T-Shirts, dazu steckte sie ihre Beine in hauchenge Leggings, so dass sie gelegentlich aussah wie eine Mülltonne auf Stelzen. Sie besaß sehr dünne Beine.

Beide Frauen saßen schweigend am Tisch. Lilly klopfte mit den Fingern den Rhythmus der Musik mit, die in der Bar gespielt wurde. Bella spielte mit dem Salzstreuer. Zehn Minuten nach sieben erschien Grace endlich.

»Da bist du ja endlich!«, rief Lilly. »Wir warten schon. Ich muss dir was erzählen!« Sie wäre am liebsten aufgesprungen und hielt sich nur mühevoll auf ihrem Platz.

»Hi Mädels«, begrüßte Grace die Freundinnen und ließ sich seufzend auf dem Stuhl gegenüber von Lilly nieder. »Was für ein Tag! Ich--«

»Oh, meiner erst!«, unterbrach sie Lilly ungeduldig. »Du wirst nicht glauben, was passiert ist!«

Grace hatte eine dumpfe Ahnung, was geschehen sein könnte. Wenn Lilly so aufgeregt war, hatte es in den meisten Fällen etwas mit Doug zu tun. Vermutlich hatte er sich gemeldet und wollte sie wiedersehen. »Was ist denn passiert?«, fragte sie vorsichtig.

»Doug hat angerufen«, jubelte Lilly. »Er will sich morgen mit mir treffen.«

Bingo.

»Will er endlich seine Frau verlassen?«, fragte Grace trocken.

»Nein, nicht. Aber vielleicht will er mit mir darüber reden.« Lilly klang so hoffnungsvoll, dass es Grace fast leid tat, sie enttäuschen zu müssen.

»Er wird sie nicht verlassen. Er wird mit dir auch nicht darüber sprechen. Er will mit dir schlafen, mehr nicht. Vielleicht hat seine Frau ihre Tage oder Migräne, oder das Kind nervt. Es wird wie jedes Mal sein.«

»Du bist bloß neidisch«, erwiderte Lilly bockig. »Dich will keiner sehen, geschweige denn Sex haben. Oder hat sich was mit Tim getan?«

»Wir haben uns heute kurz unterhalten«, entgegnete Grace getroffen. Ihr war klar, dass man ihren Monolog vor Tims Schreibtisch nicht wirklich als Unterhaltung bezeichnen konnte, aber das wollte sie in diesem Moment nicht zugeben. »Er ermittelt im Fall des Lippenstift-Mörders.«

»Der Lippenstift-Mörder?« Der Killer interessierte offenbar auch Bella, weil sie sich nun auch in das Gespräch einmischte. »Er hat letzte Nacht wieder zugeschlagen.«

»Ja, mein Chef hat extra eine Spezialistin aus Austin kommen lassen. Captain Mabel Spring. Sie will mich morgen sprechen, wer weiß, worüber.«

»Wirst du auch in dem Fall ermitteln?«, fragte Bella neugierig.

»Nein, natürlich nicht. Aber sie sagt, sie braucht meine Expertise.«

»Deine Expertise! Wow«, staunte Bella. Sie hatte keine Ahnung, was das Wort Expertise bedeutete. In ihren Ohren klang es wie etwas Kostbares und unfassbar Kluges. Bella hatte nach der neunten Klasse die Schule verlassen müssen, weil sie nicht mehr mitkam. Sie war nicht geistig zurückgeblieben, sondern von ihrem Zuhause überfordert gewesen. Ihr Vater war Alkoholiker und hatte sie und ihre Mutter oft geschlagen. Sie besaß noch vier kleinere Geschwister, um die sie sich damals kümmern musste, so dass die Schule viel zu kurz kam. Sie war schon in den ersten Schuljahren zweimal sitzengeblieben und hatte jedes Jahr ein katastrophales Zeugnis nach Hause gebracht. Als Bellas Mutter starb – an einer Überdosis Tabletten, jedoch kein Selbstmord – musste Bella den Haushalt ganz allein managen. Sie war damals fünfzehn Jahre alt gewesen. Für Schulaufgaben und Lernen blieb da keine Zeit. Grace hatte ihr anfänglich noch die Hausaufgaben erledigt, aber als Grace nach dem Unfall ihres Vaters nach Kentucky musste, blieb Bella allein mit ihren Problemen zurück und verließ die Schule. Mit achtzehn begann Bella einen Job als Kellnerin in einem Diner am Highway, flog aber bald raus, weil sie sich mehrere Male heftig mit dem Wechselgeld verrechnet hatte. Danach jobbte sie als Putzfrau in einem Supermarkt, entwickelte jedoch eine Allergie gegen die Putzmittel. Danach versuchte sie es wieder als Kellnerin und nahm nebenbei Nachhilfe in Rechnen. Dieses Mal konnte sie den Job halten. Ihre Geschwister waren inzwischen auch volljährig. Eine Schwester arbeitete als Kassiererin im Kino, die zwei Brüder waren bei der Army, und die Jüngste, Angelica, hatte einen Job als Kindermädchen bei einer wohlhabenden Familie gefunden.

