Sie machte sich in ihrer Ecke winzig klein und hielt die Luft an, um ja kein Geräusch zu verursachen. Mäuse huschten um ihre Füße, hielten inne und hoben schnuppernd die Schnäuzchen, als wüssten sie nicht recht, ob es sich bei ihr wirklich um einen Menschen handelte oder nicht doch um etwas Leckeres zum Essen. Angestrengt lauschte sie dem Gespräch zwischen ihrer Meisterin Sanira und ihrer Mutter.
»Es tut mir so leid, Ricarda. Was soll ich sagen? Ich habe versucht, den Ältestenrat davon zu überzeugen, dass Vivien ein besonderes Geschenk von Lishar ist und kein Mädchen, vor dem wir uns fürchten müssen.«
»Was ist mit Kaja? Was hat sie dazu gesagt? Ihre Meinung wird vom Ältestenrat hoch geschätzt. Und wenn es ein ungewöhnliches Mädchen in unserer Mitte gibt, dann doch ihre Tochter Levarda. Ich weiß, dass sie nicht nur ein Kind des Elementes Wasser ist.«
»Nur, weil ich es dir erzählte. Es gibt zwischen den zwei Mädchen Unterschiede, nicht nur im Temperament. Vivien hat in der Handhabung ihres Elementes eine unglaubliche Mühelosigkeit gezeigt, wie ich sie bei einem so jungen Mädchen niemals zuvor gesehen habe.«
»Aber macht nicht genau das sie zu etwas ganz Besonderem? Müssen wir das nicht schützen, anstatt es zu zerstören?«
Die Meisterin seufzte tief. »Ja, gewiss. Ich stimme dir vollkommen zu, doch genau das macht dem Ältestenrat Angst. Kennst du die Prophezeiung von der Tochter, deren Kräfte alles Bisherige übersteigen? Die mit den Hütern der Elemente alles zerstören wird?« Bei dem letzten Satz hatte Sanira die Stimme gesenkt.
»Das ist doch blanker Unsinn! Vivien ist gerade mal sechs Jahre alt.«
»Ich weiß, aber du kennst auch ihre Schwächen. Levarda ist im Gegensatz zu ihr ein Ausbund an Disziplin, Vernunft und harter Arbeit, obwohl sie nur zwei Jahre älter ist als Vivien.«
»Im Namen von Lishar, Sanira! Sie ist ein Kind!«
»Ja, eines mit viel Macht. Einer Macht, die für alle gefährlich werden kann.«
»Aber sie hat ein goldenes Herz. Sie würde nie jemandem ernsthaft etwas zuleide tun.«
Eine Spinne ließ sich an ihrem Faden vor Viviens Gesicht herab, krabbelte über ihre Nasenspitze und erkundete, ob dieses Ding geeignet war, um von dort ein neues Netz zur Wand zu bauen. Vivien war gleich von dem Gespräch abgelenkt und schob die Spinne mit der Fingerspitze auf ihre Hand, um ihr zwischen den Eckbalken einen besseren Platz für ein Netz zu zeigen.
»Denk nur an den Vorfall beim Fest der Sonne«, hörte sie Sanira sagen.
»Niemandem ist etwas passiert«, widersprach ihre Mutter.
»Weil wir fähige Frauen in unserer Mitte haben, die das Schlimmste verhinderten. Der Tornado hätte viele Mintraner das Leben kosten können. Ein Drittel der Ernte wurde vernichtet, und das werden wir im Winter bitter zu spüren bekommen.«
Tiefe Schamesröte stieg der Lauscherin in die Wangen. Sie wünschte, sie könnte das Geschehene rückgängig machen. Nicht nur, dass sie seitdem von vielen mit Argusaugen beobachtet wurde, die Sache hatte auch einen Keil zwischen sie und ihre Freundin Leonora getrieben. Selbst Eiméar, Leonoras Zwillingsschwester und Viviens engste Gefährtin, war auf Abstand gegangen. Vivien wusste zwar, dass Eiméar sie nur mied, weil sie befürchtete, so wie sie in den Mittelpunkt der Gespräche des Ältestenrats zu geraten, dennoch schmerzte es sie ungemein. Levarda hielt ihr als Einzige weiterhin die Treue. Vivien fühlte sich auf einmal schrecklich allein.
»Also auch du, Sanira.« Die Stimme ihrer Mutter klang bitter.
»Ricarda, mein Herz«, mischte sich ihr Vater in das Gespräch ein, der bisher nur zugehört hatte, »es ist doch nicht so, dass sie getötet werden soll. Sie bleibt ja weiterhin unsere Tochter und lebt ein ganz normales Leben am Fuß des Asambra.«
»Normal?!«, fauchte ihre Mutter.
Vivien duckte sich noch ein Stück tiefer in die Ecke, in dem Wissen, dass ihr Papa es dort in der Stube genauso machte. Besser, man zog den Kopf ein, wenn Mama wütend wurde. Oft blinzelten Papa und sie sich dann verschwörerisch zu.
