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Darkness - Die verlorenen Kinder

Grace Boticelli ermittelt 2

von Johanna Marthens (Autor:in)
250 Seiten
Reihe: Grace Boticelli ermittelt, Band 2

Zusammenfassung

Alyssa Nuori saß fünfzehn Jahre unschuldig im Gefängnis. Als sie entlassen wird, wendet sie sich an Privatdetektivin Grace Boticelli, damit diese ihre Kinder findet, die ihr vor dem Haftantritt weggenommen wurden. Doch sobald Grace den Fall übernimmt, verschwindet die Klientin. Grace ermittelt dennoch weiter und entdeckt, dass Alyssa einen geheimen Plan verfolgt, um einen brutalen Mörder zu überführen. Der Haken an der Sache: Wenn es ihr gelingt, den Mörder zu stellen, sieht Alyssa ihre Kinder nie wieder ... ***** Spannend von Anfang bis Ende. Habe den Roman fast in einem Zug durchgelesen ***** Locker, gefühlvoll und spannend. Klare Leseempfehlung ***** Die Autorin Johanna Marthens schafft es wieder, den Leser ab der ersten Seite mitzureißen. Ich bin wieder total begeistert! ***** Es macht süchtig nach mehr ***** Wow

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DARKNESS



Die verlorenen Kinder

 

 


Johanna Marthens

 

 

 

 




Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 

Copyright © Johanna Marthens, 2015, 2021

 

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.

 



Die Liebe der Mutter zu ihren Kindern ist eine Brücke zu allem Guten: im Leben und in der Ewigkeit.

 

Türkisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

 

PROLOG

VERLORENE SEELE

DIE LISTE

EINE FRAGE DER IDENTITÄT

DAS TAGEBUCH

AUGENBLICKE

DER PLAN

FORTSCHRITT

MISS ROSIE

EINSTÜRZENDE MAUERN

ÜBERRASCHUNGOPFER

ZEUGNISSE

EPILOG

IMPRESSUM

PROLOG

 


TONY KNALLTE DIE TÜR mit solcher Wucht zu, dass der Wind den Regen in die Hütte trieb und die Dielen nässte.

„Ich weiß nicht, warum ich das alles für Sie tue!“, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, während er das trockene Holz neben dem Kamin fallen ließ. „Ich habe es langsam satt. Offenbar wollen Sie nicht, dass man Ihnen hilft.“

Er war nass bis auf die Haut. Das Wasser tropfte aus seinen kurzen, braunen Haaren, perlte von seinem Gesicht, rann seinen Hals hinunter. Sogar die Härchen auf seinem Arm waren klatschnass.

Er blickte aufgebracht zu der Frau, die reglos auf einem Stuhl saß und ihn stumm beobachtete. Auch sie war vom Regen durchnässt worden. Ihre schwarzen Haare wellten sich durch die Feuchtigkeit. Ihre Haut schimmerte im schwachen Licht der Hütte goldbraun.

Tony zog sein nasses T-Shirt aus und warf es neben den Haufen Holzscheite. Dann ging er zum Kamin, wo er das Feuer entzündete.

Die Frau sah die Flammen nicht, selbst dann nicht, als das Feuer lichterloh brannte. Sie starrte Tony an. Sein Körper war voller Narben. Sie zogen sich über seine linke Körperhälfte, von der Hüfte bis zum Hals. Die Haut spannte über den Rippen, die Brust war völlig entstellt. Dort, wo das Schlüsselbein lag, erhob sich eine dicke Narbenwulst. Die gesunde Seite war sehr attraktiv, athletisch und durchtrainiert, die andere wirkte wie ein Zerrbild.

Dass sie seine Narben sah, schien Tony plötzlich unangenehm bewusst zu werden. Er verkrampfte sich und warf einen schiefen Seitenblick auf sie.

Doch sie fand seinen Körper nicht hässlich. Im Gegenteil. Als sie ihn erblickte, wusste sie auf einmal mit Bestimmtheit, dass Tony etwas Besonderes war. Und dass er ihr nicht wehtun würde. Die Narben machten ihn einzigartig.

In diesem Moment zerbrach die Mauer in ihr. Ihr Widerstand schmolz dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Die Ablehnung verdampfte wie das Wasser auf Tonys Haut in der Hitze des Feuers.

„Was haben Sie sich dabei gedacht?“, fragte er, erneut zornig und aufgebracht und ohne dass er sich der Veränderung in ihrer Gefühlswelt bewusst war. „Dachten Sie, Sie könnten hier allein überleben? Ich denke, ich sollte Sie einfach an die Polizei ausliefern. Sie machen mir zu viel Ärger.“

Sie antwortete nicht, sondern starrte unentwegt auf seinen Körper. Sie beobachtete, wie sich die Muskeln unter seiner Haut bei jeder Bewegung hoben und senkten. Wassertropfen funkelten auf seinem Rücken wie Diamanten. Das Feuer warf geheimnisvolle Schatten auf sein Gesicht und beleuchtete die Narbe auf seiner Wange. Die Frau hatte sich die ganze Zeit gefragt, woher er dieses Wundmal im Gesicht hatte, aber da hatte sie noch nicht gewusst, dass es nicht das einzige an seinem Körper war.

Er erhob sich und kam zu ihr. Dass sie seinen entstellten Körper aus nächster Nähe sehen würde, machte Tony verlegen, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Sie hatte das Elend bereits bemerkt. Und vermutlich würde er sie bald sowieso nicht wiedersehen, auch wenn es ihm das Herz brach.

„Ich müsste Sie eigentlich an den Stuhl anbinden. Aber vermutlich würden Sie dann damit fliehen.“

Sie erwiderte noch immer nichts. Sie starrte seinen Bauch an, der wie ein Waschbrett ausgebildet war. Die Muskeln spielten leicht bei jedem Wort, das er sagte.

Er beugte sich zu ihr, um die Fesseln an ihren Handgelenken zu prüfen. Er kam ihr dabei ganz nah. Sie konnte den Duft seiner Haut riechen, die Wärme seines Körpers spüren. Als seine Hände über ihre Arme strichen und ihre Handgelenke berührten, fühlte sie ein sanftes Stechen in ihrer Herzgegend. Und ein leises Flattern im Bauch – etwas, was bei Colin niemals eingetreten war.

Ihr Mund berührte fast seine Schulter.

„Ich werde Sie zurückbringen und dann trennen sich unsere Wege. Wollten Sie eben fliehen, um Patterson allein zur Stecke zu bringen? Sie besitzen offenbar weder Einsicht noch den Wunsch, Ihr Leben verantwortungsvoll zu leben. Was Patterson betrifft, sind Sie besessen und augenscheinlich zu borniert, um noch klar zu sehen. Ich mach das nicht mehr mit.“ Er klang entschieden. Sie hörte seine tiefe, dunkle Stimme ganz nah an ihrem Ohr und spürte, wie bei ihrem Klang ein feines Prickeln über ihre Haut rann.

Tony wollte sich aufrichten, doch da fühlte er für einen winzigen Augenblick ihre Lippen auf seiner Schulter. Erstaunt wich er einen Zentimeter zurück.

Sie starrte noch immer seinen Körper an.

„Ich wusste vom ersten Moment an, dass du mir und meinem Vorhaben gefährlich werden könntest“, sagte sie plötzlich leise. Ihre Stimme hatte den Schmerz der Wut und Verzweiflung verloren. Sie klang auf einmal genauso verloren und sehnsüchtig, wie sie sich fühlte.

Tony wollte bei diesen Worten bitter auflachen, weil sie, seiner Meinung nach, die Wahrheit völlig verzerrten. Doch er schluckte das Lachen hinunter, als er ihren Blick sah. Der Ausdruck in ihren Augen war nicht mehr zornig und verbittert, sondern weich und verlangend.

„Und mir war klar, dass du mich in Teufels Küche bringen würdest, als du durch meine Tür tratst“, antwortete er mit heiserer Stimme, während er versuchte, das erregte Klopfen seines Herzens im Zaum zu halten.

Sie verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Das zu erahnen, war nicht schwierig gewesen. Ich sah bestimmt aus wie ein Häuptling auf dem Kriegspfad.“

„Du warst wunderschön“, murmelte er. Danach zögerte Tony einen Moment, bevor er sich wieder zu ihren Fesseln beugte. „Ich werde es vermutlich bereuen. Aber versprichst du mir, dass du nicht wieder davonläufst, wenn ich dich losbinde?“

Sie antwortete nicht, sondern berührte mit ihren Lippen erneut seine Schulter. Ganz sanft, als wollte sie ihn kosten.

„Versprichst du es mir?“, flüsterte er in ihr Ohr.

„Ja, ich verspreche es“, erwiderte sie leise.

Sie spürte, wie er das Messer aus der Tasche zog und damit die Plastikfesseln zerschnitt. Das Blut schoss zurück in ihre kühlen Finger, so dass sie kribbelten. Mit ihren befreiten Gliedern strich sie sanft über die Narben auf seiner linken Körperhälfte.

„Sie sind hässlich“, murmelte er verlegen.

„Nein, das finde ich nicht“, erwiderte sie. „Dadurch weiß ich, dass du bist wie ich.“

„Du hast keine Narben.“

„Keine, die man sieht.“

Er nahm sanft ihr Gesicht in beide Hände. Bei dieser Berührung spürte sie, wie die letzte Mauer in ihr einstürzte. Und wie sich der Schmerz in ihrem Herzen in eine Sehnsucht verwandelte, die sie schon seit langer, langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Sie fühlte keinen Hass mehr, sondern nur noch Zuneigung und Leidenschaft.

„Wir müssen zusammenarbeiten, dann schaffen wir es“, flüsterte er.

Sie nickte und fuhr mit ihrer Zunge zärtlich über die Narbe, die früher seine Brustwarze gewesen war. „Ich vertraue dir.“

„Wir bringen ihn zu Fall und finden deine Kinder, koste es, was es wolle.“

„Zusammen mit Grace.“

„Das wiederum verspreche ich dir“, sagte er, während seine Lippen ihrem Mund immer näherkamen.

Dann küsste er sie.

VERLORENE SEELE

WENIGE TAGE ZUVOR


Voller Entsetzen starrte Grace Boticelli in den Spiegel. „Was haben Sie getan?“, flüsterte sie fassungslos.

„Sie wollten sie kürzer haben“, erwiderte die junge Frau mit der Schere fröhlich und zufrieden mit ihrem Werk. „Jetzt sind sie kürzer.“

„Aber doch nicht soooo kurz.“ Grace schluckte und betrachtete die Katastrophe auf ihrem Kopf. Sie sah aus wie ein Junge. Oder schlimmer: wie ein Soldat. Eigentlich sollte ihre Kurzhaarfrisur nur nachgeschnitten werden, also nur ein wenig überall angepasst. Aber die junge, übereifrige Friseurin hatte ihr einen Stoppelschnitt verpasst.

„Diese Frisur ist auf jeden Fall sehr praktisch“, versuchte die Urheberin des Übels ihr Werk zu rechtfertigen.

„Aber sie passt nicht mehr zu mir“, erwiderte Grace mit monotoner Stimme, in der immer noch das Entsetzen mitschwang. „Die Frisur, die ich vorher hatte, ließ mich frech und attraktiv wirken. Das hier macht aus mir einen halben Mann.“

„Wenn Sie nicht zufrieden sind, können Sie von unserer Geld-zurück-Garantie Gebrauch machen“, sagte die Friseurin, einen Hauch weniger euphorisch als vorher.

„Das Geld nützt mir nichts, wenn ich jetzt die ganze Zeit mit diesem Elend auf dem Kopf herumlaufen muss“, stöhne Grace gequält.

„Aber die Haare wachsen ja wieder“, tröstete sie die junge Frau. „Das nächste Mal weiß ich, was Sie sich vorstellen.“

„Das nächste Mal schneide ich sie lieber selbst, als dass ich noch einmal hierher komme“, brummte Grace missmutig und stand auf. Das war das erste Mal, dass sie in San Francisco zum Friseur ging, und schon passierte solch eine Katastrophe! Immer noch geschockt ging sie zur Frau an der Kasse und überlegte, ob sie sich tatsächlich das Geld zurückgeben lassen sollte. Aber dann sah sie in das betretene Gesicht der Friseurin, die endlich begriff, was sie angerichtet hatte, und überlegte es sich anders. Die junge Frau hatte vermutlich das Beste gewollt, dabei nur ordentlich danebengelegen. Also bezahlte Grace und legte sogar noch ein – zugegebenermaßen etwas kleines – Trinkgeld obendrauf. Dann verließ sie den Laden.

Grace sah schrecklich aus, fand sie. Jedes Mal wenn sie ihr Spiegelbild in einem Schaufenster sah, zuckte sie zusammen und stöhnte leise. Um ehrlich zu sein, war die Frisur wirklich nicht ideal. Dennoch kamen dadurch ihre ausdrucksstarken Augen noch besser zur Geltung. Sie wirkte nicht männlich, wie sie sich einbildete, sondern eher zerbrechlich. Aber das sah sie nicht. Sie erinnerte sich an die Zeit in Texas vor ihrer Veränderung, als sie sich unscheinbar und hässlich gefühlt und bei ihrem Traummann Tim nicht die geringste Chance gehabt hatte. Dass die Verwandlung vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan sie auch in die Hände eines irren Serienmörders getrieben hatte, daran dachte sie lieber nicht.

Jetzt, nach dem verunglückten Besuch beim Friseur, kam das unangenehme Gefühl des fehlenden Selbstbewusstseins zurück. Sie zog unbewusst die Schultern ein, um sich kleiner zu machen, in der Hoffnung, dass niemand sie wahrnahm. Und das ausgerechnet heute, da sie noch so einen wichtigen Termin vor sich hatte!


***


DIE STRASSE WAR LAUT, viel zu laut. Der Lärm der Motoren dröhnte in den Ohren von Alyssa Nuori Wilkins, als würde sie direkt neben einem startenden Flugzeug stehen. Unaufhörlich strömte der Verkehr an der Frau vorüber.

Sie schob ihre Tasche auf die Schulter, um sich die Hände über die Ohren legen zu können. Dadurch wurde der Lärm erträglicher. Nicht jedoch der Gestank, der beißend in ihre Nase kroch. Die Abgase der Fahrzeuge umnebelten sie. Sie hustete und krächzte und überlegte, ob sie eine Hand, die schützend über einem Ohr lag, für die Nase opfern sollte. Sie versuchte es. Dadurch wurde der Lärm zwar wieder lauter, aber wenigstens verringerte sich der Gestank. Allerdings drangen auf diese Weise der Staub und die giftigen Dämpfe ungefiltert durch ihren Mund in die Lungen.

Was sie auch tat, irgendetwas belästigte sie auf jeden Fall.

Also legte sie die Hand wieder über das Ohr und beschloss, einen Umweg zu nehmen. Es war besser, eine weitere Strecke zu laufen, als direkt am Highway entlang zu gehen.