»Er hat ihr dieses Mal die Lippen aufgespritzt und die Brustwarzen gerichtet«, berichtete Lilly. »Das habe ich in der Zeitung gelesen.«

»Der Kerl ist völlig wahnsinnig.« Bella schüttelte den Kopf. »Er soll ihr auch Botox gespritzt haben. Warum bringt er sie denn um, wenn er sie vorher hübsch macht?«

»Es ist seine Handschrift«, erklärte Grace und winkte der Kellnerin, um sich ein Bier zu bestellen. »Außerdem nimmt er die meisten Operationen postmortal durch, also wenn sie schon tot sind.«

»Das ist ja noch bekloppter. Das kann er sich sparen. Das interessiert doch hinterher keinen, wie sie aussieht.«

»Ihn schon«, widersprach Grace.

»Er sollte lieber uns das Botox geben«, sagte Lilly. »Ich habe heute Morgen schon wieder eine Falte entdeckt.« Sie deutete auf die zarte Haut an ihren Augen. Dort war keine Falte zu sehen. Lilly war, wie Grace, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, ihre Haut war jung und elastisch.

»Er benutzt es, um die Frauen zu paralysieren«, erklärte Grace. Sie musste aufpassen, dass sie keine Geheimnisse aus den Ermittlungen ausplauderte, aber das mit dem Botox war allgemein bekannt. Und da sie nicht zu dem ermittelnden Team gehörte, erhielt sie ihr Wissen über den Mörder meistens ebenfalls nur aus der Presse, oder sie schnappte hier und da mal etwas Unbedeutendes auf.

»Botox ist ein Höllenzeug«, konstatierte Bella. »Ich würde es niemals nehmen.«

»Ich schon! Fast jede Frau nimmt es«, widersprach Lilly. Das war übertrieben, aber das Nervengift gewann im Laufe der Jahre tatsächlich immer mehr Fans, vor allem bei Frauen. Botulinumtoxin, wie es eigentlich hieß, war ein Stoffwechselprodukt verschiedener Bakterienstämme. Die Giftwirkung beruhte darin, dass die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen gehemmt wurde; das hieß, wenn das Gehirn den Befehl »Arm heben« gab, kam diese Anweisung nicht mehr beim Arm an. In bestimmte Bereiche des Gesichtes gespritzt, verhinderte Botox unerwünschte Mimik, die für Falten verantwortlich war. Die Lähmung der Nerven konnte neben Muskelschwäche aber auch zu Störungen des kompletten Nervensystems führen und sogar Lungenstillstand hervorrufen. Botulinumtoxin war eines der stärksten bekannten Gifte. »Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich es mir sofort hier in die Stirn und an die Augen spritzen lassen, damit die Falten verschwinden.«

»Du hast keine Falten«, widersprach Grace.

Lilly winkte ab. »Du siehst mich nicht, wie ich mich sehe. Und wenn ich will, dass Doug seine Frau doch noch verlässt, muss ich gut aussehen. Vielleicht macht er es dann eines Tages.«

Grace verdrehte die Augen. »Das sagst du schon seit zwei Jahren. Seit dieser Zeit kommt er in unregelmäßigen Abständen für ein paar Stunden, hat Sex mit dir und verschwindet wieder für mehrere Wochen. Das klingt mir nicht nach einem Mann, der solche Sehnsucht nach dir hat, dass er seine Frau verlässt.«

Lillys Augen funkelten gefährlich. Wenn sie etwas auf den Tod nicht leiden konnte, waren es nüchterne Analysen ihres Liebeslebens. Im Prinzip wusste sie genau, dass Doug niemals ernsthaft mit ihr zusammenkommen würde, aber sie zog es vor, die Fantasie daran aufrecht zu erhalten. Sie hatte Doug in einem Lehrgang für Business-Englisch kennengelernt. Er hatte den Kurs geleitet und schon am ersten Tag heftig mit Lilly geflirtet. Das behauptete sie jedenfalls. Grace vermutete, dass es sich vermutlich so zugetragen hatte, dass Lilly ihn skrupellos angeflirtet hatte, bis sein Widerstand gebrochen war. Fakt war, dass die beiden am Ende des Kurses zusammen in ein Thermalbad gingen und er kurz darauf das erste Mal in Lillys Zimmer auftauchte. Seitdem kam er hin und wieder, wenn er Lust auf Sex mit Lilly hatte, blieb ein paar Stunden in ihrem Zimmer und verschwand dann wieder, um nach Hause zu seiner Frau und der zweijährigen Tochter zu gehen. Lilly war nach jedem seiner Besuche völlig aus dem Häuschen, weil sie sich einbildete, dass er sie liebte. Da half auch kein gutes Zureden von ihren Freundinnen oder vernünftiges Argumentieren. Sie war high von Hormonen, von Dougs Gesäusel und einer irren Hoffnung, dass er irgendwann für immer bleiben würde.