»Hast du eine Ahnung, was es bedeutet, nie wieder ein Teil des Elementes zu sein, mit dem du geboren wurdest?«
Eine kalte Faust schloss sich um Viviens Herz. Nie wieder ein Teil der Luft? Was meinte Mama damit? Sie war die Luft, sie atmete die Luft, sie lebte mit der Luft! Wie sollte das gehen, ihr diesen Teil von ihr zu nehmen?
»Schau, sie ist nicht die Einzige, die den Prozess der Loslösung vom Element durchlaufen hat.«
»Oh ja. Und wer hat es verkraftet? Weißt du, welche Schmerzen es bedeutet? Hast du Hamans verkrüppelte Hand einmal genauer betrachtet? Oder senkst du auch den Blick, wenn du an ihm vorbeigehst, so wie alle anderen?«
Es entstand eine lange Pause.
»Es tut mir leid, Sanira. Ich vergaß … Es lag mir fern, dir einen Vorwurf daraus zu machen.«
Als die Meisterin wieder sprach, klang ihre Stimme seltsam dumpf: »Er war ein Mann im mittleren Alter, als man ihn dem Prozess unterwarf. Vergiss das nicht. Außerdem besitzen Männer nicht dieselbe Stärke wie wir, wenn es darum geht, mit Schmerzen umzugehen.«
Vivien schlang in ihrem Versteck die Arme um ihren zitternden Leib. Mama war oft genug mit ihr bei Haman gewesen. Sie kannte seine traurigen Augen gut, den verlorenen Blick, wenn er mit einem wehmütigen Lächeln in eine Welt hinabstieg, die nur er sehen konnte. Oft musste ihn Mama füttern, damit er überhaupt Essen zu sich nahm. Meistens schwieg er, doch wenn er ab und zu einen Dank an Ricarda richtete, dann klang seine Stimme so leise wie Blätterrascheln an einem Baum, durch den eine sanfte Brise fuhr.
Schau, Vivien, was passiert, wenn du nicht fleißig lernst und achtsam mit deinen Fähigkeiten umgehst. Das, was Lishar dir geschenkt hat, kann dir genauso wieder genommen werden.
Sie hatte nur genickt, ohne zu verstehen, was ihre Mutter damit gemeint hatte.
»Und sie ist nur ein sechsjähriges Kind.«
Sie hörte das Zittern in der Stimme ihrer Mutter, merkte, wie ihr selbst Tränen über die Wangen liefen, ohne dass sie wusste, weshalb. Sie schob sich die Faust in den Mund und biss darauf, um sich selbst daran zu hindern, in die schützenden Arme ihrer Mutter zu laufen.
»Es wird ihr nichts passieren. Niemals würde der Ältestenrat zulassen, dass einem Kind Schmerzen zugefügt werden?« In der Stimme ihres Vaters lag Unsicherheit.
Die Stille, die darauf folgte, war schlimmer als jede Strafpredigt, die sich Vivien je von Sanira hatte anhören müssen.
»Ihr müsst ihr helfen, es zu überstehen, und ich werde immer für sie da sein. Glaube mir, Marek, ich wünschte, ich hätte dieses Urteil verhindern können.«
»Es ist beschlossen?!«, schrie ihre Mutter hysterisch auf.
»Ricarda!«
»Ricarda, Schatz, sei vernünftig.«
Erschrocken presste Vivien sich an die Wand, als ihre Mutter von wilden Schluchzern geschüttelt durch den Flur rannte, am Türriegel riss und hinausstürmte, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Mit einem sanften Streicheln kam Luft von draußen herein, hüllte Vivien ein, zupfte an ihren Locken, wirbelte sie durcheinander und lud sie zum Spielen ein. Die Mäuse duckten sich und huschten durch die offene Tür hinaus.
»Oh, Vivien, mein kleiner Sturmvogel, seit wann hockst du hier?«
Seine Wangen glänzten feucht. Ihr Vater streckte die Arme aus, und sie huschte zu ihm hin und klammerte sich fest an seinen starken Körper. Tief sog sie den Geruch nach Tannennadeln, Reh und ein wenig auch nach Blut ein, der ihn immer zu umgeben schien. Er war ein guter Jäger, der schnell tötete. Nie musste ein Wesen unter ihm leiden. Er legte seine Wange auf ihre Haare, hielt Vivien an sich gepresst, zerdrückte sie schier mit seiner Kraft, doch das war gut, denn so hörte ihr Zittern auf.
»Komm her, Vivien.«
Vorsichtig linste sie, geschützt von den Armen ihres Vaters, zu Saniras hochgewachsener Gestalt hinüber, die vom Lichtschein des Feuers umgeben in der Stube stand. Sie befreite sich aus der Umarmung, obwohl ihr Vater sie nicht loslassen wollte. Vielleicht hatte ihre Meisterin recht. Vielleicht war sie ein schlechtes, leichtsinniges, verantwortungsloses Kind des Elementes Luft. Sie hatte keine Angst vor den Schmerzen. Wenn Haman es ertragen hatte, würde sie es auch ertragen. Und vielleicht wären am Ende Leonora und vor allem auch Eiméar wieder ihre Freundinnen.
Ihr Vater fasste ihren Arm und hielt sie fest. Zaghaft schenkte sie ihm ein Lächeln und wischte seine Tränen weg. Dabei sah ihre Hand auf seiner Wange so winzig aus. Seine Haut war kratzig von dem Bart, weil er sich die letzten zwei Tage auf der Jagd nicht rasiert hatte.