An der nächsten Seitenstraße bog sie ab und in eine Siedlung ein. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Der Bus hatte sie am Highway abgesetzt, bevor er weiter nach Sacramento gefahren war. Für eine Busfahrkarte einer anderen Linie besaß sie kein Geld mehr. Sie musste zu Fuß ins Zentrum von San Francisco gelangen. Doch das Gebiet sah ganz anders aus, als sie es in Erinnerung hatte. Dort, wo früher Felder und Wiesen gewesen waren, befand sich eine Siedlung. Sie lief zwischen einfachen Häusern hindurch, vorbei an blühenden Gärten, gestutzten Hecken und bellenden Hunden. Frauen hängten die Wäsche auf und betreuten ihre Kinder. Ein junger Mann fischte Laub aus einem Swimmingpool. Dabei war an dieser Stelle mal ein Tümpel gewesen.

Langsam ging Alyssa weiter. Das Gefühl vom Wind auf ihrer Haut war unbeschreiblich. Als etwas Laub aufwirbelte und zwischen ihren Schuhen spielte, musste Alyssa stehenbleiben und die Tränen niederkämpfen. Die Luft strich durch ihre Haare und streichelte ihre Wangen. Sie roch nach Meer und Regen, so wunderbar frisch und lebendig. Darüber hinaus strahlte die Sonne auf Alyssa herab und zauberte eine sanfte Wärme auf ihre Haut. Sonne und Wind hatte sie schon so lange nicht mehr wahrgenommen und gespürt. Sie waren etwas völlig anderes als die gefilterte Luft und die Klimaanlage, die so lange das Klima ihres Alltags bestimmt hatten.

Alyssa wandte ihr Gesicht der Sonne zu und versuchte ein Lächeln. Es gelang ihr nicht, stattdessen stahlen sich doch zwei Tränen auf ihre Wangen. Sie trockneten jedoch sofort im warmen Wind.

Alyssa musste sich bemühen, dass es bei diesen beiden Tränen blieb. Die Versuchung war groß, sich den Gefühlen hinzugeben und hemmungslos zu weinen. Doch sie erlaubte es sich nicht. Sie hatte zu viel Angst, dass sie danach schwach werden würde. Schwäche war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Das Allerletzte.

Sie wischte die Tränen von ihren Wangen und ging weiter.

Sie war jedoch gerade einmal fünfzehn Meter gelaufen, als sie abermals innehielt. Dieses Mal wurde ihre Aufmerksamkeit auf ein Kinderlachen gelenkt. Sie blickte in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war. Ein Kind saß auf einer Schaukel, eine Frau Anfang zwanzig mit langen, braunen Haaren schob es an, so dass das kleine Mädchen hoch in die Lüfte flog und lachend wieder herunterkam.

Als Alyssa diese Szene sah, musste sie hart schlucken. Und der Gedanke an ihr Vorhaben in San Francisco rückte plötzlich in weite Ferne. War alles nur ein völlig verrückter Plan? Ein irrwitziges Unternehmen, das ihr weder Ruhe noch Glück, sondern nur wieder Elend und Unglück bringen würde?

Es gab noch eine andere Möglichkeit. Doch deren Erfüllung befand sich ebenfalls in der City in einem der Häuser mitten im Herzen der Stadt.

Bei diesem Gedanken begann ihr Herz wie wild zu klopfen. Ihr Atem ging schneller, so dass ihr schwindelig wurde.

Sie könnte diese Chance nutzen.

Alyssa atmete tief durch, bis ihr Herzschlag sich etwas beruhigte. Dann ging sie zügigen Schrittes weiter. Sie musste Richtung Norden laufen, wo die Wolkenkratzer von San Francisco in der Sonne glitzerten und funkelten wie ein geheimnisvoller Schatz.

Gold und Edelsteine würden Alyssa dort nicht erwarten, aber dafür etwas anderes. Etwas, was in ihren Augen viel, viel wertvoller war als alle Schätze dieser Erde.


* * *


GRACE STRICH SICH EIN LETZTES MAL den Rock glatt und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie sah in ihren Augen alles andere als gut aus. Die Haare waren in den vergangenen zwei Stunden leider nicht gewachsen, sondern immer noch viel zu kurz. Immerhin hatte sie ihre großen Augen so geschickt geschminkt, dass sie ausdrucksvoll und lebhaft wirkten und den Blick von der Frisur ablenkten. Ihre vollen Lippen schimmerten prall. Sie hatte eine weiße Bluse und einen Rock angezogen, der knapp über das Knie reichte. Dazu trug sie schwarze Pumps, die nicht zu hoch und nicht zu flach waren. Wenn sie schon aufs Amt gehen und eine Art Prüfung über sich ergehen lassen musste, um eine Lizenz zu erhalten, musste sie trotz ihrer erst vierundzwanzig Jahre aussehen wie eine Geschäftsfrau, die wusste, was sie wollte. Es war leider so, dass die meisten Menschen nur auf das Äußere blickten und ihr Gegenüber lediglich danach beurteilten. Doch dieses Phänomen konnte sie sich in diesem Fall zunutze machen und den Beamten geben, was sie gerne sehen wollten – eine kluge, junge Frau, die ihr eigenes Geschäft eröffnen und darin erfolgreich sein wollte. Allerdings musste sie unbedingt etwas tun, um den Kopf zu verstecken. Sie lief zurück ins Schlafzimmer und kramte im Schrank nach einem Hut. Als der auf dem Kopf saß, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. So war es besser.

Einigermaßen zufrieden mit ihrem Anblick nahm sie alle Unterlagen, die sie benötigte, ihren Schlüssel und die Sonnenbrille und verließ das Haus. Als sie die Haustür schließen wollte, hielt sie jedoch inne. Etwas Weißes fiel von der Klinke herab.

Grace bückte sich und hob eine Lilie auf.

Sie verzog den Mund zu einem halben Lächeln und sah zur Straße. Aber sie wusste, dass sie denjenigen, der ihr die Lilie an die Haustür gesteckt hatte, nicht entdecken würde. Der Mann, der ihr ständig Blumen schenkte, tauchte wie aus dem Nichts auf und verschwand, bevor sie seiner habhaft werden konnte. Seitdem sie ihn am Tag ihres Einzugs das erste Mal gesehen hatte, hinterließ ihr der Fremde in unregelmäßigen Abständen eine einzelne weiße Lilie. Manchmal steckte die Blume am Gartentor, manchmal lag sie auf dem Briefkasten, gelegentlich auf dem Fensterbrett, und hin und wieder, wie heute, klemmte sie an der Klinke der Haustür. Grace hatte sich schon mehrere Male auf die Lauer gelegt und hinter der Gardine des Fensters gewartet, ob er erschien, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Aber es war ihr nie gelungen. Sie hatte ihn nicht gesehen, und doch fand sie bald darauf eine weitere Lilie. Er war offenbar ein Meister im Anschleichen und Verstecken.

Grace ging zurück ins Haus und steckte die Blüte in eine Vase, in der schon mehrere andere standen. Dann ging sie endgültig hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Sie setzte sich in ihr rotes Cabriolet und fuhr zum Rathaus von San Francisco. Wie jedes Mal, wenn sie die steile Straße hinunterfuhr und vor sich den Pazifik liegen sah, konnte sie sich ein glückliches Lächeln nicht verkneifen. Sie liebte diese Stadt am Meer, ihr neues Zuhause – das Brausen der Wellen am Strand, den Anblick der Brücken, die sich über das Wasser spannten, die grünen Hügel im Hinterland und das emsige Treiben in den Straßen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Texas hinter sich zu lassen und in San Francisco ein neues Leben anzufangen. In der alten Heimat gab es niemanden mehr, der ihr etwas bedeutete; ihr Vater war tot, ihre Freundinnen nur mit sich selbst beschäftigt. Und da sie das Haus in der Sacramento Street in San Francisco geerbt hatte, zusätzlich zu einer bedeutenden Geldsumme, fiel ihr der Neuanfang ausgesprochen leicht. Und heute würde sie einen weiteren Schritt gehen, um hier richtig Fuß zu fassen.

 

IM RATHAUS ANGEKOMMEN, suchte sie sofort die Abteilung für Gewerbeangelegenheiten im zweiten Stock auf. Es saßen nur zwei Personen in einem kahlen Warteraum um eine riesige Grünpflanze herum: ein älterer Mann, dessen Hand leicht zitterte, und eine junge Frau in Grace‘ Alter, die kaum aufsah, sondern emsig auf ihrem Smartphone tippte.

Grace setzte sich auf einen freien Platz und wartete geduldig. Zuerst wurde der Mann aufgerufen, dann die junge Frau. Als diese etwa eine Viertelstunde im Zimmer bei dem Beamten saß und Grace große Hoffnung hegte, in wenigen Augenblicken endlich an die Reihe zu kommen, vernahm sie großen Lärm im Gebäude. Im ersten Stock schrie jemand um Hilfe, es krachte und knallte laut.

Grace sprang auf und eilte aus dem Wartezimmer hinaus auf den Flur.

„Ich rufe den Sicherheitsdienst oder besser die Polizei!“, kreischte eine Frau im Gang unter ihr. „Es muss jemand die 911 anrufen!“

„Nicht die Polizei!“, ertönte eine weitere weibliche Stimme. „Oder ich bringe Sie um!“ Sie klang nicht, als würde sie scherzen.

Wieder ertönte ein Schrei.

Hastig eilte Grace die Treppe hinunter und lief in die Richtung, aus der das Handgemenge zu kommen schien. Vor der Bürotür des Jugendamtes im ersten Stock hielt sie inne. Dort standen mehrere Personen und starrten auf eine Frau Ende dreißig mit lockigen, schwarzen Haaren, blasser Hautfarbe und Augenringen. Sie stand neben dem Schreibtisch des Büros und hielt eine Schere an den Hals einer Beamtin, die panisch nach Luft schnappte.

„Sagen Sie mir, wo meine Kinder sind, dann lasse ich Sie in Ruhe!“, sagte die Frau mit der Schere heiser. Danach fuchtelte sie mit dem in eine Waffe umfunktionierten Bürogegenstand in der Luft herum und sah zu den erschrockenen Zuschauern. „Wenn einer von Ihnen die Polizei ruft, schneide ich ihr die Halsadern durch.“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, rief die Geisel und begann zu weinen. „Ich weiß nicht, wo Ihre Kinder sind. Ich habe die Unterlagen nicht hier. Und selbst wenn, dürfte ich sie Ihnen nicht geben. Bitte lassen Sie mich los!“ Sie schluchzte auf.

Diese Worte machten die Angreiferin nur noch wütender. „Sie sind das Jugendamt, Sie müssen die Unterlagen hier aufbewahren.“

„Wenn ihr Sohn dieses Jahr achtzehn Jahre alt wurde, wie Sie sagten, werden die Akten von uns abgegeben. Er ist mündig. Und Ihre Tochter hat er vielleicht mitgenommen. Ich weiß es nicht! Ich bin erst seit einem Monat hier. Bitte lassen Sie mich los!“

„Ich glaube Ihnen nicht!“ Sie presste die Schere an den Hals der Beamtin, so dass sie tief in die Haut einschnitt.

Grace überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Sie durfte die Lage auf keinen Fall weiter eskalieren lassen. Niemand durfte verletzt werden. Zum Glück hatte die Angreiferin keine Schusswaffe bei sich.

Grace war früher Polizistin gewesen, sie hatte gelernt, was in solchen Situationen zu tun war. Mutig trat sie einen Schritt vor. „Geben Sie der armen Frau etwas Raum, damit sie noch einmal suchen kann“, schlug sie vor, während ihre Hand unauffällig das Handy in ihrer Tasche suchte, um heimlich die Polizei zu rufen. „Wenn Sie sie auf diese Weise an der Arbeit hindern, kann sie gar nichts ausrichten.“

„Sie hat gesagt, sie kann die Unterlagen nicht finden!“, fauchte die Frau mit der Schere Grace an.

„Dann stimmt es vielleicht. Sie sagt, sie sei erst seit einem Monat hier. Sie wird möglicherweise wirklich nicht wissen, wo sich ältere Akten befinden“, gab Grace zu bedenken. Ihre Finger suchten indessen auf dem Smartphone heimlich die Zahlen Neun, Eins und nochmal die Eins – der Notruf der Polizei.

„Aber ich will wissen, wo meine Kinder sind“, sagte die Angreiferin. Sie klang auf einmal nicht mehr wütend, sondern verzweifelt. „Zuerst nehmen sie sie mir weg, dann verweigern sie mir die Auskunft. Was ist das für ein Staat? Ein Staat, der seine Bürgerin jahrelang wegen eines Verbrechens wegsperrt, was sie nicht begangen hat, und ihr dann das Glück verweigert, die eigenen Kinder sehen zu dürfen. Ich hasse diesen Staat!“ Beim letzten Satz kreischte sie wieder und fuchtelte erneut mit der Schere herum.

Grace fühlte auf einmal Mitleid mit der Fremden.

Sie war im Gefängnis, deshalb ist sie so blass. Ihr wurden die Kinder weggenommen und zu Pflegeltern gebracht oder gar zur Adoption freigegeben.

Grace trat noch näher, drückte aber noch nicht die Taste, um die Polizei zu rufen. „Diese Frau, die Sie gerade bedrohen, kann nichts dafür, was Ihnen angetan wurde. Wenn Sie sie verletzen, sind Sie genauso schlecht wie der Staat, der Sie für etwas büßen ließ, was Sie nicht getan haben, wie Sie sagen. Lassen Sie sie gehen und klären Sie es mit der Stelle, die dafür verantwortlich ist.“

Grace konnte sehen, dass die Frau unsicher wurde. Sie starrte Grace an.

„Wer sind Sie?“, fragte die Fremde leise.

„Mein Name ist Grace Boticelli. Ich bin in dieses Gebäude gekommen, um ein Gewerbe anzumelden, und vielleicht werden Sie jetzt meine erste Klientin.“

„Welches Gewerbe?“

„Privatdetektivin.“

Die Frau mit der Schere musterte Grace, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe kein Geld. Ich kann Sie mir nicht leisten.“

Grace lächelte. „Aber ich kann es mir leisten, für Sie pro bono zu arbeiten. Als erste Klientin bekommen Sie meine Dienste gratis. Ich finde für Sie Ihre Kinder. Nehmen Sie jetzt die Schere herunter.“

Die Frau zögerte noch einen Moment, während sie Grace eingehend musterte. Doch dann gehorchte sie. Langsam nahm sie die Schere vom Hals der Beamtin. Die atmete auf und ließ sich heulend auf einen Stuhl sinken.

Grace löste die Finger vom Handy in ihrer Tasche und schaltete das Gerät aus. Sie wandte sich an die Zuschauer, von denen einige nun ebenfalls die Telefone zückten, um die Polizei zu rufen. „Lassen Sie es sein. Beide Frauen haben genug gelitten. Die Angreiferin ist für einen Augenblick aus der Fassung geraten, aber jetzt ist alles wieder gut. Sehen Sie, sie ist ganz ruhig.“

Die drei Frauen und ein Mann mit Halbglatze musterten die Ex-Gefangene kritisch, die tatsächlich still und mit hängenden Schultern im Raum stand. Sie sah aus wie das personifizierte Elend. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet, als traute sie sich nicht, den Menschen offen ins Gesicht zu sehen.

Grace wandte sich an die bedrohte Beamtin, die sich die Tränen wegwischte und den verletzten Hals rieb. „Geht es Ihnen gut oder brauchen Sie einen Arzt?“

Nachdem sie festgestellt hatte, dass die Sache unblutig verlaufen war, schüttelte die Beamtin den Kopf. „Ich denke, ich bin okay.“

„Gut.“

In diesem Moment eilte ein Mann vom Sicherheitsdienst um die Ecke und auf die Gruppe zu.