»Aber glücklich kann er mit ihr auch nicht sein, sonst würde er nicht zu mir kommen.« Sie presste die Worte gereizt zwischen ihren Zähnen hervor.

»Er verspürt ein Jucken, mehr nicht«, erwiderte Grace müde. Sie hatte dieses Gespräch schon unzählige Male geführt und war es langsam leid. »Lass ihn doch mal abblitzen. Mal sehen, was passiert.«

»Bist du verrückt?«, kreischte Lilly. »Dann kommt er vielleicht nicht mehr.«

»Daran erkennst du, ob er dich liebt. Wenn du ihm etwas bedeutest, bleibt er dran.«

»Du bist nur neidisch«, konterte Lilly erneut schnippisch.

Grace schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Aber mach doch, was du willst.«

Grace nahm einen Schluck von ihrem Bier, das ihr die Kellnerin serviert hatte, gleich aus der Flasche. Es rann kühl und erfrischend ihre Kehle hinunter. Sie überlegte, ob sie von ihrer Erbschaft erzählen sollte, um das Gespräch auf etwas anderes als Doug zu lenken.

Doch Lilly war noch nicht fertig. »Er hat gesagt, er denkt immerzu an mich.«

»Natürlich sagt er das«, entgegnete Grace nüchtern. »Soll er sagen, dass du ihm egal bist? Das würde er niemals zugeben, weil er dich bei der Stange halten will.«

»Also bedeute ich ihm doch etwas!«, erwiderte Lilly triumphierend.

Grace verzog mitleidig den Mund. »Ach Lilly! Ich hoffe, du merkst es rechtzeitig, bevor er dir das Herz bricht. Ich habe übrigens heute einen Brief von einem Anwalt bekommen«, fügte sie schnell hinzu, um dieses Thema endlich beenden zu können.

»Oh, Briefe von Anwälten bedeuten nie etwas Gutes«, seufzte Bella. »Als ich den ersten bekommen habe, war es die Klage meines Arbeitgebers wegen des fehlenden Geldes. Der zweite ging um das Sorgerecht für Angelica. Aber zum Glück kam schon lange keiner mehr.« Sie atmete hörbar auf.

»Ich habe mal einen nach einem Unfall bekommen«, erzählte Lilly. »Dabei hatte ich mit dem Auto nur eine Laterne gekratzt. Irgend so ein alter Sack hat mich angezeigt. Das hat mich viertausend Dollar Strafe gekostet.«

»Ich habe geerbt«, erklärte Grace.

»Echt?«, fragte Bella mit großen Augen. »Wie viel?«

»Ich weiß es nicht. Das erfahre ich am Freitag bei dem Termin mit dem Anwalt.«

»Pass auf, dass er dich nicht über den Tisch ziehen will«, warnte Lilly. »Am Ende zahlst du mehr für seine Dienste, als du bekommst. Anwälte sind Schweine.«

»Ich weiß noch gar nicht, ob ich das Erbe überhaupt annehmen werde. Ich werde mir anhören, was er zu sagen hat, und erst danach entscheiden.«

»Das klingt vernünftig«, meinte Bella. »Nicht, dass sie dir irgendetwas aufschwatzen wollen. Pass auf dich auf.«

»Das mache ich«, erwiderte Grace und trank ihre Bierflasche aus. Dann plauderte sie noch ein wenig mit ihren Freundinnen über die Ereignisse des Tages (Doug ausgenommen), bis die drei zusammen nach Hause fuhren und jede in ihr Zimmer verschwand und zu Bett ging.

Grace legte sich jedoch noch nicht sofort hin, sondern klappte ihren Computer auf, um für den Freitagvormittag einen Flug nach San Francisco zu buchen.

EXPERTISE



CAPTAIN MABEL SPRING erwachte exakt fünf Minuten vor sechs. Jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit, selbst sonntags. Sie stand auf und zog sich Sportsachen an. Dann trat sie vor das Hotel und begann zu joggen. Der Tag erwachte langsam in San Antonio. Der Berufsverkehr begann auf den Highways und Avenues zu rollen. Lkw brachten frische Waren in die Supermärkte, Busse kutschierten Arbeiter in die Werke in den Industriezentren und in die Farmen am Stadtrand. Hinter Dunstschleiern versteckt kletterte die Sonne über dem Häusermeer nach oben und funkelte und glitzerte im Chrom und Glas der Stadt.

Als Mabel mit ihrer Runde fertig war, tropfte ihr der Schweiß vom Gesicht. Punkt sechs Uhr fünfundvierzig ging sie unter die Dusche, sieben Uhr saß sie angezogen im Speisesaal des Hotels und trank einen Kaffee.

Zehn Minuten später verließ sie ihr Hotelzimmer und ging zum Fahrstuhl. Als sich die Tür des Lifts öffnete und Mabel eintreten wollte, runzelte sie die Stirn. Drinnen stand ein Mann in ihrem Alter. Er hatte dunkles Haar mit grauen Schläfen, trug einen eleganten Anzug und eine Krawatte.

