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Kartoffelkäfer und Himbeergeist

von Kerry Greine (Autor:in) Ben Bertram (Autor:in)
228 Seiten

Zusammenfassung

Cathy hat mit der Hamburger Spießergesellschaft abgeschlossen und lebt ihr eigenes Leben, weitab des Mainstreams. Das Einzige, was ihr am Herzen liegt, ist ihre Grafikagentur und der naturbelassene Kleingarten, den sie für sich und ihre Hündin Watson gepachtet hat. Tommy ist alles andere als begeistert, dass er sich einen ganzen Sommer lang um die Kleingartenparzelle seiner Eltern kümmern soll. Er hat schon lange die Nase voll von diesen Hobbygärtnern und würde den Sommer viel lieber mit seinen Freunden am Strand verbringen und rauschende Partys feiern. Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und die in verschiedenen Welten leben. Wen wundert es also, dass sie gleich bei ihrer ersten Begegnung heftig aneinander rasseln? Doch warum lassen beide die Gedanken an den anderen keine Ruhe?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Kleingartenidylle

… war schon lange nicht mehr mein Ding!

Meinen Eltern zuliebe saß ich heute Nachmittag trotzdem auf der Terrasse ihrer Gartenlaube, die ebenso spießig war wie die gesamte Kleingartenanlage, in der wir uns befanden. Diese Scholle war das Leben meiner Eltern, und ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich diese langweilige Gartenidylle als Kind gehasst hatte. Während meine Freunde ins Schwimmbad gehen durften, musste ich Rasen mähen. Wenn Klassenkameraden am Wochenende mit ihren Familien an die Ostsee fuhren, hockte ich in der Parzelle und zupfte Unkraut. Als ich in meinem eigenen kleinen Beet Gemüse angepflanzt hatte, fraßen es die Karnickel weg, bevor ich zur Ernte schreiten konnte. Ich muss so ungefähr 13 gewesen sein, als ich mich für viele Jahre vom Kleingartenverein, und somit auch vom Garten meiner Eltern, verabschiedete. Bestimmt zwei Jahrzehnte machte ich einen Bogen um diesen Ort, und erst in den letzten paar Jahren, kam ich ab und an vorbei, um sie in ihrer Einöde zu besuchen.

Dass mich heute irgendetwas erwarten würde, war mir bereits klar, und doch hatte ich nicht mit einem solchen Mist gerechnet. Ich hatte keine Chance, aus der Nummer rauszukommen, und so willigte ich ein, obwohl ich ebenso viel Lust dazu hatte wie eine Kuh zum Gummitwist.

Die ersten Alarmglocken hatten geläutet, als ich den gedeckten Kaffeetisch auf der Terrasse meiner Eltern entdeckt hatte. Es gab heute nicht den obligatorischen Butterkuchen, den wir sonst entweder aus der Hand oder mit diesen praktischen, jedoch völlig umweltfeindlichen Plastikgabeln aßen. Auf dem Tisch stand das gute Gartenporzellan, das nur für besondere Gelegenheiten genutzt wurde. Die Pappteller blieben im Schrank und somit ebenso ungenutzt wie die alten Kaffeebecher, die ausnahmsweise durch die guten Kaffeetassen ersetzt worden waren. Meine Mutter hatte für den heutigen Anlass gebacken. Sogar doppelt und so gab es außer dem leckeren Marmorkuchen auch eine Erdbeertorte. Dick belegt und natürlich mit Erdbeeren aus der eigenen Ernte.

Der Kaffee war noch nicht fertig und so machte ich gemeinsam mit meinem Vater eine Gartenbegehung. Als wir am Kirschbaum vorbeikamen, zupfte ich an den Zweigen und eroberte mir auf diesem Wege vier oder fünf der leckeren rot schimmernden Kugeln. Der Blick meines Vaters verriet mir, dass er meine Aktion mitbekommen hatte. Es war dieser strafende Blick, den ich schon als Kind gehasst hatte und mit dem ich immer angesehen worden war, wenn ich in unserem Garten, der sein Heiligtum war, irgendetwas nicht vorschriftsmäßig getan hatte. Überraschenderweise erntete ich heute, neben dem Blick meines Vaters, keinen oberlehrerhaften Satz dazu. Leicht verwundert ging ich weiter und stoppte vor dem kleinen Gartenteich, den mein alter Herr vor einigen Jahrzehnten angelegt hatte. Er war überfüllt mit Wasserschnecken, die sich nicht nur auf den Blättern der Seerosen, sondern auch auf den Steinen am Rande des Teiches niedergelassen hatten. Fische konnte ich nicht erkennen und so griff ich nach einem herumliegenden Zweig und hielt diesen ins Wasser. Vielleicht waren sie daran interessiert und kamen vom Grund nach oben, um ihre Neugierde zu befriedigen.

„Tommy, du weißt, dass weder die Fische noch ich es mögen, wenn du im Teich herumstocherst. Außerdem besteht die Gefahr, dass du mit dem spitzen Ast die Teichfolie beschädigst und er leer läuft.“

„Sorry, Dad. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Zu widersprechen machte keinen Sinn, da mein Vater zu seinem Garten eine sehr innige Beziehung hatte und alles, was gegen die von ihm gesetzte Norm sprach, verurteilte.

Heimlich pflückte ich mir eine Erbsenschote, öffnete diese und ließ den kleinen grünen Inhalt in meine hohle Hand kullern. Ich hatte es als Kind geliebt, die Erbsen direkt vom Strauch zu verhaften, und weiß noch genau, dass ich stolz wie Oskar gewesen war, wenn ich von meinem Vater nicht dabei ertappt worden war. Ich musste eine gute Erbsenstrategie gehabt haben, da ich mich an kaum einen Einlauf meines Vaters erinnern konnte. Auch jetzt hatte er mich nicht erwischt, und nachdem ich die geöffnete Schote heimlich in einer Ecke hatte verschwinden lassen, steckte ich mir meine Beute in den Mund. Mit vor Stolz geschwellter Brust stand ich hinter dem Rücken meines alten Herrn und wusste einige Sekunden später nicht, wie mir geschah. Die Dinger waren bitter und sorgten dafür, dass sich ein fast betäubend wirkendes Gefühl auf meiner Zunge breitmachte. Ich spuckte mir den grünen Brei in meine rechte Hand und freute mich darauf, den ekligen Geschmack gleich mit Wasser, besser noch mit Kaffee, hinunterzuspülen.

Mit schnellem Schritt schob ich mich an meinem Vater vorbei und machte mich auf den Weg zur Gartenlaube.

„Das war wohl nicht so lecker?“ Mit fragendem Blick sah er mich an, und ich wunderte mich, woher er es wusste.

„Was meinst du?“ Ich war neugierig.

„Tu mal nicht so. Schon als Kind hast du geglaubt, dass ich es nicht mitbekommen habe, wenn du dir heimlich etwas stibitzt hast. Damals warst du nur klüger. Vielleicht lag es daran, dass du einfach mehr Zeit im Garten verbracht hast! Wie auch immer, zumindest hast du früher Erbsen genascht und sie nicht mit Bohnen verwechselt. Außerdem solltest du wissen, dass die Erntezeit für Erbsen noch nicht mal angefangen hat.“ Mein Vater amüsierte sich prächtig, während ich zur Laube lief und dort die Wasserflasche ansetzte.

Der Garten war einfach nicht mehr meine Welt. Nicht dass ich mich hier komplett unwohl fühlte, aber ich hatte Besseres zu tun, als mir meine Zeit mit Unkrautjäten, Rasenmähen, Holzlattenstreichen oder irgendwelchen anderen anstrengenden Arbeiten zu versauen. Meine Eltern waren anders. Schon während ihrer Berufstätigkeit verbrachten sie jede freie Minute in ihrem Domizil. Sie genossen es, nach Feierabend in den Beeten zu wühlen und bis in den späten Abend hinein mit anderen Gartenfreunden zu schnacken. Die Winterzeit war die Hölle für sie. Trotzdem versuchten sie auch dann, sofern das Wetter mitspielte, irgendetwas im Garten zu erledigen. Häufig ging es im Winter um Innenausbauten der Hütte, die jedes Jahr durch Umbauarbeiten verändert wurde. Erlaubt war dabei, was Spaß machte, und da meine Eltern seit einer gefühlten Ewigkeit ihre Parzelle besaßen, wurde vom Vorstand des Kleingartenvereines das eine oder andere Auge zugedrückt.

Den ekligen Geschmack hatte ich inzwischen heruntergespült, und ich half meiner Ma, die restlichen Sachen auf den fast fertig gedeckten Tisch zu stellen. Während meine Mutter mit dem Kaffee auf die Terrasse kam, saß mein alter Herr bereits auf seinem Stammplatz und wartete darauf, bedient zu werden. Es war ein stilles Abkommen, das die beiden seit Jahrzehnten geschlossen hatten und pflegten. Mit Haushalt, zu dem in diesem Fall auch Tischdecken und Kochen gehörte, hatte mein Vater nichts am Hut. Von Beginn der Ehe an wurde er verwöhnt und brauchte sich an all diesen Tätigkeiten nicht zu beteiligen. Bei mir war es anders, und mein alter Herr verurteilte es sogar, wenn ich nach einem gemeinsamen Essen nicht sofort aufsprang und das dreckige Geschirr in die Küche trug. Natürlich blieb er sitzen! Wenn er dann doch aufstand, setzte er sich mit seiner Zeitung in den Lesesessel und beobachtete über den Zeitungsrand hinweg unser Treiben. Er gehörte zur alten Schule, besser gesagt zu der Generation, in der diese Art des Handelns noch üblich war.

Endlich saßen wir alle drei am Tisch, und während ich genervt davon war, dass sich die ersten Insekten an unserem Kuchen laben wollten, begann meine Mutter mit dem Auffüllen. Sie hatte sich wirklich große Mühe gegeben und die Kaffeetafel sogar mit Blumen aus dem eigenen Garten hübsch dekoriert. Erst jetzt fiel mein Vater darüber, und als meine Ma dabei war, ihm Kaffee einzuschenken, sah er sie entsetzt an und sagte:

„Sind die etwa aus unserem Garten?“

„Was meinst du, Karl?“ Erschrocken über den schroffen Ton meines Vaters, antwortete meine Mutter ohne nachzudenken.

„Die Kuchen werde ich wohl kaum meinen!“ Ich überlegte, mich einzumischen, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte. Eine Rüge von mir hätte meinen alten Herren in diesem Moment auf hundertachtzig gebracht, was ganz sicher ein gemütliches Kaffeetrinken unmöglich gemacht hätte.

„Ach, du meinst die Blumen? Schatz, zu einem hübsch gedeckten Tisch gehören doch auch ein paar Blümchen.“

„Dein ‚Schatz‘ kannst du dir sparen. Komm jetzt bloß nicht wieder so an. Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn Blumen nur für Dekozwecke abgeschnitten werden. Hoffentlich hast du sie wenigstens aus dem hinteren Teil des Gartens genommen.“ Meine Mutter blieb still. Eine Antwort wäre in diesem Moment auch nicht clever gewesen, da sie den Strauß vorne aus dem Beet gepflückt hatte. Dieses Beet im vorderen Bereich war nichts weiter als ein Angeberbeet. Zumindest empfand ich es so, da es weder von der Terrasse noch vom großen Rasenstück einzusehen war. Es diente lediglich dazu, vorbeigehenden Spaziergängern oder anderen Gartenfreunden zu zeigen, was für tolle Blumen in diesem Garten wuchsen.

Ruckzuck wurde mein Vater wieder friedlich und das Kaffeetrinken konnte beginnen. Ich war erstaunt, dass er in seinem weisen Alter endlich so vernünftig war, sich nicht mehr lange über eigentliche Belanglosigkeiten aufzuregen. Meine Mutter wirkte verunsichert und schaffte es nicht mal, mir in die Augen zu schauen. Ich wusste nicht, warum es so war, denn es kam mir nicht so vor, als hätte ihre Unsicherheit noch etwas mit dem Einlauf meines alten Herrn zu tun. Irgendetwas schien im Busch zu sein, da war ich mir sicher! Und doch hatte ich keine Ahnung, was genau mich gleich erwarten würde.



