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Licht und Dunkelheit: Vivien

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
483 Seiten
Reihe: Licht und Dunkelheit, Band 3

Zusammenfassung

Zu mächtig. Zu ungestüm. Zu gefährlich. So lautet das Urteil des Ältestenrats von Mintra. Die zehnjährige Vivien, Tochter des Elementes Luft, soll sich dem Prozess der Loslösung von ihrem Element unterwerfen. Doch ihre Mutter weiß, dass ein Mensch zerbricht, wenn man ihn von seinem Element trennt. Ihre einzige Hoffnung ist die Flucht. Herangereift zu einer jungen Frau, muss sich Vivien die Frage stellen, ob sie womöglich das Kind der Elemente ist, welches durch den Missbrauch ihrer Macht,¢ die Dunkelheit über Alurin bringt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Mintra

Sie machte sich in ihrer Ecke winzig klein und hielt die Luft an, um ja kein Geräusch zu verursachen. Mäuse huschten um ihre Füße, hielten inne und hoben schnuppernd die Schnäuzchen, als wüssten sie nicht recht, ob es sich bei ihr wirklich um einen Menschen handelte oder nicht doch um etwas Leckeres zum Essen. Angestrengt lauschte sie dem Gespräch zwischen ihrer Meisterin Sanira und ihrer Mutter.

»Es tut mir so leid, Ricarda. Was soll ich sagen? Ich habe versucht, den Ältestenrat davon zu überzeugen, dass Vivien ein besonderes Geschenk von Lishar ist und kein Mädchen, vor dem wir uns fürchten müssen.«

»Was ist mit Kaja? Was hat sie dazu gesagt? Ihre Meinung wird vom Ältestenrat hoch geschätzt. Und wenn es ein ungewöhnliches Mädchen in unserer Mitte gibt, dann doch ihre Tochter Levarda. Ich weiß, dass sie nicht nur ein Kind des Elementes Wasser ist.«

»Nur, weil ich es dir erzählte. Es gibt zwischen den zwei Mädchen Unterschiede, nicht nur im Temperament. Vivien hat in der Handhabung ihres Elementes eine unglaubliche Mühelosigkeit gezeigt, wie ich sie bei einem so jungen Mädchen niemals zuvor gesehen habe.«

»Aber macht nicht genau das sie zu etwas ganz Besonderem? Müssen wir das nicht schützen, anstatt es zu zerstören?«

Die Meisterin seufzte tief. »Ja, gewiss. Ich stimme dir vollkommen zu, doch genau das macht dem Ältestenrat Angst. Kennst du die Prophezeiung von der Tochter, deren Kräfte alles Bisherige übersteigen? Die mit den Hütern der Elemente alles zerstören wird?« Bei dem letzten Satz hatte Sanira die Stimme gesenkt.

»Das ist doch blanker Unsinn! Vivien ist gerade mal sechs Jahre alt.«

»Ich weiß, aber du kennst auch ihre Schwächen. Levarda ist im Gegensatz zu ihr ein Ausbund an Disziplin, Vernunft und harter Arbeit, obwohl sie nur zwei Jahre älter ist als Vivien.«

»Im Namen von Lishar, Sanira! Sie ist ein Kind!«

»Ja, eines mit viel Macht. Einer Macht, die für alle gefährlich werden kann.«

»Aber sie hat ein goldenes Herz. Sie würde nie jemandem ernsthaft etwas zuleide tun.«

Eine Spinne ließ sich an ihrem Faden vor Viviens Gesicht herab, krabbelte über ihre Nasenspitze und erkundete, ob dieses Ding geeignet war, um von dort ein neues Netz zur Wand zu bauen. Vivien war gleich von dem Gespräch abgelenkt und schob die Spinne mit der Fingerspitze auf ihre Hand, um ihr zwischen den Eckbalken einen besseren Platz für ein Netz zu zeigen.

»Denk nur an den Vorfall beim Fest der Sonne«, hörte sie Sanira sagen.

»Niemandem ist etwas passiert«, widersprach ihre Mutter.

»Weil wir fähige Frauen in unserer Mitte haben, die das Schlimmste verhinderten. Der Tornado hätte viele Mintraner das Leben kosten können. Ein Drittel der Ernte wurde vernichtet, und das werden wir im Winter bitter zu spüren bekommen.«

Tiefe Schamesröte stieg der Lauscherin in die Wangen. Sie wünschte, sie könnte das Geschehene rückgängig machen. Nicht nur, dass sie seitdem von vielen mit Argusaugen beobachtet wurde, die Sache hatte auch einen Keil zwischen sie und ihre Freundin Leonora getrieben. Selbst Eiméar, Leonoras Zwillingsschwester und Viviens engste Gefährtin, war auf Abstand gegangen. Vivien wusste zwar, dass Eiméar sie nur mied, weil sie befürchtete, so wie sie in den Mittelpunkt der Gespräche des Ältestenrats zu geraten, dennoch schmerzte es sie ungemein. Levarda hielt ihr als Einzige weiterhin die Treue. Vivien fühlte sich auf einmal schrecklich allein.

»Also auch du, Sanira.« Die Stimme ihrer Mutter klang bitter.

»Ricarda, mein Herz«, mischte sich ihr Vater in das Gespräch ein, der bisher nur zugehört hatte, »es ist doch nicht so, dass sie getötet werden soll. Sie bleibt ja weiterhin unsere Tochter und lebt ein ganz normales Leben am Fuß des Asambra.«

»Normal?!«, fauchte ihre Mutter.

Vivien duckte sich noch ein Stück tiefer in die Ecke, in dem Wissen, dass ihr Papa es dort in der Stube genauso machte. Besser, man zog den Kopf ein, wenn Mama wütend wurde. Oft blinzelten Papa und sie sich dann verschwörerisch zu.

»Hast du eine Ahnung, was es bedeutet, nie wieder ein Teil des Elementes zu sein, mit dem du geboren wurdest?«

Eine kalte Faust schloss sich um Viviens Herz. Nie wieder ein Teil der Luft? Was meinte Mama damit? Sie war die Luft, sie atmete die Luft, sie lebte mit der Luft! Wie sollte das gehen, ihr diesen Teil von ihr zu nehmen?

»Schau, sie ist nicht die Einzige, die den Prozess der Loslösung vom Element durchlaufen hat.«

»Oh ja. Und wer hat es verkraftet? Weißt du, welche Schmerzen es bedeutet? Hast du Hamans verkrüppelte Hand einmal genauer betrachtet? Oder senkst du auch den Blick, wenn du an ihm vorbeigehst, so wie alle anderen?«

Es entstand eine lange Pause.

»Es tut mir leid, Sanira. Ich vergaß … Es lag mir fern, dir einen Vorwurf daraus zu machen.«

Als die Meisterin wieder sprach, klang ihre Stimme seltsam dumpf: »Er war ein Mann im mittleren Alter, als man ihn dem Prozess unterwarf. Vergiss das nicht. Außerdem besitzen Männer nicht dieselbe Stärke wie wir, wenn es darum geht, mit Schmerzen umzugehen.«

Vivien schlang in ihrem Versteck die Arme um ihren zitternden Leib. Mama war oft genug mit ihr bei Haman gewesen. Sie kannte seine traurigen Augen gut, den verlorenen Blick, wenn er mit einem wehmütigen Lächeln in eine Welt hinabstieg, die nur er sehen konnte. Oft musste ihn Mama füttern, damit er überhaupt Essen zu sich nahm. Meistens schwieg er, doch wenn er ab und zu einen Dank an Ricarda richtete, dann klang seine Stimme so leise wie Blätterrascheln an einem Baum, durch den eine sanfte Brise fuhr.

Schau, Vivien, was passiert, wenn du nicht fleißig lernst und achtsam mit deinen Fähigkeiten umgehst. Das, was Lishar dir geschenkt hat, kann dir genauso wieder genommen werden.

Sie hatte nur genickt, ohne zu verstehen, was ihre Mutter damit gemeint hatte.

»Und sie ist nur ein sechsjähriges Kind.«

Sie hörte das Zittern in der Stimme ihrer Mutter, merkte, wie ihr selbst Tränen über die Wangen liefen, ohne dass sie wusste, weshalb. Sie schob sich die Faust in den Mund und biss darauf, um sich selbst daran zu hindern, in die schützenden Arme ihrer Mutter zu laufen.

»Es wird ihr nichts passieren. Niemals würde der Ältestenrat zulassen, dass einem Kind Schmerzen zugefügt werden?« In der Stimme ihres Vaters lag Unsicherheit.

Die Stille, die darauf folgte, war schlimmer als jede Strafpredigt, die sich Vivien je von Sanira hatte anhören müssen.

»Ihr müsst ihr helfen, es zu überstehen, und ich werde immer für sie da sein. Glaube mir, Marek, ich wünschte, ich hätte dieses Urteil verhindern können.«

»Es ist beschlossen?!«, schrie ihre Mutter hysterisch auf.

»Ricarda!«

»Ricarda, Schatz, sei vernünftig.«

Erschrocken presste Vivien sich an die Wand, als ihre Mutter von wilden Schluchzern geschüttelt durch den Flur rannte, am Türriegel riss und hinausstürmte, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Mit einem sanften Streicheln kam Luft von draußen herein, hüllte Vivien ein, zupfte an ihren Locken, wirbelte sie durcheinander und lud sie zum Spielen ein. Die Mäuse duckten sich und huschten durch die offene Tür hinaus.

»Oh, Vivien, mein kleiner Sturmvogel, seit wann hockst du hier?«

Seine Wangen glänzten feucht. Ihr Vater streckte die Arme aus, und sie huschte zu ihm hin und klammerte sich fest an seinen starken Körper. Tief sog sie den Geruch nach Tannennadeln, Reh und ein wenig auch nach Blut ein, der ihn immer zu umgeben schien. Er war ein guter Jäger, der schnell tötete. Nie musste ein Wesen unter ihm leiden. Er legte seine Wange auf ihre Haare, hielt Vivien an sich gepresst, zerdrückte sie schier mit seiner Kraft, doch das war gut, denn so hörte ihr Zittern auf.

»Komm her, Vivien.«

Vorsichtig linste sie, geschützt von den Armen ihres Vaters, zu Saniras hochgewachsener Gestalt hinüber, die vom Lichtschein des Feuers umgeben in der Stube stand. Sie befreite sich aus der Umarmung, obwohl ihr Vater sie nicht loslassen wollte. Vielleicht hatte ihre Meisterin recht. Vielleicht war sie ein schlechtes, leichtsinniges, verantwortungsloses Kind des Elementes Luft. Sie hatte keine Angst vor den Schmerzen. Wenn Haman es ertragen hatte, würde sie es auch ertragen. Und vielleicht wären am Ende Leonora und vor allem auch Eiméar wieder ihre Freundinnen.

Ihr Vater fasste ihren Arm und hielt sie fest. Zaghaft schenkte sie ihm ein Lächeln und wischte seine Tränen weg. Dabei sah ihre Hand auf seiner Wange so winzig aus. Seine Haut war kratzig von dem Bart, weil er sich die letzten zwei Tage auf der Jagd nicht rasiert hatte.

»Sag Mama, dass sie keine Angst zu haben braucht«, wisperte sie und küsste ihn zum Abschied auf die Wange.

Sanira streckte die Hand aus und lächelte. Mutig schritt sie auf ihre Meisterin zu und neigte den Kopf im Zeichen der Ehrerbietung. Langsam ließ sich Sanira in die Knie sinken, um mit Vivien auf einer Höhe zu sein.

Ihre hellgrauen Haare schimmerten, und die dunkelblauen Augen musterten Vivien. Ihr Gesicht wirkte jünger als neunundvierzig. Ein warmer, silberner Schimmer umgab ihre Aura, während sie Viviens Blick gefangen hielt.

»Spürst du die Liebe, die dich umgibt?«

»Ja, Meisterin.«

»Manchmal geschieht etwas, das uns glauben lässt, sie hätte nie existiert. Doch in Wahrheit verschließen wir nur unser Herz vor ihr.«

»Wird es wehtun?«

»Ja, mein Kind. Ich kann dir nur nicht sagen, was dir mehr Schmerzen bereiten wird, der Prozess der Loslösung von deinem Element oder das Leben danach, ohne deine Verbundenheit zur Luft.« Ein gequältes Lächeln erschien auf Saniras Zügen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber eines kann ich dir verraten. Die Luft wird ihre Tochter genauso vermissen wie du sie.«

Und dann zog die Meisterin sie in ihre Arme, was sie noch nie zuvor gemacht hatte, und so wie Papa hielt sie sie ganz fest.


Alle waren freundlich zu ihr. Amara, die zurzeit dem Ältestenrat vorstand, hatte ihr alles genau erklärt: In ihr gab es eine Quelle, die sie mit ihrem Element verband. Dort konnte sie Energie speichern und auch von dort hervorholen. Durch ihren Körper flossen Energiebahnen – durch jeden Winkel ihres Körpers –, deren Zentrum diese Quelle war. »So wie ein Spinnennetz?«, hatte sie Amara gefragt. »Ein guter Vergleich«, hatte diese geantwortet und ihr übers Haar gestreichelt.

Diese Quelle mit ihrem Netz musste nun aus ihr herausgezogen werden. Sie würden es langsam, Stück für Stück machen. Erst die feinen dünnen Enden, bis sie zu den stärkeren Strängen kämen, und zuletzt die Quelle selbst. Vivien hatte die Augen geschlossen, ihre Hand über die Stelle in ihrem Körper gelegt und das energetische Pulsieren als ein besonders helles Licht in ihrem Innern wahrgenommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man dieses Licht aus ihr entfernen sollte.