»Guten Morgen«, sagte er und lächelte Mabel an, so dass sich feine Lachfältchen um seine grauen Augen kräuselten.

»Guten Morgen«, erwiderte Mabel und verspürte plötzlich ein seltsames Gefühl im Bauch. Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr verspürt. Es war fast so etwas wie Schüchternheit, die sie in der Anwesenheit des attraktiven Fremden plötzlich fühlte.

»Sie haben auch beruflich in der Stadt zu tun?«, fragte der Mann höflich interessiert, während der Fahrstuhl nach unten glitt.

»Ja, ich komme leider nicht darum herum.«

»Ich auch nicht«, seufzte er. »San Antonio ist nicht gerade der Nabel der Welt, aber was sein muss, muss sein.«

»New York wäre mir lieber, aber das kann man sich leider nicht immer aussuchen«, erwiderte Mabel lächelnd und betrachtete ihr Gegenüber genauer. Der Mann sah klug und gebildet aus mit einem Gesicht, das von Erfahrung und Güte sprach. Er war nicht nur sehr attraktiv, sondern trug auch keinen Ehering am Finger.

»Ich komme aus New York«, sagte er. »Ich bin Architekt. Mein Name ist Thomas Stanwell.« Er reichte Mabel die Hand.

»Ich bin Mabel Spring.«

Seine Hand war warm und fest, und Mabel hatte das Gefühl, als würde sie bei der Berührung ein ganz feines Prickeln spüren.

»Ich liebe New York«, sagte Mabel und ließ ihre Hand einen Hauch länger als gewöhnlich in der seinen liegen. Sein Lächeln vertiefte sich, als er sie ansah.

»Es ist die großartigste Stadt der Welt.«

Mabel zog ihre Hand zwischen seinen warmen Fingern hervor. Sie hätte gern noch länger mit ihm über New York – und auch andere Dinge – gesprochen, doch leider war der Fahrstuhl nun in der Tiefgarage angekommen, wo sich ihre Wege trennten.

»Wir sehen uns hoffentlich morgen wieder«, sagte Thomas Stanwell, der Architekt, bevor er sich mit einem erwartungsvollen Lächeln von Mabel abwandte.

»Ich nehme immer denselben Lift«, erwiderte Mabel schmunzelnd und steuerte ihren Audi an.

Er nickte. »Ich auch.« Dann lief er zur gegenüberliegenden Wand, wo mehrere große Wagen standen. Mabel schloss den Audi auf und setzte sich hinein, wobei das Lächeln nicht von ihren Lippen wich.

Dann fuhr sie los. Sie hielt nach dem Auto von Thomas Stanwell Ausschau, konnte ihn oder sein Fahrzeug jedoch nicht entdecken.

 

ALS GRACE IN DAS BÜRO von Captain Welles trat, um mit der Hauptkommissarin aus Austin zu sprechen, sah Mabel Spring aus wie ein frischer Frühlingstag. Sie blickte freundlich zu Grace und hatte sogar ein aufgewecktes Glitzern in den blauen Augen.

»Schön, dass Sie kommen, Grace«, sagte sie. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fotos zeigen, damit Sie mir sagen können, was Sie davon halten.«

Grace nickte und wartete geduldig darauf, was ihr die Frau präsentieren wollte. Als erstes landete das Foto eines Schlafzimmers auf dem Schreibtisch vor Grace. Auf dem Bett lag eine Frauenleiche mit einem grotesk entstellten Gesicht. Die Lippen der nackten Toten waren geschwollen und knallrot geschminkt. Die Augen hatte jemand dunkelblau umrandet, die Wangen rot geschminkt. An ihren Brüsten rund um die Brustwarzen leuchteten blutige Narben. Auch ihre Ohrläppchen waren blutig.

»Ist das die Frau, die gestern gefunden wurde?«, fragte Grace heiser.

»Ja, das ist sie. Wir wissen nicht, wie sie heißt oder wie alt sie ist.«

»Ist das das Apartment?«

»Ja, das ist es. Aber um das Opfer geht es eigentlich gar nicht. Es geht darum.«

Wieder landete ein Foto auf dem Schreibtisch. Es handelte sich um eine einfach eingerichtete Wohnung, das Wohnzimmer. Dann folgte ein Bild der Eingangstür, eine Nahaufnahme des Schlosses. Es gab feine Kratzer um das Schloss.

»Es ist eingebrochen worden«, stellte Grace fest.

»Genau. Können Sie uns mehr dazu sagen?«

Grace zuckte mit den Schultern. »Auf dem Foto ist nicht viel zu sehen. Es könnte sein, dass die Kratzer älter sind. Es wäre besser, wenn ich den Tatort sehen würde.«

»Die Kratzer sind tatsächlich älter, vermutlich vor einem Monat geschehen. Der Bewohner des Apartments hat damals einen Einbruch gemeldet. Derzeit ist er in Europa. Er hat ein hieb- und stichfestes Alibi.«

»Die Frau wohnt gar nicht in dem Apartment?«, fragte Grace überrascht.