Hundekacke

„Ihr dämlicher Köter hat schon wieder auf den Gehweg vor dem Haus gekackt!“ Eine wütende Stimme brüllte mich quer über die Straße hinweg an, kaum dass ich aus meinem alten Passat Kombi gestiegen war. Innerhalb von Sekunden schwoll mir der Kamm. Mein bekloppter Vermieter! Der hatte mir ja gerade noch gefehlt zu meinem Glück. Am liebsten wäre ich sofort wieder eingestiegen und weggefahren, hätte ihn einfach ignoriert, aber ich konnte nicht. Ich musste dringend auf die Toilette, bevor meine Blase platzte. Doch Herr Krause versperrte mir den Weg ins Haus.

Augenrollend öffnete ich die Kofferraumklappe und entließ meine Hündin aus ihrer Transportbox.

„Hier, Watson! Fuß!“, befahl ich ihr, und mein brauner Wuschel blieb artig neben mir, bis wir auf der anderen Straßenseite ankamen.

„Nehmen Sie das Vieh an die Leine! Sofort!“, schrie Herr Krause los. Ich wusste, er hatte Angst vor meiner Hündin. Dabei war sie das gutmütigste Tier der Welt und noch dazu ein kleiner Schisser. Sie hatte eine Heidenangst vor Männern, sie wäre Herrn Krause also ebenso wenig zu nahe gekommen wie er ihr, lieber ergriff sie in solchen Momenten die Flucht und versteckte sich irgendwo.

Bei Frauen war sie ganz anders, die würde sie glatt zu Tode kuscheln. Wenn sie jemanden mochte, war sie genauso verschmust, wie ihr weiches zottiges Fell es versprach, und wurde manchmal regelrecht aufdringlich, wenn sie der Meinung war, jetzt wäre Schmusezeit. Das waren allerdings auch ihre einzigen Macken.

„Sitz!“ Ein Wort genügte und die Hündin plumpste auf ihr Hinterteil. Ich nahm sie an die Leine und band sie locker am Zaun des Vorgartens an, obwohl ich wusste, dass das nicht nötig sein würde. Abgesehen von ihrer Angst vor Männern war Watson super erzogen und gehorchte aufs Wort. Wenn ich sagte, sie solle sitzen bleiben, tat sie das auch. Doch ich glaubte, ich hatte Herrn Krause erst einmal genug provoziert. Falls ich noch weiter gehen würde, käme bestimmt gleich Dampf aus seinen Ohren wie in einem Comic. Es war ja nicht so, als wollte ich ihn nicht auf die Palme bringen. Seitdem er vor anderthalb Jahren das Haus, in dem meine Wohnung lag, geerbt hatte, machte er mir das Leben zur Hölle. Er fand immer irgendeine dämliche Kleinigkeit, an der er sich hochziehen konnte. Im Moment war es ein Hundehaufen, der unübersehbar vor seinen Füßen die Platten des Gehwegs zierte.

Kritisch musterte ich das Häufchen und zog eine Augenbraue hoch.

„Das da?“, fragte ich pikiert und zeigte mit dem Finger darauf. Dann lachte ich schallend los.

„Sorry, Herr Krause. Schauen Sie sich doch Watson mal an. Wenn dieses Fitzelchen aus meiner Hündin käme, würde ich mir echt Sorgen machen. Welcher Hund auch immer das produziert hatte, er kann nicht größer als eine Ratte gewesen sein.“ Kritisch schaute er zu Watson, die es sich auf dem Gehweg gemütlich gemacht hatte und lang ausgestreckt in der Sonne lag.

„Aber das MUSS Ihr Köter gewesen sein! Wer sonst? Heute Morgen, als ich aus dem Haus gegangen bin, war es noch nicht da. Und jetzt …“

„Herr Krause!“, unterbrach ich ihn, auch wenn mir eine kleine Stimme sagte, dass es manchmal besser wäre, die Klappe zu halten und sich nicht ausgerechnet mit der Person anzulegen, bei der man sowieso schon auf der Abschussliste stand. „Meine Hündin ist gute 60 Zentimeter hoch und wiegt 35 Kilo. Glauben Sie mir, ihre Haufen sehen anders aus. Und außerdem, als ICH heute Morgen aus dem Haus gegangen bin, stand Ihr Wagen noch in der Einfahrt. Ich war also – mitsamt meinem Hund – vor Ihnen weg. Watson kann es gar nicht gewesen sein, da ich erst jetzt wiederkomme. Und leider muss ich auch dringend weiter.“ Allmählich machte sich meine Blase immer schmerzhafter bemerkbar, und so nahm ich die Leine vom Zaun und verschwand an meinem Vermieter vorbei im Haus. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie er fast einen Satz in die Büsche machte, als ich mit dem Hund vorbeiging.



Nachdem ich mich erleichtert hatte, kochte ich mir erst einmal einen Tee und setzte mich mit meinem Becher an den Küchentisch.

„Was mach ich denn nur, Watson? Ich weiß, der Arsch plant etwas. Wenn ich nur rausbekommen könnte, was …“ Nein, ich führte keine Selbstgespräche. Zumindest redete ich mir das ein. Ich sprach ja schließlich mit meinem Hund.

Schwanzwedelnd saß sie neben mir und sah mich aus ihren treuen hellbraunen Augen an. Den Kopf ein wenig schief gelegt, lauschte sie meinen Worten. Obwohl ich manchmal das Gefühl hatte, sie horchte nur, ob bei meinem Gefasel bestimmte Schlüsselwörter fallen würden. „Essen“ oder „raus“ zum Beispiel. Am schönsten war ihre Reaktion, wenn das Wort „Garten“ fiel. Dann hüpfte sie wie ein Flummi durch die Wohnung, von mir zur Tür und wieder zurück, immer hin und her. Und wenn ich – ihrer Meinung nach – nicht schnell genug war, drehte sie sich im Kreis um sich selbst und begleitete ihren Tanz mit einem herzzerreißenden Jaulen.

Während ich an meinem Pfefferminztee nippte, wanderten meine Gedanken zurück in die Vergangenheit.

Als ich die Wohnung vor vier Jahren bezogen habe, hatte ich mich so gefreut. Schnuckelige drei Zimmer im Dachgeschoss eines Zwei-Parteien-Hauses mit Garten. Im Erdgeschoss hatte meine Vermieterin Luisa gewohnt, Herrn Krauses verwitwete Schwester. Sie war so ganz anders als ihr Bruder. Warmherzig, freundlich, aufgeschlossen, tierlieb. In der Zeit, die wir hier gemeinsam unter einem Dach verbrachten, hatten wir uns angefreundet. Sie war wie eine Oma für mich, so eine Bilderbuchoma, die sonntags Kuchen backte und immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer hatte. Den Garten hinter dem Haus haben wir uns geteilt, ich durfte ihn jederzeit mitbenutzen und für Watson hatte sie stets ein Leckerli parat.

Wie oft haben wir an heißen Sommertagen im Schatten unter dem Apfelbaum gesessen, Tee getrunken und die Aussicht auf die Blütenpracht in den Beeten genossen. Es war einfach himmlisch!

Als sie vor anderthalb Jahren plötzlich starb, war ich unendlich traurig. Sie stand mir so nahe, und bis heute fuhr ich regelmäßig nach Ohlsdorf zum Friedhof, um sie zu besuchen. An ihrem Grab konnte ich ablesen, dass es außer mir kaum Leute gab, die dort hinkamen. Es war verwildert und von Unkraut überwuchert. Wenn ich da war, zupfte ich genau so viel aus, dass man die Inschrift auf der Grabplatte wieder sehen konnte. Alles andere ließ ich stehen, ich wusste, sie hätte es so gewollt. Wir hatten, was das anging, die gleiche Einstellung. Natur pur war einfach schöner als Beete nach Norm.

„Wer entscheidet eigentlich, was Unkraut ist und was nicht?“, fragte Luisa immer, wenn wir in ihrem Garten gesessen hatten. „Der Mensch hat nicht das Recht, darüber zu richten, wie eine Blume zu sein hat.“ Ich wusste, damit meinte sie nicht nur Pflanzen, sondern das Leben im Allgemeinen. Sie war der Meinung, dass man niemanden nach seinem Äußeren oder seiner Art zu leben verurteilen darf. Vermutlich war das damals auch der Grund, warum sie mir die Wohnung im Obergeschoss gegeben hatte und nicht einem der anderen Bewerber.

Als die Besichtigung war, kamen ungefähr zwanzig Leute, rausgeputzt und frisch geföhnt, in Anzug, Krawatte und die Damen mit Kleidchen. Und dann war da ich: löcherige schwarze Jeans, schwarzes Tanktop, schwarz gefärbte strubbelige Haare und an diversen sichtbaren Stellen gepierct. Luisa musterte mich lange schweigend, und obwohl ich es aufgrund meiner Optik durchaus gewohnt war, angestarrt zu werden, war mir ihr Blick unangenehm. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, sie würde tiefer sehen, als mein Äußeres es hergab. Sie schaute hinter die Maske in meine Seele.

Irgendwann löste sie sich von den um ihre Gunst buhlenden Bewerbern und kam zu mir herüber.

„Hi, ich bin Luisa. Und du bist Cathrin?“, fragte sie schlicht und streckte mir ihre runzelige Hand hin. Sie muss meine Perso-Kopie auf den eingereichten Unterlagen gesehen haben, woher hätte sie sonst meinen Namen wissen können?

„Cathy reicht“, antwortete ich nur. Noch immer hielt sie meine Hand.

„Du gefällst mir. Hast du dich umgesehen? Willst du die Wohnung?“ Ich hatte nur stumm genickt, woraufhin sie sich zum Makler und den anderen umdrehte und resolut sagte:

„Okay, Sie können dann gehen. Die Wohnung ist vermietet.“



Durch die Erinnerung ein wenig wehmütig geworden, seufzte ich. Mittlerweile war alles anders. Bereits drei Monate nach Luisas Tod war ihr Bruder unter mir eingezogen, und seitdem machte er mir das Leben zur Hölle.

Ich nahm den letzten Schluck von meinem Tee und stellte den Becher in die Spülmaschine, ich musste unbedingt raus hier. Seit Luisa nicht mehr war, fühlte ich mich zunehmend unwohl in meiner Wohnung, die mir auch gleichzeitig als Büro diente. Ich griff nach meiner Umhängetasche und sprach Watsons liebstes Zauberwort aus.

„Wollen wir in den Garten?“, fragte ich und sofort war sie auf den Beinen. Lachend nahm ich sie an die Leine, nur für den Fall, dass Herr Krause noch immer vor dem Haus zugange war.

„Aber erst zum Baumarkt“, teilte ich meiner Süßen mit und verließ die Wohnung.

Schon scheiße, wenn man sich in seinem Zuhause so gar nicht wohlfühlt und ständig flüchtet. Ich wusste genau, woran es lag, doch ich wusste nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.



Ach nö

… war mein Gedanke, nachdem ich die Bitte meiner Eltern erfahren hatte.

Klar wusste ich schon vor meinem Erscheinen und spätestens als ich die Torten gesehen hatte, dass irgendetwas Besonderes in der Luft lag. Ich konnte die Anspannung und Aufregung meiner Mutter, während wir am Kaffeetisch saßen, förmlich greifen, und doch ahnte ich nicht im Entferntesten, dass meine Eltern auf eine solche Idee kommen könnten. Sie kannten meine Einstellung schließlich ganz genau. Ebenso, wie sie meine Meinung zu den nervigen Nachbarn wissen mussten.

Das Alter der beiden hatte ich gar nicht wirklich auf dem Zettel. Ich war zwar älter geworden, meine Eltern blieben für mich allerdings irgendwie zeitlos. Als sie mir ihre Idee präsentierten, fand ich sie total cool. Doch warum war ich es, der für den verrückten Plan meiner Eltern hinhalten musste? Gab es nicht genügend durchgeknallte Gartenfreunde, die nichts außer ihrer kleinkarierten Kleingärtner-Welt im Kopf hatten?

Zum Glück kam mir eine Idee! Ob sie funktionieren würde, wusste ich natürlich nicht. Aber ich musste jede noch so kleine Chance nutzen, um diese ehrenvolle Aufgabe, die mir meine Eltern großzügig anvertrauen wollten, nicht annehmen zu müssen.