»Wird es wehtun?«, hatte sie gefragt.

»Ja, doch du bist noch ein kleines Mädchen. Erst im Laufe eines Lebens und mit der intensiven Nutzung der Bahnen werden diese stärker und stärker, weshalb es mehr Schmerzen verursachen würde, wenn du älter wärst, als es jetzt der Fall sein wird.«

Bei dem letzten Satz hatte Vivien die Unsicherheit der Frau, die das höchste Amt ihres Volkes innehatte, deutlich gespürt.

»Hab keine Angst, es werden die besten Heilerinnen aus unserem Volk bei dir sein und dir durch den Prozess helfen. Du kennst doch Kaja?«

Natürlich kannte sie sie. Sie war die Mutter von Levarda und deren unzähligen Geschwistern. Sie war so unglaublich lustig und hatte immer jede Menge Blödsinn im Kopf. Nie schimpfte sie, wenn Levarda mit Schlamm besudelt nach Hause kam oder ihre Sachen zerrissen hatte. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Mama. Wie oft hatte Kaja ihr den gröbsten Schmutz aus den Stoffen gebürstet, damit Mama nicht zu sehr mit ihr schimpfte.

Vivien wurde auf eine Holzkonstruktion gelegt, in deren Mitte eine Stoffbahn straff aufgespannt war. Kaja hatte sie daraufheben müssen, weil sie so hoch war. Ein Feuer brannte in der Höhle und machte die sie umgebende Luft so warm, dass sie nackt auf der Konstruktion liegen konnte. Nur ihr Amulett hing um ihren Hals und warf ein pulsierendes Licht an die Decke.

Kaja sah blass aus wie Schnee im tiefsten Winter. Sie lächelte ihr zu, nahm ihre Hand und hielt sie fest in ihrer.

»Keine Sorge, Vivien, du kannst dich entspannen. Wir wollen erst einmal schauen, wie es in deinem Innern aussieht, bevor wir morgen mit dem Prozess beginnen. Lässt du mich hinein?«

»Ja.« Vivien schloss die Augen.

Mit der einen Hand hielt Kaja weiterhin ihre Hand fest, während sie Zeige- und Mittelfinger der anderen an ihren Hals legte, dort, wo das Leben pulsierte. Kühl wie ein Wasserstrom floss Kajas Energie von diesem Punkt aus in sie hinein. Es kitzelte, sodass sie kichern musste, vor allem, als in ihren Gedanken jede Menge lustiger Figuren aus den Geschichten der Wälder Gestalt annahmen, ebenso Tiere. Wenn Levarda und Leonora ihre Wesen aus Wasser zauberten, sahen sie viel behäbiger und längst nicht so detailgetreu aus. Sogar Eiméar konnte aus ihrem Element, dem Feuer, Gestalten formen. Für ein Kind der Luft war es ungleich schwerer, sein Element zu verdichten, bis eine Art flimmernde Form erschien. Bisher hatte sie nur sehr grobe Abbilder von Gegenständen geschaffen, einen Stein, einen Stock, eine Schüssel. Doch das hatte sie heimlich gemacht, weil es in ihrer Ausbildung erst viel später kommen sollte – die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wider – oder gar nicht mehr!

Alles ging furchtbar schnell. Wie ein rasender Strom, gefüttert vom schmelzenden Eis des Asambra, schoss die Wasserenergie aus ihrem Körper hinaus. Sie hörte einen Aufschrei, das Fauchen von lodernden Flammen, die zu viel Futter bekommen hatten, und andere Geräusche, die sie nicht zuordnen konnte. Hastig öffnete sie die Augen, doch da war niemand mehr. Als sie ein leises Stöhnen hörte, richtete sie sich auf.

An der gegenüberliegenden Wand lag Kaja. Die zwei anderen Heilerinnen, die zuvor neben ihr gestanden hatten, waren über Kaja gebeugt. Die eine sah Vivien mit großen Augen an. Das Feuer hatte das Holz vollkommen verbrannt, die Flammen erstarben und hinterließen heiße Glut. Die Hitze trieb ihr den Schweiß aus den Poren.

»Kaja! Nun sag doch was«, hörte sie eine der Frauen panisch rufen, die neben Levardas Mutter knieten.

»Alles ist gut«, stöhnte Kaja.

»Gut?!«

Betroffen sah Vivien Levardas Mutter an, die sich mit einiger Hilfe der Frauen aufrappelte. Sie wollte von dem Gestell klettern und zu ihr laufen, als sie mit einem Mal das Gefühl hatte, von Wasser umschlossen zu sein, das ihr mit überwältigendem Druck die Luft zum Atmen nahm.

Amara kam mit fünf weiteren Mitgliedern des Ältestenrates in die Höhle gestürmt. Hastig stolperte Kaja zu Vivien hinüber, nahm sich den Umhang ab und legte ihn ihr um die Schultern.

»Was ist passiert?«, verlangte Amara zu wissen.

»Nichts, nur ein kleines Missgeschick meinerseits«, antwortete Kaja schnell.

»Missgeschick?«, echote die Heilerin, die Kaja aufgeholfen hatte, ungläubig. Sie richtete ihren Finger anklagend auf Vivien. »Sie hat Kaja angegriffen, als diese sie lediglich untersuchen wollte! Durch den ganzen Raum hat sie sie geschleudert. Das Kind ist eine Gefahr für unser Volk!«

»Beruhige dich, Bernadette. Das ist ja der Grund, weshalb wir uns entschieden haben, den Loslösungsprozess bei ihr durchzuführen.«

»Was wir unverzüglich tun sollten!«, fauchte die Angesprochene.

Kaja wandte sich Vivien mit einem warmen Lächeln zu und stockte. Vivien gurgelte jetzt panisch. Sie wollte ihr sagen, dass sie erstickte, da löste sich urplötzlich der Druck von ihr und sie bekam wieder Luft. Japsend sog sie die Luft tief in ihre Lungen.

»Bernadette! Was hast du getan? Wie kannst es wagen, ein kleines Mädchen in deine Wasserenergie einzuhüllen, dass es fast erstickt?«, fauchte Kaja wütend.

Die andere verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

»Antworte!«, befahl Amara.

»Sie wollte sich auf Kaja stürzen.«

»Was für ein Blödsinn! Sie hatte Angst. Sie wusste nicht, was geschehen ist, und wollte mir helfen.« Schützend legte Kaja ihr den Arm über die Schultern.

»Ist das wahr, Vivien?«

In ihrem Kopf pochte es heftig von dem Mangel an Luft. Sie wagte es nicht, zu antworten, stattdessen nickte sie bloß.

»Siehst du.«

Ein tiefer Seufzer kam über Amaras Lippen, als sie Kaja musterte. Zwischen den beiden fand ein unhörbarer Dialog statt. Schließlich kam Amara zu Vivien, nahm sie bei den Schultern und hob sie von der Konstruktion, hockte sich vor sie und sah ihr tief in die Augen. »Vivien, was genau ist geschehen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du die Energie deines Elementes benutzt?«

»Nein.« Sie biss sich auf die Lippen, als sie an Bernadettes Worte dachte und daran, wie Kaja hinten an der Wand auf dem Boden gelegen hatte. »Ich weiß es nicht. Wenn, dann geschah es nicht mit Absicht. Bitte, du musst mir glauben, Amara, ich wollte niemandem wehtun.«

»Ich weiß. Beschreib mir, was du gefühlt hast.«

»Ein kühler Wasserstrom floss durch mich, von der Stelle aus, an der Kaja mir ihren Finger an den Hals legte.« Sie zögerte, unsicher, ob sie alles erzählen sollte, auch das mit den Figuren in ihrem Kopf.

Aufmunternd blinzelte ihr Kaja zu. »Fahr fort.«

Sie schaute wieder zu Amara. »Ich sah Kobolde, Eichhörnchen, Feen, Mäuse und vieles mehr.«

Die Frau, die vor ihr hockte, schmunzelte. »Das macht Kaja gerne, weil sie den Menschen die Angst vor dem tiefen Kontakt nehmen möchte. Es ist ein Geschenk, das sie dir gemacht hat. Ist es das, was dich verunsichert hat?«

Vivien schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Nein«, flüsterte sie schließlich. Sie spürte, wie Tränen in ihr hochkamen. Das Herz wurde ihr schwer und ein Kloß stieg ihr in den Hals, weil sie sich ihrer Gedanken so schämte.

»Sprich, mein Kind. Du kannst mir alles erzählen.«

»Ich dachte an die anderen, daran, wie sie mit ihren Elementen Figuren formen, während ich nur einfache Gegenstände gestalten kann. Auf einmal musste ich daran denken, dass ich es nie in meinem Leben lernen werde, etwas so Vollkommenes zu schaffen, wie es mir Kaja in den Gedanken zeigte. Danach geschah alles ganz schnell. Ich wollte nicht, dass ich es verliere.«

Beruhigend streichelte ihr Amara über die Haare. »Es ist in Ordnung, dieses Gefühl von Verlust und Trauer. Ich hoffe, du verstehst gerade durch das, was geschehen ist, weshalb wir dich von deinem Element trennen müssen. Du wolltest Kaja nicht wehtun, doch genauso hättest du sie mit deiner Kraft töten können.« Amara hob die Hand und sah über ihre Schulter zu der Heilerin.

Vivien drehte sich um und sah, wie sich Kajas Lippen zu einem schmalen Strich verengten.

»Geh jetzt mit Sanira. Sie wird dir Eisenringe um deine Arme und Beine legen. Du brauchst keine Angst zu haben, es ist nur zu deinem eigenen Schutz. Sie werden dich von deinem Element abschneiden und du kannst lernen, mit dem Verlust umzugehen. Deine Meisterin wird die ganze Zeit bei dir bleiben.«

Sanira trat aus der Gruppe des Ältestenrats, nahm Vivien bei den Schultern und führte sie aus der Höhle.


Vivien hatte sich in die dunkelste Ecke der Höhle zurückgezogen. Dort lag sie eingerollt, hielt die Beine fest mit den Armen umschlungen. Eine sanfte Brise strich über ihr Gesicht und trocknete fortwährend die Tränen, die sich weigerten, mit dem Fließen aufzuhören. Es war, als wollte der Wind sie trösten, doch sie konnte ihn nicht mehr hören, ihn nicht mehr in sich spüren. Alle Leichtigkeit, alle überschäumende Freude, der Spaß, mit ihm zu spielen, waren verschwunden. Stattdessen hatte sie das Gefühl, dass die Wände der Höhle sie erdrückten. Sie liebte den Asambra, hatte nie Angst in seinem Innern verspürt. Bis heute. Die Wärme aus dem Kern des Berges hielt sie in einem schützenden Kokon, und doch fror sie, weil die Kälte aus ihrer abgeschnittenen Quelle kam. Sie setzte sich auf, und ihre Finger glitten über die schmalen Eisenringe an ihren Hand- und Fußgelenken. Nur so wenig Eisen war nötig, um sie zu einem völlig anderen Menschen zu machen. Sanira, die neben der Kerze gesessen hatte, um ein wenig zu lesen, setzte sich zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie hatte sich ebenfalls Eisenringe um die Hand- und Fußgelenke legen lassen, damit sie nachempfinden konnte, wie es ihrem Schützling ging.

»Ich besitze nicht annähernd deine Fähigkeiten, Vivien, doch auch ich habe das Gefühl, dass mich hier alles erdrücken will. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich dir helfen kann.«

»Bald wird ein anderes Kind zu dir kommen, das du lehren kannst, Meisterin.«

Sanira legte ihre Wange auf Viviens Kopf. »Es wird kein anderes Kind mehr geben, das so ist wie du. Wie soll ich jemals wieder mit etwas anderem arbeiten können, jetzt, wo ich weiß, wie sich die Vollkommenheit anfühlt?«

»Ich wünschte, ich wäre ohne die Fähigkeit geboren worden.«

Ihre Meisterin nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Das darfst du niemals denken und noch weniger sagen. Es ist ein Geschenk von Lishar. Alles hat seinen Sinn. Und wenn dies dein Weg ist, dann weiß ich tief in meinem Herzen, dass es auch dafür einen Grund gibt. Vivien, du besitzt ein Herz aus Gold. In dir steckt so viel Liebe, die du an alles, was dich umgibt, so großzügig verteilst. Konzentriere dich darauf.«

»Aber was, wenn ich auch sie verliere?«, wisperte sie. »Was, wenn ich so werde wie Haman? Wenn ich verbittert und griesgrämig werde und nie meinen Teil zum Wohl unseres Volkes beitragen kann?«

Sanira seufzte auf. »Du bist viel stärker, als er es jemals war, und dabei meine ich nicht die Verbundenheit mit deinem Element, sondern deine Disziplin, deine Ausdauer, deine innere Stärke.«

»Das alles hat nicht gereicht.«

»Es hätte gereicht, wenn du nicht so sehr ein Teil deines Elementes wärst. Auch der Wind meint es nicht böse, wenn er in einem Sturm über das Land braust und die Bäume entwurzelt. Es ist seine Art, es ist seine Energie, die sich sozusagen Luft verschaffen muss. Den Wind können wir nicht verändern.«

»Aber mich.«

Sie hörten leise tapsende Schritte. Kaja tauchte am Eingang der Höhle auf. Ein beruhigendes Lächeln lag auf ihrem Antlitz, in der Hand trug sie eine Packtasche. Sie kam zu ihnen herüber und zauberte aus ihrem Gewand einen Stoffbeutel mit Keksen.