»Sag Mama, dass sie keine Angst zu haben braucht«, wisperte sie und küsste ihn zum Abschied auf die Wange.
Sanira streckte die Hand aus und lächelte. Mutig schritt sie auf ihre Meisterin zu und neigte den Kopf im Zeichen der Ehrerbietung. Langsam ließ sich Sanira in die Knie sinken, um mit Vivien auf einer Höhe zu sein.
Ihre hellgrauen Haare schimmerten, und die dunkelblauen Augen musterten Vivien. Ihr Gesicht wirkte jünger als neunundvierzig. Ein warmer, silberner Schimmer umgab ihre Aura, während sie Viviens Blick gefangen hielt.
»Spürst du die Liebe, die dich umgibt?«
»Ja, Meisterin.«
»Manchmal geschieht etwas, das uns glauben lässt, sie hätte nie existiert. Doch in Wahrheit verschließen wir nur unser Herz vor ihr.«
»Wird es wehtun?«
»Ja, mein Kind. Ich kann dir nur nicht sagen, was dir mehr Schmerzen bereiten wird, der Prozess der Loslösung von deinem Element oder das Leben danach, ohne deine Verbundenheit zur Luft.« Ein gequältes Lächeln erschien auf Saniras Zügen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber eines kann ich dir verraten. Die Luft wird ihre Tochter genauso vermissen wie du sie.«
Und dann zog die Meisterin sie in ihre Arme, was sie noch nie zuvor gemacht hatte, und so wie Papa hielt sie sie ganz fest.
Alle waren freundlich zu ihr. Amara, die zurzeit dem Ältestenrat vorstand, hatte ihr alles genau erklärt: In ihr gab es eine Quelle, die sie mit ihrem Element verband. Dort konnte sie Energie speichern und auch von dort hervorholen. Durch ihren Körper flossen Energiebahnen – durch jeden Winkel ihres Körpers –, deren Zentrum diese Quelle war. »So wie ein Spinnennetz?«, hatte sie Amara gefragt. »Ein guter Vergleich«, hatte diese geantwortet und ihr übers Haar gestreichelt.
Diese Quelle mit ihrem Netz musste nun aus ihr herausgezogen werden. Sie würden es langsam, Stück für Stück machen. Erst die feinen dünnen Enden, bis sie zu den stärkeren Strängen kämen, und zuletzt die Quelle selbst. Vivien hatte die Augen geschlossen, ihre Hand über die Stelle in ihrem Körper gelegt und das energetische Pulsieren als ein besonders helles Licht in ihrem Innern wahrgenommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man dieses Licht aus ihr entfernen sollte.
»Wird es wehtun?«, hatte sie gefragt.
»Ja, doch du bist noch ein kleines Mädchen. Erst im Laufe eines Lebens und mit der intensiven Nutzung der Bahnen werden diese stärker und stärker, weshalb es mehr Schmerzen verursachen würde, wenn du älter wärst, als es jetzt der Fall sein wird.«
Bei dem letzten Satz hatte Vivien die Unsicherheit der Frau, die das höchste Amt ihres Volkes innehatte, deutlich gespürt.
»Hab keine Angst, es werden die besten Heilerinnen aus unserem Volk bei dir sein und dir durch den Prozess helfen. Du kennst doch Kaja?«
Natürlich kannte sie sie. Sie war die Mutter von Levarda und deren unzähligen Geschwistern. Sie war so unglaublich lustig und hatte immer jede Menge Blödsinn im Kopf. Nie schimpfte sie, wenn Levarda mit Schlamm besudelt nach Hause kam oder ihre Sachen zerrissen hatte. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Mama. Wie oft hatte Kaja ihr den gröbsten Schmutz aus den Stoffen gebürstet, damit Mama nicht zu sehr mit ihr schimpfte.
Vivien wurde auf eine Holzkonstruktion gelegt, in deren Mitte eine Stoffbahn straff aufgespannt war. Kaja hatte sie daraufheben müssen, weil sie so hoch war. Ein Feuer brannte in der Höhle und machte die sie umgebende Luft so warm, dass sie nackt auf der Konstruktion liegen konnte. Nur ihr Amulett hing um ihren Hals und warf ein pulsierendes Licht an die Decke.
Kaja sah blass aus wie Schnee im tiefsten Winter. Sie lächelte ihr zu, nahm ihre Hand und hielt sie fest in ihrer.
»Keine Sorge, Vivien, du kannst dich entspannen. Wir wollen erst einmal schauen, wie es in deinem Innern aussieht, bevor wir morgen mit dem Prozess beginnen. Lässt du mich hinein?«
»Ja.« Vivien schloss die Augen.