„Ich bin doch gar nicht gut genug dafür. Erinnert euch mal, wie dusselig ich mich früher immer angestellt habe. Denkt daran, was ich alles falsch gemacht hab und wodurch ihr dann viel mehr Arbeit hattet. Der verbrannte Rasen, weil ich in der Hitze gemäht hatte, die ausgerupften Setzlinge, die ich mit Unkraut verwechselt hatte, und ganz zu schweigen vom Chemie-Klo, das ich auf dem Kompost geleert hatte, und wie sehr noch Tage später der Garten stank.“

„Damals warst du ein Kind, lieber Tommy. Heute wirst du es sicher hinbekommen und viel sorgfältiger sein!“ Der Ton meines Vaters deutete an, dass er keine Widerrede dulden würde, aber ich konnte mich einfach nicht ergeben, ohne alles versucht zu haben.

„Ich habe doch kaum Zeit für Gartenarbeit. Mein Beruf, der Sport, mein zusätzliches Joggen und dann bin ich ja immer noch auf der Suche nach meiner Traumfrau. Ihr seid es schließlich, die sich so sehnlichst ein Enkelkind wünschen.“ Mit dem Enkelkind hatte ich gepunktet, da war ich mir sicher. Außerdem fand ich, dass meine anderen Gründe ebenfalls genügend Aussagekraft gehabt haben mussten. Was sollte mein alter Herr hierauf erwidern können?

„Papperlapapp! Das ist doch bloß inhaltsloses Gerede von dir. Eine Frau willst du ja gar nicht, da dir dein Dasein ohne Verantwortung viel zu gut gefällt. Das Thema Enkelkinder haben deine Mutter und ich seit einer Ewigkeit abgeschrieben. Seit wann spannt dich dein Beruf eigentlich so ein? Bisher hast du immer gesagt, dass du dort ein leichtes Leben hast. Und Sport und Joggen könntest du die nächsten drei Monate dann sowieso ad acta legen, da du deinen Bewegungsdrang hier ausleben wirst.“

Tatsächlich war es so, dass meine Eltern mich ansonsten in Ruhe ließen. Sie waren rüstig genug, um ihr Rentnerdasein ausgiebig zu genießen, und auf Hilfe von mir nicht angewiesen. Dieses Mal war es anders! Sie brauchten mich, und zwar dafür, weil ihr geliebtes Baby auch während ihrer Abwesenheit gepflegt werden musste.

Ich willigte also ein! Jedoch nicht, ohne noch einen letzten Versuch zu starten. Nein, sie sollten sich keine Alternative zu mir überlegen, sondern sich lediglich Gedanken darüber machen, ob es tatsächlich so lange sein musste.

„Müsst ihr wirklich für drei Monate nach Mallorca? Genügt nicht einer, um die Insel anzusehen? Um auszuprobieren, wie es euch dort gefällt? Ihr wart gefühlte zwanzig Jahre nicht im Ausland und wisst gar nicht, ob ihr da klarkommt.“

„Tommy, einmal in meinem Leben für drei Monate nach Mallorca war schon immer mein Wunsch. Endlich habe ich deinen Vater überreden können, mit mir dorthin zu fahren. Bitte, mach mir meinen Traum nicht kaputt. Es sind doch nur drei Monate, die du dich um unseren Garten kümmern musst.“ Meine Mutter sah mich flehend an und nach diesen Worten konnte ich ihr ihre Bitte selbstverständlich nicht abschlagen.

Es sind doch nur drei Monate! Die Worte meiner Mutter liefen als eine Art Dauerschleife durch meinen Kopf und machten mir Angst. Drei Monate bedeuteten, dass ich mindestens zwölf Mal den Rasen mähen musste. Wenn es heiß war, täglich sprengen, verwelkte Blumen abschneiden, mich um die Obst- und Gemüseernte kümmern und immer wieder Unkraut zupfen. Wahrscheinlich hatte ich in meiner gedanklichen Aufzählung diverse Dinge vergessen, die ebenso wichtig und unumgänglich waren.

„Wann fahrt ihr los?“

„Am 1. Juli.“ Mehr sagte mein Vater nicht.

„Dann seid ihr wann wieder da?“

„Direkt nach drei Monaten. Am 30. September landen wir wieder in Hamburg.“ Meine Mutter strahlte während ihrer Antwort. Mir war mein Strahlen vergangen. Tatsächlich hatte ich den ganzen Sommer über einen Garten zu hüten. Ich konnte weder an die Ostsee fahren noch meine Wochenenden auf Sylt verbringen. Ich würde selbst innerhalb der Woche am Abend kaum Zeit dafür haben, mit Freunden in irgendwelchen Strandbars zu hocken oder gemütlich am Elbstrand zu grillen. Zumindest nicht ohne schlechtes Gewissen, da ich immer das Gefühl hätte, den Garten zu vernachlässigen.

Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Die Grillevents mit meinen Freunden konnte ich natürlich in diesem Sommer auch in die Parzelle meiner Eltern verlegen. Wenn ich dann noch einen kleinen Pool kaufen würde, hätten wir garantiert fast ebenso viel Spaß wie am Elbstrand. Vielleicht gab es sogar einige in meinem Bekanntenkreis, die als Dank dafür beim Rasenmähen oder bei anderen notwendigen Arbeiten helfen würden. Am Wochenende eine 24-Stunden-Party im Kleingartenverein bei Sonne, Bier, einem rund um die Uhr laufenden Grill und cooler Mucke war ein gar nicht so schlechter Plan.

Wenn ich schon den Gärtner für meine Eltern spielen musste, wollte ich zumindest etwas Spaß dabei haben! Natürlich durften sie es nicht wissen. Da sie sich aber Hunderte von Kilometern von mir entfernt aufhielten, würden sie von den ganzen Aktionen nichts mitbekommen. Vermutlich würden die Gartennachbarn und anderen Spießer aus dem Verein meinem Vater anschließend Bericht erstatten. Doch dann stand Aussage gegen Aussage, und wenn ich den Garten am 30. September in einem vernünftigen Zustand zurück übergeben würde, wäre alles gut.

Während ich auf dem Nachhauseweg war und mich darüber freute, dass meine Eltern glücklich waren, hatte ich mich mit dem Gedanken an die Gartenpflege ein wenig angefreundet. Ganz sicher würde ich in den nächsten zehn Tagen bis zu deren Abflug täglich Anrufe meines Vaters erhalten. Es würden Telefonate werden, in denen er mir immer und immer wieder meine Aufgaben erläuterte. Da musste ich jetzt durch! Ebenso, wie ich am Tag vor der Abreise eine Liste in die Hand gedrückt bekommen würde, auf der alles bis ins kleinste Detail aufgelistet war. Außerdem war ich mir ganz sicher, dass sich eine Abschrift dieser Liste – gut platziert – in der Gartenlaube befinden würde.

Zu sehr war mein Vater auf seinen Garten fixiert und darum besorgt, dass irgendetwas nicht so gemacht werden könnte, wie er es wollte.

Meine Vermutung war richtig. Zumindest fast, da wir nicht nur einmal täglich, sondern meistens mindestens zweimal am Tag telefonierten. Morgen war der 1. Juli, was bedeutete, dass ich mich heute Abend im Schrebergarten einzufinden hatte. Mein Vater drückte mir tatsächlich drei DIN-A4-Zettel in die Hand, und gemeinsam gingen wir die Punkte durch, während wir dabei eine Runde durch den Garten drehten. Meine Mutter blieb zu Hause und packte die restlichen Sachen. Da sie meinen alten Herrn aus über vierzig Jahren Ehe nur zu gut kannte, wollte sie sich seine wissenschaftlichen Ausführungen mir gegenüber lieber ersparen.

Fast drei Stunden später drückte mein Vater mir das Schlüsselbund in die Hand. Jedoch nicht, ohne mir einen strengen Blick und den Satz, dass ich mich im Kleingartenverein zu benehmen hätte, mit auf den Weg zu geben.

Gemeinsam verließen wir den Garten und schlenderten noch eine ganze Zeit am Alsterlauf entlang. Wir wohnten nur wenige hundert Meter auseinander; und ich ging noch kurz mit zur Wohnung meiner Eltern. Nachdem ich mich von meiner Mutter verabschiedet hatte, machte ich mich auf den Weg nach Hause.



Endlich Feierabend

… dachte ich erleichtert. Schon den ganzen Tag sehnte ich mich danach, dass das Wochenende beginnen würde. Ich hatte am heutigen Tag noch eine dringende Änderung eines Auftrags zu erledigen, der mich deutlich mehr Zeit gekostet hatte, als ich eingeplant hatte.

Normalerweise war es kein Problem, ich konnte von überall aus arbeiten, da ich als selbstständige Grafikerin hauptsächlich meinen Laptop und mein Zeichentablett brauchte. Doch bei diesem Auftrag, einer Kinderbuchillustration, waren in fast jedem der Bildchen noch Sachen zu ändern, weil mein Auftraggeber es sich immer wieder anders überlegte. Daher musste ich diesen schönen Sommertag im Büro in meiner Wohnung verbringen, damit ich ihm jede Änderung sofort mailen konnte.

Nachdem ich meinen Laptop heruntergefahren hatte, schloss ich seufzend den Deckel und packte meine Sachen zusammen. Meine Kollegin Laura war schon vor drei Stunden verschwunden und genoss mit Sicherheit längst die Sonne am Elbstrand oder machte sich bereits fertig, um heute Abend feiern zu gehen. Innerlich schüttelte ich mich. Ich wusste, Laura verbrachte ihre Wochenenden gerne so, doch für mich war es die absolute Horrorvorstellung, mich in Discos herumzutreiben und mich dabei im sexy Zwirn irgendwelchen geifernden Kerlen zu präsentieren. Die typische Hamburger Schickeria, die sich in den angesagtesten Klubs der Stadt herumtrieb, konnte mir so was von gestohlen bleiben. Ich hatte von dieser ganzen Möchtegern-High-Society-Scheiße mehr als genug in meinem Leben gehabt, dahin wollte ich nie wieder zurück.

Da blieb ich lieber, wo ich jetzt war. Ich hatte mir mein Leben abseits des Mainstreams aufgebaut, und ich liebte es, nicht nach irgendwelchen schwachsinnigen Regeln der Gesellschaft zu leben. Selbst die schwachsinnigen Regeln des Kleingartenvereins versuchte ich gekonnt zu ignorieren und hatte mir das Regelwerk noch nicht einmal angesehen, als ich den Garten Anfang letzten Jahres gepachtet hatte. Sie waren mir aber auch egal, da ich nicht aufgrund der Gesetze, sondern wegen der Natur die kleine Parzelle besaß.

Ich genoss es, meine Abende und Wochenenden in meinem ureigenen Paradies zu verbringen. Zumindest war mein Garten für mich ein Paradies. Der Vorstand des Kleingärtnervereins sah das anders. Ich war quasi das schwarze Schaf der Siedlung, nur weil mein Garten anders war als die spießigen Parzellen meiner Nachbarn. Doch warum sollte ich mich anpassen? Mein Garten war anders, weil ICH anders war. Bei mir gab es keine Regeln und Gesetze, meine Blumen durften wuchern, sich ausbreiten, mein Rasen war eine Wiese und meine Büsche entsprachen zwar nicht der vorgeschriebenen Maximalhöhe, boten dafür aber einen wunderbaren Sichtschutz. So hatte ich meine Ruhe, wenn ich auf meiner Terrasse saß, Watson neben mir, und konnte lesen, ohne von den Blicken Vorbeilaufender genervt zu werden.



Auf dem Weg zum Kleingartenverein hielt ich noch schnell am Supermarkt an und besorgte mir eine Kleinigkeit zum Abendessen. Ein abgepacktes Sandwich und ein fertig geschnippelter Salat würden mir reichen. Außerdem müsste im Gefrierfach des kleinen Kühlschranks in meiner Gartenlaube noch eine Großpackung Eis sein.

Als ich an der Kasse in der Schlange stand, bemerkte ich wieder einmal, wie ich angestarrt wurde. „Guck mal, die Gothiktante da“, hörte ich hinter mir jemanden murmeln und wusste, er meinte mich. „Gothiktante“ war noch harmlos, da hatte ich schon deutlich Schlimmeres gehört. Warum auch immer die Leute dachten, ich wäre eine Goth oder Emo, wie ich auch gern genannt wurde. Nur, weil ich schwarze Klamotten liebte und meine Haare schwarz mit einem Streifen Knallpink gefärbt waren? Weil ich in der Augenbraue und an der Unterlippe gepierct war? Okay, und die Zunge, aber das sah ja niemand. Ich wusste nicht einmal so recht, was sich hinter diesen Begriffen verbarg oder wo der Unterschied zwischen beiden lag. Ich zog mich an und färbte mir die Haare, weil ich es leiden mochte. Selbiges mit meinen Piercings. Na gut, und ein bisschen auch, um mich von der vermeintlich „richtigen“ Gesellschaft abzuheben, ich war halt kein normaler Durchschnittsbürger. Ich war ich und ich war stolz darauf.