»Nein. Sie wurde vermutlich in die Wohnung gelockt und dort getötet.«

»Und die Zweit- und Drittschlüssel des Besitzers? Hat die jemand?«

»Der Besitzer, ein gewisser Philipp Hausmann, ist Deutscher und reist immer zwischen den Kontinenten hin und her. Er meint, er hätte nur zwei Schlüssel. Den einen bei sich, den anderen in Aachen, wo er sich derzeit aufhält. Er hat mir beide per Skype gezeigt.«

»Wer vermietet die Wohnung? Gibt es einen Eigentümer?«

»Das Apartment gehört einer Wohnungsbaugesellschaft aus Houston. Die haben immer Ersatzschlüssel, aber die liegen in einem Safe in Houston. Sie sehen gerade nach, ob er noch vorhanden ist.«

»Ich müsste mir trotzdem das Apartment anschauen, um mir ein Urteil bilden zu können«, sagte Grace.

»Dann fahren wir hin«, entschied Mabel.

Captain Welles nickte.

 

EIN GELBES BAND war vor die Tür der Wohnung in der Orchid Street geklebt, auf dem in dicken Buchstaben »Crime Scene« stand. Ein Officer stand daneben und bewachte die Tür.

Als Grace eintrat, zog sie die Nase kraus. Es roch nicht gut darin.

Mabel schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Die Frau war bereits einen Tag tot, bevor sie gefunden wurde. Und es war ein Glück, dass die Putzfrau überhaupt gekommen ist. Sie wollte eigentlich erst am Wochenende auftauchen und die Blumen gießen.«

»Der Mörder muss gewusst haben, dass die Wohnung leer steht.«

»Das vermuten wir auch.«

Bei dem Wörtchen »wir« zuckte Grace leicht zusammen. Damit meinte Mabel wohl auch Tim. Bedeutete die Anfrage von Mabel und Grace‘ Aufenthalt am Tatort, dass Grace nun ebenfalls bei der Ermittlung beteiligt war? Sie und Tim in einem Team? Das wäre mal was anderes, dann hätten sie mehr miteinander zu tun und Gespräche würden sich wie von alleine ergeben. Das wäre großartig!

Sie versuchte, den erregenden Gedanken an Tim loszuwerden und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie betrachtete die Kratzer an der Eingangstür. Sie waren wirklich schon älter.

»Wurde der Einbrecher damals gefasst?«

»Nein.«

»Was wurde entwendet?«

»Es gab nichts Wertvolles in der Wohnung. Der Computer befand sich beim Bewohner, der sich zu der Zeit in Deutschland aufhielt. Nur die Autoschlüssel und etwas Bargeld aus einer Schublade fehlten, und das Auto wurde aus der Garage entwendet. Das Fahrzeug wurde wenig später ausgeschlachtet in Mexiko wiedergefunden.«

»Wer hat den Fall bearbeitet?«

»Ihr Kollege Clarence Brown. Er hat ihn nach zwei Wochen zu den bearbeiteten Fällen gelegt und abgehakt, da nichts Wichtiges fehlte und das Auto schließlich aufgetaucht war.«

»Was hat die Spurensicherung gesagt?«

»Es gab nur die Abdrücke vom Bewohner im Apartment, außerdem die der Putzfrau und noch zwei, drei fremde, die in keiner Datenbank registriert sind.«

»Sie könnten von Freunden stammen.«

»Ja, wir stecken also in einer Sackgasse.«

Grace beugte sich zu den Kratzern. Sie waren dünn, schwach und nach unten gezogen. Als hätte jemand mit einem flachen, glatten Gegenstand hantiert.

»Sieht aus, als wäre es eine Kreditkarte gewesen«, vermutete Grace.

»Das meinte die Spurensicherung auch.«

Grace richtete sich auf. »Ich weiß nicht, was Sie sich von mir erhoffen, anscheinend haben Sie schon alles Bekannte in Erwägung gezogen.«

»Sie sind hier, weil ich hoffe, dass Sie auch an das Unbekannte denken. Ich habe gesehen, dass Sie solche Puzzles durch gesunden Menschenverstand schneller lösen können als wir mit Technik und anderem Firlefanz. Bitte gehen Sie an die Sache heran, wie Sie es immer tun. Lassen Sie sich von mir nicht beeindrucken.«

Grace legte den Kopf schief. Dann nickte sie. Sie sah sich die Wohnung an und ging zum Fenster. Sie befanden sich im sechsten Stock. Niemand konnte hier hochklettern. Der Blick über die Stadt war sehr hübsch, und es gab kein Gegenüber, das den Bewohner stören konnte.