„Es waren Schreie zu hören. Ist alles in Ordnung?“

„Alles geklärt“, meinte Grace.

Der Mann sah sich um, ob ihm jemand mehr erzählen würde, aber niemand sagte etwas. Sein Blick blieb an der verheulten Beamtin hängen, dann musterte er die Angreiferin. Schließlich nickte er zufrieden und ging zurück ins Erdgeschoss. Er wollte im Kabuff des Pförtners in Ruhe eine Zeitschrift für Männer weiterlesen, die er mit einem Schutzumschlag versehen hatte, damit niemand die nackte Frau auf dem Cover sehen konnte.

„Wollen Sie eine Anzeige erstatten?“, fragte Grace die Beamtin, sobald der Mann verschwunden war.

Die Frau betrachtete ihre Angreiferin eingehend und auch ein wenig skeptisch, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Aber ich will sie hier nie wieder sehen. Ich habe diese Unterlagen wirklich nicht.“

„Okay, wir haben es verstanden“, nickte Grace und wandte sich an ihre frischgebackene Kundin. „Dann gehen wir jetzt.“

„Wohin?“, fragte die Frau, folgte Grace jedoch aus dem Raum.

„Ich muss nun endlich mein Gewerbe anmelden und einen Waffenschein beantragen. Danach kann ich Sie offiziell als meine erste Klientin annehmen.“

Als sie sich Richtung Treppe wenden wollte, bemerkte Grace die missbilligenden Blicke der Zuschauerinnen, die sich noch nicht zurück in ihre Zimmer begeben hatten. Eine grauhaarige, ältere Frau schüttelte verständnislos den Kopf. „Sie ist ein Ex-Knacki. Wieso kümmern Sie sich um sie? Sie wird Ihnen nur Ärger machen.“

Grace versuchte, ein freundliches Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern. „Sie hat ihre Strafe abgesessen. Sie verdient es, wie eine normale Frau behandelt zu werden. Sie sollte eine faire Chance bekommen.“

„Sie sieht schon aus wie eine Verbrecherin. Einmal kriminell, immer kriminell.“ Die Ältere winkte angewidert ab und wollte sich abwenden, doch Grace hielt sie zurück.

„Ich lasse mich nicht vom äußeren Eindruck beeinflussen“, sagte Grace resolut. „Hinter einer unansehnlichen Fassade muss nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch stecken. Und hinter einem schönen Äußeren verbirgt sich nicht immer ein wirklich glücklicher Zeitgenosse. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Grace dachte an ihr Erlebnis in San Antonio, als sie einen Serienmörder gejagt hatte, der an schönen Frauen grausame Operationen vorgenommen hatte. Und sie dachte an Mabel, eine wunderschöne Frau und Kollegin, die sich trotz ihres hübschen Äußeren so unglücklich und einsam gefühlt hatte, dass sie sich umbringen wollte.

Die Ältere im Flur antwortete nicht, sondern schüttelte Grace‘ Hand ab und trottete hinter den anderen Frauen in ein Büro auf der linken Seite des Flurs. „Schön dumm“, murmelte sie, bevor sie in dem Raum verschwand.

Grace hörte es, zog es jedoch vor, nicht darauf zu reagieren. Sie wandte sich dem Ex-Häftling an ihrer Seite zu und lief mit der Frau in den zweiten Stock. Als sie in dem Wartezimmer der Abteilung für Gewerbeangelegenheiten angekommen waren, saß inzwischen eine neue Person neben der Grünpflanze und blätterte gelangweilt in einer Frauenzeitschrift. Sie achtete kaum auf die Hinzugekommenen.

Grace setzte sich auf einen leeren Stuhl. Ihre Begleiterin ließ sich neben ihr nieder.

„Wie heißen Sie?“, fragte Grace die ehemalige Gefängnisinsassin.

„Alyssa. Alyssa Nuori Wilkins.“

„Ist es in Ordnung, wenn ich Alyssa zu Ihnen sage?“

Alyssa nickte. „Ja. Das ist okay. Alles ist besser als Schlampe oder Zicke, was ich mir jahrelang anhören musste.“

„Weshalb haben Sie gesessen?“

„Totschlag.“

„Haben Sie es wirklich nicht getan?“

Alyssa verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Spielt das denn eine Rolle?“

„Ich denke schon.“

Alyssa überlegte einen Moment, dann winkte sie ab. „Was ich jetzt sage, ändert nicht die Tatsachen. Ich wurde verurteilt und habe meine Strafe abgesessen. Egal, was wirklich geschehen ist.“

„Das sehe ich anders. Wenn Sie zu Unrecht verurteilt wurden, muss die Wahrheit ans Licht kommen.“

Alyssa nickte mit dem Kopf. „Es ist nicht so einfach, wie Sie denken.“

Grace wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür zum Amtszimmer und ein Mann trat heraus. Er ging zu der wartenden Frau, die die Frauenzeitschrift zur Seite legte und sich erhob, um mit ihm das Wartezimmer zu verlassen. Das bedeutete, dass Grace sofort an der Reihe war.

„Versprechen Sie mir, keinen Ärger zu machen, solange ich da drinnen bin?“, fragte Grace ihre Begleiterin.

Alyssa schüttelte den Kopf. „Ich werde keinen Ärger machen, sondern brav hier warten. Nach fünfzehn Jahren kommt es auf ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr an.“

 

ES DAUERTE KNAPP ZWANZIG MINUTEN, bis Grace aus dem Büro herauskam, ihren Gewerbeschein in der Hand hielt und offiziell eine Waffe tragen durfte. Sie hatte die Gebühr bezahlt und alle Anforderungen erfüllt. Der Beamte hatte in sein Stempelkissen sogar neue Farbe gefüllt, um den Stempel auf der Bescheinigung besonders deutlich hervorzuheben, weil sie ihm während des Vorgangs hin und wieder ein ehrliches Lächeln geschenkt hatte – etwas, was er sonst kaum zu sehen bekam.

Nun durfte sich Grace offiziell Privatdetektivin nennen und Kunden bei ihren Problemen helfen. Sie fühlte sich glücklich und fast ein bisschen übermütig, als sie das Dokument betrachtete, das ihr die Ausübung dieser Tätigkeit genehmigte. Sie hatte lange überlegt, was sie nach ihrem Umzug in San Francisco machen sollte. Viele Möglichkeiten waren ihr nicht eingefallen. Denn sie wollte zwar weiter Rätsel an Tatorten lösen, aber nicht als Polizistin arbeiten. Schließlich war sie auf die Idee gekommen, unabhängig und freiberuflich ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzukommen, indem sie Privatdetektivin wurde. Und nun war die Erfüllung dieses Wunsches zum Greifen nahe. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie das Büro für Gewerbeangelegenheiten verließ und zu Alyssa trat, die tatsächlich geduldig auf sie gewartet hatte.

„Alles klar“, grinste Grace. „Herzlich willkommen als meine Klientin Nummer eins. Es freut mich sehr, Ihnen behilflich sein zu dürfen.“ Sie reichte Alyssa die Hand, die diese zögerlich nahm und schließlich schüttelte.

„Wissen Sie denn überhaupt, was Sie tun müssen? Haben Sie schon Erfahrungen auf diesem Gebiet sammeln können?“

Grace lächelte. „Ich habe einen Mörder, einen Serienmörder und vor allem Diebe zur Strecke gebracht. Ich liebe es, das Puzzle zu lösen, das ein Tatort bietet, und darin bin ich wirklich gut. Bevor ich Ihnen jedoch helfen kann, benötige ich weitere Angaben von Ihnen.“

„Welche?“

„Das erkläre ich Ihnen gleich. Folgen Sie mir einfach. Wir fahren in mein Büro.“

Alyssa nickte zögerlich. „Okay.“ Dann wandte sie sich ab, und beide Frauen gingen aus dem Raum.

 

GRACE VERSPÜRTE SELBST nach einigen Wochen noch immer ein Glücksgefühl, wenn sie ihr hübsches Haus betrat. Es war groß und geräumig, hell und sonnig. Grace hatte nach ihrem Einzug Einiges geändert, ein paar Wände gestrichen, Möbel umgestellt oder entsorgt, dafür neue gekauft. Die Vorhänge und Gardinen hatte sie gewaschen, die Teppiche säubern lassen und ein paar Türen repariert. Es war ein altes Haus, die Vorbesitzerin hatte in den letzten Jahren ihres Lebens nicht mehr viel daran gemacht. Der Staub und der Geruch der Auflösung hatten darin gehangen wie alte Geister. Doch nun wirkten alle Räume frisch und jung und fast ein bisschen glücklich über die Veränderung und den belebenden Wind. Und Grace war mehr als froh, ein solch schönes Heim besitzen zu dürfen.

Alyssa hingegen betrat Grace‘ Haus, als wäre der Boden aus zerbrechlichem Glas. Unschlüssig blieb sie im Flur stehen.

„Was ist los?“, fragte Grace. „Treten Sie ein. Wollen Sie Tee? Ich habe sehr leckeren Beruhigungstee.“

„Was machen wir hier?“, fragte Alyssa, ohne sich von der Stelle zu bewegen.

„Ich habe kein Büro im eigentlichen Sinne, sondern bewahre alles in meinem Haus auf. Ich nehme Ihre Personalien in meine Kartei auf, damit alles seine Ordnung hat“, erklärte Grace und nahm nun endlich auch den Hut ab. Mit der Hand fuhr sie über das raspelkurze Haar. Es fühlte sich weich und – leider – immer noch extrem kurz an. „Danach erzählen Sie mir bitte alles, was ich wissen muss, um Ihre Kinder zu finden. Dafür wäre ein Beruhigungstee äußerst gut geeignet.“

Unsicher schielte sie zu Alyssa, um zu sehen, ob die Besucherin vielleicht das Gesicht verzog beim Anblick ihrer missglückten Frisur. Aber Alyssa achtete gar nicht darauf. Sie ging wortlos ins Wohnzimmer, wo sie sich einmal um sich selbst drehte, bevor sie sich steif in einem Sessel niederließ. Offenbar war das ihre Einverständniserklärung zum Tee.

Grace beobachtete sie, bevor sie in die Küche ging und Wasser für den Tee aufsetzte. Als es kochte, goss sie es in zwei Tassen und hängte die Teebeutel hinein. Dann kehrte sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich in einen Sessel gegenüber von Alyssa. Sie reichte ihr die Tasse, dann lehnte sie sich zurück.

„Wann sind Sie entlassen worden?“, fragte Grace mit ruhiger Stimme. Sie bemerkte, dass ihr Gegenüber bei näherer Betrachtung wesentlich älter aussah, als sie zuvor gedacht hatte. An den Schläfen zeigten sich schon viele graue Haare, die Haut war trocken und rissig. Falten an den Augen verliehen dem einst wunderschönen Gesicht einen müden und fast verbitterten Ausdruck.

„Heute bin ich rausgekommen“, erwiderte Alyssa.

Dann ist es klar, dass sie so unsicher ist, dachte Grace. Sie weiß nicht mehr, wie sie sich in der Welt verhalten soll.

„Wie lange haben Sie gesessen?“

„Fünfzehn Jahre, drei Monate und vierzehn Tage. Ich habe noch ein Jahr Bewährungszeit.“

Grace schluckte. Das war wesentlich länger, als sie vermutet hatte. Länger als das offizielle Strafmaß für Totschlag in Kalifornien – das lag bei maximal elf Jahren.

„Warum fünfzehn? Gab es weitere Anklagepunkte?“

„Widerstand gegen die Verhaftung, Tierquälerei, Betrug, Beleidigung und üble Nachrede.“

Grace musterte ihr Gegenüber sorgenvoll. „Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?“

Alyssa zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Sie können den Fall in jedem Archiv nachlesen. Ich war Anfang zwanzig und betrieb mit meinem Mann ein Waisenhaus für Tierkinder drüben in Sausalito. Eines Tages kam ein Inspektor und bezichtigte uns der Tierquälerei. Er wollte die Anlage stilllegen lassen. Mein Mann war zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause, sondern in der Stadt, um Besorgungen zu machen. Die Kinder waren mit dem Kindermädchen unterwegs. Ich war allein. Der Kerl sah sich alles an und zählte jeden noch so lächerlichen Kritikpunkt auf. Dann begann er, mich zu bedrängen. Er fasste mich an und meinte, er würde die Anklage fallenlassen, wenn ich mit ihm schlafe. Ich habe mich gewehrt, doch er ließ nicht locker. Wir befanden uns am Fluss, der durch das Gelände floss, etwas entfernt vom Haus. Der Kerl drängte mich gegen das Geländer und riss mir die Bluse auf, um mich an den Brüsten zu begrapschen. Auf einmal tauchte mein Mann auf, der zurückgekehrt war, und wollte ihn wegzerren. Doch der Inspektor schlug ihn und schubste ihn, so dass er in den Fluss stürzte. Dann hielt der Kerl mich im Würgegriff, bis ich die Besinnung verlor.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in der Nähe des Hauses, meine Bluse war angezogen, der Inspektor neben mir war tot. Ich hatte ihn mit einem Messer erstochen. Mein Mann war im Fluss ertrunken.“

Sie hatte mit fast monotoner Stimme erzählt, als wäre das Geschehen eine alte Kamelle, die sie zum hundertsten Mal zum Besten geben musste.

„Es klingt, als wäre es eigentlich Notwehr gewesen“, erwiderte Grace.