Solche Reaktionen meiner Mitmenschen fand ich einfach nur anstrengend, und sie führten nicht unbedingt dazu, dass ich meine Meinung, nicht dazugehören zu wollen, änderte. Ich genoss mein Einsiedlerleben mit meiner Hündin. Ich hatte alles, was ich brauchte, und im allergrößten Notfall ein paar Leute, auf die ich zurückgreifen konnte, sollte ich mal wirklich etwas nicht allein schaffen. Innerlich rollte ich mit den Augen und versuchte einfach, nicht hinzuhören. Der Kunde hinter mir ließ sich gerade darüber aus, dass ich bestimmt „so eine faule Hartz-4-Empfängerin sei, die lieber auf ihrem knochigen Arsch saß und dem Steuerzahler auf der Tasche lag, anstatt sich einen Job zu suchen“.

Nach einigen weiteren Beleidigungen warf ich aus dem Augenwinkel einen Blick über die Schulter. Der Kerl, der diese gequirlte Scheiße von sich gab, war mit Glück gerade mit dem Abi fertig. Vermutlich hatte er noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet, vielmehr wirkte er, als würden Mami und Papi ihm zu Hause Zuckerwatte in den Arsch schieben.

Endlich durfte ich bezahlen und verließ den Supermarkt. Watson saß brav vor der Eingangstür und wartete schwanzwedelnd, bis ich bei ihr angekommen war. Im Auto wäre es viel zu warm für meine Süße gewesen, deshalb hatte ich sie vor der Tür an einem der Fahrradständer angebunden. Als ich mich aufrichtete, sah ich den Kerl von eben wieder, der gerade mit seinem Kumpel aus dem Laden kam.

„Alter, das kann ich mir nicht leisten“, sagte er in diesem Moment seinem Freund. „Mein Dad hat meine Kohle gekürzt. Er ist der Meinung, ich könnte mir ja selbst was dazuverdienen. Ich muss jetzt mit 500 Euro Taschengeld im Monat auskommen.“ Mehr hörte ich nicht, aber das musste ich auch nicht.



Aufatmend ließ ich mich rücklings auf die Wiese vor meiner kleinen Hütte fallen und starrte in den Himmel. Ein paarmal atmete ich tief durch, ließ den Duft der Blumen und des Rasens in meine Lunge strömen und spürte, wie alle Anspannung von mir abfiel. Hier war mein wahres Zuhause. Ich hatte die kleine Parzelle letztes Frühjahr angemietet, nachdem Herr Krause in Luisas Wohnung gezogen war und mir als Erstes verboten hatte, den Garten hinter dem Haus weiter zu nutzen.

Ich brauchte einfach das Grün um mich herum, das Gefühl nasser Erde an meinen Händen, die körperliche Betätigung und den Geruch der Natur. Eigentlich wäre ich auf dem Land vermutlich besser aufgehoben, doch bisher hatte ich mich nicht dazu durchringen können, mir „meinen“ Ort im Hamburger Umland zu suchen. Aber wenn das Verhältnis zu Herrn Krause sich weiterhin so drastisch verschlechterte, würde ich es wohl demnächst mal in Angriff nehmen müssen. So konnte es auf jeden Fall nicht bleiben. Gestern Abend hatte er mich wieder einmal abgefangen, um mir zu erklären, dass ich meinen Müll nicht sorgfältig trennen würde und außerdem vergessen hätte, meine Joghurtbecher auszuwaschen. Anscheinend hatte er ernsthaft meine gelben Säcke kontrolliert, woher sonst konnte er das wissen? Meiner Meinung nach suchte er einfach nur immer neue Gründe, mich zu schikanieren, und lange wollte ich mir das nicht mehr gefallen lassen.

Kurz überlegte ich, ob ich mich über mein Sandwich und meinen Salat hermachen sollte, doch ich hatte noch keinen Hunger. Also machte ich mich zuerst an die Arbeit. Das Dach meiner Laube war kaputt und ich musste es vor dem nächsten Regen reparieren. Ich suchte die Leiter aus dem Schuppen und hievte die Rolle Dachpappe samt Werkzeugkasten auf das Dach der Hütte. Zum Glück hatte es nur eine ganz leichte Dachneigung, sodass die Gefahr abzustürzen recht gering war.

Von hier oben hatte ich einen guten Überblick über die umliegenden Gärten. Grinsend ließ ich meinen Blick schweifen, irgendwie sahen sie alle gleich aus mit ihren Angeberbeeten und den frisch gemähten, saftig grünen Rasenflächen. Ich sah auf meine eigene Parzelle hinunter. Gänseblümchen und Löwenzahn wucherten auf meiner Wiese und bis hierher konnte ich das Summen der Bienen und Zirpen der Grillen hören. Ob sie sich nur in meinem Stückchen blicken ließen? Vermutlich wurden sie in anderen Gärten mit Insektenspray zu Tode gejagt.

Herr Müller neben mir war gerade dabei, seine Harke in den Schuppen zu räumen, er machte anscheinend Feierabend mit der Gartenarbeit, damit er pünktlich zur Tagesschau zu Hause vor dem Fernseher saß. In der Parzelle gegenüber von Herrn Müller sah ich Herrn Teske mit einem mir unbekannten Mann durch den Garten gehen. Herr Teske deutete auf einzelne Pflanzen und Büsche und schien dem anderen etwas zu erklären, so wie er dabei herumgestikulierte.

Stimmt, ich hatte zufällig mitbekommen, dass die Teskes den Sommer über verreisen wollten. Er hatte es neulich Herrn Müller erzählt, und die beiden hatten so laut gesprochen, dass ich gar nicht anders konnte, als das Gespräch zu belauschen. Drei Monate wollten sie unterwegs sein, und Herr Teske hatte sich Sorgen gemacht, dass sein Sohn mit der Pflege seines Gartens überfordert sein könnte. Ich hatte mich königlich darüber amüsiert. Vermutlich wäre sogar der beste Profigärtner damit überfordert, Herrn Teskes Vorzeigebeete nach seinen Wünschen zu erhalten. Der Kerl war der absolute Oberspießer hier im Verein. Sein Garten wirkte, als müsste man die Schuhe ausziehen, um den Rasen betreten zu dürfen, nicht, dass man noch einen Grashalm abknickte.

Ich wusste, ich – beziehungsweise meine Parzelle – war ihm ein ganz besonderer Dorn im Auge. Was ich als märchenhaft verwunschen und romantisch bezeichnete, war für ihn vermutlich verloddert, ungepflegt und absolut asozial. Obwohl er im Gegensatz zu Herrn Müller von nebenan noch harmlos war. Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft sich dieser oder sein Kumpel Ingo beim Vorstand des Kleingartenvereins über mich beschwert hatten.

Ich beobachtete, wie die beiden die Parzelle verließen und den Weg entlangkamen. Wie immer, wenn Herr Teske bei mir vorbeiging, wurden seine Schritte ausgreifender, und er legte deutlich an Tempo zu. Als wäre mein Garten ansteckend, rannte er fast schon daran vorbei, nicht dass mein böses Unkraut noch auf ihn oder sein Spießertum übergriff.



Maulwürfe

… hatten im Garten meiner Eltern nichts zu suchen.

Irgendwie schienen diese Viecher es zu wissen und machten in den letzten Jahren immer einen großen Bogen um die Parzelle meiner Eltern. Wie hätte es auch ausgesehen, wenn dieser englische Rasen, der aussah, als würde er mit der Nagelschere geschnitten werden, diese hässlichen schwarzbraunen Erdhäufchen auf sich tragen müsste?

Immerhin hatten meine Eltern so eine Art Naturgarten. Eine besondere Art dieser Gattung, da in der Parzelle 82 die Natur das machen musste, was mein alter Herr ihr vorgab und zuließ. Braune unförmige Hügel auf sattgrünem kurz geschorenem Rasen war ein absolutes No-Go und die Natur schien es zu wissen. Allem Anschein nach war mein Vater nicht nur mir gegenüber eine Respektsperson. Auch der Gartengott, dessen Namen ich nicht kannte, der ganz sicher aber ein entfernter Verwandter von Neptun dem Wassergott war, wagte sich nicht an Dinge, die er in anderen Gärten für sein Leben gern verbreitete. Ähnlich verhielt es sich mit Kaninchen! Selbstverständlich hatten meine Eltern einen Schutzzaun eigens für, besser gesagt gegen die kleinen Nager, rings um ihre Gartenparzelle angebracht. Dies hatten jedoch auch die Nachbarn, bei denen sich die Kaninchen allerdings nicht darum scherten. Bei den anderen buddelten sie sich unter den Zäunen hindurch oder fanden andere Wege, um in den Garten zu gelangen. Meine Vermutung war, dass nicht der Maschendraht, sondern mein Vater als Respektsperson ausschlaggebend war. Die Karnickel hatten Schiss vor ihm, und es hätte ganz sicher auch genügt, wenn mein alter Herr ein Hinweisschild mit der Aufschrift Betreten für Kaninchen verboten angebracht hätte.

Heute, an meinem ersten Gartenaufpasstag, hatte ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht. Während ich mit dem Rad durch die Gartenkolonie fuhr und dabei lächelnd die Schilder betrachtete, auf denen stand, dass Hunde anzuleinen waren und Radfahrer absteigen mussten, umkurvte ich einen freilaufenden Hund. Er saß auf dem Weg direkt vor einer Parzelle, von der ich nicht viel erkennen konnte. Wahrscheinlich würde der Besitzer seinen Garten als Bio-Garten bezeichnen. Mir schoss auf Anhieb der Ausdruck naturbelassen durch den Kopf, und ich amüsierte mich darüber, welch unterschiedliche Begriffe es für ein und dieselbe Sache gab. Mein alter Herr zum Beispiel hätte diese Parzelle bestimmt als verwildertes Assi-Grundstück beschimpft. Allerdings nur dann, wenn er gut drauf war. Ansonsten wären ihm ganz sicher noch andere Bezeichnungen für einen aus seiner Sicht zugewucherten und ungepflegten Garten eingefallen.

Ich scherte mich eher weniger darum, da ich andere Sachen auf meinem Zettel hatte. Es war Samstag, und mein Plan war es, mich in einer Stunde mit meinen Freunden zum Frühstück im Schweinske Fuhlsbüttel zu treffen. Da der Kleingartenverein zwischen meiner Wohnung und dem Schweinske lag, wollte ich einen kurzen Zwischenstopp einlegen, um den Rasen zu sprengen. Selbstverständlich wusste ich, dass man an Tagen wie diesen, an denen eine große Hitze vorausgesagt war, das Bewässern erst in den Abendstunden erledigen sollte. Ansonsten bestand die Gefahr, dass der Rasen tagsüber verbrennen könnte. Doch erstens sah ich es nicht so eng und zweitens hatte ich heute Abend bereits etwas vor.

Ich stieg vom Rad, öffnete die Gartenpforte und schob meinen Drahtesel hinter die Hütte an eine schattige Stelle. Voller Tatendrang ging ich über die Terrasse, betrat die kleine schiefe Treppe, die mich hinunter in den größeren Gartenbereich führte, und drehte den Wasserhahn auf. Der Schlauch lag fein säuberlich aufgerollt direkt am Wasseranschluss, und nachdem ich den Aufsatz für die Sprinkleranlage aufgeschraubt hatte und diese mittig auf dem Rasen platzieren wollte, glaubte ich, eine Fata Morgana zu erblicken. Die schon heute Morgen in Hamburg verbreitete heiße Luft schien bereits zu dieser frühen Uhrzeit Dinge aus anderen Gärten bei uns widerzuspiegeln. Tatsächlich sah es so aus, als hätte sich auf dem edlen Luxusrasen meines Vaters ein Maulwurf breitgemacht. Was sage ich? Es musste eine ganze Maulwurffamilie gewesen sein, die allem Anschein nach alles das nachgeholt hatte, was mein alter Herr ihnen in den letzten Jahren verwehrte.