»Das sind die Letzten, die Levarda vor ihren Geschwistern retten konnte. Sie hat sie extra für dich gebacken. Es sind Hafertaler, deine Lieblingskekse, sagt sie. Stimmt das?«

Vivien wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange und den Rotz von der Nase. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie nickte und den Beutel entgegennahm. Vorsichtig biss sie ein Stück von einem Keks ab, und sofort ging es ihr besser. Levarda konnte außergewöhnlich gut backen, aber nur selten kam sie dazu. Die vielen jüngeren Geschwister hielten sie mit Spielen auf Trab und ihr Meister war überaus streng und fordernd mit ihr.

Kaja strich ihr über den wirren Lockenkopf, in dem sich zig Knoten gebildet hatten. »Sanira, kann ich dich kurz sprechen?«

Seit die Heilerin die Höhle betreten hatte, hatte sich der Griff ihrer Meisterin um ihre Schultern verstärkt. Jeder Muskel in Saniras Körper war angespannt, aber seltsamerweise beruhigte ihre Furcht Vivien, als bräuchte sie keine Angst mehr zu haben, wenn Sanira ihr diese Last abnahm. Und wenn es jemanden gab, dem sie absolut vertraute, dann war es Kaja.

Nur zögernd erhob sich die Angesprochene und warf Vivien einen Blick zu. Wieder versuchte sie ein Lächeln, das jetzt, mit dem leckeren Keks im Mund, schon ein klein wenig besser gelang. Wenigstens würde sie ihre Freunde behalten, und Leonora würde bestimmt keine Einwände mehr gegen ihre Freundschaft mit Eiméar erheben. Sie verdrängte den Gedanken, dass sie dann ein normales Kind wäre und sie nur wenig Zeit hätte, um mit ihnen etwas gemeinsam unternehmen zu können. Sie würde dann andere Aufgaben verrichten als ihre Freunde.

Die beiden Frauen gingen zum Höhleneingang. Die Brise verstärke sich fast unmerklich und trug ihr Gespräch ins Höhleninnere bis zu Vivien. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den nächsten Hafertaler, damit keine der beiden merkte, dass sie lauschte.

»Sie muss aus Mintra weg.«

»Nein! Du kannst ihr nach dem Element nicht auch noch ihre Freunde nehmen!«

Sie sah aus den Augenwinkeln, wie ihre Meisterin entsetzt den Kopf schüttelte.

»Ich kann sie unmöglich von ihrem Element loslösen.«

»Wie meinst du das?«

»Ach, Sanira, ich habe mir gerade schon den Mund fusselig geredet, um es dem Ältestenrat zu erklären. Amara ist die Einzige, die bereit ist, es auch nur verstehen zu wollen. Alle anderen sind einfach entsetzt von dem, was passiert ist.«

»Du hast mir noch nicht erklärt, wieso es unmöglich ist.«

»Es ist bei Vivien nicht so wie bei dir und mir, dass die Verbindung zu unserem Element ein Teil unseres Körpers ist.« Kaja nahm die Hände der Meisterin auf und strich dabei über die Eisenringe. »Es tut weh. Du spürst den Verlust von etwas, das ein Teil von dir ist, etwas, das du über alles liebst. So wie damals, als ich meinen Erstgeborenen verlor, noch bevor er in meinem Leib ausgereift war. Ein entsetzliches Gefühl war es, das mich noch manchmal in der Nacht heimsucht. Aber bei Vivien ist es anders. Die Luft ist sie und sie ist die Luft. Anders kann ich es nicht erklären. Fühlst du den Wind?«

»Ja, aber ich bin es nicht, wenn du das fragen wolltest.«

»Siehst du? Er weiß, was wir vorhaben, und auch er hat Angst davor, sein Kind zu verlieren.«

»Kaja, es ist ein Element, kein Wesen.«

»Ich weiß, und doch spürte ich seinen Zorn.«

»Viviens Zorn.«

»Mag sein, aber das ist ein und dasselbe. Wenn ich sie von ihrem Element trenne, wird sie sterben, glaub mir!«

»Du willst gegen den Ältestenrat handeln?«

»Ist dir klar, was mit mir geschieht, wenn durch die Nutzung meines Elementes ein unschuldiges Kind stirbt?«

Eine kalte Stille entstand. Ein Schatten schien das Licht des Feuers zu ersticken. Fröstelnd schlang Vivien ihren Mantel dicht um sich.

»Sanira, uns bleibt keine Wahl. Dieser Weg ist falsch, und du weißt es! Ricarda wartet am See. Sie wird Vivien aus Mintra fortbringen, und wenn es sein muss, sogar über das Meer.«

»Seid ihr von Sinnen? Du hast gesehen, wozu das Kind in der Lage ist. Was, wenn sie in Situationen gerät, in denen sie die Kontrolle über ihre Kräfte verliert? Willst du sie zu einem Teil der Dunkelheit machen? Genau so wird die Prophezeiung wahr werden.«

»Schscht, nicht so laut!«

Beide Frauen sahen zu ihr herüber. Hastig kramte Vivien den nächsten Keks hervor und beugte den Kopf tief über den Stoffbeutel. In ihr kämpften Furcht und Freude gegeneinander, aber die Furcht überwog. Wie sollte sie ohne die Führung ihrer Meisterin lernen, mit ihren Fähigkeiten umzugehen? Sie wollte kein Teil der Dunkelheit werden, was auch immer Kaja damit meinte.

»Ich habe Ricarda ein Buch mitgegeben, damit sie Vivien helfen kann, ihre Übungen zu machen.«

»Ein Buch! Ricarda ist kein Kind der Elemente, sie weiß nichts über die Feinheiten, wie man die Energie kanalisiert und sie sinnvoll verwendet!«

Energisch schüttelte Sanira den Kopf und sah wieder zu Vivien hin. Sie lächelte sie traurig an, und Viviens Herz fing heftig an zu klopfen. Bitte Lishar, bitte hilf mir. Ich weiß, es ist ein egoistischer Wunsch, aber ich brauche sie in meinem Leben, betete sie stumm zur Göttin.

»Ich werde sie begleiten.«

Kaja atmete tief durch. »Bist du dir ganz sicher?«

Die Meisterin richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ja.«

Kaja fiel ihr um den Hals und beide blieben eine gefühlte Ewigkeit in dieser Umarmung.

»Ich hatte so sehr gehofft, dass du diese Entscheidung triffst.«

»Ricarda sollte bei Marek und den Kindern bleiben.«

Aber Kaja schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben gemeinsam entschieden, dass es das Beste ist, wenn Ricarda ihren Sturmvogel begleitet.«

»Ihnen ist klar, dass sie sich nie wiedersehen werden?«

Kaja nickte stumm.

Eine kalte Faust schloss sich um Viviens Herz. Nie wieder Papas kratzigen Bart spüren? Nie wieder die Wärme seiner Arme, wenn er sie umfangen hielt und ihr Geborgenheit gab? Nie wieder auf seinem Schoß sitzen und seinen Geschichten zuhören, während sie seinen Geruch nach Leder und Tannennadeln tief in sich einsog? Nein, das konnte sie nicht einfach hinter sich lassen! Und was war mit der dreijährigen Leila, ihrer Schwester? Auch sie würde sie nie wiedersehen. Wie konnte Mama auch nur darüber nachdenken, die beiden zu verlassen? Entsetzt schüttelte sie den Kopf. Der Wind fuhr ihr durch die Locken und wirbelte sie durcheinander. »Ich kann nicht«, wisperte sie ihm zu, und ihr Herz schien dabei in winzige Splitter zu zerbrechen.

»Gibt es keinen anderen Weg?«

»Nein. Ach, Sanira, manchmal habe ich Angst, dass wir von unserem Pfad abkommen und den Eid, den wir einst der Göttin schworen, brechen.«

Die beiden Frauen kamen zu ihr herüber. Ein Blick in ihr Gesicht reichte Kaja.

»Du hast uns belauscht?« Ihre Stimme klang streng.

»Ja, es tut mir leid.«

»Wie konntest du überhaupt etwas verstehen? Du hast dich keinen Meter von deinem Platz weggerührt. Kein Mensch hat so gute Ohren.«

»Der Wind«, flüsterte Sanira und sah die Heilerin an.

Kaja nahm Viviens rechte Hand und schob den Schlüssel in das Schloss des Eisenrings.

Vivien wehrte sich. »Nein, nicht! Ich will nicht!«

Die Heilerin hielt sie fest. »Vivien, hör zu. Du hast keine Wahl. Wenn du nicht gehst, wirst du sterben.«

»Das ist mir egal!«

»Aber deinen Eltern ist es nicht egal. Sie lieben dich.«

»Ich werde Papa nie wiedersehen und Leila auch nicht!«

»Ja, das stimmt, aber sie wissen, dass du lebst und dass es dir gutgeht.«

»Nein!«

»Vivien, wenn du stirbst, wird Lethos furchtbar wütend werden. Er liebt dich mehr als jede andere seiner Töchter des Windes.«

»Das ist mir egal! Ich liebe Papa.«

»Ich weiß. Doch ich weiß auch, dass du niemandem etwas Böses möchtest, oder?«

Vivien zögerte mit der Antwort, weil sie nicht wusste, worauf Kaja hinauswollte.

»Wenn du stirbst, Kind, kann es passieren, dass du zu einem Teil der Dunkelheit wirst.«

»Was ist die Dunkelheit?«

»Das, meine kleine Vivien, wissen wir auch nicht. Wir merken nur, dass sie immer mehr zunimmt, und wir haben keine Ahnung wieso.«

»Und was ist daran so schlimm?«

Kaja seufzte. »Auch diese Frage kann ich dir nicht ganz beantworten. Es gibt eine Prophezeiung, aber du bist noch zu klein, um sie zu verstehen. Sanira wird dir eines Tages alles erklären, versprochen. Heute musst du uns vertrauen. Wir alle lieben dich und wir wissen, dass auch diese Entscheidung einen Preis hat, den du, deine Eltern, deine Schwester und auch Sanira bezahlen müssen. Doch schau – sie alle sind bereit dazu, damit du leben kannst. Nimm dieses Geschenk an, denn wir schenken es dir aus tiefstem Herzen, weil wir alle davon überzeugt sind, das Richtige zu tun. Deine Aufgabe, kleine Vivien, wird darin bestehen, zu zeigen, dass du es wert bist.«

Vivien hörte auf, sich zu wehren. Kaja nahm ihr beide Eisenringe ab, und sofort spürte sie die Umarmung der Luft, das leichte Necken, als der Luftzug mit ihren Locken spielte und ihre Tränen trocknete. Ihre innere Quelle begann zu leuchten und erfüllte sie mit Energie und Zuversicht, auch wenn ihr Herz weiterhin zu zerspringen drohte.


Dort stand Mama mit drei Pferden. Sie trug ihre Hose, ein Hemd, eine Weste und einen langen Mantel. Ein Bogen war an ihrem Pferd befestigt. Papa stand bei ihr und hielt sie in den Armen, während die kleine Leila mit dem stillen Wasser des Sees spielte. Der Vollmond spiegelte sich in der klaren Oberfläche.

»Hier, trink, Vivien. Es wird dir helfen, mit der Trauer umzugehen.« Kaja hatte ihre Feldflasche mit dem Wasser des Sees Luna befüllt.

Artig trank Vivien einen Schluck, und nach einem scharfen Schmerz spürte sie die tröstende Wärme der Göttin Lishar in sich. Papa kam zu ihr, kniete sich vor ihr nieder und schloss sie in seine Arme. »Mein kleiner Sturmvogel.«

Sie umarmte ihn, wollte ihn nie wieder loslassen, doch sie wusste, dass sie es tun musste, nicht nur für sich, sondern auch für ihn.

»Schau, was ich für dich habe.« Er reichte ihr ein kleines Schwert und einen fein gearbeiteten Dolch. »Dort, wo du hingehst, kann ich dich nicht beschützen. Du wirst es selber tun müssen. Aber sei achtsam und vergiss nie, dass es der allerletzte Schritt ist, ein Menschenleben zu nehmen. Tu es niemals aus Zorn oder Leichtfertigkeit. Lerne, deinen Verstand zu nutzen, Gefahren frühzeitig zu erkennen und sie zu umgehen. Versprichst du mir das?«

»Ja, Papa.«

»Eines Tages, mein kleiner Sturmvogel, werden wir uns wiedersehen.« Tränen liefen in seinen Bart. Er hatte sich noch immer nicht rasiert. Er legte seine rechte Hand zur Faust geschlossen auf seine Brust. »Das weiß ich ganz sicher.«

Sie lächelte ihn an, küsste ihn auf die rechte Wange, auf die linke, nahm zuletzt sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn. Sie schloss die Augen, konnte seine Liebe überall in sich spüren und wusste, dass diese sie nie verlassen würde, egal, wie weit sie voneinander entfernt waren. Als sie die Augen öffnete, sah ihr Vater sie mit einem seltsamen Ausdruck an, den sie nicht verstand.

Sie ging zu Leila, nahm vom Boden einen pechschwarzen, glatten Kiesel auf und drückte ihn ihrer kleinen Schwester in die Hand. »Ich liebe dich, kleine Leila, und ich werde dich immer lieben.« Sie drückte ihre Schwester an sich.

Der kleine Wildfang, der es sonst nie mochte, wenn Vivien sie umarmte, hielt ausnahmsweise still.

»Schau«, sie hob einen weiteren Kiesel mit derselben Beschaffenheit auf, »wann immer ich diesen Stein in meiner Hand halte, werde ich an dich denken. Und ich werde es spüren, wenn du deinen in deiner Hand hältst und an mich denkst.«

Leilas Faust schloss sich um den Stein und sie nickte ernsthaft. Sofort fühlte Vivien eine Wärme, so als wären die Worte, die sie zum Trost gesagt hatte, lebendig geworden.