„Das dachte ich auch, aber niemand glaubte mir, dass der Kerl mich bedrängt hatte. Die Polizei hatte zwar direkt nach meiner Verhaftung Aufnahmen von meinem Körper gemacht, um mögliche Spuren von Gewalteinwirkung zu sehen. Aber die Flecken und Kratzer konnten auch als Spuren eines Kampfes gedeutet werden, den ich geführt hatte. Der Staatsanwalt behauptete, ich wollte eine Anklage wegen Tierquälerei vermeiden und die Schließung des Tierheims verhindern und deshalb den Kerl beseitigen. Er plädierte sogar auf Mord und forderte die Todesstrafe. Mein Mann und ich, wir hätten Spendengelder missbraucht und bewusst alle Zeugen ausschalten wollen, beschuldigte er mich. Der Tod meines Mannes kam mir am Ende schließlich zugute. Ich hätte in Rage gehandelt, weil er ertrunken war. Also Totschlag.“

„Sie haben keine Erinnerung an die Tat?“

Alyssa verzog gequält den Mund. „Direkt nach dem Geschehen war ich mir ganz sicher, dass ich lange Zeit bewusstlos gewesen war. Ich konnte ihn nicht getötet haben. Jetzt, fünfzehn Jahre später, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Das Gedächtnis ist trügerisch. Wenn einem die Leute lange genug einreden, was man getan oder was man nicht getan haben soll, glaubt man es am Ende wirklich selbst.“

„Was war das für ein Messer, mit dem der Mann erstochen wurde?“

„Mein Küchenmesser.“

„Was ist mit den anderen Anklagepunkten, die wegen Beleidung und übler Nachrede?“

Sie winkte betont lässig ab. „Die wurden extra verhandelt. Dabei handelte es sich um eine Firma, die ich beschuldigt hatte, den Wald zu vergiften. Diese Sache hat mit dem Totschlag nichts zu tun.“

Grace lehnte sich nachdenklich zurück und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Es ist eine schreckliche Geschichte. Aber ich fürchte, sie ändert alles.“

„Sie ändert was?“

„Die Sache mit Ihren Kindern. Was geschah mit ihnen, nachdem Sie verurteilt wurden?“

Wieder Schulterzucken. „Sie kamen zuerst zu Pflegeeltern.“

„Wurden sie dann adoptiert?“

„Ja.“

„Eine offene Adoption?“

„Nein.“

„Wie alt sind die Kinder jetzt?“

„Jackson ist achtzehn, Summer sechzehn.“

„Hatten Sie während der Inhaftierung Kontakt zu ihnen?“

„Nein.“

Grace verzog das Gesicht. Es fiel ihr nicht leicht, ihrem Gegenüber das sagen zu müssen, aber die Aussichten waren alles andere als gut. „Ich fürchte, ich habe Ihnen vorhin zu viel versprochen. Ich weiß nicht, ob ich Ihre Kinder wirklich finden kann. Oder sagen wir, ob ich sie für Sie finden sollte. Ich wusste nicht, dass Sie so lange inhaftiert waren.“

„Was meinen Sie?“

„Das Gesetz besagt, dass Mütter, die im Gefängnis sitzen, jegliches Recht an ihren Kindern verlieren, wenn die Kindern länger als fünfzehn Monate bei Pflegeeltern leben. Danach dürfen Sie nichts mehr mit den Kindern zu tun haben: kein Besuch, kein Anruf, nicht einmal ein Brief. Die Kinder sollen sich so reibungslos wie möglich in die neue Familie einfügen. Nach so langer Zeit ist es außerdem fraglich, ob die Kinder sich überhaupt noch an Sie erinnern. Ihre Tochter war ein Baby, Ihr Sohn ein Kleinkind. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass sie eine leibliche Mutter im Gefängnis haben.“

Grace konnte sehen, dass Alyssa noch blasser geworden war. „Das ist mir klar. Ich hatte fünfzehn Jahre lang Zeit, darüber nachzudenken“, sagte sie leise. „Ich kenne auch die Gesetzeslage. Ich möchte aber trotzdem wissen, wie es ihnen geht, was sie treiben, ob sie glücklich sind.“

Grace sah sie mitleidig an. „Das kann ich sehr gut verstehen. Ich weiß nur nicht, ob das wirklich von Vorteil ist, sowohl für Sie als auch für die Kinder.“

„Bitte.“ Alyssa klang fast flehend. „Ich habe jahrelang an nichts anderes denken können. Es hat mich am Leben erhalten.“

Grace zögerte lange, doch dann gab sie nach. „Okay. Sie sollten es aber trotzdem unbedingt auch noch auf offiziellem Wege versuchen. Ihr Bewährungshelfer wird Ihnen dabei helfen können. Wenn es eine gesetzliche Möglichkeit zur Wiedervereinigung zwischen Mutter und Kindern gibt, dann nur über ihn. Wer ist Ihr Bewährungshelfer?“

„Irgendein Anthony O’Neill.“

„Haben Sie ihn schon aufgesucht?“

Alyssa schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Tee. Sie sah nicht so aus, als stünde dieser Besuch ganz oben auf ihrer Liste.

„Sie müssen mit ihm sprechen“, mahnte Grace.

„Aha“, erwiderte Alyssa beiläufig. „Was wollen Sie noch wissen?“ Sie klang auf einmal wesentlich kühler.

„Wo wohnen Sie?“

Alyssa zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es noch nicht.“

„Sie können hier schlafen, wenn Sie wollen. Ich habe ein Zimmer frei.“

Alyssa verzog den Mund, als wüsste sie nicht, ob sie lächeln oder weinen sollte, sagte jedoch nichts.

„Sie brauchen Hilfe, Alyssa. Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach so langer Zeit ist nicht einfach. Das schaffen Sie nicht allein. Ich helfe Ihnen gern, Sie müssen es nur annehmen.“

Alyssa nickte. „Danke. Vielleicht.“ Sie klang gleichgültig und unsicher zugleich. Als würde sie sich nicht trauen, die Hilfe anzunehmen und wollte diese Unsicherheit unter einem Mantel von Gleichgültigkeit verstecken.

„Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten“, fügte Grace betont locker hinzu. Die Frau tat ihr leid, und sie wollte Alyssa mit dieser unkomplizierten Art die Hemmungen nehmen. „Das Haus ist viel zu groß für mich allein. Außerdem kann ich Sie hier auch viel direkter darüber informieren, was ich herausfinde.“

Es funktionierte. Alyssa lächelte vage. „Okay. Dann bleibe ich. Danke für Ihre Mühe.“

„Gern geschehen. Haben Sie Hunger?“

„Ja. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“ Jetzt war es später Nachmittag, fast Abend.

Grace erhob sich und ging Richtung Küche. „Ich könnte eine Pizza auftauen oder Spaghetti kochen. Oder eine Tütensuppe machen.“ Als sie merkte, dass sie nicht gerade den Eindruck einer Sterne-Köchin ablieferte, schmunzelte sie verlegen. „Ich bin in der Küche weniger gut bewandert als in meinem Job. Man muss Prioritäten setzen.“

Alyssa nickte verständnisvoll. „Das sehe ich ein. Aber selbst eine Tütensuppe oder eine aufgetaute Pizza klingt großartig für mich.“

„Gut, dann bin ich für Pizza.“ Grace öffnete das geräumige Gefrierfach ihres Kühlschranks, um eine Pizza herauszuholen.

Eine halbe Stunde später saßen die beiden Frauen am Tisch und aßen ihr Mahl. Grace öffnete dafür sogar eine Flasche Wein.

Alyssa trank ihr Glas ganz langsam aus, als würde sie jeden Tropfen besonders genießen.

Sie empfand diesen Augenblick am Tisch tatsächlich als wunderbar. Das Gefühl der Freiheit war noch so neu für sie, gerade erst wiedergeboren, so dass es den ganzen Tag nur hin und wieder schüchtern in ihrem Bewusstsein aufgetaucht war. Jetzt, beim Essen, machte es sich jedoch mit aller Macht in ihrem Körper und in ihrem Kopf breit. Es lag vermutlich am Geschmack der Pizza, die tatsächlich an Italien erinnerte, nach frischen Gewürzen, Gemüse und Käse schmeckte und nicht nach der einheitlich faden Geschmacklosigkeit der Gefängnisküche. Es lag sicherlich auch am Alkohol, den sie so lange nicht trinken konnte, offiziell jedenfalls. Hin und wieder hatte eine Insassin eine Flasche Schnaps einschmuggeln lassen, aber guten Wein hatte es definitiv nicht gegeben.

Als Grace nach dem Essen ihren Laptop auf den Tisch stellte und im Internet nach der Büro-Adresse des Bewährungshelfers Anthony O‘Neill suchte, stellte sich Alyssa ans Fenster. Sie wollte den Blick auf die Stadt genießen, die ihr eigentlich so vertraut war, aber derzeit so fremd vorkam. Die ganze Welt schien momentan unbekanntes Gelände für sie zu sein – Terra incognita. Sie hatte fünfzehn Jahre lang nur die engen Wände ihrer Gefängniszelle, den Hof und die anderen Räumlichkeiten des Gefängnisses gesehen. Sie wusste nur aus dem Fernsehen, wie ein Smartphone funktionierte oder was Facebook war. Als sie verurteilt wurde, war von Elektroautos auf den Straßen noch keine Rede gewesen, die Gentechnik steckte noch in den Kinderschuhen und an Googles Street View war noch nicht einmal zu denken gewesen. Alyssa hatte noch nie einen Euro-Schein gesehen oder den Gangnam-Style getanzt. Es war, als fehlten ihr fünfzehn Jahre ihres Lebens. Definitiv fehlten ihr fünfzehn Jahre Normalität.

„Sein Büro befindet sich in der Colorado Avenue“, verkündete Grace. „Morgenvormittag ist es von neun bis zwölf Uhr besetzt.“

„Danke“, erwiderte Alyssa und wandte sich Grace zu. „Ist es schlimm, wenn ich schon ins Bett gehe? Ich bin sehr müde.“ Tatsächlich fühlte sich Alyssa wie erschlagen, leer und fast ein wenig hilflos. Es war ein langer Weg gewesen, den sie heute zu Fuß in die Stadt zurückgelegt hatte. Außerdem wusste sie nicht mehr, was sie mit dem Tag oder dem Abend anstellen sollte, wenn niemand das enge Korsett eines straffen Zeitplans vorgab. Sechs Uhr am Abend hatte es im Gefängnis immer Abendbrot gegeben, von acht bis neun Uhr durften die Insassen fernsehen. Danach war Bettzeit gewesen, bis am Morgen um sechs der Wecker klingelte. Jeden Tag fünfzehn Jahre lang derselbe Rhythmus. Jetzt, ohne dieses Korsett, fühlte sie sich jedoch nicht befreit, sondern fast nackt und orientierungslos. Als hätte man ihr das Skelett gestohlen, das ihr Zeitgefühl darstellte und ihrem Leben einen Inhalt gab. Grace hatte Recht. Es würde ein langer, schmerzhafter Prozess sein, bis sie sich wieder an eine normale Existenz gewöhnt hatte.

„Ich zeige Ihnen das Zimmer“, bot Grace an und brachte Alyssa nach oben, wo sie sie in das Schlafzimmer führte, das neben der Treppe lag. Das Fenster öffnete nach vorn zum Garten. Grace selbst schlief in dem Zimmer mit dem Blick auf den Pazifik.

„Sie haben ein eigenes Badezimmer“, sagte Grace und öffnete die Tür zu einem danebengelegenen, kleinen Raum mit Duschkabine, Toilette und Waschbecken. „Der Hahn für das warme Wasser in der Dusche klemmt ein wenig. Handtücher und Seife finden Sie hier im Schrank.“ Sie deutete auf ein Schränkchen, das neben der Dusche stand.

„Danke.“

„Machen Sie es sich gemütlich“, erwiderte Grace lächelnd. „Und träumen Sie etwas Schönes in der ersten Nacht Ihrer wiedergewonnenen Freiheit.“

„Vielen Dank.“

Grace ging hinaus und ließ Alyssa allein zurück.

Alyssa stand einen Moment regungslos in dem Schlafzimmer und sah die frischgestrichenen Wände an, die in einem sanften Orange leuchteten. Dann ging sie zum Fenster und öffnete es weit. Die Vorhänge raschelten leicht und knisterten wie gerade erst gewaschen. Der Duft von Rosen und Azaleen drang vom Garten ins Zimmer. Amseln zwitscherten in einem Baum neben dem Gartentor. Die untergehende Sonne tauchte die Häuserfront auf der Straßenseite gegenüber in ein magisches Licht, als wäre alles mit einem Pinsel rötlich übermalt worden. Die Welt sah aus, als stammte sie aus einem Märchenbuch. Für Alyssa war diese alltägliche Szenerie ein unbeschreiblicher Anblick, etwas, was sie so lange vermisst hatte.

Sie spürte, wie erneut Tränen in ihre Augen treten wollten. Dieses Mal besaß sie jedoch kaum noch die Kraft, sie zurückzuhalten.

Schnell wischte sie die Augenwinkel trocken und trat vom Fenster zurück. Dann ging sie unter die Dusche, anschließend sofort ins Bett.

 

Grace saß noch lange am Küchentisch und dachte über Alyssa nach. Irgendetwas gefiel ihr nicht an der Haltung der Frau. Sie wirkte auf der einen Seite so leidenschaftlich daran interessiert, ihre Kinder zu finden, so dass sie sogar die Beamtin im Jugendamt bedrohte. Auf der anderen Seite schien sie manchmal so gleichgültig, vor allem bei der Erzählung über die Tat. Und wieso hatte sie sich damals nicht für eine offene Adoption entschieden?

Normalerweise kann eine verurteilte Mutter, die eine lange Gefängnisstrafe antreten muss, entscheiden, ob sie die Kinder bei Verwandten unterbringt oder zur Adoption freigibt. Wenn es keine nahen Verwandten gibt, kann die Adoption in die Hände einer Adoptionsagentur oder eines Anwalts gelegt werden. Dann handelt es sich um eine private Adoption, bei der die Mutter die Kontaktdaten der Adoptiveltern erhält. Bei solch einer offenen Adoption kann die Mutter sogar Einfluss darauf nehmen, welche Eltern ihre Kinder adoptieren und versorgen sollen. Sie kann auch weiterhin in Kontakt mit ihnen bleiben.

Wenn die Mutter nicht in der Lage ist, eine solche Entscheidung zu treffen, übernimmt der Staat die Versorgung der Kinder, das bedeutet, sie werden zu Pflegeeltern gebracht oder anonym zur Adoption freigegeben. Dabei werden Geschwister oftmals voneinander getrennt oder verlassen den Bundesstaat, so dass sie ihre biologische Mutter nicht mehr im Gefängnis besuchen können. Nur zwanzig Prozent der inhaftierten Mütter in den USA bekommen regelmäßig Besuche von ihren Kindern.

Fakt ist, dass laut Gesetz eine Mutter nach mehr als fünfzehn Monaten, in denen die Kinder bei Pflegeeltern untergebracht sind, jegliches Recht an ihren Kindern verliert. Danach darf sie keinen Kontakt mehr zu ihnen haben.

Es war also kein Wunder, dass die Beamtin vom Jugendamt keine Unterlagen an Alyssa geben konnte. Und durfte.

Grace überlegte einen Moment, ob es ein Vertrauensbruch an Alyssa war, wenn sie jetzt im Internet ein bisschen nach dem Fall ihrer ersten Klientin recherchierte. Schließlich entschied sie, dass sie sich nicht allein auf das Wort ihrer Kundin verlassen, sondern sich allumfassend informieren sollte. Deshalb schlug sie erneut den Computer auf und gab den Namen Alyssa Nuori Wilkins ein.

Es gab sofort mehrere Treffer. Alyssa erschien in der Liste der Insassen des Central California Women's Facility in Chowchilla. Dabei handelt es sich um das größte Frauengefängnis der Vereinigten Staaten, wo auch die Todeskandidatinnen von Kalifornien untergebracht werden.

Ein Artikel, der über die Frauen mit den längsten Freiheitsstrafen in Kalifornien berichtete, erwähnte sie ebenfalls. Darin wurden auch sämtliche Anklagepunkte genannt, die Alyssa aufgezählt hatte.

Auf Seite zwei der aufgeführten Treffer fand Grace schließlich weiterführende Informationen. Ein Anwalt beschrieb die spektakulärsten Mordfälle der letzten zwanzig Jahre in Kalifornien. Alyssas Fall rangierte auf Platz acht. Und er war offensichtlich genauso passiert, wie Alyssa ihn beschrieben hatte, jedenfalls die Mord-Totschlag-Version des Staatsanwaltes. Ein Inspektor des Tierschutzamtes war gekommen, um das Waisenhaus und Tierheim zu überprüfen, und wurde erstochen. Alyssas Version der Notwehr wurde am Rande erwähnt, jedoch als äußerst unwahrscheinlich abgetan. Den Ehemann fand man am Morgen nach der Tat am Ufer des Flusses. Kopfwunde, vermutlich vom Fall ins steinige Flussbett verursacht. Er hatte Wasser in der Lunge, war also ertrunken. Der Fall schien klar zu sein, das Urteil in Anbetracht der Vorwürfe mehr als gerecht.