Ob es sich bei mir um eine Schockstarre handelte, weiß ich nicht. Allerdings weiß ich noch, dass ich stocksteif auf dem Rasen stand und meinen Blick nicht von den Hügeln lassen konnte. Hügel? Berge war der bessere Ausdruck! Wahrscheinlich hatte es weltweit noch niemals solch große Maulwurfshügel gegeben, wie ich sie hier, an diesem schönen Morgen, in unserem Garten fand. Mit Hacken und Schubkarren mussten die Viecher gearbeitet haben. Der Erde nach zu beurteilen, musste sich ein riesiges Labyrinth unter unserem Prachtrasen befinden. Was zu tun war? Ich hatte keine Ahnung. In anderen Parzellen hatte ich irgendwann einmal gesehen, dass Flaschen falsch herum in die Maulwurfshügel gesteckt wurden. Ob dies eine Alibiveranstaltung war oder es tatsächlich helfen würde, konnte ich in diesem Moment nicht herausfinden. Selbstverständlich gab es im Garten meiner Eltern keine leeren Flaschen. Diese wurden jeden Abend fein säuberlich eingepackt und mit nach Hause genommen, um sie dort im Keller direkt in die dafür vorgesehenen Kisten zu sortieren.

Gift! Ja, mit Gift müsste es funktionieren. Vielleicht half sogar Rattengift, und ich vermutete, dass meine Eltern ein solches in ihrem Schuppen hatten. Auf dem Weg dorthin bekam ich ein schlechtes Gewissen, da ich Bilder von den niedlichen Gesichtern und diesen riesigen Schaufeln der Tiere im Kopf hatte. Besaßen die „Blackis“ überhaupt Augen? Kleine schwarze Knopfaugen? Ich war mir nicht ganz sicher. Allerdings fiel mir dann ein, dass es schließlich den Satz „Blind wie ein Maulwurf“ gab. Bedeutete dieser, dass sie keine Augen hatten oder dass sie trotz Augen nichts sehen konnten? Wofür sollten Maulwürfe Augen benötigen? Eigentlich machten sie keinen Sinn. Gucken konnten sie in den Tiefen unter der Erde sowieso nichts. Außerdem müssten sie sich ständig Sand oder Erde herausreiben, was mit sandigen Schaufeln eine eher blödsinnige Angelegenheit wäre.

Meine Gedanken an früheren Biologieunterricht halfen mir leider nicht weiter. Ich konnte mich kaum erinnern und war eh eine Niete in diesem Fach. Ich begann damit, auf den Knien über den Rasen zu rutschen und die aufgeschaufelten Erdhaufen mit meinen Händen in einen Eimer zu füllen. Die Erde verteilte ich gleichmäßig in den Beeten und bereits nach kurzer Zeit hatte ich den englischen Zierrasen von allen Hügeln befreit. Stolz wie Oskar ging ich in den Geräteschuppen und kam mit einer Harke wieder heraus. Damit verharkte ich die restliche Erde, und als ich anschließend die Sprinkleranlage angestellt hatte, war schon bald nichts mehr von meinen kleinen schwarzen Freunden und ihren Hinterlassenschaften zu erkennen.

Gut zu erkennen war dafür, dass ich eine fleißige Garteneinheit absolviert hatte. Meine Hände waren pechschwarz und meine Fingernägel ähnelten denen eines Automechanikers, der drei Wochen lang mit dem Wechseln von Ölfiltern beschäftigt war und zwischendurch keine Zeit hatte, seine Finger zu waschen. Mit einer Nagelbürste, die ich direkt am Waschbecken gefunden hatte, und einem Stück Kernseife, das millimetergenau daneben platziert lag, machte ich mich daran, meine Hände zu säubern. Die braune Suppe, die über das Waschbecken abfloss, war schon recht ekelig, und in mir kroch ein wenig Angst herauf, dass ich mich gleich auch noch um einen verstopften Abfluss würde kümmern müssen.

Erschrocken blickte ich auf meine Uhr. Drei Stunden hatte ich mit der Gartenarbeit zugebracht, was bedeutete, dass meine Freunde bereits vor zwei Stunden mit dem Frühstück begonnen hatten. Als ich auf mein Handy schaute, das ich in der Hütte liegen hatte, sah ich einige Anrufe in Abwesenheit und ebenso viele Nachrichten per WhatsApp. Ich wurde vermisst, was ja irgendwie auch ein Kompliment war. Blöd war nur, dass ich mich nicht abgemeldet hatte, und ich hoffte, dass meine Kumpels nicht sauer waren. Als ich an mir heruntersah und die jetzt grün gefärbten Knie meiner hellblauen Jeans erkannte, ärgerte ich mich über mich selbst. Dass man in einer hellen Hose nicht über den Rasen robbt, hatte ich bereits in meiner frühsten Kindheit gelernt, es heute vor lauter Aufregung nur völlig vergessen. Mit dieser Jeans und meinen Händen, die ich zwar gewaschen hatte, die allerdings trotzdem noch immer aussahen, als hätte ich gerade meine Großmutter ausgegraben, konnte ich nirgends hin. Was blieb mir da anderes übrig, als mich bei meinen Freunden per Telefon zu entschuldigen und abzusagen? Leider nicht viel!

Beim Telefonat erfuhr ich, dass sie sowieso gleich aufbrechen wollten. Es lohnte sich für mich also nicht, mich aufs Rad zu schwingen, nach Hause zu fahren, um dann ins Schweinske zu düsen. Stattdessen baute ich mir auf der Terrasse einen Liegestuhl auf und saß dort, nachdem ich mir Kaffee aufgesetzt hatte, fünf Minuten später mit einem Becher in der Hand.

Im Stillen amüsierte ich mich darüber, dass ich meinem alten Herrn mal wieder recht geben musste. Er war es immer, der meinte, dass im Garten bei der Arbeit die Zeit wie im Fluge vergehen würde. Dass man in eine andere Welt eintauchte und um sich herum alles andere vergessen würde. Wie häufig hatte ich mich über diesen Quatsch lustig gemacht und heute am ersten Tag meiner Mission gleich das Gegenteil bewiesen bekommen. Es war tatsächlich, wie er immer sagte.

Kaputt von meiner Gartenarbeit war ich eingeschlafen und musste mich nach dem Wachwerden zunächst etwas sortieren, als ich meine Augen öffnete und in den strahlenden Hamburger Himmel blickte. Als ich mich aufgerichtet hatte und am Überlegen war, welche Arbeiten ich im Garten noch verrichten konnte, stieß ich plötzlich einen lauten Schrei aus. Vielleicht war Schrei nicht die richtige Bezeichnung dafür, es war wohl eher eine Schimpftirade, die ich zum Besten gab.

„Seid ihr Scheißviecher eigentlich nicht ganz dicht? Was soll das? Warum müsst ihr hier aufkreuzen? Ausgerechnet jetzt, wo meine Eltern im Urlaub sind!“

Eine Antwort bekam ich selbstverständlich nicht. Längst hatte sich die Maulwurfsfamilie in den Weiten des unterirdischen Universums verflüchtigt. Alles, was ich erkennen konnte, waren viele nagelneue braune Hügel. Berge, über die ich wusste, dass sie mir wieder eine Menge Arbeit eingebracht hatten. Als mich mein Vater anrief, um zu fragen, ob alles in Ordnung war, vergaß ich – natürlich nur zufällig – die Maulwürfe zu erwähnen. Ganz sicher wäre er in den nächsten Flieger gestiegen, um den Kampf aufzunehmen.



Die Arbeit auf dem Dach

… ging einfach nicht voran. Gestern Abend hatte ich gerade mal die Hälfte geschafft, dann wurde es zu dunkel. Und heute … den ganzen Morgen beobachtete ich nun schon, wie der feine Sohnemann von Herrn Teske auf allen vieren über den Rasen seines Vaters rutschte und verzweifelt versuchte, die Maulwurfshügel abzutragen. Das hier war besser als Kino! Eine Komödie sondergleichen war es, zu sehen, wie er seine schicke helle – und bestimmt von einem angesagten Designer stammende – Jeans einsaute. Es fehlte nur noch das Popcorn zu meinem Glück. Ein paarmal musste ich herzhaft lachen und schlug mir mit der Hand vor den Mund, damit er mich nicht hörte.

Ich hielt Ausschau nach Watson; heute Morgen war sie mir abgehauen, aber jetzt schlief sie friedlich unter dem Schmetterlingsbaum im Schatten. Ich musste endlich dieses Loch im Zaun finden und flicken!, nahm ich mir vor. So gut sie auch hören konnte, wenn ich ihr Befehle gab, das war schon seit jeher eins unserer großen Probleme. Sowie ich sie aus den Augen ließ und ihr langweilig war, ging sie spazieren. Irgendwo fand sie immer eine Stelle, an der sie hindurchschlüpfen konnte, und lief dann eine Runde durch die Wege der Kleingartensiedlung. Nicht dass ich mir sonderliche Sorgen machen würde. Sie rannte nie weit weg und kam meist nach ein paar Minuten wieder, aber so allmählich häuften sich die Beschwerden der Nachbarn, da es hier nicht gestattet war, Hunde ohne Leine laufen zu lassen. Ich fürchtete, ich würde irgendwann die Quittung in Form einer Kündigung bekommen.

Endlich hatte ich die letzte Bahn Dachpappe befestigt. Genug gearbeitet für heute, die Sonne schien und meine Liege schrie regelrecht nach mir. Noch einmal ließ ich meinen Blick schweifen, mittlerweile hatte anscheinend auch Teske Junior befunden, dass er den Feierabend verdient hatte, und lag friedlich schlafend im Liegestuhl auf der Terrasse seiner Eltern. Er sah gar nicht mal so schlecht aus, wenn man auf diese schnöseligen Typen stand, fand ich. Die blonden Haare fielen ihm zwar für meinen Geschmack zu lang ins Gesicht, aber irgendetwas an ihm sprach mich an. Einen Moment lang musterte ich ihn. Auf jeden Fall hatte er schon reichlich Sonne abbekommen, wie seine gebräunte Haut zeigte. Na ja, vermutlich Sonnenbank, damit er auch ja keine hellen Abrücke vom T-Shirt bekäme, dachte ich grinsend. Ja, das passte irgendwie zu ihm und dazu, wie ich seine Eltern kannte. Eine Nato-Bräune hätte das perfekte Gesamtbild und wohl ebenso das optische Gleichgewicht gestört. Mir war klar, dass ich mit meinen klischeehaften Gedanken keinen Deut besser war als die Leute, die mich aufgrund meines Äußeren auf der Straße dumm anmachten. Aber es war mir egal. Immerhin behielt ich meine Meinung für mich – zumindest solange mir niemand einen Grund gab, der meine Vorurteile bestätigte. Dann konnte ich durchaus auch schon mal kiebig werden.

Allerdings hatte ich gelernt, dass es grundsätzlich schlauer war, die Klappe zu halten, als sich mit irgendwelchen verklemmten Idioten auf Diskussionen einzulassen. Bei den meisten war eh jedes Wort vergebens, sie sahen nur, was sie sehen wollten, und hörten nur, was sie hören wollten. Den Atem konnte ich mir also sparen. Ignoranz war da definitiv die bessere Alternative.

Noch immer auf dem Dach, rollte ich mich auf den Rücken. Ich hatte das Gefühl, direkt im Himmel inmitten der kleinen Schönwetterwölkchen zu liegen. Wieso war ich eigentlich nicht schon früher auf diese Idee gekommen. Hier oben war es viel ruhiger als unten in meinem Garten, eine herrliche Stille. Ein Spatz landete ein Stück neben mir und musterte mich mit schief gelegtem Köpfchen. So niedlich! Diese schwarzen Knopfaugen sahen mich neugierig an, als würde er überlegen, was ich wohl auf dem Dach machen könnte.

Plötzlich ertönte Hundegebell. Mein neuer gefiederter Freund flog erschreckt davon und ich richtete mich abrupt auf.

„Scheiße! WATSON!“, brüllte ich und sah zu, dass ich über die Leiter vom Dach herunterkam. „Watson, HIER!“, befahl ich lautstark und rannte zur Gartenpforte. Auf dem Weg vor meiner Parzelle bleib ich stehen und schaute ein wenig ratlos nach rechts und links den Weg entlang. Aus welcher Richtung war das Kläffen gekommen? Wo konnte sie sein?

„Ist Ihr Köter schon wieder abgehauen?“ Herr Müller reckte den Hals und sah mich spöttisch aus seinem Garten heraus an. Auch er gehörte zu denen, denen meine Hündin ein Dorn im Auge war.