»Ich liebe dich, vergiss das nie.«

»Ich liebe dich auch, Vivi.«

Sie küsste ihre Schwester, so wie sie es zuvor bei ihrem Vater gemacht hatte. Dann sprang sie auf ihr Pferd und folgte ihrer Mutter und ihrer Meisterin, die beide losgeritten waren. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Das Bild von ihrem Papa, der ihre kleine Schwester Leila auf den Arm genommen hatte, prägte sie sich tief ein. Leila winkte ihr, und ihr Vater hob eine Hand. Auch sie hob ihre zu einem letzten Gruß.

2

Sturmvogel

Schwer atmend stand sie auf dem Gipfel des Asambra. Die Sonne strahlte ihr ins Gesicht. Sie hob die Hände zum Himmel empor und schrie mit aller Kraft. Sie lachte, als sie das Echo ihrer Stimme aus dem Tal widerhallen hörte. Mit zwei Schritten trat sie an den Rand. Unter ihr fiel die Steilwand Hunderte von Decads ab, bevor die ersten Baumwipfel begannen. Sie ließ sich von dem Felsen kippen, breitete die Arme aus und schloss die Augen, während sie den freien Fall in allen Zügen genoss. Die Luft pfiff an ihrem Körper entlang, den sie ganz gestreckt hielt, als wäre es ihre Absicht, von einem Felsvorsprung in einen See zu springen, nur dass es unter ihr kein Wasser gab. Erst kurz über den Baumwipfeln rollte sie sich ein und schlug ein paar Purzelbäume in der Luft, bevor sie schräg zur Seite gelegt den obersten Baumspitzen auswich. Sie sammelte die Luft um sich herum, lenkte sie in eine andere Richtung, wurde langsamer, bis sie nur noch schwebte. Als sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen, näherte sie sich der Erde.

»Kapitän! Kapitän, wach auf!«

Erschrocken fuhr Vivien aus ihrem Traum hoch. Wie immer, wenn sie von ihrem Sturz vom Gipfel des Asambra träumte, brauchte sie einen Augenblick, um in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Jannis ließ seine Faust gegen die Tür donnern. »Kapitän!«

Sie sprang aus ihrer Koje, zog sich hastig die Hose an und schnürte sich den Gurt mit Kurzschwert und Dolch um die Taille. »Was ist? Hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, dass ich schlafen will?«

Sie riss die Tür auf und blickte in das sorgenvolle Gesicht ihres Ersten Offiziers. Seine sonst leuchtend hellblauen Augen schauten düster aus schmalen Schlitzen unter den tief herabgezogenen Augenbrauen hervor. Sein Mund war nur eine grimmige Linie im dichten Bart.

Alarmiert von seinem Ausdruck fuhr sie ihn barsch an: »Was ist?«

»Sieh selbst!«

Hastig eilte sie hinter ihm die Stiege hoch auf das Oberdeck. Vor knapp einer Stunde hatten sie das kritische Fahrwasser um die Farukinseln hinter sich gelassen. Die »Sturmvogel« war das einzige Handelsschiff, mit dem man es wagen konnte, diese Route zu wählen. Für alle anderen war das Risiko zu hoch, an einer der vielen Klippen zu zerschellen, die unsichtbar unter der Wasseroberfläche lauerten. Die Passage sparte einem eine Woche Fahrt zwischen dem Festland und Alurin, und das bedeutete, dass sie in der Lage waren, sechs Handelsreisen im Jahr zwischen den Ländern zu unternehmen. Im Gegensatz dazu traten die anderen eldemarischen Handelsschiffe in demselben Zeitraum nur vier Reisen an. In der Winterzeit kam der Handel aufgrund der Stürme komplett zum Erliegen.

Es war für dieses Jahr ihre letzte Reise, und die gesamte Mannschaft war froh, dass sie in knapp einer Woche wieder heimischen Boden unter den Füßen haben würden. Die Stürme hatten auch Vivien an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Doch die Sturmvogel war ein ausgezeichnetes Schiff, das trotz voller Ladung gut auf dem Wasser lag und gleichzeitig schnittig durch die Wellen pflügte.

Im Gegensatz zu den letzten Tagen zeigte sich das Meer heute von seiner ruhigen Seite. Der Wind zerrte an Viviens Hemd und ließ sie frösteln. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich kurz und schuf einen windstillen Kokon um sich. So war es besser. Sie konnte zwar nichts an der Außentemperatur ändern, aber daran, dass ihr der Wind unter die Kleidung fuhr.

Jannis neben ihr wickelte sich fest in seinen Umhang ein. Er warf ihr einen neidischen Blick zu. Vivien grinste und streckte die Hand aus. Er gab ihr das Fernrohr und deutete in die Richtung, die sie anpeilen sollte. Einen Moment suchte sie den Horizont ab, dann entdeckte sie ein Kriegsschiff aus Forran. Es hatte sich viel zu dicht an die Farukinseln herangewagt. Wenn es den Kurs beibehielt, würde es bei diesem Wetter unweigerlich an einer der Klippen an der Einfahrt zur Passage zerschellen. Neun Jahre währte schon der Frieden zwischen Forran und Eldemar, aber dennoch hielten die Schiffe der beiden Länder auf See Abstand zueinander. Und mit einem Handelsschiff näherte man sich einem Kriegsschiff der Gegenseite schon gar nicht. Zu lebhaft war Vivien die Erinnerung an die gekaperten Schiffe, sei es im Auftrag des Hohen Lords von Forran oder des Königs von Eldemar, die beide Freibeuterbriefe ausgestellt hatten. Nicht nur das Militär hatte die Gelegenheit zu einem lukrativen Geschäft genutzt, sondern auch Halunken, die bereit waren, ein Risiko auf sich zu nehmen, um reiche Beute zu machen. Die Piraten, eine Zeit lang der rechte Arm der Regierungen beider Länder, wurden nun wieder mit Kriegsschiffen gejagt und zur Rechenschaft gezogen, allerdings geschah das selten, und für gewöhnlich auch nicht zu dieser Jahreszeit. Dennoch war das für Vivien der einzige ersichtliche Grund für ein forranisches Kriegsschiff, sich in diesem Teil der Gewässer aufzuhalten. Dieses Schiff würde es nicht mehr rechtzeitig in den heimatlichen Hafen schaffen, bevor der Winter hereinbrach. Das musste der Kapitän auch wissen.

»Nachdem ich ihren Kurs die letzten zehn Minuten beobachtet habe, gibt es keinen Zweifel mehr. Sie steuern direkt auf die Unterwasserriffe zu. Wenn wir nichts unternehmen, versinkt das Schiff im kalten Grab der See.«

»Seit wann treiben sich die Forraner in dieser Gegend herum?«, murrte Vivien verärgert.

»Das Wrack wird uns im Frühjahr die Zufahrt zur Passage erschweren, je nachdem, wo das Schiff sinkt. Womöglich macht es sie für uns sogar unpassierbar.«

»Verflucht!« Sie beobachtete das Schiff weiter, aber Jannis hatte recht. Ihnen blieb nur noch wenig Zeit, um das Schicksal, auf das das Kriegsschiff geradewegs zusteuerte, abzuwenden.

»Bereit machen zum Wenden! Zieht das Großsegel ein!«

Die Entscheidung war getroffen, und die Mannschaft fing sofort an, ihre Befehle, die von ihrem Ersten Offizier weitergebrüllt wurden, in die Tat umzusetzen.

»Holt die Flagge von Eldemar ein und setzt dafür das Zeichen der Handelsgilde.«

Die Sturmvogel legte sich schräg und schnitt elegant wie ein Delphin durch die Wasseroberfläche, während sie vor dem Wind kreuzten. Sie half nur ein wenig durch Lenken der Luft nach. Zu viel, und das Kriegsschiff würde noch schneller in sein Schicksal getrieben, auf das tückische Riff aufzulaufen. Die Mannschaft musste sehr geschickt und flink mit den Rahsegeln arbeiten. Vivien bellte Befehle übers Deck und konzentrierte sich dabei auf das Steuerrad, während ihr Erster Offizier die Männer antrieb. Sie alle waren ein eingespieltes Team. Das war der Vorteil, wenn man schon so lange zusammen auf See fuhr. Für jeden Einzelnen war sie bereit, ihr Leben zu opfern, und das wussten die Männer. Zwischendurch hob Jannis immer wieder das Fernrohr, um zu prüfen, wie das Kriegsschiff auf ihre Annäherung reagierte.

»Verflucht!«, schimpfte er.

»Was?«

»Sie laden die Kanone.«

»Welche? Doch nicht alle?«

»Nein, nur die auf dem Achterdeck!«

»Hisst die weiße Flagge! – Was für Idioten«, knurrte sie.

Kaum hatte sie es ausgesprochen, als die erste Kugel das Wasser an der Backbordseite hochspritzen ließ. Nur ein paar Meter weiter, und sie hätte getroffen. Beim ersten Schuss! Bei der Wetterlage! Hastig änderte sie den Kurs der Sturmvogel.

Die Masten knarzten unter der abrupten Wende. Zwei Männer rutschten durch das überraschende Manöver ab, fingen sich aber wieder. Die weiße Flagge flatterte jetzt unter dem Zeichen der Gilde.

»Sprich!«, fauchte sie ihren Ersten Offizier an.

»Die Kanonen werden wieder geladen!«

»Setzt denn keiner von denen seinen Verstand ein? Was glauben die? Dass wir sie rammen und entern wollen? Wir sind ihnen mit unserer Bewaffnung doch sowieso völlig unterlegen.«

Sie hatte nicht vor, das Leben auch nur eines ihrer Männer aufs Spiel zu setzen! Kurz schloss sie die Augen und nahm Verbindung zu ihrem Element auf. Ein kleiner Schubs in die andere Richtung, und die Kanonenkugel veränderte rechtzeitig ihre Flugbahn und landete ebenfalls im Wasser.

»Sie hissen die weiße Flagge.«

»Ist mir egal. Was ist mit den Kanonen?«

»Werden abgedreht.«

»Woher der Stimmungswechsel?«

»Scheint, als hätten sie erst jetzt unsere Flaggen gesichtet.«

»Behalt sie im Auge, es könnte auch ein Trick sein!«

»Aye, Kapitän.«

Die Spannung an Bord der Sturmvogel stieg, als sie das Schiff in einem eleganten Bogen in Leestellung zu dem forranischen Kriegsschiff legte. Es war eine verwundbare Stellung, nicht nur wegen der 33 Kanonen, die ihnen von drei Decks entgegenstarrten, oder den weiteren Kanonen auf dem Ober- und Achterdeck, sondern vor allem standen sie gegen den Wind. Diese gefährliche Lage konnten sie nur kurz halten, sonst riskierten sie, an den Klippen zu zerschellen. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, bis der Sturm richtig ausbrechen würde. Enterhaken wurden von der Gegenseite herübergeworfen und von den Männern befestigt, sodass die beiden Schiffe nun längsseits beieinanderblieben.

»Erbitten die Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!«, brüllte Andrés, Zweiter Offizier der Sturmvogel zum Kriegsschiff hinüber.

Ihr Handelsschiff mit dem Großmast, dem Fockmast, dem Kreuzmast und dem Besanmast war zwei Decks hoch und hatte ein flaches Achterdeckshaus. Es wirkte neben dem massiven Kriegsschiff mit insgesamt vier Decks und mehr als hundert Kanonen sowie einem drei Ebenen umfassenden Achterdeck wie ein Spielboot.

»Erteilt!«, kam die knappe Antwort von der anderen Seite.

»Hugh, übernimm das Steuer.«

»Du willst mit?« Jannis warf ihr einen skeptischen Blick zu.

»Keine Sorge, ich halte meinen Mund, und du übernimmst die Rolle des Kapitäns. Aber ich muss sehen, wie dicht wir an dem Eingangsriff dran sind. Das Schiff ist doppelt so lang wie unseres, hat die dreifache Breite und locker einen Tiefgang von an die neun Metern.« Vor ihrem geistigen Auge verglich sie das Riff mit den Maßen des Kriegsschiffs.

»Dennoch siehst du aus wie eine Frau.«

Belustigt funkelte sie ihn an. »Was ich ja auch bin.«

»Du weißt, wie ich das meine. Selbst in Eldemar weiß niemand, dass du Kapitän der Sturmvogel bist. Und wenn sie von all deinen Besitztümern Kenntnis hätten, wäre dein Leben nichts mehr wert.«

Mit einem Stoßseufzer gab sie nach. Er war der Vernünftigere von ihnen, auch wenn sie das ihm gegenüber niemals offen zugegeben hätte.

»Also gut. Sieh zu, dass du überzeugend bist. Ich habe keine Lust, die Sturmvogel in Stücke schießen zu lassen.«

Er grinste breit. »Als ob du das jemals zulassen würdest.«

»Mach!« Sie gab ihm einen Schubs. »Uns bleibt nur wenig Zeit.«

Eine Planke wurde herübergeschoben, die wegen des Höhenunterschieds der Schiffe an beiden Enden festverzurrt werden musste. Ungeduldig sah sie zu, wie ihre Offiziere Jannis und Andrés flink über den Steg liefen – kein leichtes Unterfangen, da das Meer wild unter ihnen wogte. Sie hatte Hugh, dem Ersten Steuermann, das Steuerrad übergeben. Den Wind für sich nutzend lauschte sie angestrengt, während sie sich weiter nach Backbord schob. Nichts, lediglich ein paar Wortfetzen, Höflichkeitsfloskeln, die ausgetauscht wurden. Verdammt, dafür hatten sie keine Zeit! Angespannt betrachtete sie den Horizont, an dem sich dunkle Wolken zusammenzogen. Der Wind frischte ein wenig auf, fegte ihr winzige Eissplitter ins Gesicht.