Es war wirklich eine schreckliche Geschichte, die – entgegen der Meinung des Artikels – jedoch noch viele Fragen offen ließ. Wie hatte Alyssa den Inspektor töten können, wenn sie bewusstlos war? Hatte sie ihn während eines Blackouts umgebracht, so dass sie sich an nichts erinnern konnte? Wodurch wäre ein Blackout ausgelöst worden? Wieso kam sie angezogen und entfernt vom Tatort wieder zu sich? Woher hatte sie auf einmal das Messer? Hatte sie es die ganze Zeit bei sich getragen?

Grace verspürte auf einmal ein feines Kribbeln über ihren Rücken wandern. Das klang nach einem Puzzle, das darauf wartete, richtig zusammengesetzt zu werden. Allerdings würde es Alyssa nicht mehr helfen, Grace würde damit fünfzehn Jahre zu spät kommen.

Grace seufzte, schaltete den Computer aus und ging nach oben, um sich ebenfalls zur Ruhe zu begeben.

 

WIE ES BEI INTERESSANTEN FÄLLEN mit vielen offenen Fragen so ist, lag Grace lange wach. Sie vergaß darüber sogar das Drama mit ihren Haaren, sondern dachte lediglich über das Schicksal ihres Gastes nach.

Es muss schrecklich sein, alles zu verlieren, vor allem die eigenen Kinder. Nicht zu wissen, wie es ihnen geht und ob sie glücklich sind, ist vermutlich die härteste Strafe überhaupt für eine Mutter.

Die lange Haft erklärt allerdings auch Alyssas müdes und verbittertes Aussehen und dass sie vorzeitig gealtert scheint. Sie hat ihre besten Jahre im Gefängnis verbracht und steht nun einsam und ohne Familie da.

Falls Alyssa wirklich in Notwehr gehandelt hat, wie sie erzählt hat, wäre ihre Strafe ein Verbrechen an ihr, das kaum wiedergutgemacht werden kann.

Irgendwann schlief Grace schließlich ein, doch nur wenig später erwachte sie, weil sie das Gefühl hatte, dass jemand neben ihrem Bett stand.

Es war stockdunkel in dem Raum, nur ein schmaler Streifen Mondlicht drang durch einen Spalt in der Gardine ins Zimmer und malte einen hellen Strich an die Wand gegenüber von Grace’ Bett. Aber das Licht reichte aus, um schemenhaft eine Figur im Raum erkennen zu können.

Alyssas Lockenkopf hob sich dunkel von dem Lichtschein ab.

„Was machen Sie hier?“, fragte Grace schlaftrunken und schaltete die Nachttischlampe an.

„Es ist noch jemand im Haus“, flüsterte Alyssa. „Jemand Vergangenes.“

Grace war mit einem Schlag hellwach und richtete sich auf. „Was meinen Sie? Ein Einbrecher ist hier?“

„Nein, kein Einbrecher. Eine Seele. In diesem Haus wohnt eine Seele.“

Grace ließ sich zurück in ihr Kissen sinken. „Es ist ein altes Haus, hier knackst es hin und wieder im Gebälk, so dass es wie Schritte klingt. Machen Sie sich keine Sorgen, hier spukt es nicht.“

Alyssa schüttelte den Kopf. Sie wirkte nicht ängstlich oder besorgt, sondern ganz ruhig. „Die Seele braucht Sie.“

„Wofür?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich kann es spüren.“

Grace versuchte ein beruhigendes Lächeln. „Alyssa, es war ein langer Tag. Ich denke, Sie sollten schlafen. Gehen Sie zurück ins Bett und genießen Sie die erste Nacht in Freiheit. Es gibt hier keine Geister. Gute Nacht.“

Alyssa zögerte. Doch dann ging sie zurück in ihr Schlafzimmer und legte sich wieder zur Ruhe. Grace lauschte den Geräuschen des alten Hauses, die völlig normal zu sein schienen, dann löschte sie das Licht und schlief wieder ein.

DIE LISTE

 



EIN FRECHER SONNENSTRAHL, der genau durch die Ritze im Vorhang schien, durch die in der Nacht der schmale Streifen Mondlicht geschienen hatte, weckte Grace. Die Morgensonne spiegelte sich im Fenster des benachbarten Hauses und leuchtete daher hell in Grace‘ Schlafzimmer.

Grace streckte sich, bevor sie aufstand und unter die Dusche sprang. Als sie fertig angezogen war, lauschte sie ins Haus, ob sie eventuell schon ihre Besucherin vernehmen konnte. Aber es schien alles still zu sein. Alyssa schlummerte vermutlich noch. Es wäre das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass sie so lange schlafen konnte, wie sie wollte.

Grace ging hinunter und brühte einen Kaffee auf. Es war fast neun, eine gute Zeit für ein gemütliches Frühstück, bevor sie mit der Arbeit beginnen würde.

Sie deckte den Tisch und stellte alle Leckereien, die sie selbst gern morgens aß, auf den Tisch. Dazu legte sie alles, von dem sie dachte, dass es Alyssa schmecken würde. Mit einfachen Worten: Sie räumte den halben Kühlschrank leer und stellte dessen Inhalt auf den Tisch. Dann setzte sie vorsichtshalber noch Wasser für Tee an, falls Alyssa keine Kaffeetrinkerin war.

Danach war es kurz vor halb zehn, doch Alyssa war noch immer nicht aufgetaucht.

Grace überlegte, ob sie den Gast noch ein Weilchen schlafen lassen oder lieber wecken sollte. Schließlich beschloss sie, vorsichtig an die Tür zu klopfen und Alyssa darauf hinzuweisen, dass sie den Bewährungshelfer aufsuchen musste.

Es antwortete niemand auf ihr Klopfen.

Vorsichtig drückte Grace die Klinke herunter und lugte ins Zimmer.

„Alyssa?“, fragte sie. „Sind Sie ...?“ „wach“ wollte sie eigentlich sagen, doch das Wort blieb ihr im Halse stecken. Das Zimmer war leer, das Bett gemacht.

Grace sah vorsichtshalber im Badezimmer nach, ob Alyssa sich vielleicht darin befand, aber den Weg machte sie umsonst. Der Vogel war ausgeflogen.

Als Grace ans Bett trat, entdeckte sie einen Zettel, der aus dem Papierkorb zu kommen schien. Er war zerknittert und gehörte vormals zu einer Verpackung für einen Stoß Liebesromane, den Grace im Buchladen im Zentrum der Stadt erstanden hatte.

„Sorry“, stand darauf. Weiter nichts.

Für einen Moment beschlich Grace die Angst, dass Alyssa etwas Wertvolles gestohlen haben könnte, wofür sie sich jetzt entschuldigte. Aber dann beruhigte sie sich. Im Haus selbst gab es nichts, was sich zu stehlen lohnte. Die Millionen arbeiteten emsig auf der Bank und waren vom Anwalt Mr. Boden weise investiert worden. Alyssa entschuldigte sich, weil sie einfach gegangen war, ohne sich zu verabschieden. Aber wohin? Und warum?

Verwundert schlurfte Grace zurück in die Küche und trank enttäuscht einen Tee. Sie hätte der verzweifelten Frau gern geholfen, ihre Kinder zu finden. Und vielleicht hätte sie sogar das Rätsel um den angeblichen Totschlag an dem Inspektor gelöst. Dass Alyssa so einfach ging, war nicht nur höchst eigenartig, sondern auch ernüchternd. Dabei hatte Alyssa gestern noch so wild entschlossen gewirkt, ihre Kinder finden zu wollen! Bedeutete ihr Verschwinden, dass sie sie nun nicht mehr sehen wollte, oder verzichtete sie lediglich auf die Hilfe von Grace?

Grace seufzte tief und wollte in eine Waffel beißen, als es an der Tür klopfte.

Das Lächeln kehrte zurück auf Grace‘ Gesicht. Womöglich war Alyssa nur kurz zum Zeitungsstand gegangen oder joggen gewesen und kam nun wieder.

Sie eilte zur Tür und riss sie auf. Aber als sie sah, wer vor ihr stand, schrie sie auf.

„Mabel!“, kreischte sie freudig überrascht. „Was machst du denn hier?“

Auf der Treppe stand eine Frau Anfang fünfzig mit schulterlangen blonden Haaren und braungebrannter Haut, die Grace glücklich anstrahlte.

„Hallo Grace! Ich bin ...“, rief sie, kam jedoch nicht zu mehr, denn Grace fiel ihr um den Hals und schien einen Freudentanz mit der Angekommenen veranstalten zu wollen, denn sie zog und zerrte sie von einer Seite auf die andere.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, lachte Mabel und löste sich heiter aus der Umklammerung der Freundin. „Es ist großartig, dass du dich nicht verändert hast. Immer noch lässt du dich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken.“

Grace trat einen Schritt zurück. „Was meinst du denn damit?“

„Ich habe zehn Kilo zugenommen“, seufzte Mabel. „Das Essen in Frankreich war zu gut und ich war viel zu müde, um Sport zu treiben.“

Grace musterte die Freundin kritisch, die tatsächlich an den Hüften etwas kräftiger geworden war. Auch an der Brust hatte sie zugelegt. Aber die Extrakilos standen ihr sehr gut. Sie wirkte nicht mehr dünn, sondern weiblich und gesund. Außerdem fiel Grace das Strahlen in den Augen auf.

„Du siehst super aus, was anderes kann ich nicht sagen. Dafür habe ich gerade eine haarige Katastrophe durchzustehen.“ Sie deutete auf ihre raspelkurzen Haare.

Mabel betrachtete sie, dann schüttelte sie lachend den Kopf. „Das ist halb so schlimm. Das wächst ja wieder!“

„Bis dahin muss ich durchhalten. Umso besser, dass du hier bist! Komm rein! Ich hoffe, du hast Hunger! Ich habe nämlich gerade den Tisch für Zwei gedeckt, mein Gast hat mich jedoch leider versetzt.“

„Männer“, winkte Mabel ab und trat ins Haus. „Wenn sie nicht mit dir frühstücken wollen, kannst du sie abschreiben.“

„Es war kein Mann“, erklärte Grace lächelnd und brachte Mabel ins Haus. Doch bevor sie dazu kam, Mabel alles über Alyssa zu erzählen, führte sie die Freundin herum. Sie zeigte ihr das gemütliche Wohnzimmer und die geräumige Küche, die beiden Schlafzimmer und vor allem den fantastischen Blick aus dem Fenster.

„Hast du die Surfer schon aus der Nähe gesehen?“, fragte Mabel schmunzelnd, als sie in der Ferne den Pazifik in der Sonne funkeln sah.

„Natürlich“, grinste Grace. „Und sie haben mich ebenfalls aus der Nähe betrachtet. Es war großartig.“

„Aber keiner hat dein näheres Interesse geweckt?“

„Noch nicht.“

Schmunzelnd wandte sich Mabel ab. „Es ist ein schönes Haus. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Und nicht nur wegen der Surfer.“

Grace nickte lächelnd. Sie hatte ihre Vorliebe für Surfer mit braungebrannten, muskulösen Körpern in Daytona Beach entdeckt, wo sie während ihrer Ausbildung zur Polizistin einen Lehrgang besucht hatte. Der Anblick der jungen Männer in den Wellen von San Francisco hatte letztlich den Ausschlag dafür gegeben, dass Grace eine Millionen-Erbschaft angenommen und dieses Haus bezogen hatte.

„Also, wer hat dich heute versetzt?“, fragte Mabel, während sie die Treppen hinunterstiegen und in die Küche gingen.

„Meine erste Klientin“, seufzte Grace. „Ich hoffe, das ist kein schlechtes Zeichen. Ich bin seit gestern nämlich Privatdetektivin.“

„Ehrlich?“, rief Mabel strahlend. „Herzlichen Glückwunsch! Auch das ist eine gute Entscheidung. Ich weiß doch, wie gerne du Rätsel löst.“

„Ja, und das von Alyssa klang sehr vielversprechend. Aber sie ist einfach ausgebüxt. Und ich habe keine Ahnung, wo ich sie auftreiben kann.“

„Was ist ihr Problem?“

Grace erzählte Mabel die Geschichte von Alyssa, während sie der Freundin Kaffee eingoss und selbst erneut ordentlich beim Frühstück zulangte.

„Ich kann mir vorstellen, wie sie sich fühlen muss“, seufzte Grace schließlich erneut, als sie alles Wichtige berichtet hatte. „Allein in einer Welt, die sie fünfzehn Jahre lang nicht betreten durfte und die ihr fremd vorkommen muss. Und dann die Sehnsucht nach den Kindern, von denen sie nichts weiß. Sie muss sich hundeelend fühlen.“

„Vermutlich“, erwiderte Mabel nachdenklich. „Ich hoffe nur, sie will die Kinder nicht im Alleingang finden. Dabei kann sie nämlich wieder im Knast landen.“

„Ich weiß. Deshalb mache ich mir Sorgen um sie. Außerdem ...“ Grace brach nachdenklich ab.

„Außerdem was?“

„Außerdem wirkte sie manchmal so seltsam, so distanziert. Aber das kann am Knastalltag liegen. Dort lernt man sicher nur zu gut, seine Gefühle zu verbergen.“

„Du kannst nichts für sie tun, wenn sie es nicht möchte.“

„Nein, vermutlich nicht“, seufzte Grace ein drittes Mal. Doch danach hellte sich ihr Gesicht wieder auf. „Doch nun musst du von Frankreich erzählen? Wie war die Weinernte? Bist du sexy Franzosen begegnet?“

Mabel lachte. „Wenn du einen verwitterten Bauern mit einem Traktor, der noch älter ist als seine letzten Zähne, als sexy bezeichnest, ja. Es war großartig.“ Mabel begann von einem Weingut im Süden Frankreichs zu erzählen, wo sie Tonnen von Wein gepflückt hatte, zusammen mit einer Handvoll Erntehelfer aus allen Teilen des Landes. Die meisten abgebrannt und ruhelos von einem Ort zum anderen ziehend, aber meistens bester Laune und mit einer wunderbaren Lebenslust gesegnet. Mabel hätte dort zurück zum Leben gefunden, berichtete sie. Die unverwüstlichen Franzosen hätten ihr gezeigt, wie vielfältig das Leben sein konnte und dass sie nicht unbedingt auf einen Mann in ihrem Leben angewiesen war, um glücklich zu sein.

„Du hast also wirklich nicht mehr vor, dich umzubringen?“, fragte Grace vorsichtig und dachte mit Schaudern an den Moment in Mabels Hotelzimmer in Texas, als die Freundin nicht mehr leben wollte.

„Wirklich nicht. Das wusste ich eigentlich schon nach der Baumwollernte.“

„Und was ist mit den Männern?“

„Denen habe ich gänzlich abgeschworen. Ich will gar nichts mehr zu tun haben mit ihnen. Es geht sehr gut ohne.“

„Na, da bin ich ja mal gespannt, wie lange du es aushältst“, erwiderte Grace augenzwinkernd. „Aber sag an: Zuerst Baumwollernte in Mississippi, dann Weinlese in Frankreich. Was willst du als nächstes pflücken?“

„Vielleicht wieder Wein, doch dieses Mal in San Francisco? Ich habe jetzt Erfahrung, und Kalifornien gehört schließlich zu den größten Weinanbaugebieten in den Vereinigten Staaten“, erwiderte Mabel schmunzelnd.