Mit der einen Hand hielt Kaja weiterhin ihre Hand fest, während sie Zeige- und Mittelfinger der anderen an ihren Hals legte, dort, wo das Leben pulsierte. Kühl wie ein Wasserstrom floss Kajas Energie von diesem Punkt aus in sie hinein. Es kitzelte, sodass sie kichern musste, vor allem, als in ihren Gedanken jede Menge lustiger Figuren aus den Geschichten der Wälder Gestalt annahmen, ebenso Tiere. Wenn Levarda und Leonora ihre Wesen aus Wasser zauberten, sahen sie viel behäbiger und längst nicht so detailgetreu aus. Sogar Eiméar konnte aus ihrem Element, dem Feuer, Gestalten formen. Für ein Kind der Luft war es ungleich schwerer, sein Element zu verdichten, bis eine Art flimmernde Form erschien. Bisher hatte sie nur sehr grobe Abbilder von Gegenständen geschaffen, einen Stein, einen Stock, eine Schüssel. Doch das hatte sie heimlich gemacht, weil es in ihrer Ausbildung erst viel später kommen sollte – die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wider – oder gar nicht mehr!
Alles ging furchtbar schnell. Wie ein rasender Strom, gefüttert vom schmelzenden Eis des Asambra, schoss die Wasserenergie aus ihrem Körper hinaus. Sie hörte einen Aufschrei, das Fauchen von lodernden Flammen, die zu viel Futter bekommen hatten, und andere Geräusche, die sie nicht zuordnen konnte. Hastig öffnete sie die Augen, doch da war niemand mehr. Als sie ein leises Stöhnen hörte, richtete sie sich auf.
An der gegenüberliegenden Wand lag Kaja. Die zwei anderen Heilerinnen, die zuvor neben ihr gestanden hatten, waren über Kaja gebeugt. Die eine sah Vivien mit großen Augen an. Das Feuer hatte das Holz vollkommen verbrannt, die Flammen erstarben und hinterließen heiße Glut. Die Hitze trieb ihr den Schweiß aus den Poren.
»Kaja! Nun sag doch was«, hörte sie eine der Frauen panisch rufen, die neben Levardas Mutter knieten.
»Alles ist gut«, stöhnte Kaja.
»Gut?!«
Betroffen sah Vivien Levardas Mutter an, die sich mit einiger Hilfe der Frauen aufrappelte. Sie wollte von dem Gestell klettern und zu ihr laufen, als sie mit einem Mal das Gefühl hatte, von Wasser umschlossen zu sein, das ihr mit überwältigendem Druck die Luft zum Atmen nahm.
Amara kam mit fünf weiteren Mitgliedern des Ältestenrates in die Höhle gestürmt. Hastig stolperte Kaja zu Vivien hinüber, nahm sich den Umhang ab und legte ihn ihr um die Schultern.
»Was ist passiert?«, verlangte Amara zu wissen.
»Nichts, nur ein kleines Missgeschick meinerseits«, antwortete Kaja schnell.
»Missgeschick?«, echote die Heilerin, die Kaja aufgeholfen hatte, ungläubig. Sie richtete ihren Finger anklagend auf Vivien. »Sie hat Kaja angegriffen, als diese sie lediglich untersuchen wollte! Durch den ganzen Raum hat sie sie geschleudert. Das Kind ist eine Gefahr für unser Volk!«
»Beruhige dich, Bernadette. Das ist ja der Grund, weshalb wir uns entschieden haben, den Loslösungsprozess bei ihr durchzuführen.«
»Was wir unverzüglich tun sollten!«, fauchte die Angesprochene.
Kaja wandte sich Vivien mit einem warmen Lächeln zu und stockte. Vivien gurgelte jetzt panisch. Sie wollte ihr sagen, dass sie erstickte, da löste sich urplötzlich der Druck von ihr und sie bekam wieder Luft. Japsend sog sie die Luft tief in ihre Lungen.
»Bernadette! Was hast du getan? Wie kannst es wagen, ein kleines Mädchen in deine Wasserenergie einzuhüllen, dass es fast erstickt?«, fauchte Kaja wütend.
Die andere verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Antworte!«, befahl Amara.
»Sie wollte sich auf Kaja stürzen.«
»Was für ein Blödsinn! Sie hatte Angst. Sie wusste nicht, was geschehen ist, und wollte mir helfen.« Schützend legte Kaja ihr den Arm über die Schultern.
»Ist das wahr, Vivien?«
In ihrem Kopf pochte es heftig von dem Mangel an Luft. Sie wagte es nicht, zu antworten, stattdessen nickte sie bloß.
»Siehst du.«
Ein tiefer Seufzer kam über Amaras Lippen, als sie Kaja musterte. Zwischen den beiden fand ein unhörbarer Dialog statt. Schließlich kam Amara zu Vivien, nahm sie bei den Schultern und hob sie von der Konstruktion, hockte sich vor sie und sah ihr tief in die Augen. »Vivien, was genau ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du die Energie deines Elementes benutzt?«
»Nein.« Sie biss sich auf die Lippen, als sie an Bernadettes Worte dachte und daran, wie Kaja hinten an der Wand auf dem Boden gelegen hatte. »Ich weiß es nicht. Wenn, dann geschah es nicht mit Absicht. Bitte, du musst mir glauben, Amara, ich wollte niemandem wehtun.«
»Ich weiß. Beschreib mir, was du gefühlt hast.«
»Ein kühler Wasserstrom floss durch mich, von der Stelle aus, an der Kaja mir ihren Finger an den Hals legte.« Sie zögerte, unsicher, ob sie alles erzählen sollte, auch das mit den Figuren in ihrem Kopf.