Leise vor sich hinfluchend, nahm sie das Fernrohr und visierte die Inseln an, die so unschuldig und verlockend im Wasser lagen. Dabei waren sie umgeben von tückischen, unter dem Wasserspiegel liegenden Riffen. In der Passage wirkte das Meer ruhig. Nur daran ließ sich erkennen, wie stark der Bruch zwischen den beiden Meeresstellen war. Auch die daraus resultierenden Strömungen waren gefährlich. Vivien richtete den Blick auf die andere Seite. Hinter ihnen braute sich der Sturm am Himmel zusammen. Hatte sie sich getäuscht? Erneut fixierte sie mit dem Fernrohr die Punkte, die sie irritiert hatten. Es dauerte eine Weile, doch dann war sie sich sicher.

Alle Schimpfwörter vor sich hinfluchend, die ihr einfielen, sprintete sie los, lief über die Planke, sprang auf das fremde Deck – und hatte vier Schwerter am Hals.

Jannis, der offensichtlich geredet hatte, starrte sie mit offenem Mund an. Auch auf die beiden Offiziere der Sturmvogel richteten sich augenblicklich zwei Schwerter.

Ein Mann in der dunkelblauen Uniform der Garde des Hohen Lords mit dem silbernen Emblem der Schlange auf der Brust musterte sie kalt aus grünen Augen, deren leuchtendes Farbspiel sie für einen Moment alles andere vergessen ließ. Mit ihren vielfältigen Schattierungen glichen sie den Wäldern am Fuß des Asambra und waren genauso lebendig. Der Hauch einer Erinnerung versuchte, aus der Tiefe ihres Unterbewusstseins an die Oberfläche zu gelangen, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit.

Rasch fasste sie sich wieder. »Drei Piratenschiffe steuern direkt auf uns zu!«

Der Gardeoffizier, dessen Abzeichen seinen hohen Rang kennzeichneten, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Das bestätigte ihren Verdacht. Er wusste genau, dass die Piraten hinter ihm her waren. Eine kurze Handbewegung von ihm, und einer der Männer eilte das Achterdeck hoch, hob das Fernrohr und sah aufs Meer hinaus. »Sie sagt die Wahrheit.«

»Wie viel Zeit bleibt uns?«

»Schätzungsweise eine halbe bis eine Stunde, das hängt von den Windverhältnissen ab«, antwortete der Mann auf dem Achterdeck.

»Können sie uns sehen?«

»Schwer zu sagen.«

Nicht einen Moment hatte der Offizier seinen Blick von Vivien abgewandt. Er hatte exakt ihre Größe, was ihn gegenüber ihren Männern klein wirken ließ, die ihn beide um Haupteslänge überragten. Sein blauschwarzes Haar war mit einem Band im Nacken zusammengebunden, das aber nicht gegen die Wirbel ankam und die Mähne nicht straff zu halten vermochte. Das gab ihm ein verwegenes Aussehen. Im Kontrast dazu wirkte sein Gesicht mit der flachen Nase, dem vorspringenden Kinn, den feinen Augenbrauen und dem geschwungenen Mund eher verspielt. Dieser Mund rief bei einigen Frauen sicher Neid hervor. Der Mann war von schmalem Körperbau, besonders zur Taille hin. Wenn sie an die Krieger des Inneren Kreises von Eldemar dachte, hätte sie ihn geradezu als schmächtig bezeichnen können. Doch die Art von Aufmerksamkeit, die ihm seine Männer rundum entgegenbrachten, zeugte von Autorität und Selbstbewusstsein, die er aus jeder Pore auszustrahlen schien, und darum ließ sie Vorsicht walten. Noch immer versuchte sich eine Erinnerung in ihr Bewusstsein zu drängen. Sie kniff die Augen zusammen, schaffte es jedoch nicht, sie zu greifen. Nur das Gefühl, dass dieser Mann gefährlich war und sie ihn keinesfalls unterschätzen durfte, verstärkte sich.

»Fertig mit dem Betrachten?«

In seinem Ton klang Spott mit. Was sie aber mehr beunruhigte, war die Gleichgültigkeit darin. Es war ihm völlig egal, dass eine Frau vor ihm stand, und sie war sich sicher, dass er sie mit demselben Desinteresse töten würde wie ihre Männer, wenn er es für notwendig erachtete.

»Gefällt Euch, was Ihr seht?«

Tief durchatmend sah sie ihm fest in die Augen. »Nein.«

»Schade.«

Sie hob den Finger, legte ihn in den winzigen Zwischenraum zwischen der auf sie gerichteten Schwertspitze und ihrer Kehle. Seine Soldaten waren ungemein flink gewesen, doch von der Garde des Hohen Lords erwartete sie es auch nicht anders. »Wäret Ihr so freundlich?«

Auf sein Zeichen hin senkten sich die Schwerter, blieben aber in den Händen der Männer bereit.

»Hast du es ihm erklärt?«, wandte sie sich an Jannis.

»Aye.«

»Ihr könnt durchaus direkt mit mir sprechen, anstatt über Eure Männer. Ich erklärte Eurem Kapitän bereits, dass wir durch die Passage müssen. Unser Klüverbaum ist beschädigt und …«

»Um der Konfrontation mit den Piraten aus dem Weg zu gehen«, unterbrach sie ihn, »wollt Ihr mit dieser Fregatte in die Passage der Farukinseln segeln, ohne den Weg zu kennen? Absolut hirnrissig. Eure Bordwand scheint ebenso eine Kugel abbekommen zu haben wie Euer Klüverbaum.« Sie hatte keine Zeit für diplomatisches Drumherumgerede.

Um seine Mundwinkel zuckte es kurz. »Habt Ihr einen Namen?«

»Vivien.«

»Nun, Vivien …« In der Art, wie er ihren Namen sprach, klang eine Vertrautheit durch, als wären sie seit Ewigkeiten Freunde. »… es scheint so, als hättest du das Kommando inne. Kennst du oder kennt einer deiner Männer den Weg durch die Passage?«

»Selbstverständlich. Wären wir sonst hier? Jannis, du übernimmst das Steuer auf diesem Schiff. Sag mir, wen du noch brauchst, und ich schick dir die Leute rüber. Ich werde voraussegeln.«

»Hugh, Oswald und Jeremias!«

»Du weichst nicht vom Heck, wenn ich mit der Sturmvogel durch die Passage segle! Bleib immer exakt in der Mitte meines Fahrwassers! Verstanden?«

»Aye«, antwortete Jannis.

»Das ist immer noch mein Schiff, und es steht unter meinem Kommando!« Diesmal richtete sich sein Schwert auf ihren Hals.

Vivien zuckte mit den Achseln. »Wollt Ihr Eure Männer heil zu der Hauptinsel bringen, wo Ihr den Schaden reparieren könnt, oder möchtet Ihr ihnen ein kaltes Seemannsgrab bescheren? Aber vielleicht stellt Ihr Euch im Sturm auch lieber den Piratenschiffen und versucht Euer Glück auf diesem Weg.«

Da der Kapitän keine Anstalten machte, ihr zu antworten, schob sie das Schwert mit der blanken Hand zur Seite und überbrückte flink die Distanz zu ihm, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

»In diesem Fall, Forraner, nehme ich meine Männer gerne wieder mit und überlasse Euch Eurem Schicksal, das in jedem Fall Euren Tod beinhaltet, entweder durch die Piraten oder den Sturm oder durch eines der Riffe.«

Eine Brise wehte ihr den salzigen Duft seiner Haut entgegen. Er besaß keine Fähigkeiten der Elemente, das hätte sie spätestens jetzt, so dicht vor ihm, bemerkt.

Er packte ihre Hand, mit der sie das Schwert beiseitegeschoben hatte. Das Blut aus der Schnittwunde lief ihr Handgelenk hinab. Interessiert betrachtete er es, bevor er ihr in die Augen sah. »Du bist impulsiv und unvernünftig. Wer sagt mir, dass ich dir vertrauen kann?«

Seine Worte brachten etwas in ihr zum Klingen. Er forschte aufmerksam in ihrem Gesicht, während seine Mundwinkel erneut zuckten, als hätte er einen Scherz gemacht, den sie kennen müsste.

Kurz schüttelte sie den Kopf. Sie hatte keine Zeit für dumme Spielchen. »Niemand. Aber hätte ich die Absicht, Euch zu schaden, dann hätte ich Euch einfach weiterhin Euren Kurs halten lassen, anstatt zurückzusegeln, mit dem Risiko, von Euch zu Kleinholz gemacht zu werden.«

»Es sei denn, das Wrack unseres gesunkenen Schiffes würde drohen, dir im nächsten Jahr die Zufahrt zur Passage zu verwehren. Wie viele Tage gewinnst du gegenüber den anderen Handelsschiffen?«

Sie musste grinsen. Blöd war ihr Gegenüber nicht. »Und schon habt Ihr die Gewissheit, dass Ihr mir vertrauen könnt.«

»Also gut. Wir folgen dir.«


Ihre Hand tat verflucht weh. Wortlos hatte ihr Andrés sein Halstuch gegeben, damit sie die Wunde verbinden konnte. Leichtsinn – ja, der hatte sie schon mehr als einmal fast das Leben gekostet. Dennoch schien sie nie wirklich etwas daraus zu lernen. Die Einfahrt in die Passage war verteufelt heikel gewesen. Zusätzlich erschwerten die aufgekommenen Sturmböen die Manöver. Doch hier zwischen den Inseln war das Fahrwasser ruhiger. Konzentriert steuerte sie die Sturmvogel, beeinflusste den Wind zu ihren Gunsten und musste es diesmal für zwei Schiffe bewerkstelligen. Das Kriegsschiff reagierte furchtbar träge. Rasch merkte sie, dass die Arbeit ihren Preis forderte.

Wortlos schob ihr Andrés ein Stück Zwieback und einige getrocknete Pflaumen zwischen die Zähne.

»Du hättest vorsichtiger sein müssen.«

»Ich weiß.«

»Wir sollten sie nicht unterschätzen.«

»Ich weiß.«

»Konntest du erkennen, wer es ist, der hinter den Forranern her ist?«

Sie wusste es, hätte sich aber eher die Zunge abgebissen, als es zu verraten. So wie jedes andere Handelsschiff, das die Route zum Festland wählte, bezahlten sie ihren Obolus an die Piraten, die sie dafür in Frieden ziehen ließen. Diese Vereinbarung hatte sie für ihr Handelshaus Etraderiaf ausgehandelt, und beide Seiten profitierten davon.

Wenn Leute auf so engem Raum so viele Wochen im Jahr zusammenhockten, kannten sie sich irgendwann in- und auswendig. Andrés interpretierte daher prompt ihr Schweigen und führte seinen Gedanken weiter aus: »Ich hoffe, wir gefährden das Abkommen nicht durch unser Eingreifen.«

»Lass das meine Sorge sein. Erst mal müssen wir zusehen, dass wir sicher nach Hause kommen.«

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte kurz zu. »Ich bin mir sicher, dass du uns auch diesmal gesund und wohlbehalten und wieder etwas reicher zu unseren Familien nach Hause bringst.«

Andrés grinste sie spitzbübisch an. »Solange du dein Temperament diesem Timbor gegenüber, der übrigens ein Offizier der Garde des Hohen Lords ist, im Zaum behältst … Und schlag ihn dir direkt aus dem Kopf. Ich glaube nicht, dass er Frauen mag, die wissen, was sie wollen.«

Sie schnaubte amüsiert aus. »Keine Sorge, er bekommt höchstens meine Fäuste zu spüren.«

»Oh nein! Weder das eine noch das andere! Versprich es bei deiner Ehre als Kapitän.«

»Kümmere du dich lieber darum, dass die Mannschaft spurt, anstatt mir langweilige Ratschläge zu erteilen.«

»Aye, Kapitän.«

Belustigt schüttelte sie den Kopf. Andrés hatte recht, der Mann reizte sie aus irgendeinem Grund. Allerdings hatte sie auch noch nie Geschick bei der Wahl ihrer Liebhaber bewiesen. Ständig brachte sie das in Schwierigkeiten, weil die Männer nie wirklich glaubten, dass sie einen eigenen Willen besaß und genügend Geld, um ihn sich auch leisten zu können. Nur im Bett waren sie alle gut gewesen.

Manchmal wünschte sie sich, dass sie ihren Kopf abschalten und unterwürfig sein könnte, aber das lag ihr nicht im Blut. Dieser Timbor mit den sonderbaren Augen … Timbor war ein geläufiger Name im einfachen Volk von Forran. Sie runzelte bei dem Gedanken die Stirn. Trug er keinen Titel oder gaben die Männer den beim Eintritt in die Garde ab? Sie konnte sich nicht mehr so recht an die Feinheiten der Gesellschaftsstrukturen in diesem Land erinnern. Zu lange lebte sie schon in Eldemar. Sie würde Mama oder Sanira fragen müssen. Die beschäftigten sich immer wieder mit solchen Sachen.

So sehr sie das Meer liebte, so sehr vermisste sie ihr Zuhause, wenn sie unterwegs war. Vor ihr lagen drei, vielleicht sogar vier Monate, die sie wieder mit Ricarda und Sanira zusammen verbringen konnte. Wie immer, wenn sie an die beiden dachte, fanden ihre Gedanken gleichzeitig zu den beiden anderen Menschen, die sie so sehr liebte und die sie zurückgelassen hatte. Es gab keinen Tag, an dem sie sich nicht danach sehnte, wieder mit ihnen vereint zu sein.