„Du bleibst hier?“, kreischte Grace genauso aufgeregt wie vorhin, als die Freundin plötzlich vor der Tür gestanden hatte.

„Vielleicht“, lächelte Mabel.

„Das wäre fantastisch! Du wirst auch Privatdetektivin und wir arbeiten wieder zusammen.“

„Falls uns nicht ständig die Klienten weglaufen. Wir sollten wirklich darüber nachdenken.“

„Es werden weitere kommen“, sagte Grace im Brustton der Überzeugung. „Wir werden wieder einen Serienkiller zur Strecke bringen, wie wir es zusammen in San Antonio getan haben. Außerdem habe ich gerade beschlossen, Alyssas Bewährungshelfer aufzusuchen. Vielleicht weiß der, wo sie sein könnte. Und dann löse ich den Fall ihrer Kinder doch noch, vielleicht sogar mit deiner Hilfe.“

„Ich dachte mir, dass du nicht so leicht aufgibst“, lachte Mabel. „Du bist großartig, auch ohne mich.“ Sie stand auf und nahm Grace in den Arm. „Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen“, fügte sie ruhig hinzu. „Danke nochmals, dass du mich damals gerettet hast. Ich bin sehr froh, am Leben zu sein und all das erfahren zu dürfen, was in den vergangenen Wochen passiert ist.“

Grace löste sich aus der Umarmung. „Und ich bin erst froh“, lachte sie und wischte eine Träne der Rührung aus ihrem Augenwinkel. „Ich fühle mich glücklich, dass du in der Stadt bleiben willst. Du kannst das Zimmer gleich neben der Treppe haben. Es ist mit Blick auf die Straße und den Garten. Die Straße ist ruhig und fast ein bisschen idyllisch. Ich brauche die Aussicht auf den Pazifik, du weißt schon, warum“, fügte sie fast ein bisschen entschuldigend hinzu.

Mabel lachte erneut. „Moment, Moment! Ich will dir nicht zur Last fallen.“

„Das tust du nicht, ganz sicher nicht“, beteuerte Grace.

„Vielleicht für eine Weile“, lenkte Mabel ein und wurde ernster. „Aber dann würde ich mir gern ein eigenes Haus suchen. Ich will wirklich nicht, dass du mich bald satt hast. Außerdem bin ich es inzwischen gewohnt, meine eigene Bleibe zu haben und unabhängig zu sein. Sei mir nicht böse.“

Grace verzog leicht schmollend den Mund, nickte jedoch verständnisvoll. „Das sehe ich ein. Ich bin dir nicht böse.“

„Gut“, lächelte Mabel. „Aber ich verspreche dir, mit dir jederzeit abends auszugehen und Tequila zu trinken.“

„Das klingt auch fantastisch“, strahlte Grace. „Damit bin ich gänzlich getröstet.“

„Dann werde ich jetzt meine Sachen aus dem Auto holen und mich im Zimmer neben der Treppe häuslich einrichten. Und du kannst deine Verschwundene suchen gehen.“

„Das mache ich.“ Grace umarmte ein letztes Mal ihre Freundin, bevor sie frische Bettwäsche aus dem Schrank holte und das Bett, das Alyssa in der Nacht zuvor benutzt hatte, neu bezog. Dann gab sie Mabel frische Handtücher und erklärte ihr, was gegen den klemmenden Wasserhahn zu tun sei. Danach kramte sie die Adresse von Alyssas Bewährungshelfer hervor, die sie gestern herausgesucht hatte, setzte den Hut wieder auf und fuhr ins Zentrum der Stadt.


***


DAS BÜRO VON ANTHONY O’NEILL lag in einem kleinen Haus, das von zwei riesigen Wolkenkratzern eingekeilt wurde. Die Sonne schaffte es nur im Juni zur Mittagszeit, wenn sie am höchsten stand, über die Hochhäuser auf den Häuserzwerg zu scheinen. Den Rest des Jahres lag er im ewigen Schatten. Dahinter erstreckten sich die Brücken des Highways. Das Häuschen war braun mit grünen Fensterläden und Türrahmen, die teilweise mit Moos bewachsen waren. Im Erdgeschoss befand sich eine Bäckerei, im ersten Stock das Büro von O’Neill, außerdem das eines Versicherungsvertreters.

Als Grace an die Tür von Anthony O’Neill klopfte, ertönte durch die Holztür ein unwilliges „Herein“.

Grace gehorchte der Aufforderung und fand sich in einem kleinen düsteren Raum wieder. Ein riesiger Schreibtisch stand darin, außerdem mehrere Aktenschränke und Regale. Neben der Tür hing an der Wand ein riesiges Filmposter von „Papillon“, ein Gefangenenfilm aus den 1970er Jahren mit Dustin Hoffman und Steve McQueen.

„Sind Sie Anthony O’Neill und zuständig für einen Ex-Häftling mit Namen Alyssa Wilkins?“, fragte Grace.

„Wer will das wissen?“, knurrte der Angesprochene. Er saß hinter dem Schreibtisch und sah seine Besucherin missmutig an. Er hatte braunes Haar und graubraune Augen, einen athletischen Körper und kräftige Hände. Seine linke Wange wurde von einer Narbe entstellt, die den Gesamteindruck von ihm jedoch nicht sonderlich störte. Wenn er sein Gesicht nicht zu solch einer finsteren Miene verzogen hätte, hätte man ihn als sehr attraktiv bezeichnen können.

„Mein Name ist Grace Boticelli. Ich bin Privatdetektivin und auf der Suche nach Alyssa. Ich hatte gehofft, sie hätte sich bei Ihnen gemeldet.“

„Alyssa Wilkins? Bin ich tatsächlich für sie zuständig?“ Er wurde nicht einmal ansatzweise freundlicher, jetzt, da er wusste, wen er vor sich hatte.

„Das hat sie jedenfalls behauptet. Sie wurde gestern entlassen.“

O’Neill stand auf und kramte einen roten Ordner aus einem Regal. Der Mann war groß und schlank und konnte locker bis in das oberste Fach reichen. In dem kleinen Raum wirkte er fast hünenhaft. Er trug eine Waffe am Gürtel.

Er schlug den Ordner auf und blätterte darin, bis er innehielt. „Alyssa Nuori Wilkins. Tatsächlich, ich soll sie betreuen. Die Papiere kamen vorige Woche. Nein, sie war noch nicht hier.“

„Wissen Sie vielleicht, wo sie sich aufhalten könnte?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe hier nur ihre persönlichen Daten wie Geburtstag und Augenfarbe, außerdem das Urteil von ihrer Verhandlung. Keine Angaben zu näheren Verwandten oder Freunden, bei denen sie unterkommen könnte.“

„Gibt es eine Art Wohnheim für Ex-Häftlinge?“

„Ja, gibt es, aber um dort einzuziehen, müssen sich die Betroffenen zuerst bei ihrem Bewährungshelfer melden. Ohne Empfehlungsschreiben kommt dort niemand unter.“

Grace dachte einen Moment nach, inwiefern O’Neill bei ihrem Anliegen helfen könnte, kam jedoch zu keinem Ergebnis.

Dafür hatte O’Neill eine Frage an sie. „Wieso suchen Sie sie überhaupt?“, fragte er misstrauisch.

„Sie wollte meine Hilfe, um ihre Kinder zu finden. Ich habe sie bei mir übernachten lassen, aber heute früh ist sie einfach verschwunden.“

„Haben Sie das Silber nachgezählt, ob noch alles vorhanden ist?“, fragte der Mann spöttisch.

„Sie hat nichts mitgenommen. Sie ist einfach gegangen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wo sie steckt. Wenn sie sich bei mir jedoch nicht innerhalb der ersten drei Tage nach ihrer Entlassung meldet, bekommt sie große Probleme. Sie steht nach ihrer Haft unter Aufsicht und benötigt Hilfe bei der Wiedereingliederung. Wenn sie die nicht annimmt oder sich als Gefahr für die Umwelt entpuppt, muss sie damit rechnen, den Rest ihrer Strafe auch noch abzusitzen.“

„Ich denke, dass sie das weiß. Sie wird bestimmt bei Ihnen erscheinen“, erwiderte Grace. „Wären Sie so nett, mich zu kontaktieren, wenn sie kommt?“

Anthony O’Neill zögerte, doch dann nickte er. „Lassen Sie Ihre Nummer hier, dann rufe ich Sie an.“

Grace notierte ihre Handynummer und ihren Namen auf einem Zettel, den O’Neill ihr reichte.

„Sie scheint nach der langen Haft sehr unsicher zu sein“, sagte Grace, während sie sich abwandte und zur Tür ging. „Unsicher und verloren. Bitte seien Sie nett zu ihr.“

Er verzog den Mund zu einer spöttischen Miene. „Unsicher und verloren sind sie alle. Die meisten verstecken es nur hinter einer rauen Schale. Das macht es nicht immer leicht, nett zu sein.“

„Das kann ich mir vorstellen“, antwortete Grace. „Bitte versuchen Sie es trotzdem.“

Er knurrte etwas, was Grace nicht deutlich verstehen konnte, was sie aber als Zustimmung deutete.

„Auf Wiedersehen.“

„Wiedersehen“, erwiderte er, noch immer knurrig.

Dann ging Grace zur Tür hinaus. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus angekommen blieb sie stehen.

Was würde ich tun, wenn ich aus dem Knast rauskäme? Zu wem würde ich gehen? Eine Verwandte? Aber wenn Alyssa eine nahe Verwandte hätte, hätte sie bei ihr vielleicht die Kinder untergebracht. Eine Freundin? Ein Freund? Der Anwalt? Jemand, der ihr nahesteht und wichtiger zu sein scheint als ich.

Grace fröstelte im Schatten der riesigen Wolkenkratzer und ging zum Auto. Wenn Alyssa eine Freundin und einen Vertrauten hätte, dann hätte der- oder diejenige sie bestimmt im Gefängnis besucht.

Grace startete den Wagen und fuhr nach Chowchilla.

 

***


MABEL BENÖTIGTE NICHT LANGE, um ihre Tasche mit ein paar Sachen in Grace‘ Haus zu tragen. Vergnügt summte sie ein Lied, während sie ihre Kleidung auspackte und in den Schrank hing. Danach ging sie noch einmal in Ruhe durch alle Räume, schnupperte an den duftenden Lilien und sah aus jedem Fenster, um den Blick und die Aussicht zu genießen. Sie war froh, nach San Francisco gekommen zu sein. Sie war froh, überhaupt am Leben zu sein. Es hatte Tage in der jüngsten Vergangenheit gegeben, da hatte sie keine Lust mehr darauf verspürt. Ihr Freund hatte mit einer anderen Frau ein Kind bekommen, die meisten Männer interessierten sich nur für Mabels Äußeres und nicht für ihre Persönlichkeit, und als sich dann auch noch ein vermeintlicher Geliebter als Wahnvorstellung entpuppte, hatte sie genug gehabt. Eine Überdosis Tabletten sollte sie aus dieser Welt befördern. Doch zum Glück war Grace rechtzeitig zur Stelle gewesen und hatte ihr Mut zugesprochen, so dass Mabels Überlebenswille zurückkehrte. Mabel kündigte ihren Job als Kriminalkommissarin und begann, ihr Leben völlig umzukrempeln. Dass sie auf den Baumwellfeldern und an den Weinbergen mit ihrer Hände Arbeit einen sichtbaren Ertrag schaffen konnte, zeigte ihr einen neuen Sinn für ihr Leben und für ihren persönlichen Wert als Mensch. Und nun genoss sie jeden Moment, den sie erfahren durfte, in vollen Zügen.

In der Küche warf sie einen prüfenden Blick in den Kühlschrank. Zu essen war genügend vorhanden. Woran es mangelte, waren Wein und Tequila. Denn dass die beiden Freundinnen wieder vereint waren, musste heute Abend unbedingt ausgiebig begossen werden.

Mabel ging aus dem Haus und schloss die Tür. Dann machte sie sich zu Fuß auf den Weg durch die Straßen, um einen Supermarkt zu finden.

Nur einen Block weiter gabelte sich die Pine Road, die Straße, die schräg zur Sacramento Street verlief, in der Grace‘ Haus stand; eine Seite verlief nach Norden, die andere fiel steil nach Westen ab. Mabel entschied sich, nach Westen zu laufen, weil sie eine Ansammlung von mehreren Geschäften erkennen konnte. Gemütlich schlenderte sie über den Bürgersteig und an den Läden vorbei, betrachte die Auslagen und studierte kritisch die Preisschilder. In San Francisco war alles deutlich teurer als in Texas, aber das war nicht weiter überraschend. San Francisco war wesentlich spannender und trendiger als die texanischen Städte. Viele junge Leute lebten hier, die in Silicon Valley bei den Internet- und Technologie-Riesen arbeiteten. Ein großer Hafen sorgte für Weltoffenheit, und das Gemisch aus vielen verschiedenen Sprachen und Kulturen erinnerte fast ein wenig an New York.

Diese Klasse hatte offensichtlich ihren Preis.

Als sie auf der gegenüberliegenden Seite einen Supermarkt entdeckte, ging Mabel zur Ampelkreuzung, um die Straße zu queren. Ein Mann Ende fünfzig mit grauen Schläfen und einem fesch gestutzten Bart kam ihr mit einem Lächeln entgegen. „Guten Tag, schöne Frau“, sagte er bewundernd. „Lust auf einen Kaffee?“

Mabel verzog den Mund zu einer schiefen Miene. „Sie verschwenden Ihre Zeit. Männer interessieren mich nicht mehr“, sagte sie kurz angebunden und lief zur Ampel.

„Blöde Lesbe“, erwiderte der Mann beleidigt, bevor er sich abwandte und kopfschüttelnd weiterging.

Mabel ärgerte sich über die Bemerkung des Mannes, musste aber zugeben, dass seine missmutige Reaktion nicht ganz unbegründet war. Sie hatte nicht nett auf seine Einladung geantwortet. Aber was sollte sie ihm falsche Hoffnungen machen, wenn sie lieber allein bleiben wollte? Er vergeudete Zeit und Gefühle, die er lieber an eine andere Frau verschenken sollte.

Nachdenklich blieb Mabel an der Ampel stehen. Als sie bei Grün loslaufen wollte, erhielt sie einen derben Schlag in den Rücken.

Ungehalten drehte sie sich um, weil sie dachte, der Mann wäre zurückgekehrt und würde jetzt handgreiflich werden. Doch sie entdeckte eine Frau, die hastig den Bürgersteig entlang eilte und ein dreijähriges Kind an der Hand hinter sich herzerrte. Das Kind schien gestrauchelt zu sein, so dass es gegen Mabel gefallen war.

„Entschuldigung“, murmelte die Frau und hastete weiter, auf die andere Straßenseite zu. Das Kind stolperte ihr unbeholfen nach.

„Hm“, murmelte Mabel und rieb sich die schmerzende Stelle im Rücken. „Da scheint es jemand extrem eilig zu haben.“

Die Frau reagierte nicht, sondern hetzte weiter. Allerdings stolperte sie jetzt selbst und schien Schwierigkeiten zu haben, sich aufrecht zu halten. Ihr Gesicht war in Schweiß gebadet, beim Atmen keuchte sie.