„Haben Sie sie gesehen?“, fragte ich, ohne auf seine Worte einzugehen, und machte ein paar Schritte in seine Richtung.

„Nö, aber welcher Hund außer Ihrer rennt denn hier ständig rum?“ Ich konnte ein genervtes Augenrollen nur knapp unterdrücken, ich musste sie einfangen, und zwar schnell!

Etwas Feuchtes ditschte von hinten gegen meine Wade und ich drehte mich um. Watson saß da, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Sie legte den Kopf schief, wedelte mit dem Schwanz und hob eine Vorderpfote, wie sie es immer machte, wenn sie gekrault werden wollte.

„Du kleine Mistratte, wo bist du jetzt wieder herumgestromert?“, fragte ich und schickte sie mit einem Handzeichen zurück in unseren Garten. Sofort trottete sie mit gesenktem Kopf davon, es war ja nicht so, dass sie nicht wüsste, dass sie nicht einfach abhauen darf.

„Flicken Sie das Loch!“, meckerte Herr Müller noch und verschwand hinter seiner sauber gestutzten Thuja-Hecke. Kaum war er außer Sicht, konnte ich mich nicht mehr beherrschen und streckte ihm ganz kindisch die Zunge raus. „Blöder Spießerarsch!“, murmelte ich und ging zurück in meinen Garten zu Watson hinüber, die sich sofort auf den Rücken rollte. Ich legte mich zu ihr auf die Wiese und kraulte ihr den Bauch.

„Du darfst doch nicht immer weglaufen, Süße!“, nuschelte ich und vergrub mein Gesicht in ihrem weichen braunen Fell. „Sonst schmeißen die uns hier raus. Und was machen wir dann? Dann ist es aus mit unserem kleinen Paradies.“ Ich war wirklich besorgt. Nach ein paar weiteren Minuten, in denen wir beide das Kuscheln genossen, machte ich mich daran, den Zaun zu kontrollieren.

Schnell fand ich das Loch hinter Watsons Lieblingsbusch. Der Schmetterlingsbaum, unter dem sie vorhin gelegen hatte, verbarg es davor, sofort sichtbar zu sein. Ich holte ein Stück Maschendraht aus meinem Schuppen und eine Kneifzange und flickte es, so gut ich konnte.

Endlich konnte ich mich meinem Buch widmen. Mit einer Tasse Pfefferminztee aus eigenem Anbau verzog ich mich auf meine Sonnenliege. Es war so heiß, dass ich bald darauf wieder aufstand und meinen Bikini anzog. Jetzt ein Pool, das wäre es!, dachte ich, als ich mich erneut auf die Liege fallen ließ. Stattdessen hatte ich nur eine vom Vorbesitzer gebastelte Dusche zum Abkühlen zur Verfügung. Sie war hinter der Laube angebracht und wirklich auf die einfachste Art und Weise. Es war nur ein Rohr, an das er mit viel Klebeband den Aufsatz einer Gießkanne befestigt hatte. Trotzdem muss er ein wenig Ahnung gehabt haben, was er dort tat, denn die ganze Konstruktion war an den Durchlauferhitzer in der Hütte angeschlossen, und somit gab es sogar die Möglichkeit, warm zu duschen. Also, zumindest wenn man sich im Freien hinter der Laube ausziehen wollte. Mein Garten war zwar komplett zugewachsen, sodass man von außen nichts hätte sehen können, aber dennoch wäre mir nicht wohl bei dem Gedanken. Was, wenn doch jemand unverhofft bei mir auftauchte? Nein, danke!

Ich lag in der Sonne und ölte vor mich hin. Ja, ein Pool wäre jetzt toll! Oder zumindest ein Planschbecken. Watson liebte Wasser, es wäre also auch für sie vielleicht nicht das Schlechteste. Warum eigentlich nicht?, fragte ich mich selbst und griff nach meinem Handy. Ein Blick auf die Uhrzeit verriet mir, dass die Geschäfte noch geöffnet hatten, und so zog ich mich kurz entschlossen an und fuhr zum Baumarkt.

Eine Stunde später stand auf meiner Wiese ein pinkfarbenes Kinderplanschbecken, so groß, dass ich mich fast der Länge nach reinlegen konnte. Sehr schön! Während ich es mit dem Gartenschlauch befüllte, freute ich mich bereits darauf, in den nächsten Tagen darin den einen oder anderen Feierabenddrink zu nehmen. In Gedanken ging ich durch, was ich dafür alles von zu Hause mitbringen musste, denn meine Vorräte im Garten waren wirklich mickrig. Wie schon häufiger in den letzten Wochen bedauerte ich es, dass ich nicht mehr Zeit hier verbringen konnte. Mein kleines Paradies war so wunderschön, dass ich am liebsten für immer hiergeblieben wäre. Na gut, zumindest den Sommer über, im Winter war die Hütte viel zu zugig und besaß außerdem keine Heizung. Nur ein alter Heizlüfter sorgte dafür, dass man sich zwischendurch ein wenig aufwärmen konnte.

Der Pool war voll und ich drehte das Wasser ab. Während ich den Schlauch in eine Ecke schob, wo ich nicht darüberfallen würde, kam mir eine Idee. Warum eigentlich nicht? Was sprach denn dagegen, dass ich an schönen Tagen vom Garten aus arbeitete? Ich hätte mir selbst in den Arsch beißen können, dass ich nicht schon viel früher auf den Gedanken gekommen war. Ja, ich konnte von überall aus arbeiten, wenn nicht solche unvorhergesehenen Aufträge wie dieses Kinderbuch dazwischenkamen. Weshalb zum Henker hatte ich dann bisher nie hier gearbeitet? Ich saß immer in meinem kleinen Büro in meiner Wohnung, wo auch Laura mit mir zusammen arbeitete, und gerade jetzt im Sommer, wo es heiß war, war es unter dem Dach zeitweise fast unerträglich. Ich war ständig darauf bedacht gewesen, ein WLAN-Netz zur Verfügung zu haben, was es im Garten nicht gab. Doch wie oft brauchte ich während meiner Arbeit das Internet? So gut wie nie!

Ab heute wird das anders, beschloss ich. Ab sofort wird da gearbeitet, wo ich mich wohlfühle und meine Kreativität sprießt. Laura wollte ich selbstverständlich das gleiche Recht zugestehen wie mir und so holte ich sofort mein Handy und schrieb ihr eine WhatsApp.

Montagmorgen, 9 Uhr, Besprechung bei mir. Ich hab Sekt da, sorgst du für Kuchen? Wir haben was zu feiern! ;-)



Sonntags im Garten

… sind so einige Dinge verboten!

Und wenn ich es gewusst hätte, wäre mir ein blöder Anschiss erspart geblieben, da ich es dann nicht gemacht hätte.

Doch woher sollte ich es wissen? Ich hatte keinen Kleingarten, sondern durfte, besser gesagt musste, mich lediglich für einen viel zu langen Zeitraum um den meiner Eltern kümmern. Eher zu viel als zu wenig hatte mir mein Vater mit auf den Weg gegeben und auf seiner Mammutliste notiert. Dass sonntags Ruhetag war und man sich mucksmäuschenstill auf seiner Scholle bewegen musste, stand leider nirgends.

Dabei fing der Tag völlig entspannt und schön an. Ich hatte mich wieder auf meinen Drahtesel gesetzt und mich auf den Weg zum Garten gemacht. Babygänse und kleine Wollknäulchen, die hinter ihren Schwaneneltern her paddelten, begleiteten mich auf der Alster, während ich mich auf dem Alsterwanderweg befand. Mit meinem Handy machte ich ein paar Fotos und stellte sie sogleich ins soziale Netzwerk. Immerhin kannte ich einige Menschen, die nicht in Hamburg lebten, und ich wollte ihnen mit diesen Bildern einmal mehr beweisen, wie schön unsere Weltstadt war.

Bereits von zu Hause aus hatte ich meinen Kumpels eine Nachricht in den WhatsApp-Chat gestellt und sie gefragt, ob wir heute Abend zusammen im Garten ein Bier trinken wollten. Alternativ hätten wir uns auch an die Alster setzen können. Nicht in der City, wo alle saßen, sondern hier am Alsterlauf.

Als ich unsere Gartenkolonie erreicht hatte, fuhr ich weiter und übersah, natürlich ganz aus Versehen und ohne böse Absicht, das Schild, dass ich eigentlich hätte absteigen müssen. Die Wege waren menschenleer, und so bestand keinerlei Gefahr, dass ich irgendeinen der Gartenfreunde umfahren konnte. Meine Überlegung, ob sich das Wort Gartenfreunde, besser gesagt der zweite Teil dieses Wortes, auf die Besitzer bezog oder ob es aussagen sollte, dass alle Freunde eines Gartens waren, brachte ich nicht zu Ende. Meine Gedankenschleife war noch im Gange, als ich eine Vollbremsung machen musste. Es war wieder dieser Hund, von dem ich nicht wusste, welche Hunderassen sich gepaart hatten, bevor er das Licht der Welt erblickte, der schon gestern ohne Leine vor dem verwilderten Garten gesessen hatte. Heute blieb er nicht sitzen. Vielmehr hatte er die grandiose Idee, genau in dem Augenblick, als ich an ihm vorbeifahren wollte, ein paar Schritte nach vorne zu machen. Seine neugierige Schnute hielt er dabei in meine Richtung. Wäre ich nicht spontan in die Eisen gegangen, hätte er sich garantiert zwischen meinen Speichen verfangen. Ohne mich abzumaulen, stand ich, mein Rad zwischen die Beine geklemmt, neben dem Hund und wir sahen uns fragend an. Ein Herrchen war nicht in Sicht, und ich überlegte, ob er wohl zu diesem verwilderten und naturbelassenen Garten gehörte. Ob sich jemand in diesem Garten befand, konnte ich auch heute nicht erkennen, und so machte ich mich, nachdem ich Wauwi kurz über den Kopf gestrichen hatte, auf den Weg zu meiner Parzelle. Nicht dass ich mich nicht gerne noch länger mit dem Hund beschäftigt hätte, aber es siegte meine Neugier darauf, ob sich die Maulwurfsfamilie wieder ein neues Festival der Hügel geschaffen hatte.

Ob ich gesiegt hatte oder die kleinen schwarzen Tierchen mit ihren riesigen Schaufeln nur keine Lust gehabt haben, wusste ich nicht. Was auch immer es war, hatte jedoch dazu geführt, dass sich mir der Rasen meines Vaters heute im normalen Zustand präsentierte. Erleichtert ging ich barfuß über denselbigen und genoss dabei den kühlen Tau unter meinen Fußsohlen.

Die Gemüsebeete hatte ich bereits kontrolliert und das eine oder andere Unkraut, das sich mir in den Beeten zeigte, entfernt. Selbstverständlich inklusive der Wurzel, da es sich ansonsten in Windeseile neu entwickeln würde. So hatte es mir mein Vater mit auf den Weg gegeben und außerdem stand diese Erklärung zusätzlich noch auf der Mammutliste. Vertieft in meine Arbeit und mit den Kopfhörern, die zu meinem MP3-Player gehörten, in den Ohren, verrichtete ich meine Aufgaben. Diese anstrengende Gartenarbeit, die mir überraschenderweise viel mehr Spaß machte, als ich es vorher vermutet hatte. Mein Gehirn hatte sich auf Stand-by gestellt, und es tat gut, sich einfach mal nicht mit all den kleinen und größeren Problemen zu beschäftigen.

Ein Schrecken ging mir in die Glieder, und mein Puls begann zu rasen, als mir irgendjemand mit einem kalten nassen Waschlappen über den Hals fuhr. Vom Nacken bis zum Ohr erwischte er mich mit diesem ekligen Lappen. Als ich den ersten Schreck verarbeitet hatte und bereit für eine Pöbelattacke war, drehte ich mich um. Noch immer hockend sah ich direkt in die erwartungsvollen Augen meines neuen Freundes. Sein Schwanz schlug aufgeregt hin und her, und ich konnte gerade noch mein Gesicht zur Seite drehen, um mich vor der nächsten Schleck-Attacke zu schützen.