Aufmunternd blinzelte ihr Kaja zu. »Fahr fort.«
Sie schaute wieder zu Amara. »Ich sah Kobolde, Eichhörnchen, Feen, Mäuse und vieles mehr.«
Die Frau, die vor ihr hockte, schmunzelte. »Das macht Kaja gerne, weil sie den Menschen die Angst vor dem tiefen Kontakt nehmen möchte. Es ist ein Geschenk, das sie dir gemacht hat. Ist es das, was dich verunsichert hat?«
Vivien schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Nein«, flüsterte sie schließlich. Sie spürte, wie Tränen in ihr hochkamen. Das Herz wurde ihr schwer und ein Kloß stieg ihr in den Hals, weil sie sich ihrer Gedanken so schämte.
»Sprich, mein Kind. Du kannst mir alles erzählen.«
»Ich dachte an die anderen, daran, wie sie mit ihren Elementen Figuren formen, während ich nur einfache Gegenstände gestalten kann. Auf einmal musste ich daran denken, dass ich es nie in meinem Leben lernen werde, etwas so Vollkommenes zu schaffen, wie es mir Kaja in den Gedanken zeigte. Danach geschah alles ganz schnell. Ich wollte nicht, dass ich es verliere.«
Beruhigend streichelte ihr Amara über die Haare. »Es ist in Ordnung, dieses Gefühl von Verlust und Trauer. Ich hoffe, du verstehst gerade durch das, was geschehen ist, weshalb wir dich von deinem Element trennen müssen. Du wolltest Kaja nicht wehtun, doch genauso hättest du sie mit deiner Kraft töten können.« Amara hob die Hand und sah über ihre Schulter zu der Heilerin.
Vivien drehte sich um und sah, wie sich Kajas Lippen zu einem schmalen Strich verengten.
»Geh jetzt mit Sanira. Sie wird dir Eisenringe um deine Arme und Beine legen. Du brauchst keine Angst zu haben, es ist nur zu deinem eigenen Schutz. Sie werden dich von deinem Element abschneiden und du kannst lernen, mit dem Verlust umzugehen. Deine Meisterin wird die ganze Zeit bei dir bleiben.«
Sanira trat aus der Gruppe des Ältestenrats, nahm Vivien bei den Schultern und führte sie aus der Höhle.
Vivien hatte sich in die dunkelste Ecke der Höhle zurückgezogen. Dort lag sie eingerollt, hielt die Beine fest mit den Armen umschlungen. Eine sanfte Brise strich über ihr Gesicht und trocknete fortwährend die Tränen, die sich weigerten, mit dem Fließen aufzuhören. Es war, als wollte der Wind sie trösten, doch sie konnte ihn nicht mehr hören, ihn nicht mehr in sich spüren. Alle Leichtigkeit, alle überschäumende Freude, der Spaß, mit ihm zu spielen, waren verschwunden. Stattdessen hatte sie das Gefühl, dass die Wände der Höhle sie erdrückten. Sie liebte den Asambra, hatte nie Angst in seinem Innern verspürt. Bis heute. Die Wärme aus dem Kern des Berges hielt sie in einem schützenden Kokon, und doch fror sie, weil die Kälte aus ihrer abgeschnittenen Quelle kam. Sie setzte sich auf, und ihre Finger glitten über die schmalen Eisenringe an ihren Hand- und Fußgelenken. Nur so wenig Eisen war nötig, um sie zu einem völlig anderen Menschen zu machen. Sanira, die neben der Kerze gesessen hatte, um ein wenig zu lesen, setzte sich zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie hatte sich ebenfalls Eisenringe um die Hand- und Fußgelenke legen lassen, damit sie nachempfinden konnte, wie es ihrem Schützling ging.
»Ich besitze nicht annähernd deine Fähigkeiten, Vivien, doch auch ich habe das Gefühl, dass mich hier alles erdrücken will. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich dir helfen kann.«
»Bald wird ein anderes Kind zu dir kommen, das du lehren kannst, Meisterin.«
Sanira legte ihre Wange auf Viviens Kopf. »Es wird kein anderes Kind mehr geben, das so ist wie du. Wie soll ich jemals wieder mit etwas anderem arbeiten können, jetzt, wo ich weiß, wie sich die Vollkommenheit anfühlt?«
»Ich wünschte, ich wäre ohne die Fähigkeit geboren worden.«
Ihre Meisterin nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Das darfst du niemals denken und noch weniger sagen. Es ist ein Geschenk von Lishar. Alles hat seinen Sinn. Und wenn dies dein Weg ist, dann weiß ich tief in meinem Herzen, dass es auch dafür einen Grund gibt. Vivien, du besitzt ein Herz aus Gold. In dir steckt so viel Liebe, die du an alles, was dich umgibt, so großzügig verteilst. Konzentriere dich darauf.«
»Aber was, wenn ich auch sie verliere?«, wisperte sie. »Was, wenn ich so werde wie Haman? Wenn ich verbittert und griesgrämig werde und nie meinen Teil zum Wohl unseres Volkes beitragen kann?«
Sanira seufzte auf. »Du bist viel stärker, als er es jemals war, und dabei meine ich nicht die Verbundenheit mit deinem Element, sondern deine Disziplin, deine Ausdauer, deine innere Stärke.«
»Das alles hat nicht gereicht.«
»Es hätte gereicht, wenn du nicht so sehr ein Teil deines Elementes wärst. Auch der Wind meint es nicht böse, wenn er in einem Sturm über das Land braust und die Bäume entwurzelt. Es ist seine Art, es ist seine Energie, die sich sozusagen Luft verschaffen muss. Den Wind können wir nicht verändern.«
»Aber mich.«
Sie hörten leise tapsende Schritte. Kaja tauchte am Eingang der Höhle auf. Ein beruhigendes Lächeln lag auf ihrem Antlitz, in der Hand trug sie eine Packtasche. Sie kam zu ihnen herüber und zauberte aus ihrem Gewand einen Stoffbeutel mit Keksen.