Sie erreichten sicher die Bucht der Insel Tonga und gingen vor Anker. Nachdem alle Segel eingeholt waren, schickte sie den Großteil der Mannschaft zum Ausruhen in die Quartiere. Ebenso sandte sie ein Boot zu dem Kriegsschiff, damit ihre Männer von dort abgeholt wurden. Sie hatte nicht vor, auch nur einen von ihnen bei den Forranern zu lassen. Der Ausflug auf die Insel zum Auffrischen ihrer Vorräte würde bis zum nächsten Tag warten müssen. Die Sturmwolken hatten die Abenddämmerung in dunkle Nacht verwandelt, doch Vivien fürchtete den Sturm nicht. Im Grunde war er ihr Freund, ihr Vertrauter und ihr Geliebter. Statt sich in ihre Kabine zurückzuziehen und dort zu schlafen, nahm sie ihre Hängematte und befestigte sie zwischen dem Besanmast und einem Pfosten, den sie dort extra hatte anbringen lassen. Sie warf sich schwungvoll in den festen Stoff, lauschte auf den Wind, ließ sich von ihm einhüllen, spürte, wie er über ihre Haut strich und mit ihren Haaren spielte. An die Knoten durfte sie gar nicht denken. Am besten wäre es, die Haare zu Hause einfach abzuschneiden, bevor ihre Mutter sie wieder mit einer Bürste bearbeiten wollte.

Die Sturmvogel schaukelte sanft auf den Wellen. Auf dem offenen Meer türmten sich die Wellen sicher schon meterhoch, doch hier in der Bucht bekamen sie nichts davon mit. Sie fragte sich, ob die Piraten umgekehrt waren, nachdem sie gemerkt hatten, dass ihnen die Beute entwischt war. Tief in ihrem Innern hoffte sie es. Lang genug hatte sie bei ihnen gelebt, und ohne die Piraten würde es sie heute nicht geben. Die Frage war, was die Forraner gemacht hatten, dass Jorge – so hieß das gewählte Oberhaupt der Piraten – drei seiner erfahrensten und kampferprobtesten Kapitäne zur Jagd hinter ihnen her schickte. Auch das war kein einfaches Unterfangen, denn obwohl er das Oberhaupt war, arbeitete doch jeder Pirat in seine eigene Tasche. Nur die Tatsache, dass auch Piraten Familien hatten und es einfacher war, diese gemeinsam an einem Ort zu beschützen, ließ die Männer zusammenarbeiten. Die Insel der Verbannten – so nannten sie ihren Heimatort. Noch im Grübeln fielen Vivien die Augen zu.


Sie hockte hinter den Fässern im Lagerhaus, die Hand auf den Mund gepresst, damit ihr kein Laut über die Lippen kam. Erst vor Kurzem hatte sie Tamara kennengelernt, eine geborene Mintranerin und Tochter des Elementes Feuer, die aus Tarieken nach Eldemar in die Stadt Tinau gekommen war. Sie hatte ihr gezeigt, wie sie die Flammen beherrschte, doch das hatte Vivien kaum beeindruckt. Trotz ihres Alters von knapp dreiundzwanzig Jahren verfügte Tamara nicht annähernd über die Fähigkeiten, die Viviens Freundin Eiméar schon als Dreijährige gezeigt hatte. Dafür war ihr Charakter von ihrem Element geprägt. Hitzig war sie, zornig, und sie beherrschte den Schwertkampf. Das machte sie in Viviens Augen zu einer ausgezeichneten Lehrerin für sie. Vor ihrer Mutter und Sanira hielt sie ihre Freundschaft geheim. Beide hatten sie schon hundertmal gemahnt, sich von jedem Mintraner und jeder Mintranerin fernzuhalten, aber Tamara hatte Vivien angezogen wie das Licht die Motte in der Nacht. Sie war mit einem Auftrag nach Tinau gekommen, welchem, das wollte sie Vivien nicht verraten. Sie erschien ihr so mutig und unerschrocken und wie jemand, der seinen Weg wählt, ohne sich zu verstecken, so wie sie drei es in den letzten Jahren getan hatten.

Ihre Mutter arbeitete inzwischen als Köchin bei einer reichen Kaufmannsfamilie und sorgte damit für ihrer aller Lebensunterhalt, während Sanira sich um Viviens Ausbildung kümmerte. Zu dritt bewohnten sie ein kleines Zimmer in der Nähe des Hafens. Hin und wieder übernahm die Meisterin eine Näharbeit, um ein kleines Zubrot zu verdienen, und Vivien half ihr dabei.

Auf einer ihrer vielen Botengänge war sie Tamara begegnet, die sofort erkannt hatte, dass Vivien auch ein Kind der Elemente war. Wie Vivien es liebte, mit Tamara zu reden und die Schwertkunst zu erlernen! Sie erfuhr, dass in Tarieken die Frauen gesellschaftlich noch viel schlechter gestellt waren als in Forran. Und dabei hatte sie gedacht, in Forran wäre es schon schlimm. Das war der Grund gewesen, dass sie schließlich nach Eldemar gezogen waren. Hier konnten Frauen wenigstens für einen Lohn arbeiten und waren auf keinen Mann angewiesen. In Mintra hatte Vivien nie das Gefühl gekannt, als Mädchen weniger wertgeschätzt zu werden als ein Junge, im Gegenteil, dort wurden viele Frauen überaus hoch geschätzt. Man brauchte dort auch kein Geld, um zu leben. Das Essen lieferte einem die Natur, der eigene Fleiß und der eigenen Hände Arbeit. Jeder trug nach Kräften zum Wohl der Gemeinschaft bei. Selbst Tamara, die Mintra aus eigenem Entschluss verlassen hatte, hatte sich in die Heimat zurückgesehnt. Und als Vivien sie gefragt hatte, warum sie nicht nach Hause ging, hatte sie sie traurig angesehen. Erst müsste sie etwas erledigen, dann würde sie nach Mintra zurückkehren.

Sie hatte ihr auch erklärt, warum in Eldemar nur der Gott Lethos in einem Tempel verehrt wurde, wohingegen Lishar ein Schattendasein fristete. Aber immerhin fristete sie überhaupt ein Dasein, wie Tamara betonte, denn weder in Forran noch in Tarieken existierte die Göttin für die Menschen. Dass nur Lethos verehrt wurde, hob den Mann in eine Stellung, die Gott ebenbürtig war. Frauen hingegen hatten dem Gott zu dienen. Lächerlich war das, einfach nur lächerlich. Wer gebar denn Leben? Männer oder Frauen?

Das Königsgeschlecht von Bersaken, das seit Urzeiten in Eldemar herrschte, führte seine Abstammung auf Lethos zurück. Dasselbe taten die Tarieken, und deshalb lebten beide Völker ständig im Krieg miteinander. Die Linie des Hohen Lords von Forran hingegen ließ sich auf Sigur zurückführen, der einst in Mintra geboren worden war, einen Sohn des Elementes Luft mit ungewöhnlich starken Kräften für einen Mann. Er nutzte seine Fähigkeit, um sich an die Spitze des Landes Alurin zu setzen. Er wollte sowohl Eldemar als auch Tarieken seinem Willen unterwerfen, was ihm anfangs auch gelang. Dadurch war das dritte Herrschaftsgebiet auf Alurin, Forran, erst entstanden. Nach seinem Tod holten sich die Eldemarer einen Teil ihres Landes wieder zurück, und seitdem herrschte zwischen den drei Völkern immer wieder Krieg. Nur die Mintraner hatten sich in den letzten Jahrzehnten aus allen Streitigkeiten herausgehalten und sich in ein kleines Gebiet am Fuß des Asambra zurückgezogen. Das Land war auf drei Seiten vom Meer umgeben. Ihre Grenze nach Forran umgaben sie mit einem Schutzwall, den sie so geschaffen hatten, dass nur Mintraner ihn durchschreiten konnten. Alle anderen wanderten an dem Gebiet vorbei, ohne es je betreten zu können. Als Kind war Vivien das nie richtig bewusst geworden. Erst die Gespräche mit Tamara riefen ihr all die geschichtlichen Zusammenhänge wieder ins Gedächtnis.

Die Mintranerin Tamara war eine bildschöne Frau, die die Aufmerksamkeit vieler Männer auf sich zog, doch ihr Interesse galt nur einem – Prinz Tarkan, dem Thronfolger von Eldemar. Als er die Stadt Tinau besuchte, nutzte Tamara die Gelegenheit. Es gelang ihr mühelos, sein Interesse zu wecken – sehr zum Missfallen von Vivien, die selbst im Stillen den Prinzen anbetete. Er stellte ein Ebenbild des Gottes Lethos dar, wenn man sich an dessen Statue im Tempel von Tinau orientieren konnte. Immerhin waren Luft und Feuer seine Elemente, Wasser und Erde dagegen die Elemente der Göttin Lishar. Musste sich der Prinz dann nicht eher zu einer der Töchter von Luft und Feuer hingezogen fühlen? In ihrer Eifersucht war Vivien Tamara in den Tempel gefolgt, als sie zu einem heimlich verabredeten Treffen mit dem Dunklen Prinzen, wie ihn das einfache Volk nannte, ging.

Vivien hatte im Hafen Geschichten über Tarkan gehört, die erklärten, weshalb er so genannt wurde. Doch keine kam annähernd an das heran, was sie erlebte.

Im Tempel hatte sie gesehen, wie eine verschleierte Frau Tamara ein Glas mit dem Saft aus Lethos’ Lenden reichte. Eine widerliche Vorstellung in Viviens Augen, auch wenn sie wusste, dass es sich nur um Bananensaft, gemischt mit Zitrone und Wasser aus der Quelle im Tempel handelte. Genauso irritierend fand sie die Regel, dass Frauen den Tempel nur verschleiert betreten durften, da allein ihr Anblick eine Sünde bedeutete. Immerhin hatte die Göttin Lishar versucht, Lethos zu verführen, um ihn vom göttlichen Weg abzulenken. Kaum hatte Tamara das Glas geleert, war sie zusammengebrochen. Vier Frauen hatten sie in eine Kammer gebracht, und bevor Vivien zu ihnen gelangen konnte, waren Krieger des Inneren Kreises, offensichtlich die Leibwache der Königsfamilie von Bersaken, aufgetaucht. Jeder aus dieser Eliteeinheit konnte es mit fünf normalen Soldaten aufnehmen. Das waren keine Leute, mit denen man sich als Jugendliche anlegte.

Leise wie ein Windhauch war sie den Männern gefolgt, die Tamara über einen Nebenweg, der weitab vom üblichen Pilgerpfad zum Tempel verlief, wegschafften. Dass sie unbemerkt blieb, verdankte sie zum einen ihrer Fähigkeit, sich flink huschend wie ein kleines Mäuschen durch die Gebüsche zu bewegen, zum anderen ihrem Element Luft, das ihr erlaubte, einen großen Abstand einzuhalten, ohne die Spur zu verlieren.

Jetzt saß sie hier hinter den Fässern im Lagerhaus und wünschte sich, sie wäre den Männern nie gefolgt. Das gesamte Gebäude war von Soldaten umzingelt und abgeschottet worden, sodass es selbst einer Maus nicht mehr gelungen wäre, unbemerkt hinauszuflitzen. Selbst diese winzigen Wesen hatten sich angesichts der Männer in ihren Löchern verkrochen. Viel schlimmer jedoch, als unbemerkt gefangen worden zu sein, war das Entsetzen vor dem, was sich vor ihr abspielte.

Sie hatten Tamara Eisenringe umgelegt und ihr das Amulett abgenommen – allein das hätte niemals möglich sein dürfen, denn das Amulett war mit seiner Trägerin durch Blut und die Energie der Elemente untrennbar verbunden. Wenn die Trägerin eines Amuletts starb, dann erlosch ihr Stein und mit ihm seine Kraft. Vivien wusste nicht, ob es mit dem Eisen zusammenhing oder mit der schwarzen Flüssigkeit, die man Tamara gewaltsam einflößte. Die junge Mintranerin schrie und zuckte unkontrolliert, als würde sie von innen zerrissen. Ständig erbrach sie die Flüssigkeit wieder. Es stank bestialisch.

Vivien kämpfte gegen den Würgereiz an, da sie durch ihr Element besonders empfindlich gegenüber Gerüchen war. Prinz Tarkan hockte auf einem bequemen Stuhl, den man ihm aufgestellt hatte, und beobachtete mit einem interessierten Lächeln um die Lippen, wie die Frau gequält wurde. Noch nie war Vivien ihrem Angebeteten so nahe gewesen. Es hatte sie in einer Art erregt, die ihr ein wenig Unbehagen bereitete. Doch dieses Gefühl war ihr vergangen, als er den Befehl gab, Tamara mit der Flüssigkeit zu foltern.

Er selbst hatte ihrer Freundin das Amulett abgenommen. Es pendelte in seiner Hand hin und her, pechschwarz statt rot glühend, tot, obwohl der Mensch, der es mit Leben erfüllt hatte, noch lebendig war. Die Frage war nur, wie lange Tamara noch leben würde.

Sie musste etwas tun. Nur was? Wie sollte sie allein als Mädchen gegen zwanzig Krieger des Inneren Kreises ankommen? Erneut zwang man Tamara die Flüssigkeit in den Mund. Sie weigerte sich mit aller Kraft, zu trinken. Die Männer hielten sie fest. Einer hielt ihr die Nase zu. Es war ein Kampf zwischen zwei willensstarken Menschen, Tamara, die scheinbar lieber ersticken wollte als nachzugeben, und dem Krieger, der sie ungerührt betrachtete, während er ihr die Nase zuhielt und darauf wartete, dass sie nach Luft schnappen würde.