Da mir Wauwi sowieso nicht antworten konnte, sparte ich mir die Frage, warum er hier, obwohl es verboten war, ohne Leine herumlaufen würde. Es ihm zu erklären, würde auch nichts bringen, da er ganz sicher nicht der Schuldige an diesem Vergehen war. Als ich ihm meine Hand hinhielt, gab er Pfötchen, und ich erkannte an seinem Blick, dass nun eine Belohnung angebracht gewesen wäre. Ich testete, ob er neben dem Pfötchengeben noch andere Tricks beherrschte, und freute mich wie ein kleines Kind darüber, dass er sich hinsetzte, nachdem ich ihm den Befehl gegeben hatte. Wie ich meine Eltern kannte, gab es in der kleinen Kommode, die sich in der Hütte befand und eine Art Notfallreserve beinhaltete, garantiert mindestens ein Würstchenglas.

Wie berechenbar die beiden doch waren. Natürlich hatte ich recht, und so verließ ich einen kurzen Augenblick später die Hütte, um meinem vierbeinigen Freund stolz die Belohnung zu präsentieren. Leider war er nicht mehr da. Ich ging durch die offene Pforte und schaute erst die linke und anschließend die rechte Seite des Weges entlang. Spurlos war er verschwunden. Da ich weder Lust hatte, mit einem Hund Verstecken zu spielen, noch mit einem Würstchenglas in der Hand den Kleingartenverein abzusuchen, kehrte ich zurück in den Garten. Ich verstaute das Glas an seinem eigens von meiner Mutter zugewiesenen Platz und machte mich daran, das Verlängerungskabel aus dem Schuppen zu holen.

Das Kabel lag bereit, und nachdem ich den richtigen Schalter am Sicherungskasten gefunden hatte, konnte ich den Rasenmäher mit Strom versorgen. Da das Leben mit Musik um einiges leichter war, hatte ich noch immer meine Stöpsel in den Ohren und ließ mir gute Mucke in dieselbigen transportieren. Wie viel Quadratmeter das Rasenstück besaß, wusste ich nicht. Allerdings empfand ich es als ganz schön groß.

Einfach mit dem Rasenmäher vor dem Bauch hin und her zu laufen, erschien mir zu langweilig, und so machte ich mich daran, meinen Namen in großen Buchstaben in den Rasen hineinzumähen. Es klappte besser, als ich dachte, und ich freute mich darüber, dass die Parzellenbesitzer der Nachbargärten es allem Anschein nach auch cool fanden. Alle standen an ihren Zäunen oder Hecken, die als Begrenzungslinien dienten. Da ich noch immer Musik hörte, bekam ich ihre Gespräche nicht mit. Es mussten intensive Gespräche sein, da ich die Hektik in ihren Gesichtern erkannte und sie dabei wild gestikulierten.

Freundlich winkte ich zurück und lächelte sie an. Ganz sicher hatten sie noch nie erlebt, dass jemand voller Freude seinen Namen im Rasen verewigte. Okay, verewigen wollte ich ihn nicht, aber zumindest ein Foto schießen und dieses meinen Freunden und meinen Eltern präsentieren. Dass meine Aktion einen solchen Anklang fand, damit hatte ich nicht im Entferntesten gerechnet. Immer mehr Nachbarn versammelten sich, was zugleich dafür sorgte, dass die Geräuschkulisse ihrer Unterhaltungen enorm anstieg. Mein Name war inzwischen beim dritten Buchstaben angekommen. Ich hatte das erste M bereits fertig und musste nun den Rasenmäher ausschalten, um ihn ein Stück weiter für das nächste M neu anzusetzen. Ohne den Lärm vom Rasenmäher konnte ich, obwohl die Musik in meinen Ohren dröhnte, einige Wortfetzen auffangen. Vorsichtshalber winkte ich nicht erneut in die Runde, sondern nahm mir die Stöpsel aus den Ohren.

Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass ich mein freudiges Winken zu den Nachbarn lieber hätte bleiben lassen. Sie freuten sich nicht darüber, dass ich die grandiose Idee hatte, meinen Namen in den Rasen zu mähen, stattdessen hatten sie eine dicke Krawatte um den Hals. Als das Gestikulieren und Durcheinanderschreien etwas abnahm, konnte ich die Worte des Obermotzkis gut wahrnehmen. Genauer gesagt nicht nur wahrnehmen, sondern auch verstehen. Es war Sonntag, und an einem Sonntag darf man, ebenso wie feiertags, keine Gartenarbeiten durchführen. Zumindest keine, die Lärm verursachten und somit die anderen Gartenfreunde um ihre wohlverdiente Ruhe brachten.

Ich war zwar der Meinung, dass man es mir durchaus hätte freundlicher sagen können, sah es jedoch ein und entschuldigte mich bei allen. Der Rasenmäher und die Verlängerungsschnur waren inzwischen wieder im Schuppen, als ich von der Terrasse aus mein Werk begutachtete. Es war etwas schief geworden, allerdings war es trotzdem gut zu erkennen. Da mich einige meiner Freunde Tommy und andere wiederum Tom nannten, genügten die drei Buchstaben, die ich in den Rasen gemäht hatte, vollkommen aus. Ich fotografierte mein Kunstwerk und schickte mein Tom in die Weltgeschichte hinaus.

Ab und an machte ich mich auf den Weg zur Gartenpforte. Irgendwie hoffte ich, dass mich mein vierbeiniger Freund ein weiteres Mal besuchen kommen würde. Leider war es nicht so. Ich verbrachte den Tag alleine und war damit beschäftigt, die Beete meiner Eltern in Ordnung zu bringen. Während ich zwischen den Blumen hockte und über meinen letzten Satz nachdachte, amüsierte ich mich über mich selbst. Ich brauchte die Beete meiner Eltern nicht in Ordnung zu bringen. Sie waren nahezu perfekt, und ich musste lediglich dafür sorgen, dass sich kein Wildwuchs in ihnen breitmachte.

Während einer kurzen Kaffeepause saß ich auf einem großen Stein, den mein Vater als Findling von irgendeinem Feld mitgebracht hatte, und blickte auf den Teich. Eine Libelle flog immer wieder über das Wasser und hielt sich manchmal mit ihrem langen Hinterteil an irgendwelchen Pflanzen fest. Die kleinen Goldfische kamen an die Wasseroberfläche und schnappten nach Insekten, die sich darauf befanden. Es war idyllisch, fast wie in einer anderen Welt, und ich genoss es, in diesem Moment in sie einzutauchen. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass meine Kumpels so gar keine Lust auf meine Kleingartenidylle hatten. Nacheinander hatten alle für das von mir vorgeschlagene Bier im Garten abgesagt.



Laura

… war ähnlich durchgeknallt wie ich, nur auf eine völlig gegenteilige Art und Weise. Während ich fast nur schwarze Klamotten besaß, war das eine Farbe, die in ihrem Kleiderschrank so gar nicht vorkam. Meistens sah man sie in bunten Kleidern, kurz, lang, eng, wallend – alles war dabei. Hosen trug sie selten. Statt Piercings hatte Laura diverse farbige Tattoos, ihre Haare waren feuerrot gefärbt und streichholzkurz.

Wir waren aus Sicht der so genannten Gesellschaft Freaks, jeder auf seine Weise, und vielleicht war es das, was uns beide verband. Doch während Laura ihr Leben mit Partys und unzähligen Freunden verbrachte, zog ich mich lieber zurück und hatte meine Ruhe. Wenn wir gemeinsam durch die Stadt liefen, kam es häufiger vor, dass die Leute gar nicht wussten, wen sie zuerst anstarren sollten. Wir amüsierten uns immer königlich darüber und konnten es nicht glauben, wenn sie unseretwegen die Straßenseite wechselten und uns dabei ansahen, als hätten wir eine ansteckende Krankheit. Wobei mich solch ein Verhalten eher nervte und in meiner Bockigkeit, nicht so sein zu wollen, bestärkte.

„Okay, hier ist der Kuchen, was gibt es?“, fragte Laura, als sie pünktlich in meine Wohnung stürmte, und stellte einen Pappteller vom Bäcker auf meinen Schreibtisch.

„Setz dich erst mal“, sagte ich lachend. „Und dann immer schön der Reihe nach.“ Ungeduldig ließ sie sich auf meinen Besucherstuhl plumpsen.

„Oh Mann, mach es doch nicht so spannend! Ich hab das ganze Wochenende gegrübelt, was wir zu feiern haben könnten. Hast du einen Super-Duper-Auftrag an Land gezogen, oder was ist los?“

Breit grinsend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sollte ich sie noch ein wenig zappeln lassen? Nein, ich beschloss, sie nicht länger auf die Folter zu spannen.

„Ich habe mir etwas überlegt. Also … Der Sommer ist da, und ich finde, wir haben uns was verdient. Na ja, eigentlich schon längst, aber die Idee kam mir erst am Samstag.“ Irritiert musterte Laura mich. Okay, sie konnte mein wirres Gefasel nicht verstehen – wie auch?

„Ich habe darüber nachgedacht, dass es doch völlig egal ist, WO wir arbeiten, Hauptsache, wir machen es. Wir haben unsere Laptops und Tablets, mit denen können wir so ziemlich alles machen. Warum sollten wir uns die tollen Sommertage entgehen lassen, weil wir hier in meiner Wohnung im Büro sitzen?“

Noch immer sah Laura aus wie ein wandelndes Fragezeichen, daher sprach ich weiter.

„Was ich damit sagen will … Ab sofort arbeiten wir beide dort, wo wir möchten. Ob du mit deinem Kram in einem Café hockst, bei dir zu Hause oder im Freibad, ist mir dabei völlig egal, wichtig ist nur, dass wir die Abgabetermine einhalten. Ich sehe nicht ein, warum wir hier den ganzen Tag rumhocken müssen. Und falls du beschließt, den Tag am Strand zu verbringen und dafür nachts zu arbeiten, soll es mir auch wurscht sein. Verstehst du? Ab sofort hast du vollkommen freie Hand. Wobei wir uns natürlich ab und an treffen müssen, um das Wichtigste zu besprechen, gerade wenn es um neue Aufträge geht.“

Ich konnte sehen, wie ganz langsam, in Zeitlupe, in ihrem Hirn ankam, was ich eben gesagt hatte. Ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und ich brauchte gar nicht mehr zu fragen, ob sie mit meinem Vorschlag einverstanden war. Jubelnd sagte sie Ja, und nachdem wir ein paar weitere Details besprochen hatten, stießen wir auf unser neues, besseres Arbeitsleben an.

„Okay, dann finde ich dich demnächst also rund um die Uhr in deinem Garten?“, fragte Laura irgendwann und biss in ein Stück Apfelkuchen.

„Ja, das wird wohl so sein. Watson und ich werden uns da einen schönen Arbeitsplatz unter dem Sonnenschirm aufbauen.“ Breit grinsend zwinkerte ich ihr zu. „Allerdings erst, wenn ich das Loch im Zaun gefunden habe. Irgendwie entstehen die Dinger schneller, als ich sie flicken kann. Da hab ich am Samstag eins zugemacht, und gestern war sie schon wieder unterwegs. Keine Ahnung, wo sie jetzt noch rauskommt.“

Laura lachte auf.

„Watson ist so cool!“

„Na ja, geht so. Wenn der Vorstand das mitbekommt, gibt es wieder Ärger.“

„Hm … Okay, das wäre blöd, das seh ich ein. Aber sie läuft ja nicht weg und kommt zum Glück immer wieder. Oder hast du Angst, dass sie bei deinem Nachbarn die Erdbeeren klaut?“

Ich prustete los.

„Nein, das ganz sicher nicht! Aber es reicht mir einfach schon, dass ich Stress mit meinem Vermieter habe, da will ich mich wenigstens im Garten entspannen.“

Eine Stunde später war alles geklärt und ich auf dem Weg, um meinen ersten Garten-Arbeitstag zu starten. Ich war glücklich wie ein kleines Kind! Das war die beste Idee seit Langem! Okay, und mein Planschbecken, auf das ich mich jetzt schon freute.



Ein paar Tage lang genoss ich es, in Ruhe in der Sonne zu arbeiten. Das neue Loch war gefunden und geflickt, Watson lag neben mir im Schatten und schnarchte mir die Ohren voll, während ich zeichnete und entwarf. Der Bikini war zu meiner Arbeitskleidung geworden, und wenn es mir zu heiß wurde, legte ich mich ein paar Minuten ins kühle Nass des Pools, bevor ich wieder an die Arbeit ging. Ich war so produktiv wie schon lange nicht mehr. In der völligen Abgeschiedenheit kamen mir die besten Einfälle. Ich war morgens eine der Ersten und abends eine der Letzten, die den Kleingartenverein verließ. Nur zum Schlafen kehrte ich in meine Wohnung zurück, und auch meinem Vermieter war ich seit Tagen nicht über den Weg gelaufen.