»Das sind die Letzten, die Levarda vor ihren Geschwistern retten konnte. Sie hat sie extra für dich gebacken. Es sind Hafertaler, deine Lieblingskekse, sagt sie. Stimmt das?«
Vivien wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange und den Rotz von der Nase. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie nickte und den Beutel entgegennahm. Vorsichtig biss sie ein Stück von einem Keks ab, und sofort ging es ihr besser. Levarda konnte außergewöhnlich gut backen, aber nur selten kam sie dazu. Die vielen jüngeren Geschwister hielten sie mit Spielen auf Trab und ihr Meister war überaus streng und fordernd mit ihr.
Kaja strich ihr über den wirren Lockenkopf, in dem sich zig Knoten gebildet hatten. »Sanira, kann ich dich kurz sprechen?«
Seit die Heilerin die Höhle betreten hatte, hatte sich der Griff ihrer Meisterin um ihre Schultern verstärkt. Jeder Muskel in Saniras Körper war angespannt, aber seltsamerweise beruhigte ihre Furcht Vivien, als bräuchte sie keine Angst mehr zu haben, wenn Sanira ihr diese Last abnahm. Und wenn es jemanden gab, dem sie absolut vertraute, dann war es Kaja.
Nur zögernd erhob sich die Angesprochene und warf Vivien einen Blick zu. Wieder versuchte sie ein Lächeln, das jetzt, mit dem leckeren Keks im Mund, schon ein klein wenig besser gelang. Wenigstens würde sie ihre Freunde behalten, und Leonora würde bestimmt keine Einwände mehr gegen ihre Freundschaft mit Eiméar erheben. Sie verdrängte den Gedanken, dass sie dann ein normales Kind wäre und sie nur wenig Zeit hätte, um mit ihnen etwas gemeinsam unternehmen zu können. Sie würde dann andere Aufgaben verrichten als ihre Freunde.
Die beiden Frauen gingen zum Höhleneingang. Die Brise verstärke sich fast unmerklich und trug ihr Gespräch ins Höhleninnere bis zu Vivien. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den nächsten Hafertaler, damit keine der beiden merkte, dass sie lauschte.
»Sie muss aus Mintra weg.«
»Nein! Du kannst ihr nach dem Element nicht auch noch ihre Freunde nehmen!«
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie ihre Meisterin entsetzt den Kopf schüttelte.
»Ich kann sie unmöglich von ihrem Element loslösen.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, Sanira, ich habe mir gerade schon den Mund fusselig geredet, um es dem Ältestenrat zu erklären. Amara ist die Einzige, die bereit ist, es auch nur verstehen zu wollen. Alle anderen sind einfach entsetzt von dem, was passiert ist.«
»Du hast mir noch nicht erklärt, wieso es unmöglich ist.«
»Es ist bei Vivien nicht so wie bei dir und mir, dass die Verbindung zu unserem Element ein Teil unseres Körpers ist.« Kaja nahm die Hände der Meisterin auf und strich dabei über die Eisenringe. »Es tut weh. Du spürst den Verlust von etwas, das ein Teil von dir ist, etwas, das du über alles liebst. So wie damals, als ich meinen Erstgeborenen verlor, noch bevor er in meinem Leib ausgereift war. Ein entsetzliches Gefühl war es, das mich noch manchmal in der Nacht heimsucht. Aber bei Vivien ist es anders. Die Luft ist sie und sie ist die Luft. Anders kann ich es nicht erklären. Fühlst du den Wind?«
»Ja, aber ich bin es nicht, wenn du das fragen wolltest.«
»Siehst du? Er weiß, was wir vorhaben, und auch er hat Angst davor, sein Kind zu verlieren.«
»Kaja, es ist ein Element, kein Wesen.«
»Ich weiß, und doch spürte ich seinen Zorn.«
»Viviens Zorn.«
»Mag sein, aber das ist ein und dasselbe. Wenn ich sie von ihrem Element trenne, wird sie sterben, glaub mir!«
»Du willst gegen den Ältestenrat handeln?«
»Ist dir klar, was mit mir geschieht, wenn durch die Nutzung meines Elementes ein unschuldiges Kind stirbt?«
Eine kalte Stille entstand. Ein Schatten schien das Licht des Feuers zu ersticken. Fröstelnd schlang Vivien ihren Mantel dicht um sich.