In dem Mann hatte Vivien die leichte Vibration des Elementes Wasser wahrgenommen, aber er schien nicht annähernd in der Lage zu sein, es zu beherrschen, sonst hätte er Tamara die Flüssigkeit auf ganz andere Art und Weise einflößen können. Allein der Gedanke, die Macht der Elemente so zu missbrauchen, ließ sie erzittern.

»Scheint, als würde es nur ein kurzer Versuch werden.«

Die dunkle Stimme von Prinz Tarkan schickte Vivien einen wohligen Schauer über den Rücken. Gleichzeitig schämte sie sich für ihre Gefühle einem Mann gegenüber, der so grausam eine Frau aus ihrem Volk quälte.

»Sie ist schwach, dafür aber willensstark. Gebt mir noch ein wenig Zeit. Noch kämpft sie dagegen an, aber die Dunkelheit setzt sich bereits in ihr fest, oder seid Ihr anderer Meinung?«

Der Prinz stand auf und näherte sich der Frau, die überrascht von seinem Anblick nach Luft schnappte. Das führte dazu, dass man ihr einen weiteren Schwall dunkler Flüssigkeit in den Schlund schüttete.

»Hm, du hast recht.«

Kälte und absolute Dunkelheit durchschnitten die Luft. Tentakeln gleich kamen sie aus Tarkan heraus und wanden sich um die Frau. Vivien hörte ein Wispern von vielzähligen Stimmen. Die Luft floh vor der Schwärze. Angst umklammerte Viviens Herz, und Panik rauschte durch ihre Sinne. Töte mich. Töte mich. Töte mich, ich bitte dich, wisperte ihr der Wind entgegen. Sie schloss die Augen, presste ihren Rücken noch stärker gegen die Wand, während sie für einen Moment eins wurde mit Tamaras Qualen. Ihr Amulett reagierte von selbst, legte ein schützendes Energiefeld um sie und unterbrach den Kontakt zur Außenwelt.

»Und wen haben wir da?«

Mit eisernem Griff packte Prinz Tarkan sie im Nacken und zerrte sie aus ihrem Versteck in die Mitte der Lagerhalle.

»Ein Junge«, hörte sie den Mann verblüfft sagen, der Tamara die Flüssigkeit eintrichterte.

Der Prinz stieß ein amüsiertes Lachen aus. »Lass dich nicht von der Kleidung und den kurzen Haaren täuschen, mein guter Veran. Das hier ist ein Mädchen, wenn auch ein ziemlich schmächtiges, und seht, was es um den Hals trägt.«

Er schüttelte sie im Nacken, dann schrie er auf und ließ sie fallen. Dort, wo ihn zuvor eine Aura von Dunkelheit umgeben hatte, leuchtete ein strahlendes Licht auf seiner Hand. Wenn er glaubte, sie würde sich ihm kampflos ergeben, hatte er sich geirrt. Vivien sammelte ihre Kräfte um sich, hüllte ihren Körper in einen Schutzschild, den niemand, auch nicht die Dunkelheit, durchdringen würde.

Sie sprang auf die Füße, ballte die Fäuste und positionierte sich drohend vor dem angebeteten Helden, der auf einmal jeden Glanz verloren hatte. »Lasst sie sofort gehen!«, fauchte sie die Krieger an.

Für einen Moment herrschte Stille, dann brachen die Männer in Gelächter aus. Aber das war ihr egal. Sie duckte sich, ging in die Knie, wie Sanira es ihr beigebracht hatte.

So wie der Geist geschult werden musste, so musste der Körper geschult werden. Seit sie Mintra verlassen hatte, trainierte ihre Meisterin sie in der Beherrschung des Körpers, der Verteidigung gegen Angriffe und den Figuren ihres Elementes Luft. In den Gassen der Hafenstadt Brycgstow hatte sie gelernt, sich mit den Fäusten zu verteidigen. Inzwischen wusste jeder, dass man sich mit Vivien nicht anlegen sollte. Sie war flink, kräftig und kannte jeden dreckigen Trick. Es befriedigte sie ungemein, wenn sie sich in einem Zweikampf austoben durfte, egal, ob Ricarda und Sanira sie am Ende bestraften. Vivien wusste, dass sie gegen den kampfgestählten Mann vor sich nicht den Hauch einer Chance hatte, ganz zu schweigen von der Übermacht der Soldaten. Aber sie hatte gelernt, dass ihr oft schon das Selbstbewusstsein und die Bereitschaft, anzugreifen, einen Vorteil verschafften. Sie wollte nur hier raus. Und was die Männer nicht wussten, war, dass sie Luft unter sich gesammelt hatte und bereit war, sich davon nach oben katapultieren zu lassen. Aber wenn sie das tat, musste sie Tamara ihrem Schicksal überlassen, und dazu war sie nicht bereit.

Amüsiert schüttelte der Prinz den Kopf. »Schaut sie euch an, die Kleine meint es tatsächlich ernst, Männer.«

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als er sie umkreiste. Aus seinen Bewegungen würde sie erkennen, wann er zuschlagen würde, doch sie dachte überhaupt nicht daran, es so weit kommen zu lassen. Tamara, die erneut von Krämpfen geschüttelt wurde, beachtete keiner mehr. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Vivien. Ihr blieb genau eine Chance.

Bevor der Prinz verstand, was geschah, war sie blitzschnell auf ihn zugestürzt, doch ihre Faust landete weder in seinem Gesicht noch in seinem Magen, sondern an seiner empfindlichsten Stelle. Mit einem Schmerzschrei brach er zusammen, und gleichzeitig entriss sie ihm das Amulett.

Eisige Kälte kroch ihre Hand empor, doch sie hielt es weiter fest umklammert. Wie erwartet, eilten die Männer von Tamara weg auf sie zu, während Veran zu dem Prinzen hinstürzte, dessen Schreie sich in einen Ausdruck nackter, kalter Wut wandelten. Wieselflink wich Vivien ihren Häschern aus, rannte auf Tamara zu und umschlang sie mit aller Kraft. Sie schloss die Augen und konzentrierte ihre ganze Energie darauf, die Luft unter sich zu ballen. Sie schuf eine Windhose, die um sie herumwirbelte. Der Stuhl, Kisten und Säcke wurden zur Seite gedrückt, genauso die Männer, die versuchten, zu ihr zu gelangen. Langsam erhob sie sich mit Tamara in die Luft und ließ alle Energiereserven ihres Körpers in das Element fließen.

Kurz bevor sie das Dach erreichten, geschah es. Dunkelheit floss um sie herum und tauchte alles in ein schwarzes Nichts. Selbst der Wind wurde von ihr zusammengepresst, und unerbittlich näherte sie sich den beiden Mädchen. Tamaras totes Amulett wurde so kalt, dass Vivien glaubte, ihre Hand würde zu Eis gefrieren. Voller Entsetzen ließ sie es fallen. In dem Augenblick, als es den Boden berührte, regte sich Tamara in ihren Armen, öffnete die Augen, und pure Schwärze schoss daraus hervor, legte sich um Viviens Hals und drückte zu.

»Hör auf, ich will dir helfen!«

Ein irres Lachen war die Antwort. Vivien spürte, wie ihre Kräfte nachließen und die Dunkelheit unerbittlich an ihr zerrte und versuchte, in sie einzudringen. Langsam sanken sie nach unten, während die Kraft des Windes abebbte. Sie wusste, dass sie keine Wahl mehr hatte. Es gab nur eine Entscheidung, aber die zerriss ihr schier das Herz. Tränen liefen ihre Wangen herab. Schon glaubte sie, die Hände der Männer zu spüren, die nach ihr griffen.

»Es tut mir leid«, wisperte sie, und damit ließ sie Tamara fallen. Wie eine Kanonenkugel katapultierte sie sich mit einer letzten Kraftanstrengung durch die Decke, verschränkte dabei schützend die Arme über ihrem Kopf. Dann fiel sie, und mit einem Aufplatschen landete sie im Wasser. Sie wusste, sie war noch lange nicht in Sicherheit, doch es war auch nicht das erste Mal, dass sie auf der Flucht war.


Mit einem Ruck wachte Vivien auf. Ihre Hand glitt an ihr Amulett. Sie war mit kaltem Schweiß bedeckt. Warm glühte der Kristall, der in den Feuern des Asambra geschmiedet worden war, unter ihren Fingern. Sie griff nach dem zweiten Stein, den sie in der Hosentasche trug, seit sie Leila verlassen hatte. Auch er spendete ihr Wärme. Es war lange her, dass sie von den Ereignissen im Lagerhaus geträumt hatte, und noch nie hatte es sich so lebendig angefühlt. Noch immer konnte sie die Kälte spüren, den Würgegriff der Dunkelheit an ihrem Hals.

»Alles in Ordnung, Kapitän?« Jannis hockte sich vor sie hin und schaute besorgt.

Sie richtete sich vorsichtig in der Hängematte auf, spürte jeden einzelnen Muskel, so wie damals, als sie gegen die Dunkelheit angekämpft hatte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Innern aus und bildete einen harten Klumpen in ihrem Magen.

»Wir müssen zusehen, dass wir nach Hause kommen.«

3

Tonga

Sie stand auf und löste die Haken der Hängematte von den Pfosten. Ihr Erster Offizier machte keine Anstalten zu gehen. Innerlich seufzend wandte sie sich ihm zu. Es gab genug, was ihr im Kopf herumspukte. Sie hatte keine Lust auf weitere Probleme.

»Was hast du auf dem Herzen, Jannis?«

Er zögerte mit der Antwort. »Du hast im Traum gesprochen.«

Konzentriert faltete sie die Hängematte zu einem kleinen Bündel zusammen.

»Konntest du etwas verstehen?«

»Ja.«

»Spuck’s aus, bevor es dir im Hals hängen bleibt.«

»Töte mich. Bitte töte mich.«

Das war Tamaras Bitte gewesen. Vivien hatte gedacht, genau das getan zu haben, indem sie Tamara bei den Männern zurückließ, aber ihre ehemalige Freundin hatte die Tortur überlebt. Viele Jahre später war sie ihr in Tinau begegnet. Es war nach ihrer Zeit bei den Piraten gewesen, bei denen sie Zuflucht vor Tarkans Wut gefunden hatte. Ein Jahr nach dem Tod des Prinzen hatte sie angefangen, ihr Handelsimperium aufzubauen. Wissen war zu ihrer mächtigsten Waffe geworden, ein Netzwerk von Kontakten zur zweitmächtigsten. Mochte sie auch nicht in den elitären Kreisen der Gesellschaft verkehren, so war sie doch bei denjenigen, die für ihre Herren Ware einkauften, bestens für deren Hochwertigkeit und faire Preise bekannt. Pures Glück hatte ihr das Wohlwollen der Königsfamilie von Eldemar zugespielt. Prinz Thelos, der in der Rangfolge nach Tarkan kam, war ein Mann der Beziehungen und nicht der Kriege, aber Sonas, der dritte Sohn, passte in die Linie derer von Bersaken. Er hatte dieselbe Ähnlichkeit mit der Statue des Lethos wie sein Halbbruder Tarkan, nur mit zwei wesentlichen Unterschieden: Er war blond und von ehrenhaftem Charakter. Dennoch hatte Vivien immer Abstand zu ihm gewahrt und war ihm tunlichst aus dem Weg gegangen, wenn er mit seinen Männern in Tinau weilte.

Sie hatte Tamara eines Tages in Begleitung eines Kriegers des Inneren Kreises gesehen und erfahren, dass sie die Ehefrau von Calvin von Lemur geworden war. Damit ihre Seele Frieden fand, hatte Vivien es geschickt eingefädelt, ihr auf einem Fest zu begegnen. Tamara hatte sie nicht erkannt. Wie auch? Damals war sie eine schmächtige Jugendliche mit verfilzten Haaren gewesen und noch keine Frau, die durch ihr Geld und ihre Beziehung zum Königshaus Macht, Ansehen und Einfluss besaß. Als sie Tamara berührt hatte, stellte sie mit Entsetzen fest, dass sie nichts fühlte, nicht einmal mehr ein winziges Echo eines Elementes. Ihre Augen blickten leblos. Ihr Kampfgeist war vollkommen zerbrochen. Die Frau vor ihr hatte außer in ihrem Aussehen nichts mehr mit dem Menschen gemein, den sie einst bewundert hatte.

»Ich hatte einen Albtraum.«

»In dem du darum batest, getötet zu werden …«

Ruhig sah sie ihn an. Sie mochte Jannis, der sie einst in seiner stillen Art umworben hatte. Doch er war kein Mann für sie, und das hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben. Inzwischen war er mit Leticia verheiratet und Vater eines Sohnes und einer Tochter. Geblieben war eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen.

»Manchmal ist der Tod die bessere Wahl als das Leben.«

Bevor er sich abwenden konnte, sah sie den Schock, den ihre Aussage in ihm auslöste. Warum hatte er sie auch gefragt?