»Es muss einen Grund geben, warum er sich ausgerechnet dieses Apartment ausgesucht hat«, meinte Grace. »Entweder, weil es praktisch liegt, oder weil er wusste, dass der Besitzer nicht da ist. In beiden Fällen muss er es vorher gesehen haben. So eine Wohnung wählt man nicht durch Zufall.« Sie sah fragend zu Mabel.

Die Hauptkommissarin nickte. »Fahren Sie fort.«

»Er könnte ein Freund des Bewohners sein. Oder er ist ein Einbrecher und am ersten Einbruch beteiligt gewesen. Er erfuhr daher, dass das Apartment die meiste Zeit leer steht. Das bedeutet, dass er das Haus beobachtet hat, wann es wieder soweit ist, so dass er freie Bahn hat. Vielleicht arbeitet er im Gebäude.«

»Die Hausmeister haben wir gecheckt. Einer ist einundsiebzig, der andere derzeit krankgemeldet. Wir überprüfen noch gründlich ihre Alibis, aber ich würde sagen, sie gehören nicht zu den typischen Verdächtigen. Auch die Freunde des Wohnungsbesitzers überprüfen wir gerade, aber bis jetzt ist keiner auch nur ansatzweise verdächtig, der Lippenstift-Mörder zu sein.«

»Hm.« Grace sah sich weiter um und ging in die Küche. Sie war sauber, aufgeräumt und ordentlich. Nichts deutete auf Eindringlinge hin.

Sie wollte gerade zu Mabel in den Flur zurückkehren, als das Handy der Hauptkommissarin klingelte. Die Frau lauschte angestrengt in den Hörer, nickte ein paarmal und stellte einsilbige Fragen wie »Wo?« und »Wer?«, dann legte sie auf.

»Wir wissen jetzt, wer das Opfer ist. Ihr Mann ist von einer Dienstreise zurückgekehrt und hat sie als vermisst gemeldet. Ihr Name ist Lydia Hamilton, sie ist achtundzwanzig Jahre alt, hat keine Kinder.«

»Wohnt sie hier in der Nähe?«

»Nein, am anderen Ende der Stadt.«

»Dann fällt die Theorie weg, dass er das Apartment wählte, weil es praktisch liegt.«

Mabel nickte. »Er wählte es, weil er wusste, dass er hier ungestört ist.«

»Wie war das bei den anderen Morden? Die Toten wurden doch in ihren eigenen Schlafzimmern gefunden, wenn ich das richtig mitbekommen habe.«

»Ja, das stimmt. Das ist das erste Opfer, das er in eine fremde Wohnung lockt.«

»Entweder entwickelt er sich weiter, oder er hatte zufällig diese Wohnung im Kopf. Oder das Opfer konnte nicht nach Hause fahren.«

»Es war verheiratet, die anderen nicht. Trotzdem gibt es noch zu viele ›oder‹«, erwiderte Mabel nachdenklich.

»Das finde ich auch. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Sie haben mir schon sehr geholfen, Grace. Vielen Dank.«

»Wenn Sie mich wieder brauchen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Ich habe zwar mit Morden sonst nicht so viel am Hut, aber ich bin gerne im Team.«

»Ich weiß, dass Sie schon einmal einen Mord aufgedeckt haben«, sagte Mabel lächelnd. »Ich habe Ihren Bericht gelesen. Das war eine großartige Leistung. Und ich fürchte, Sie sind gerne im Team, weil ein gewisser Timothy Clarkson ermittelt.«

Grace spürte, dass sie knallrot anlief. »Das ist ... äh ... nur so ... äh ... wir ... ich ... äh ... da ist nichts. Eigentlich. Gar nichts.«

»Ich weiß«, erwiderte Mabel. »Machen Sie sich nicht verrückt. Es gibt noch andere nette Männer da draußen, nettere als Tim.«

»Ich weiß nicht.«

»Glauben Sie mir«, lächelte Mabel. »Doch nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Fahren wir zurück ins Büro.«

Grace fühlte sich noch immer heiß und rot im Gesicht wie eine gekochte Hagebutte, als sie mit der Hauptkommissarin das Apartment verließ und nach einer kurzen Fahrt an ihren Schreibtisch zurückkehrte.

 

GRACE HATTE AN DIESEM TAG noch jede Menge Arbeit zu erledigen. Sie musste die Fingerabdrücke von Verdächtigen in einem aktuellen Einbruch überprüfen lassen und einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung eines weiteren mutmaßlichen Diebes beantragen. Sie schrieb einen Bericht über einen nicht abgeschlossenen Fall, der als ungelöst deklariert werden musste. Und sie fertigte eine Akte über eine mutmaßliche Diebesbande an, die bereits mehrere Mal in Erscheinung getreten war.