»Sanira, uns bleibt keine Wahl. Dieser Weg ist falsch, und du weißt es! Ricarda wartet am See. Sie wird Vivien aus Mintra fortbringen, und wenn es sein muss, sogar über das Meer.«
»Seid ihr von Sinnen? Du hast gesehen, wozu das Kind in der Lage ist. Was, wenn sie in Situationen gerät, in denen sie die Kontrolle über ihre Kräfte verliert? Willst du sie zu einem Teil der Dunkelheit machen? Genau so wird die Prophezeiung wahr werden.«
»Schscht, nicht so laut!«
Beide Frauen sahen zu ihr herüber. Hastig kramte Vivien den nächsten Keks hervor und beugte den Kopf tief über den Stoffbeutel. In ihr kämpften Furcht und Freude gegeneinander, aber die Furcht überwog. Wie sollte sie ohne die Führung ihrer Meisterin lernen, mit ihren Fähigkeiten umzugehen? Sie wollte kein Teil der Dunkelheit werden, was auch immer Kaja damit meinte.
»Ich habe Ricarda ein Buch mitgegeben, damit sie Vivien helfen kann, ihre Übungen zu machen.«
»Ein Buch! Ricarda ist kein Kind der Elemente, sie weiß nichts über die Feinheiten, wie man die Energie kanalisiert und sie sinnvoll verwendet!«
Energisch schüttelte Sanira den Kopf und sah wieder zu Vivien hin. Sie lächelte sie traurig an, und Viviens Herz fing heftig an zu klopfen. Bitte Lishar, bitte hilf mir. Ich weiß, es ist ein egoistischer Wunsch, aber ich brauche sie in meinem Leben, betete sie stumm zur Göttin.
»Ich werde sie begleiten.«
Kaja atmete tief durch. »Bist du dir ganz sicher?«
Die Meisterin richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ja.«
Kaja fiel ihr um den Hals und beide blieben eine gefühlte Ewigkeit in dieser Umarmung.
»Ich hatte so sehr gehofft, dass du diese Entscheidung triffst.«
»Ricarda sollte bei Marek und den Kindern bleiben.«
Aber Kaja schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben gemeinsam entschieden, dass es das Beste ist, wenn Ricarda ihren Sturmvogel begleitet.«
»Ihnen ist klar, dass sie sich nie wiedersehen werden?«
Kaja nickte stumm.
Eine kalte Faust schloss sich um Viviens Herz. Nie wieder Papas kratzigen Bart spüren? Nie wieder die Wärme seiner Arme, wenn er sie umfangen hielt und ihr Geborgenheit gab? Nie wieder auf seinem Schoß sitzen und seinen Geschichten zuhören, während sie seinen Geruch nach Leder und Tannennadeln tief in sich einsog? Nein, das konnte sie nicht einfach hinter sich lassen! Und was war mit der dreijährigen Leila, ihrer Schwester? Auch sie würde sie nie wiedersehen. Wie konnte Mama auch nur darüber nachdenken, die beiden zu verlassen? Entsetzt schüttelte sie den Kopf. Der Wind fuhr ihr durch die Locken und wirbelte sie durcheinander. »Ich kann nicht«, wisperte sie ihm zu, und ihr Herz schien dabei in winzige Splitter zu zerbrechen.
»Gibt es keinen anderen Weg?«
»Nein. Ach, Sanira, manchmal habe ich Angst, dass wir von unserem Pfad abkommen und den Eid, den wir einst der Göttin schworen, brechen.«
Die beiden Frauen kamen zu ihr herüber. Ein Blick in ihr Gesicht reichte Kaja.
»Du hast uns belauscht?« Ihre Stimme klang streng.
»Ja, es tut mir leid.«
»Wie konntest du überhaupt etwas verstehen? Du hast dich keinen Meter von deinem Platz weggerührt. Kein Mensch hat so gute Ohren.«
»Der Wind«, flüsterte Sanira und sah die Heilerin an.
Kaja nahm Viviens rechte Hand und schob den Schlüssel in das Schloss des Eisenrings.
Vivien wehrte sich. »Nein, nicht! Ich will nicht!«
Die Heilerin hielt sie fest. »Vivien, hör zu. Du hast keine Wahl. Wenn du nicht gehst, wirst du sterben.«
»Das ist mir egal!«
»Aber deinen Eltern ist es nicht egal. Sie lieben dich.«
»Ich werde Papa nie wiedersehen und Leila auch nicht!«
»Ja, das stimmt, aber sie wissen, dass du lebst und dass es dir gutgeht.«
»Nein!«
»Vivien, wenn du stirbst, wird Lethos furchtbar wütend werden. Er liebt dich mehr als jede andere seiner Töchter des Windes.«
»Das ist mir egal! Ich liebe Papa.«
»Ich weiß. Doch ich weiß auch, dass du niemandem etwas Böses möchtest, oder?«
Vivien zögerte mit der Antwort, weil sie nicht wusste, worauf Kaja hinauswollte.