Heute war es ganz besonders heiß und noch dazu Samstag. Die Gartennachbarn wuselten in ihren Parzellen, zupften Unkraut, mähten den Rasen und verrichteten sonst welche Arbeiten, während ich wieder einmal im Wasser lag. Die Augen geschlossen, den Kopf auf den Rand gelegt, döste ich vor mich hin, als ich meine Hündin bellen hörte. Ein aufforderndes Bellen, wie sie es eigentlich nur bei mir machte, wenn sie spielen wollte. Ich schoss hoch und sah zu ihrem Platz. Der Schmetterlingsbusch war verwaist, Watson war weg.

„So eine verfickte Scheiße! Wo bist du jetzt wieder raus, du kleine Ratte?“, brüllte ich und schlüpfte nur rasch in meine Flipflops. Das Wasser lief mir die Beine hinunter und quietschte bei jedem Schritt auf den Sohlen meiner Schlappen. Ich rannte so schnell ich konnte in die Richtung, aus der das Bellen gekommen war.

Vor dem Garten der Teskes bleib ich wie angewurzelt stehen. Da war meine Hündin. Aufrecht saß sie da, wedelte mit dem Schwanz und starrte hechelnd auf den Mann mit den langen blonden Haaren. Aus der Nähe sah er noch besser aus als von oben vom Dach, schoss es mir durch den Kopf. Watson bellte wieder, und ich sah, wie der Typ lachte.

„Ja, du bist ein ganz feiner Kerl!“, lobte er und kraulte Watson hinter den Schlappohren. Der Typ war sogar zu blöd, eine Hündin von einem Rüden zu unterscheiden.

„Soll ich noch mal?“, fragte er und hob den Arm. Sofort war mein Hund unter Anspannung, und als Teske Junior den Tennisball warf, den er in der Hand hielt, rannte sie los. Er hob den Kopf und verharrte in der Bewegung, den Arm erhoben. Wortlos starrte er mich an und schenkte meiner Hündin keinen Blick, als diese ihm brav den Ball vor die Füße legte und sich auffordernd hinsetzte. Wie in Zeitlupe senkte er den Arm, ohne seine Augen von mir zu lösen. Erst da wurde mir bewusst, dass ich nur meinen schwarzen Bikini trug und noch dazu klatschnass war.

„Mein Hund lässt sich nicht von Männern anfassen.“ Der Satz war raus, ohne dass ich darüber nachdenken konnte, was ich da sagte.

„Ach? Ist das so? Na dann … Das bedeutet also, ich bin kein Mann, oder wie soll ich deine Aussage verstehen?“ Arrogant zog er eine Augenbraue hoch, verschränkte die Arme vor der wohltrainierten Brust und kam langsam auf mich zu.

Verdammt war das heute heiß! Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt wieder in mein Planschbecken gehen würde, würde das Wasser in Sekunden verdampfen – auf meinem Körper!

„Sehr witzig, Arschloch!“, pampte ich ihn an. „Du hältst dich wohl für besonders komisch, oder?“

Er verzog das Gesicht und sein Grinsen wurde noch breiter.

„Nein, das eigentlich nicht, aber ich hatte mich durchaus für einen Mann gehalten.“ Er ließ seinen Blick abwärts in Richtung seines Hosenstalls wandern, und ohne es zu wollen, folgten meine Augen seinen durchtrainierten Körper hinab, bis sie an besagter Stelle hängen blieben. Ich schluckte hart, ja, er war definitiv ein Mann! Verdammte Hitze!

„Okay, hattest du jetzt genug Spaß mit meinem Hund? Dann würde ich sie gern wieder mitnehmen.“ Ohne Aufforderung öffnete ich seine Gartenpforte und rief Watson zu mir. Unwillig sah sie mich an, kam aber nach einem letzten Blick auf Teske Junior zu mir auf den Weg.

„Ach, das ist dein Hund? Ich hätte ihn fast adoptiert. Er ist schon seit Tagen immer wieder hier aufgetaucht. Ich dachte schon, er wäre herrenlos.“ Ein süffisantes Grinsen strafte seine Worte Lügen. Wutschnaubend drehte ich mich wortlos um und stapfte davon. Der konnte mich mal! Ich ließ mich doch von so einem Schnösel nicht dumm anmachen! Okay, zugegeben, ich hatte ihn zuerst dumm angemacht. Außerdem war er ein wirklich hübscher Schnösel, und wenn ich an das dachte, was sich unter seinem engen T-Shirt verbarg …

Verdammte Hitze! Ab ins Planschbecken, aber schnell!



Ich bemerkte

… wie mir die spießige Gartenidylle fast täglich immer besser gefiel. Heute im Liegestuhl kamen mir diese Gedanken in den Sinn und merkwürdigerweise war ich nicht mal erstaunt darüber. Als ich die letzten Tage Revue passieren ließ und mich an meine lustigen und weniger lustigen Anekdoten erinnerte, fiel mir auf, dass ich mich vom ersten Tag an voller Elan in die mir zugewiesene Arbeit gestürzt hatte. Heute konnte ich die Meinung meines Vaters in vielen Dingen nachvollziehen. Es war wirklich so, dass man bei der Gartenarbeit in eine andere, in seine eigene Welt abtauchte. Am Anfang hatte ich immer Musik auf den Ohren und nun, wo ich darüber nachdachte, erkannte ich, dass ich sie bei meinen letzten Einheiten gar nicht mehr gebraucht hatte. Vielmehr genoss ich es, den Vögeln bei ihrem Gesang zuzuhören, wenn ich im Garten am Ackern war. Auch jetzt, während ich Löcher in den Himmel guckte und mich von meinem Arbeitstag erholte, hörte ich dem Gezwitscher zu. Ich ärgerte mich darüber, dass ich keine Ahnung hatte, welcher Vogel für welches Lied zuständig war, und noch viel mehr, dass ich bei einigen Vogelarten gar nicht wusste, wie ihr Name lautete. Natürlich kannte ich die üblichen Verdächtigen. Ich konnte eine Kohlmeise von einer Blaumeise unterscheiden, erkannte ein Rotkehlchen und wusste, dass sich neben mir im Baum ein Dompfaff befand. Doch irgendwie genügte es mir heute nicht, und so verließ ich meinen sonnigen Platz und stand wenige Augenblicke später in der Gartenlaube meiner Eltern, um dort in ihrem kleinen Bücherregal nach einem Vogelbuch zu suchen. Es musste eins geben, da war ich mir sicher, und nach kurzer Zeit hielt ich das Buch Singvögel in unseren Gärten freudig und stolz in der Hand.

Mit dem Buch setzte ich mich wieder hin und sah mich aufgeregt im Garten um. Schnell erfuhr ich, dass dieser grau-weiße Vogel mit dem langen Schwanz auf den Namen Schwanzmeise hörte. Als Nächstes lernte ich den Grünfinken kennen und ärgerte mich ein wenig darüber, dass ich da nicht alleine und ohne Hilfsmittel draufgekommen war. Die Neugier ließ mich nicht los, und sie wurde noch gesteigert, als ich weit über mir einen Greifvogel seine Kreise ziehen sah. Wie ein aufgeschrecktes Huhn blätterte ich in meinem Vogelbuch vor und zurück, da mich wahnsinnig interessierte, um welchen Raubvogel es sich handelte. Erst nach kurzer Zeit machte es bei mir klick, und ich Schlaufuchs bemerkte, dass sich in einem Buch über Singvögel wohl eher keine Informationen über Greifvögel befanden. Um meinen Wissensdurst zu stillen, ging ich wieder in die Hütte und durchsuchte das Regal nach einem weiteren Buch. Tatsächlich fand ich ein Werk mit dem Namen Alle Vogelarten in Deutschland. Stolz wie Oskar stand ich mit diesem auf der Terrasse und schaute in den Himmel. Doch ich war zu langsam. Oder war der Raubvogel einfach nur zu schnell für mich? Wie auch immer, er war verschwunden, und ich musste warten, ob ich ihn vielleicht ein weiteres Mal erblicken würde.

Obwohl ich mir vorgenommen hatte, heute ausschließlich meinen Feierabend zu genießen und keinerlei Gartenarbeiten durchzuführen, machte ich eine Tour durch das grüne Paradies und sah nach, ob alles in Ordnung war. Ich war noch immer stolz darauf, den Kampf, der eigentlich gar kein wirklicher Kampf war, gegen die Horde Maulwürfe gewonnen zu haben. Doch was bitte war das denn? Plötzlich sank ich am Rande vom englischen Zierrasen ein. Natürlich nicht komplett, aber zusammen mit der Rasenfläche war die Sohle meines linken Fußes auf einmal zwei oder drei Zentimeter tiefer. Irritiert sah ich zu Boden, und als ich den nächsten Schritt machte, versank mein rechter Fuß ebenfalls. Erkennen konnte ich nichts. Meiner Meinung nach gab es keinen ersichtlichen Grund dafür, dass der Rasen unter meinem Gewicht nachgab. Ganz im Gegenteil! Durch die viele intensive Gartenarbeit der letzten Tage hatte mir meine Waage noch heute Morgen verraten, dass ich fast zwei Kilo abgenommen hatte. Ich ging in die Hocke und strich zunächst vorsichtig, dann mit etwas Nachdruck über den Rasen. Recht deutlich konnte ich fühlen, dass sich dicht unter der Rasendecke Gänge befanden. Die Maulwürfe sind wieder da!, war mein erster Gedanke, den ich allem Anschein nach nicht nur in meinem Kopf, sondern auch auf meinen Lippen hatte und ihn von mir gab. Es musste so gewesen sein, da ich plötzlich und völlig unerwartet eine Stimme vernahm.

„Das sind keine Maulwürfe.“ Nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, stand ich auf und erkannte auf der anderen Seite vom Zaun den Gartennachbarn meiner Eltern.

„Du bist doch Tommy? Ich hab dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen.“

„Ja, bin ich. Ich kümmere mich um den Garten meiner Eltern, während sie dabei sind, Mallorca unsicher zu machen.“ Humor ist, wenn man trotzdem lacht, so schoss es mir in den Kopf, als Ingo, nachdem er über meinen Satz gelacht hatte, eine selten dämliche Frage raushaute.

„Sie machen Mallorca unsicher? Ich dachte, sie sind dorthin gefahren, um Urlaub zu machen.“ Ich überging seine Worte geflissentlich, da es meiner Meinung nach keinen Sinn machte, darauf einzugehen, und ich außerdem viel zu neugierig war, was für Tiere sich unter der Grasnarbe vom Rasen meiner Eltern vergnügten.

„Wenn es keine Maulwürfe sind, um welche Art von Verbrechern handelt es sich dann?“

„Verbrecher? Davon habe ich nichts mitbekommen. Meine Hütte wurde nicht aufgebrochen. Waren sie bei euch?“ Meine Überlegung, mich einfach umzudrehen und ohne Worte zu verabschieden, verwarf ich wieder. Allerdings musste ich unser Gespräch auf eine andere Basis bringen. Meine Ironie, die eigentlich gar keine war, konnte ich mir sparen. Es wäre verlorene Zeit gewesen, und außerdem machte es wenig Spaß, jeden meiner Sätze erklären zu müssen. Ich nahm mir vor, noch einen weiteren Versuch zu starten, und sortierte bereits die richtigen Wörter in meinem Kopf, damit ich eine Frage stellen konnte, die auch Ingo verstand.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739373133
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Garten Liebesroman Glück Leidenschaft Lachen Sommer Verlangen Liebe Paradies Humor

Autoren

  • Kerry Greine (Autor:in)

  • Ben Bertram (Autor:in)

Kerry Greine lebt in einer kleinen Stadt nahe Hamburg und ist Mutter zweier Kinder. Anfang 2013 hat sie angefangen zu schreiben und sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Liebesromans ihren größten Traum verwirklicht. Mittlerweile arbeitet sie hauptberuflich als Autorin. Ben Bertram ist das Schreibpseudonym eines waschechten Hamburger Jung. Am 14.05.1968 erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er seit vielen Jahren pflegt.
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Titel: Kartoffelkäfer und Himbeergeist