Auf der anderen Straßenseite angekommen, musste die Fremde innehalten und sich an einem Straßenschild festhalten, um Luft zu holen.

„Sie sollten eine kleine Pause machen“, sagte Mabel, als sie sich ihr und dem Kind näherte.

Die Frau schüttelte den Kopf und ließ das Schild los, um weiterzulaufen. Doch kaum war sie ein paar Schritte gegangen, fing sie an zu taumeln.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, rief ihr Mabel zu.

Die Frau antwortete nicht, sondern fiel einfach um. Sie knallte mit dem Kopf auf die Bordsteinkante, ihr Körper landete reglos im Rinnstein.

Mabel zögerte keinen Augenblick, sondern rief sofort einen Krankenwagen. Danach versuchte sie, die Frau besser hinzulegen, in der Hoffnung, dass sie in der Zwischenzeit zur Besinnung käme. Doch auch als sie sich auf dem Fußweg in stabiler Seitenlage befand, rührte sie sich nicht. Mabel betrachtete sie etwas genauer. Die Fremde war blass und dünn, fast untergewichtig. Ihre Sachen wirkten billig und schon abgetragen.

Auf einmal fiel Mabel das Kind wieder ein. Der Junge stand ruhig neben der bewusstlosen Frau und spielte verunsichert mit seinen Händen. Er sah der Frau sehr ähnlich, besaß dieselbe Haarfarbe, dieselbe Gesichtsform und die gleichen Augen. Er musste ihr Sohn sein.

„Wie heißt du?“, fragte Mabel.

„Franklin“, erwiderte er.

„Franklin ist ein sehr hübscher Name. Wie ist dein Familienname?“, wollte Mabel wissen.

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Franklin“, erwiderte er.

„Okay, Franklin“, sagte Mabel und strich dem Jungen etwas linkisch über den Kopf. „Deine Mama ist krank, sie wird gleich ins Krankenhaus gebracht. Hast du jemanden, zu dem du gehen kannst?“

Der Junge nickte.

„Zu wem wäre das?“, fragte Mabel nach.

„Mama.“

„Mama?“, seufzte Mabel. „Ich weiß nicht, ob du mit ins Krankenhaus gehen solltest. Dort ist es nicht so schön für kleine Jungs.“

Der Junge sah Mabel aus großen, blauen Augen an, erwiderte jedoch nichts.

„Was machen wir denn nun mit dir?“, fragte Mabel, als sie in der Ferne die Sirene des Krankenwagens hörte. „Ich habe gerade nichts weiter zu tun. Wenn du willst, bleibe ich bei dir und pass auf dich auf, bis der Arzt kommt. Okay?“

Der Junge nickte. „Okay.“

Nur einen Augenblick später hielt der Wagen mit dem Notarzt direkt neben der Bewusstlosen an. Mabel berichtete dem Arzt, einem großen, dunkelhaarigen Mann Mitte dreißig, was sie beobachtet hatte. Dann untersuchte der Mann die Vitalfunktionen der Fremden. Ihr Puls war schwach, aber beständig.

„Wir bringen sie ins St. Fredericks Hospital. Dort werden weitere Untersuchungen durchgeführt“, sagte er abschließend, nachdem die Frau in den Krankenwagen gelegt worden war.

„Was ist mit ihrem Sohn?“

Der Notarzt betrachtete nachdenklich den Kleinen, dann schüttelte er den Kopf. „Bei uns kann er nicht mitfahren. Wir können uns nicht um ihn kümmern. Sie müssen das Jugendamt informieren.“

„Und wenn ich selbst mitkomme und ihn zu seiner Mutter bringe?“

„Das können Sie natürlich tun. Bis später.“ Er nickte Mabel zu, bevor er in den Krankenwagen stieg und mit dem Sanitäter davonfuhr.

„Dann fahren wir mal hinterher“, sagte Mabel und schnappte sich die Hand des Jungen, um mit ihm zurück zu Grace‘ Haus zu gehen und danach ins St. Fredericks Hospital zu fahren.

 

***


DAS CENTRAL CALIFORNIA FRAUENGEFÄNGNIS von Chowchilla lag direkt gegenüber vom Valley State Gefängnis. Umgeben von Feldern, Wiesen und flachem Land lagen die Gebäude mitten im Nichts. In den vergangenen Jahren hatte es einige Skandale um die medizinische Betreuung im Gefängnis gegeben. Beispielsweise hatte ein Labor Rechnungen für HIV-Tests, Biopsien und Urinproben geschrieben, die niemals durchgeführt worden waren. Mehrere Insassen waren an Krankheiten gestorben, die durch bessere medizinische Betreuung hätten verhindert werden können. Später verklagten Häftlinge Ärzte und Krankenschwestern wegen medizinischer Kunstfehler, Verletzung der Sorgfaltspflicht und wegen unprofessionellen Verhaltens. Merkwürdigerweise zeigten die Programme zum Drogenentzug in diesem Gefängnis erschreckend wenig Wirkung. Und obwohl es ein Frauengefängnis war, waren nicht einmal die Hälfte der Wärter und Mitarbeiter Frauen.

Grace stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und lief zum Besuchereingang. Sie ließ die übliche Prozedur am Eingang über sich ergehen, ihre Personalien aufnehmen und die Tasche abgeben, bevor sie überhaupt mit einem Officer sprechen durfte.

„Ich benötige Informationen über eine gestern entlassene Insassin“, sagte sie dem Mann am Eingang, der sie unter buschigen Augenbrauen gelangweilt ansah. „Officer Peltham“ stand auf einem Schildchen an der Uniform.

„Gehen Sie zum Informationsschalter und lassen Sie sich einen Flyer geben“, sagte Peltham mit einem bemüht freundlichen Lächeln.

Grace sah sich um. „Informationsschalter?“, fragte sie ratlos, als sie kein dementsprechendes Schild entdecken konnte.

Der Mann lachte kurz auf, bevor er ernst wurde. „War nur ein Scherz. Es gibt keinen Infoschalter. Wir haben hier mehr als dreitausend Insassen, obwohl das Gefängnis nur für zweitausend ausgelegt ist. Denken Sie, ich kann Ihnen, wie aus der Hüfte geschossen, Einzelheiten über die Häftlinge geben? Da müssen Sie schon offiziell die Unterlagen anfordern.“

„Gibt es eine Art Besucherbuch, wo festgehalten wird, wer wen besucht hat?“

„Ja, im Computer werden alle Besucher registriert.“

„Kann ich bitte sehen, wer Alyssa Nuori Wilkins aufgesucht hat?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht. Sie sind nicht befugt, Einsicht zu nehmen.“

Grace stöhnte innerlich auf. „Ich habe gerade mit dem Bewährungshelfer von Miss Wilkins gesprochen. Sie ist verschwunden und wir wissen nicht, wo sie ist. Wir hoffen, wir können eine Freundin auftreiben, bei der sie untergekommen sein könnte.“

„Dann sollen der Bewährungshelfer oder Sie offiziell einen Antrag stellen.“ Der Mann blieb stur.

„Aber Miss Wilkins muss sich sofort melden. Wenn sie zu spät kommt, wird sie ernsthafte Probleme bekommen. Ein Antrag dauert zu lange.“

„Das ist ihr Problem, nicht meins“, erwiderte der Mann stoisch mit kalter Miene.

Grace wurde langsam wütend. „Ist es nicht Ihre Aufgabe, den Menschen, die ihre Strafe abgesessen haben, zu helfen? Oder sind Sie hier, um ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen? Kein Wunder, dass in diesem Gefängnis Frauen gestorben sind, weil sich keiner für sie interessiert hat. Wenn ich einen offiziellen Antrag stellen muss, werde ich gleichzeitig eine Klage für Vernachlässigung Ihrer Sorgfaltspflicht einreichen, Officer Peltham.“ Grace schnaubte verächtlich.

Der Mann verzog betroffen das Gesicht. Offenbar fielen die Worte auf fruchtbaren Boden. Er gab aber dennoch nicht nach. „Ich brauche trotzdem einen offiziellen Antrag“, murrte er.

„Dann reiche ich ihn nach. Ich zahle auch gerne alle Gebühren, die dafür fällig werden.“

„Gebühren?“ Der Mann runzelte verständnislos die Stirn.

„Es sind doch bestimmt Gebühren für solche Informationen fällig. Alle Informationen kosten etwas, oder etwa nicht?“ Grace sah ihn aus großen, naiv scheinenden Augen an und versuchte sogar ein zaghaftes Zwinkern.

Endlich begriff der Mann, dass er gerade bestochen werden sollte. Nun zögerte er nicht mehr. „Die Gebühr können Sie sofort entrichten. Fünfhundert Dollar“, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Grace jaulte innerlich auf bei dieser Summe, aber verlangte ihre Tasche, die sie bereits abgegeben hatte, zurück und holte das Portemonnaie heraus. Dann reichte sie dem Mann fünf Hundert-Dollar-Scheine. Er steckte sie ein, bevor er im Computer etwas eintippte.

„Wie war der Name der Insassin?“, fragte er nun wesentlich umgänglicher.

„Alyssa Nuori Wilkins.“

Er tippte den Namen ein, dann drückte er auf einen Knopf. Nach kurzem Blick auf den Inhalt der Datei schüttelte er jedoch den Kopf.

„Es gab kaum Besucher. Vor fünfzehn Jahren, als sie hierher kam, wurde sie von einer Lucy Fox besucht. Außerdem kamen ein paar Reporter, um sie zu interviewen. Aber sonst gab es niemanden, der sie sehen wollte.“

Grace verzog den Mund. Dafür hatte sie eben fünfhundert Dollar bezahlt? Nicht dass es ihr leid um das Geld tat, aber diese Info nützte ihr gar nichts.

„Was kann ich von Ihnen noch über Alyssa erfahren?“

„Nicht viel. Ich kann Ihnen nur den Namen der Wärterin geben, die am meisten mit ihr zu tun hatte. Der steht auch im Computer.“

„Das wäre nett.“

„Sylvia Panetti. Sie ist heute sogar hier. Sie können mit ihr reden. Ich rufe sie an.“

Er wählte eine kurze Nummer im Telefon und bat Miss Panetti, zum Besuchereingang zu kommen.

Etwa fünfzehn Minuten später stand eine dickliche Frau vor Grace. Sylvia Panetti erinnerte ein wenig an einen Brummkreisel. In der Mitte ihres Leibes war sie am dicksten, dann wurde sie an den Beinen unten wieder schmal. Ihr Kopf mit dem dunklen Pferdeschwanz steckte wie ein runder Knauf auf kräftigen Schultern.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie verwundert. Sie lispelte leicht, was daher kam, dass ihre beiden Vorderzähne so weit auseinanderstanden, dass sich eine schmale Lücke zwischen ihnen gebildet hatte.

„Es geht um Alyssa Wilkins“, sagte Officer Peltham erklärend von der Seite, obwohl er gar nicht gefragt worden war. Es ist faszinierend, wie schnell fünfhundert Dollar einen mürrischen, wortkargen Mann in einen beflissenen Redner verwandeln können. „Die Dame hier will etwas über Miss Wilkins wissen.“

„Alyssa!“, erwiderte Sylvia Panetti. „Alyssa war eigenartig, aber eine von den Guten. Sie hat kaum Ärger gemacht, blieb lieber für sich und hielt sich aus allen Sachen raus. Auch aus der Cliquenbildung. Das war nicht immer leicht für sie, vor allem am Anfang. Aber dann wurde sie respektiert und hat ihren Platz gefunden. Was ist mit ihr?“

„Sie ist untergetaucht. Ich möchte gern wissen, ob sie vielleicht erzählt hat, bei wem sie unterkommen könnte.“

Sylvia zuckte mit den Schultern. „Sie hat mir nichts gesagt, falls Sie das denken. Wir sind angehalten, keine engen Beziehungen zu den Häftlingen zu halten. Das würde den Respekt untergraben und Neid und Missgunst fördern. Ich kann Ihnen daher nicht helfen, fürchte ich.“

„Gibt es eine Mitgefangene, der sie sich vielleicht anvertraut haben könnte?“

„Sie war eng mit Cecilia Bedford befreundet, aber die ist vor einem halben Jahr entlassen worden.“

„Gibt es eine Adresse von Cecilia?“, fragte Grace nach.

„Das wäre eine Info, die Sie nur gegen eine Gebühr erhalten können“, mischte sich Peltham ein.

Grace zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Ich zahle gerne meine Gebühren, wenn mir die Informationen weiterhelfen.“

Sylvia Panetti sah etwas ratlos von Grace zu Peltham. „Gebühren?“

„Danke, Miss Panetti“, meinte Peltham, um die Wärterin als Zeugin der Bestechung loszuwerden.

„Vielen Dank“, sagte auch Grace und verabschiedete sich von der Frau, die zurück zu dem Zellentrakt ging, wo sie die Aufsicht führte.

„Ich hoffe, Ihre Information ist dieses Mal ihr Geld wert“, sagte Grace spitz, als sie wieder allein mit Peltham war.

„Das ist sie. Sie kostet allerdings wieder fünfhundert Dollar.“

„So viel habe ich nicht dabei. Ich habe nur noch knapp einhundert. Auf so hohe Kosten und Gebühren war ich nicht vorbereitet.“

„Dann kommen Sie mit der Gebühr wieder und ich gebe Ihnen, was Sie brauchen. Ich bin bis acht Uhr am Abend hier.“

Grace antwortete nicht, sondern nahm ihre Tasche und machte auf dem Absatz kehrt, um durch die Sicherheitstür hinauszugehen.

In Chowchilla bei der Bank holte Grace das nötige Geld und brachte fünfhundert Dollar dem gierigen Officer. Der steckte ihr sofort nach Erhalt des Bestechungsgeldes einen Zettel mit der Adresse von Cecilia Bedford zu.

 

DAS HAUS VON CECILIA BEDFORDS MUTTER lag in der Nähe des Flughafens von San Francisco. Es war ein kleines, einstöckiges Holzhaus mit winzigem Garten. Das bisschen Gelände hatte die Frau mit Kies aufgeschüttet, vermutlich um das Unkraut in Schach zu halten. Nur eine Palme und ein blühender Busch durften ungehindert wachsen. In der Auffahrt zur Garage stand ein Pickup.

Grace klopfte an der Tür und wartete. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und ein Mann Mitte dreißig schaute heraus.

Er lächelte, als er Grace erblickte. „Hey, womit haben wir so hübschen Besuch verdient? Ich hoffe, Sie wollen zu mir?“

„Ich weiß nicht, ob Sie derjenige sind, der mir weiterhelfen kann. Ich bin auf der Suche nach Alyssa Wilkins. Ich habe diese Adresse erhalten, weil Miss Wilkins eng befreundet mit Cecilia Bedford war. Wissen Sie möglicherweise, wo Alyssa ist?“

Bei der Nennung von Alyssas Namen hatte sich das Gesicht des Mannes verdüstert. „Warum wollen Sie zu ihr? Sind Sie ein Cop?“

„Mein Name ist Grace Boticelli. Ich habe gestern mit Alyssa gesprochen, sie hat in meinem Haus übernachtet. Sie wollte meine Hilfe. Ich möchte wissen, warum sie einfach so gegangen ist.“

„Es ist okay“, erklang auf einmal Alyssas Stimme neben dem Mann. „Danke, Colin. Sie ist in Ordnung.“ Alyssa schob den Mann mit Namen Colin zur Seite und stand nun in der Tür vor Grace. Sie sah noch ein bisschen verhärmter aus als gestern.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Grace.