Dieses Mal saß sie jedoch nicht alleine in ihrem Büro, sondern alle drei anderen Detectives des Einbruchs- und Diebstahlsdezernats von San Antonio waren anwesend. Clarence Brown, ein älterer Mann mit dichtem Bart, der die Farbe von Salz und Pfeffer hatte, war an einer Autoschieberbande dran und telefonierte den halben Tag mit den mexikanischen Behörden, um gestohlene Luxuskarossen wiederzubeschaffen. Geraldine Adams war Mitte vierzig und dreifache Mutter. Sie hatte sich an einem Fall festgebissen, in dem es offenbar um Versicherungsbetrug ging. Ein Mann hatte eine antike Statue als gestohlen gemeldet. Doch die Spurensicherung fand Splitter davon in seinem Haus. Der Eigentümer verstrickte sich in Widersprüche. Geraldine vermutete, die Statue war durch ein Versehen zerstört worden und er versuchte, durch die Versicherung den Schaden ersetzen zu lassen. Leider war das Stück nicht auf Unfälle versichert, sondern lediglich auf Diebstahl und höhere Gewalt wie Erdbeben und Hurrikans. Also versuchte er, sie als gestohlen zu melden.

Gegenüber von Geraldine saß Oscar »Ole« Johnson. Er war Ende dreißig und ein echter Stinkstiefel. Grace mochte ihn gar nicht, vor allem, weil er Grace eine Weile hinter ihrem Rücken immer »Ugly Betty« genannt hatte, in Anlehnung an die Fernsehserie um eine hässliche Assistentin in einer Modefirma. Eines Tages, als er an der Kaffeemaschine in der Küche stand und den Kollegen gegenüber erneut einen dummen Kommentar auf ihre Kosten machte, hatte sie die Nase voll von seinen Sticheleien gehabt und ihm »aus Versehen« heißen Kaffee über die Hand gekippt. Danach erklärte sie ihm, ihre hässlichen Hände bekämen immer so ein hässliches Zittern, so dass sie nicht garantieren könnte, dass sie nicht noch mehr hässliche Dinge mit ihm anstellten, wenn es so weiterginge. Die Kollegen lachten, dieses Mal auf seine Kosten, so dass er seitdem nichts mehr über »Ugly Betty« sagte. Aber dass er Grace nicht mochte – und sie ihn ebenfalls nicht – war seitdem eine überall bekannte Tatsache.

 

Fünf Minuten vor Dienstschluss klopfte Grace an die Tür ihres Chefs. Dieses Mal reagierte er sofort auf ihr Klopfen.

»Ich kann morgen nicht zur Arbeit kommen, ich habe einen dringenden Termin mit einem Anwalt«, sagte sie.

»Ein Anwalt? Kein Staatsanwalt? Das ist neu. Welcher Fall?«, wollte Captain Welles wissen und sah von den Dokumenten auf, die er eindringlich studiert hatte.

»Kein Fall. Eine private Sache.«

Er runzelte die Stirn. »Den ganzen Tag?«

»Ja, der Anwalt sitzt in San Francisco.«

Nun zog Welles auch noch die Augenbrauen zusammen. »Wenn Sie mit der Ermittlung im Fall des Lippenstift-Mörders zu tun hätten, würde ich Ihnen nicht freigeben. Diese Sache hat oberste Priorität. Aber die Diebstähle eilen nicht. Und Sie haben Überstunden angesammelt, die können Sie meinetwegen morgen abbummeln.«

»Danke. Schönen Feierabend.«

»Ihnen auch.«

Er entließ sie mit einer Handbewegung, bevor er sich wieder seinen Dokumenten widmete. Es waren die Berichte der Spurensicherung und der Forensik zur toten Lydia Hamilton, die in dem fremden Apartment gefunden worden war. Sie war nicht vergewaltigt worden, sondern hatte freiwillig Sex mit ihrem Mörder gehabt. Leider gab es in ihrer Vagina keine DNA von ihm, weil er ein Kondom benutzt hatte. Von ihrem Gesicht hatte er alle Fingerabdrücke und fremden DNA-Reste entfernt, es gab auch keine Spuren von ihm an ihrem Körper. Die Operationen an den Brustwarzen hatte er dieses Mal vorgenommen, als das Opfer noch lebte. Allerdings war es betäubt gewesen. Das relativ rasch wirkende Nervengift Devolox in Kombination mit Botox hatte den Körper gelähmt. Allerdings wirkten die Nervengifte teilweise nur bei den Muskeln, weniger bei der Schmerzunterdrückung. Lydia Hamilton hatte vermutlich das meiste gespürt, was er an ihr vorgenommen hatte.

Die Schnitte seien mit Präzision durchgeführt worden, schrieben die Gerichtsmediziner, allerdings weit entfernt von chirurgischem Können. Es handelte sich also um keinen Arzt. Das Make-up, das der Mörder benutzt hatte, stammte aus einem Supermarkt und war gewöhnlich.

Captain Welles las eine Seite nach der anderen durch. Wieder keine Spuren, die ihn und die Ermittler der Verhaftung des Mörders näherbringen könnten. Als er am Ende des Berichts angekommen war, sah er auf die Uhr. Dann seufzte er und begann von vorn.

 

ALS GRACE ZU HAUSE ANKAM, roch es anders in ihrer Wohnung. Ungewohnt. Und bedrohlich nach Ärger. Es roch nach Doug.