»Wenn du stirbst, Kind, kann es passieren, dass du zu einem Teil der Dunkelheit wirst.«
»Was ist die Dunkelheit?«
»Das, meine kleine Vivien, wissen wir auch nicht. Wir merken nur, dass sie immer mehr zunimmt, und wir haben keine Ahnung wieso.«
»Und was ist daran so schlimm?«
Kaja seufzte. »Auch diese Frage kann ich dir nicht ganz beantworten. Es gibt eine Prophezeiung, aber du bist noch zu klein, um sie zu verstehen. Sanira wird dir eines Tages alles erklären, versprochen. Heute musst du uns vertrauen. Wir alle lieben dich und wir wissen, dass auch diese Entscheidung einen Preis hat, den du, deine Eltern, deine Schwester und auch Sanira bezahlen müssen. Doch schau – sie alle sind bereit dazu, damit du leben kannst. Nimm dieses Geschenk an, denn wir schenken es dir aus tiefstem Herzen, weil wir alle davon überzeugt sind, das Richtige zu tun. Deine Aufgabe, kleine Vivien, wird darin bestehen, zu zeigen, dass du es wert bist.«
Vivien hörte auf, sich zu wehren. Kaja nahm ihr beide Eisenringe ab, und sofort spürte sie die Umarmung der Luft, das leichte Necken, als der Luftzug mit ihren Locken spielte und ihre Tränen trocknete. Ihre innere Quelle begann zu leuchten und erfüllte sie mit Energie und Zuversicht, auch wenn ihr Herz weiterhin zu zerspringen drohte.
Dort stand Mama mit drei Pferden. Sie trug ihre Hose, ein Hemd, eine Weste und einen langen Mantel. Ein Bogen war an ihrem Pferd befestigt. Papa stand bei ihr und hielt sie in den Armen, während die kleine Leila mit dem stillen Wasser des Sees spielte. Der Vollmond spiegelte sich in der klaren Oberfläche.
»Hier, trink, Vivien. Es wird dir helfen, mit der Trauer umzugehen.« Kaja hatte ihre Feldflasche mit dem Wasser des Sees Luna befüllt.
Artig trank Vivien einen Schluck, und nach einem scharfen Schmerz spürte sie die tröstende Wärme der Göttin Lishar in sich. Papa kam zu ihr, kniete sich vor ihr nieder und schloss sie in seine Arme. »Mein kleiner Sturmvogel.«
Sie umarmte ihn, wollte ihn nie wieder loslassen, doch sie wusste, dass sie es tun musste, nicht nur für sich, sondern auch für ihn.
»Schau, was ich für dich habe.« Er reichte ihr ein kleines Schwert und einen fein gearbeiteten Dolch. »Dort, wo du hingehst, kann ich dich nicht beschützen. Du wirst es selber tun müssen. Aber sei achtsam und vergiss nie, dass es der allerletzte Schritt ist, ein Menschenleben zu nehmen. Tu es niemals aus Zorn oder Leichtfertigkeit. Lerne, deinen Verstand zu nutzen, Gefahren frühzeitig zu erkennen und sie zu umgehen. Versprichst du mir das?«
»Ja, Papa.«
»Eines Tages, mein kleiner Sturmvogel, werden wir uns wiedersehen.« Tränen liefen in seinen Bart. Er hatte sich noch immer nicht rasiert. Er legte seine rechte Hand zur Faust geschlossen auf seine Brust. »Das weiß ich ganz sicher.«
Sie lächelte ihn an, küsste ihn auf die rechte Wange, auf die linke, nahm zuletzt sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn. Sie schloss die Augen, konnte seine Liebe überall in sich spüren und wusste, dass diese sie nie verlassen würde, egal, wie weit sie voneinander entfernt waren. Als sie die Augen öffnete, sah ihr Vater sie mit einem seltsamen Ausdruck an, den sie nicht verstand.
Sie ging zu Leila, nahm vom Boden einen pechschwarzen, glatten Kiesel auf und drückte ihn ihrer kleinen Schwester in die Hand. »Ich liebe dich, kleine Leila, und ich werde dich immer lieben.« Sie drückte ihre Schwester an sich.
Der kleine Wildfang, der es sonst nie mochte, wenn Vivien sie umarmte, hielt ausnahmsweise still.
»Schau«, sie hob einen weiteren Kiesel mit derselben Beschaffenheit auf, »wann immer ich diesen Stein in meiner Hand halte, werde ich an dich denken. Und ich werde es spüren, wenn du deinen in deiner Hand hältst und an mich denkst.«
Leilas Faust schloss sich um den Stein und sie nickte ernsthaft. Sofort fühlte Vivien eine Wärme, so als wären die Worte, die sie zum Trost gesagt hatte, lebendig geworden.
»Ich liebe dich, vergiss das nie.«
»Ich liebe dich auch, Vivi.«
Sie küsste ihre Schwester, so wie sie es zuvor bei ihrem Vater gemacht hatte. Dann sprang sie auf ihr Pferd und folgte ihrer Mutter und ihrer Meisterin, die beide losgeritten waren. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Das Bild von ihrem Papa, der ihre kleine Schwester Leila auf den Arm genommen hatte, prägte sie sich tief ein. Leila winkte ihr, und ihr Vater hob eine Hand. Auch sie hob ihre zu einem letzten Gruß.