„Wie haben Sie mich gefunden?“, wollte Alyssa im Gegenzug wissen, ohne die Frage zu beantworten.

„Ich bin gut in dem, was ich tue“, erwiderte Grace. „Ich habe Sie aufgestöbert und würde auch Ihre Kinder finden.“

Alyssa verzog den Mund. „Ich war gestern etwas vorschnell. Es wäre keine gute Idee, die beiden ausfindig zu machen. Sie sind besser dran, wenn sie nicht wissen, dass es mich gibt. Ich bin eine Mörderin und schlechte Person. Ich möchte nicht mehr, dass Sie sie finden.“ Sie klang kühl, fast hart.

Grace verschlug es für einen Moment die Sprache. „Gestern haben Sie aber noch ganz anders geklungen“, sagte sie schließlich. „Was ist passiert?“

„Nichts ist passiert“, erklärte Alyssa schulterzuckend. „Ich bin einfach nur zur Besinnung gekommen. Es war lächerlich, was ich von Ihnen gefordert habe. Vergessen Sie es. Vielen Dank für Ihre Hilfe und die Unterkunft. Ich komme jetzt allein zurecht.“

Sie wollte die Tür schließen, doch Grace hielt sie auf. „Moment, Alyssa. Sie müssen unbedingt zu Anthony O’Neill gehen, Ihrem Bewährungshelfer.“

„Warum? Ich will meine Kinder nicht sehen.“

„Aber er muss Sie sehen. Wenn Sie sich innerhalb von drei Tagen nicht bei ihm melden, kann es sein, dass Sie wieder ins Gefängnis müssen. Auf jeden Fall bekommen Sie Ärger. Melden Sie sich bei ihm, er kann Ihnen auch dabei helfen, eine Unterkunft zu finden.“

„Ich bleibe fürs Erste hier bei Cecilia und ihrer Mutter.“

„Wer war der Mann eben?“

„Cecilias Bruder. Die drei kümmern sich um mich.“

Grace fühlte sich ein wenig erleichtert. „Das ist gut. Wenn Sie wollen, komme ich mit und bestätige O’Neill, dass Sie hier untergekommen sind. Vielleicht müssen Sie dann nicht noch einmal zu ihm.“

Alyssa zögerte einen Moment, dann nickte sie. „In Ordnung. Das können wir machen. Ich hole nur schnell meine Sachen.“

Sie verschwand im Haus. Für einen Moment beschlich Grace die Angst, dass Alyssa zur Hintertür verschwinden würde, aber nur zwei Minuten später kam Alyssa zurück und schlug die Haustür hinter sich zu.

Die beiden Frauen gingen schweigend zu Grace‘ Wagen und stiegen ein.

„Warum sind Sie einfach gegangen?“, fragte Grace, sobald sie sich in Bewegung gesetzt hatten. „Es wäre nett gewesen, sich von mir zu verabschieden. Ich hätte es verstanden, dass Sie meine Hilfe ablehnen.“

„Ich weiß“, erwiderte Alyssa und sah zum Fenster hinaus. Mehr sagte sie jedoch nicht dazu.

Grace wartete einen Moment, doch als nichts weiter kam, fuhr sie fort.

„Behandeln Cecilia und ihr Bruder Sie gut?“

„Ja, sie sind sehr nett. Ich habe sonst niemanden, bei dem ich bleiben könnte.“

„Weswegen hat Cecilia gesessen?“

„Sie musste sich einer Rückenoperation unterziehen und wurde danach süchtig nach Schmerztabletten. Als sie Rezepte fälschte und Ärzte erpresste und bedrohte, um an die Pillen zu kommen, wurde sie erwischt und zu sieben Jahren Haft verurteilt.“

„Was macht ihr Bruder? Als was arbeitet er?“

Endlich wandte sich Alyssa Grace zu. „Warum interessiert Sie das alles?“

„Weil ich wissen will, ob Sie wirklich gut aufgehoben sind. Ich hoffe, Ihre Freunde können Ihnen alles bieten, was Sie benötigen, um wieder ein schönes, normales Leben führen zu können.“

„Colin arbeitet in einer Druckerei als Lagerarbeiter. Er ist wegen Hehlerei vorbestraft, aber sonst in Ordnung.“

Grace seufzte innerlich auf. Ein Vorbestrafter war nicht unbedingt ein guter Umgang für eine Frischentlassene. Aber vielleicht bewegte er sich inzwischen auf der richtigen Bahn.

„Ist das Haus groß genug für alle vier?“

„Colin wohnt nicht hier, er ist nur zu Besuch. Das Haus gehört Cecilias Mutter. Es leben nur sie und ihre Tochter darin, und ich jetzt.“ Die letzten Worte fügte sie fast schüchtern hinzu.

„Haben Sie ein eigenes Zimmer?“

„Ja. Es ist nicht groß und mehr eine Abstellkammer, aber ich habe mein eigenes Bett. Mehr benötige ich nicht.“

„Ich hoffe, Sie kommen bald wieder richtig auf die Beine“, wünschte Grace ihrer Beifahrerin aus tiefstem Herzen.

Alyssa antwortete jedoch nicht darauf.

 

EINE HALBE STUNDE SPÄTER kam Grace mit Alyssa bei dem winzigen Haus zwischen den Wolkenkratzern an, in dem Anthony O’Neill sein Büro besaß. Alyssa musste unwillkürlich lächeln, als sie den Häuserzwerg zwischen den beiden Riesen bemerkte.

Doch das Lächeln verschwand sehr schnell wieder aus ihrem Gesicht. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen betrat der ehemalige Häftling das Haus und ging mit Grace die Treppe in den ersten Stock hinauf. Alyssa wollte nicht, dass sich jemand um ihre Angelegenheiten kümmerte. Je weniger Menschen von ihr wussten, desto weniger konnten ihr bei ihrem Vorhaben in die Quere kommen.

Anthony O’Neill war gerade dabei, seine Tasche zu packen und das Büro zu verlassen, als die beiden Frauen ankamen.

„Ich bringe Ihnen Alyssa Nuori Wilkins“, sagte Grace, die dieses Mal ohne anzuklopfen eingetreten war.

„Sie hätten Kopfgeldjägerin werden soll, statt Privatdetektivin“, knurrte O‘Neill. Dann sah er auf. Sein Blick fiel auf Alyssa.

Sie wirkte im Dämmerlicht des kleinen Hauses hilflos wie eine entthronte Königin, die ihr Königreich verloren hatte. Ihr schwarzes Haar schimmerte wie Ebenholz, ihre dunklen Augen leuchteten geheimnisvoll und verletzlich. Ihre vollen Lippen hatte sie trotzig aufeinandergepresst. O’Neill schluckte. Die Frau war wunderschön, viel zu schön, um wahr zu sein.

„Sie sind Alyssa Wilkins?“, fragte er und musste sich räuspern, weil seine Stimme auf einmal ganz heiser geklungen hatte.

Alyssa nickte. Ihr fiel auf, dass sich seine Pupillen geweitet hatten bei ihrem Anblick. Er mochte sie, das war offensichtlich. Diese Sympathie konnte gefährlich werden. Auf der einen Seite würde O‘Neill vielleicht alles tun, was Alyssa sagte, um ihr zu gefallen. Auf der anderen Seite würde er sich allerdings nicht so schnell abwimmeln lassen, sondern sich um sie kümmern wollen. Und das wollte Alyssa auf keinen Fall.

Doch dann bemerkte Alyssa, wie der Bewährungshelfer plötzlich unwillig die Augenbrauen zusammenzog. „Ich muss Ihnen ein paar Unterlagen aushändigen“, sagte er kühl. „Nehmen Sie Platz.“

Er deutete mit der Hand auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch, den Besucherstuhl. Alyssa nahm darin Platz. Sie war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er sie wirklich mochte. Vielleicht hatte sie sich seine Sympathie nur eingebildet?

Grace stellte sich neben die Tür und lehnte sich an die Wand, direkt neben das „Papillon“-Plakat. Sie beobachtete, wie O’Neill seinem Schützling Flyer zum Wohnheim gab, außerdem andere Hinweisblätter für die Wiedereingliederung. Schließlich reichte er Alyssa eine Liste mit potenziellen Arbeitgebern. Dabei wirkte er noch unfreundlicher und ungehaltener als vorher. Seine finstere Miene passte gar nicht zu seiner anfänglichen stillen Begeisterung. Aber das kam daher, dass er sich Mühe gab, Alyssa nicht zu zeigen, wie sehr sie ihm gefiel.

„Was haben Sie gelernt? Welche Qualifikationen können Sie vorweisen?“, fragte er und sah Alyssa aus seinen graubraunen Augen musternd an. Er hielt diesen Blick jedoch nicht lange aus, sondern schaute schnell verlegen zu den Papieren, die vor ihm lagen.

„Ich habe vor meiner Inhaftierung eine Ausbildung zur Betriebswirtin absolviert, außerdem eine Zusatzqualifikation als Tierpflegerin. Im Gefängnis habe ich in der Küche gearbeitet, ansonsten zur Erntezeit auf den Feldern. Außerdem habe ich in Chowchilla eine Ausbildung zur Chemielaborantin angefangen, konnte sie aber nicht abschließen, weil die Möglichkeiten dafür fehlten.“

O’Neill schien beeindruckt, denn er starrte sein Gegenüber für einen Moment schweigend an. „Das ist mehr, als viele andere vorweisen können“, murmelte er, während er schnell wieder in seine Papiere blickte. Sie beeindruckte ihn schon wieder, was er jedoch verstecken wollte.

Alyssa schwieg dazu.

Grace fiel O’Neills Gefühlschaos nicht auf. Sie betrachtete wortlos die Frau auf dem Stuhl, die ihre Hände ruhig in den Schoß gelegt hatte, als hätte sie alle Zeit der Welt. Was war mit Alyssa los? Sie war klug und gebildet und hatte sogar im Gefängnis große Ambitionen gezeigt. Warum verhielt sie sich jetzt so ablehnend der offiziellen Hilfe gegenüber? Wieso wirkte sie so ruhig, fast abgeklärt? Und warum wollte sie von ihren Kindern nichts mehr wissen? Was war passiert?

„Ich möchte, dass Sie sich das alles gründlich durchlesen“, sagte O’Neill nüchtern und räusperte sich erneut. Er deutete auf die Papiere, die er Alyssa gegeben hatte. „Dann sehen wir uns in drei Tagen wieder und besprechen, wie wir weiter vorgehen und einen Job für Sie finden.“

Alyssa runzelte ungehalten die Stirn. „Wieso?“

„Weil Sie eine Arbeitsstelle benötigen, um zurück in die Gesellschaft zu finden. Das ist essentiell.“

„Und wenn ich alleine eine Arbeit finden möchte?“

„Dann können Sie das gerne tun. Ich muss es aber sehen, damit ich es auf meiner Liste hier abhaken kann“, murmelte O’Neill. Es war ihm unangenehm, für Alyssa eine Bürde darzustellen, indem sie eine lästige Pflicht erfüllen musste. Auf der anderen Seite war er jedoch froh, dass er sie auf diese Weise wiedersehen konnte.

„Kann ich Ihnen alles zuschicken?“

„Nein, Sie müssen hier persönlich antanzen.“

Alyssa warf einen schiefen Seitenblick auf Grace, die ihr offensichtlich etwas Falsches gesagt hatte.

„Es ist also Pflicht für Miss Wilkins, sich bei Ihnen zu melden?“, hakte Grace nach.

„Ja, ist es. Gesetzlich festgelegt“, knurrte O’Neill. „Wenn sie nicht kommt, hat es ernste Konsequenzen.“

„Okay“, erwiderte Alyssa ruhig.

O’Neill kritzelte ein paar Zahlen auf einen Zettel, den er Alyssa reichte. „Das ist meine Handynummer. Rufen Sie mich an, wenn etwas ist, egal wann, egal was.“

Alyssa nickte und steckte den Zettel ein. Danach stand sie auf. „Auf Wiedersehen“, sagte sie artig.

„Auf Wiedersehen“, erwiderte Anthony O’Neill, scheinbar mürrisch wie zuvor. „Und machen Sie keine Dummheiten.“

Alyssa reagierte nicht, sondern wandte sich zur Tür, wo Grace noch immer stand.

„Ich bringe Sie wieder nach Hause“, bot Grace an.

Alyssa nickte, ohne große Begeisterung zu zeigen.

O’Neill sah den beiden nach, bis die Tür hinter ihnen zuschlug.

„Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, er ist kompetent“, sagte Grace, sobald sie draußen waren, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob ihre Worte wirklich der Wahrheit entsprachen. O’Neill wirkte auf sie wie ein ungehaltener Junge, der keine Lust auf seinen Job hatte. Oder wie ein Mann, der vom Leben bitter enttäuscht worden war und jegliches Mitgefühl verloren hatte. „Er wird Ihnen hoffentlich helfen.“

Alyssa nickte, bevor sie mit Grace ins Auto stieg, sagte jedoch nichts. Ihr war ebenfalls nicht ganz klar, was sie von Anthony O’Neill halten sollte. Sie konnte seine Reaktionen nicht richtig deuten, sie waren verwirrend für sie gewesen. Das konnte daran liegen, dass sie schon viel zu lange kaum mit Männern Kontakt gehabt hatte, von den Wärtern im Gefängnis mal abgesehen. Oder daran, dass der Mann etwas versteckte.

Er könnte neugierig werden, dachte sie, dann will er wissen, was ich tue und warum. Ich muss ihn belügen. Im schlimmsten Fall könnte er mir nachspionieren und auf die Schliche kommen.

Sie hatte gehofft, den Bewährungshelfer einfach ignorieren zu können. Aber offenbar war das nicht so einfach. Solange sie ihr Vorhaben nicht umgesetzt hatte, musste sie sich still und unauffällig verhalten. Und das bedeutete, dass sie mit ihm zusammenarbeiten musste.

„Wer ist Lucy Fox?“, wollte Grace wissen und riss damit Alyssa aus ihren Gedanken.

„Meine Tante.“

„Sie hat Sie besucht, aber nur einmal, dann nie wieder.“

„Ja. Ich wollte es nicht, dass sie weiterhin kommt.“

„Warum nicht?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752136326
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Mord San Francisco Kinder Romantic Thriller Adoption Gefängnis Cold Case Kinderbuch Jugendbuch Krimi Ermittler

Autor

  • Johanna Marthens (Autor:in)

Johanna Marthens entdeckte schon früh ihre Liebe zum Schreiben. Sie arbeitete zunächst als Ghostwriterin und Journalistin, bevor sie 2013 hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Krimis, Romantic Thriller und Erotik und kann inzwischen auf eine stattliche Anzahl von Veröffentlichungen zurückblicken. Zu ihren größten Erfolgen zählen mehrere Nr.1-Bestseller der Amazon-Kindle-Charts sowie BILD-Bestseller.
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Titel: Darkness - Die verlorenen Kinder