»Ist er da?«, fragte sie, als sie in die Küche trat, wo Bella mit einer Tasse Kaffee saß und im Fernsehen die Wiederholung einer Casting-Show sah.

»Ja, seit einer Stunde. Lilly ist mit ihm sofort in ihr Zimmer gegangen.«

»Dann hat er es nötig«, merkte Grace trocken an. »Hat er was Geistreiches von sich gegeben?«

»Außer ›Hallo‹ und ›Ich habe wenig Zeit‹, nein.«

Grace schüttelte den Kopf. »Dass sie das mitmacht, verstehe ich nicht.«

»Sie ist froh, dass sie jemanden hat, der mit ihr wenigstens ab und zu mal ins Bett steigt. Besser als gar nichts.«

Grace schüttelte den Kopf. »Ich würde mich so entwürdigt fühlen.«

»Fühlt es sich anders an, wenn man mit fünfundzwanzig gar keinen Mann hat? Das ist für mich demütigend.«

Grace antwortete nicht. Sie hatte mit vierzehn einen Freund gehabt und sogar ein bisschen mit ihm gefummelt. Mit sechzehn hatte sie das erste Mal Sex, sogar mit einem der interessanteren Jungen der Klasse. Anton war sein Name gewesen. Sie war so stolz gewesen damals! Aber dann geschah das Unglück ihres Vaters und sie musste nach Kentucky. Als sie zurückkam, hatte Anton längst eine richtige Freundin und wollte in Dallas studieren. Sie hatte ihn später noch einmal wiedergesehen, da war Anton verlobt und glücklich gewesen und hatte Grace nur kurz zur Begrüßung auf die Wange geküsst. Mehr war in Grace‘ Leben in Sachen Liebe nicht passiert. Und Bella ging es ähnlich. Sie hatte schon seit Jahren keinen Mann mehr geliebt und inzwischen große Scheu davor entwickelt. Schon wenn ein Mann sie ansprach, lief sie rot an und würde am liebsten davonlaufen.

»Wir sind die absolute Loser-WG«, meinte Bella seufzend.

»Ich weiß. Vielleicht sollten wir Lillys Eskapade locker sehen. Immerhin bringt Doug ein paar männliche Hormone in unsere Bude, sonst würden wir ganz und gar vergessen, wie es ist.«

»Er riecht so nach Mann«, meinte Bella seufzend.

Grace nickte. »Das ist wahr. Lilly ist alt genug, um zu wissen, was sie tut. Ich gehe auch ins Bett. Allein.«

»Wenn sie zu laut werden, solltest du aber klopfen«, sagte Bella grinsend, bevor sie sich wieder der Casting-Show im Fernsehen widmete.

Grace grummelte etwas, was wie »ich werde mich hüten« klang, dann verschwand sie in ihr Zimmer. Sie holte den Brief des Anwalts aus dem Buch, in dem sie ihn aufbewahrt hatte, und steckte ihn in ihre Tasche. Dann packte sie alles ein, was sie in San Francisco bei einem Treffen mit einem Anwalt für Erbschaften gebrauchen könnte, unter anderem ihren Sozialversicherungsausweis und Taschentücher. Dann zog sie sich aus. Sie schnappte sich einen Liebesroman aus ihrem Regal und legte sich ins Bett.

Sie lauschte nach nebenan, wo Doug tatsächlich lautstark zu Gange war.

Warum müssen Männer immer so laut sein? Egal ob beim Niesen oder Schnauben oder in der Sauna. Oder beim Sex.

Sie las mehrere Seiten über einen attraktiven Ritter, der eine Grafentochter entführt hatte, um Lösegeld zu erpressen, sich aber schon auf Seite zwanzig hoffnungslos in sie verliebte, so dass er seine Tat bereute. Leider funkte der böse Stiefonkel der Grafentochter dazwischen, der das hübsche Mädchen loswerden wollte und alles daran setzte, die Attentate auf die Grafentochter dem Ritter in die Schuhe zu schieben. Schließlich mussten sie gemeinsam gegen den korrupten Verwandten vorgehen und endeten zuerst im Bett und dann natürlich vor dem Traualtar.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752136319
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Schönheitsoperationen Erbe Detektiv Serienkiller Texas Geld Krimi Schönheit Polizei Romantic Thriller Kinderbuch Jugendbuch Liebesroman Liebe

Autor

  • Johanna Marthens (Autor:in)

Johanna Marthens entdeckte schon früh ihre Liebe zum Schreiben. Sie arbeitete zunächst als Ghostwriterin und Journalistin, bevor sie 2013 hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Krimis, Romantic Thriller und Erotik und kann inzwischen auf eine stattliche Anzahl von Veröffentlichungen zurückblicken. Zu ihren größten Erfolgen zählen mehrere Nr.1-Bestseller der Amazon-Kindle-Charts sowie BILD-Bestseller.
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Titel: Vanity - Der Preis der Schönheit