»Sag den anderen Bescheid, dass wir gemeinsam essen und unsere Lage durchgehen, aber zuerst brauche ich eine Erfrischung.«

»Aye, Kapitän.«


Gekonnt balancierte sie die Schaukelbewegungen der Sturmvogel aus. Sie stand auf dem Großrahmast, der am weitesten über den Schiffsrand hinausragte. Der Wind wirbelte um sie herum und entlockte ihr ein Grinsen. Sie breitete die Arme aus, dann ließ sie sich fallen. Sie schlug erst mehrere Salti, bevor sie im letzten Moment die Arme ausstreckte, mit den Fingerspitzen die Wasseroberfläche durchbrach und durch das kalte Meerwasser rauschte, bis sie den Grund erreichte. Wasser und Luft waren ein Paar, so wie Feuer und Erde. Luft war auch im Wasser, und alles, was das Feuer fraß, wurde zu Erde. Obwohl Vivien das Element nicht beeinflussen konnte, fühlte sie sich darin heimisch. Sie hatte damals, in der Nacht, als sie vor Prinz Tarkans Häschern geflüchtet war, sogar gelernt, dem Wasser Luft zu entziehen, sodass sie länger unter Wasser bleiben konnte als jeder andere Mensch. Mit Bedauern tauchte sie wieder auf. Am liebsten wäre sie länger unter Wasser geblieben, doch die Pflicht rief. Es galt, ihre Männer sicher zu ihren Familien zu bringen. Jannis hatte an der Bordwand ein Seil herabgelassen, an dem sie geschwind hochkletterte.

Die Führungsmannschaft erwartete sie im großen Essraum, der neben ihrer Kabine lag. Viel gab es nicht zu essen. Nach der langen Zeit auf See waren ihre Vorräte erschöpft und dem Standardessen gewichen: Schiffszwieback, Dörrobst, Dörrfleisch, Getreidebrei und Wasser, gemischt mit Zitronensaft. Das einzig Frische, das es ab und zu gab, waren frisch gefangener Fisch und die Eier von den Hühnern, die sie unter Deck hielten.

»Für wie viele Tage reichen unsere Vorräte noch?«

»Zehn Tage maximal«, antwortete Andrés, der als Zweiter Offizier für die Verpflegung der sechzigköpfigen Mannschaft an Bord zuständig war.

»Wie ist der Zustand der Sturmvogel?«, wandte sie sich an Greg, den Oberzimmermann an Bord.

»Ich möchte die Zeit gern für ein paar Reparaturarbeiten nutzen. Die Reling der Luvseite muss ausgebessert werden, und den Vorderbramrah möchte ich mir genauer ansehen. Nach Eurem letzten Manöver … Er hat verdammt geknirscht.«

»Der Klüver hat auch was abbekommen und das Besansegel hat einen Riss«, meldete sich Maltin, der Segelmacher, zu Wort.

Nie gab es auf diesem Schiff mal nichts zu tun.

»Wie sieht die Stimmung bei der Mannschaft aus?«

Brian, der Hauptbootsmaat, fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Locken. Er war ein Bär von Mann, am Oberkörper genauso behaart wie auf seinem Haupt. Trotz seines düsteren Aussehens war er eine Seele von Mann.

»Auf der einen Seite tut ihnen eine Pause gut, allerdings nur, wenn wir die Verpflegung auffrischen können und Landgang einbauen. Auf der anderen Seite wollen alle nach Hause, und die Angst vor den Winterstürmen sitzt ihnen im Nacken.«

»Wie sieht es mit dem Gesundheitszustand aus?«

»Erstaunlich gut, obwohl es unsere letzte Fahrt ist. Sechs Schiffsjungen mit Prellungen durch dein letztes Manöver, der Smutje hat sich die Hand verbrannt, vier Matrosen liegen mit Fieber flach, und ein gebrochener Arm …«

Sie hob die Hand. »Lass mich raten – aufgrund meines letzten Manövers.«

Raues Gelächter aus der Runde war die Antwort. Sie liebte ihre Männer, jeden Einzelnen in seiner bärbeißigen Art. Der Ton auf See war hart. Sie durfte sich vor ihnen keinen Fehler erlauben, aber dafür hätte sie jedem von ihnen blind ihr Leben anvertraut.

»Also gut. Andrés, du arbeitest mit den Männern einen Plan für den Landgang aus. Greg, du musst sagen, was für Holz du für die Reparaturen brauchst. Ich möchte, wenn möglich, frisches verwenden, anstatt auf unseren Vorrat zurückzugreifen. Ich werde mir mit einer Gruppe von Männern anschauen, was die Insel Essbares für uns bereithält. Jannis, du nimmst Kontakt zu den Forranern auf und fragst, ob sie Unterstützung brauchen. Das klärst du dann mit Greg und Maltin ab. Priorität hat, dass wir das Kriegsschiff in Schwung bekommen.«

Sie sah auffordernd in die Runde, doch die Männer blieben sitzen. Die meisten wichen dem direkten Blickkontakt aus, weshalb sie sich schließlich an Jannis wandte, den Sprecher der Mannschaft für alle heiklen Angelegenheiten.

Er zuckte mit den Achseln. »Wir machen uns wegen der Piraten Sorgen. Wenn sie vor dem Eingang der Passage auf uns warten, haben wir mit unseren vier Kanonen am Bug keine Chance gegen sie.«

»Ich habe nicht vor, zu kämpfen.«

Fragend richteten sich die Blicke aller Anwesenden auf sie.

»Lasst die Piraten meine Sorge sein. Kümmert ihr euch um den Rest.«

»Aye, Kapitän.«

Doch sie hörte die Zweifel in den Stimmen ihrer Führungsmannschaft.


Die Insel hatte reichlich zu bieten – von Beeren und Früchten über Samen bis hin zu Tieren. Vivien hatte das Jagen von ihrem Vater gelernt und achtete auch bei ihren Männern darauf, dass sie schnell und ohne Schmerzen zu bereiten töteten. Als sie das Wildschwein erlegt hatte, sprach sie stumm das Gebet an Lishar für alles Leben, das sie genommen hatte.

Die Bewegung hatte ihnen allen gutgetan, aber noch viel mehr der Abstand zueinander. Sie hatte Greg damit beauftragt, für eines der Ruderboote einen Mast zu bauen und es mit einem Segel auszustatten. Damit wollte sie am Nachmittag zu einer Erkundungsfahrt aufbrechen. Sie musste wissen, ob die Piraten auf sie warteten, und wenn ja, weshalb. Nur so konnte sie herausfinden, ob es eine Möglichkeit für Verhandlungen gab. Und wenn nicht? Nun, darüber konnte sie später nachgrübeln.

Wieder zurück am Strand hatte sie das Gefühl, in einem Dorf aus Zelten gelandet zu sein. Mehr als dreihundert Mann tummelten sich auf der Fläche. Sie und ihre Mannschaft waren nicht die Einzigen, die die Zeit sinnvoll nutzten. Die Forraner hatten einen langen Baum gefällt. Greg besah sich gemeinsam mit einem der Männer, der sein Hemd ausgezogen hatte und seinen muskelbepackten Oberkörper zeigte, den Stamm von beiden Seiten. Jannis stand mit dem Offizier zusammen, der seine Uniform gegen eine dunkelbraune Lederhose, ein Hemd und eine dicke Weste getauscht hatte. Nach dem Sturm war der Himmel wolkenfrei und die Sonne hatte die Luft erwärmt, sodass auch andere Männer sich ihrer Jacken entledigt hatten und nur Westen über ihren Hemden trugen.

Als Jannis sie entdeckte, unterbrach er das Gespräch und kam zu ihr herüber. Der Blick des Offiziers folgte ihm. Jannis nahm Vivien die Beute ab, reichte sie an Oskar, einen ihrer Schiffsjungen, weiter und drehte Vivien mit der Hand auf ihrer Schulter wieder in Richtung Wald.

»Was ist?«

Besorgt sah sich Jannis um. Mehr als ein Forraner beobachtete sie. »Es ist besser, du läufst nicht hier herum.«

Sie stemmte die Füße in den Boden und sah ihn belustigt an. »Du weißt, dass ich mich zur Wehr setzen kann.«

»Hier laufen mehr als dreihundertfünfzig Mann herum.«

Sie hatte mit ihrer Schätzung wohl ein wenig falsch gelegen. Es mussten sich wohl noch einige in den Zelten aufhalten.

»Und auch wenn sicherlich einige von ihnen männliche Gesellschaft bevorzugen, gibt es noch genügend, die ein Auge auf dich werfen werden.«

»Du machst dir ernsthaft Sorgen?«

»Nicht nur ich.« Er blickte zurück zu dem Offizier. »Er hat gesagt, dass es ihm lieber wäre, wenn du dich auf die Sturmvogel zurückziehst.«

»Lieber wäre? Waren das exakt seine Worte?«

Verlegen senkte Jannis den Blick.

»Dacht ich es mir doch. Nun ja, ihr braucht euch keine Gedanken machen. Sobald mir Elias ein reichhaltiges Mahl zubereitet hat, ich was gegessen, meine Wasserhaut aufgefüllt und ein paar Essensvorräte gepackt habe, bin ich auf dem Weg. Hatte Greg schon Zeit für mein kleines Segelboot?«

»Ja, er hat es auf meine Anweisung als Erstes fertiggestellt. Es befindet sich bereits in der kleinen Bucht jenseits des Felsens.«

Sie gab ihrem Ersten Offizier einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Er folgte ihr, als sie den Weg zur Bucht einschlug. Sie mussten zuerst das Lager der Eldemarer durchqueren, das näher an der Bucht lag.

»Ich werde Wachen aufstellen lassen, bis du aufbrichst. Und du willst wirklich ohne Begleitung los? Was, wenn die Piraten ebenfalls einen Erkundungstrupp losgeschickt haben?«

»Dann bin ich allein besser aufgestellt als mit einem Haufen Männer, die vor lauter Furcht auf alles schießen, was sich bewegt.«

»Dann lass wenigstens mich dich begleiten.«

»Nein, ich brauche dich hier. Hast du was aus dem Forraner rausbekommen?«

»Weshalb die Piraten hinter denen her sind?«

»Ja.«

»Nein. Er ist äußerst vorsichtig mit dem, was er sagt«, mit einer knappen Kopfbewegung und einem Grinsen deutete er auf Greg, »doch wie du siehst, versuchen wir es auf anderem Weg.«

»Seid vorsichtig. Unsere Mannschaft ist gerade mal sechzig Mann stark, während die Neptun locker mit achthundert Mann Besatzung segelt. Das ist keine ausgeglichene Zahl.«

»Du vergisst, dass wir alle unter dir dienen.«

Sie grinste. »Du bleibst ein alter Schmeichler.«

Inzwischen hatten sie die Bucht erreicht, in der das kleine Segelboot lag. Greg hatte ganze Arbeit geleistet. Er hatte eine kleine Bank ins Heck gebaut und ein Ruder angebracht, mit dem sie das Boot steuern konnte. Am Mast befanden sich zwei Seile, die er durch die Ruderringe geführt hatte. Mit ihnen konnte sie den Stand des Segels von der Bank aus verändern.

»Du bleibst hier und richtest dich ein. Ich schicke dir Oskar mit dem Essen, sobald es fertig ist, und dann brichst du auf.«

»Aye.«

Es entlockte ihm nur ein schwaches Grinsen. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn blieben erhalten. Sie setzte sich auf den Felsen, der dem Boot am nächsten lag. Die Sonne hatte den Stein aufgeheizt. Sie suchte sich eine angenehme Liegeposition und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Wie sollte sie das kleine Segelboot nennen? Sturmküken? Nein, das klang irgendwie lächerlich. Sturmmöwe? Hm, besser, aber immer noch nicht der richtige Name. Beim Nachdenken döste sie ein.


»Ich korrigiere mich, du bist nicht nur impulsiv und unvernünftig, sondern auch leichtsinnig und viel zu vertrauensvoll. Ist dir eigentlich bewusst, dass hier knapp vierhundert Männer herumlaufen, die alle seit über zwei Monaten keine Frau gesehen haben?«

Sie blinzelte leicht und drehte sich auf die Seite. »Hallo, Oskar.«

»Oskar?«

Amüsiert nahm sie seine Verwirrung wahr. Er konnte den Witz natürlich nicht verstehen, weil er ja nicht wusste, dass Jannis ihr gesagt hatte, Oskar werde das Essen vorbeibringen. Sie hatte den Offizier der Garde längst bemerkt, noch bevor er sie erreichte. Seit ihrer Flucht aus Mintra lebte sie in ständiger Wachsamkeit. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt völlig entspannt geschlafen hatte. Sie war immer auf der Hut.

»Du hast bestimmt Hunger«, stellte er fest und setzte sich neben sie.

»Mhm«, murmelte sie zum Schein verschlafen.

Er wollte etwas von ihr, das spürte sie. Doch auch sie wollte etwas von ihm. So zu tun, als würde sie sich überhaupt nicht für ihn interessieren, brachte sie erfahrungsgemäß rascher an ihr Ziel. So schätzte sie den Mann jedenfalls ein. Sie drehte sich im Liegen um und wandte ihm den Rücken zu. Wenn er glaubte, sie hätte Angst vor ihm oder auch nur einem seiner Männer, hatte er sich geschnitten. Von dem Duft des Essens, das er mitgebracht hatte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ihr Magen grummelte leise.

Er schwieg. Verdammt, sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Das passierte ihr selten. Gerade als sie die Geduld verlor und sich ihm zuwenden wollte, fing er an zu reden.

»Du hast mich nicht erkannt, aber ich hätte dich ohne Probleme aus Hunderten von Frauen herausgepickt.«

Sie schlug die Augen auf und starrte den Felsen an. – Erkannt?

»Du warst so geschickt und furchtlos. Damals dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen! Aber nein, da stellst du dich vor mich, die Hände in die Seiten gestützt, und fängst an, den Händler aufs Übelste zu beschimpfen. Und bevor er begreift, wie ihm geschieht, schnappst du mich und wir verschwinden einfach.« Er lachte leise.

Schlagartig fiel es ihr wieder ein. Sie richtete sich auf und fixierte ihn ungläubig. Die Augen – diese moosgrünen Augen mit ihrem irritierenden Schattenspiel. Es war vor Jahren in Brycgstow, der Hauptstadt von Forran und dem Sitz des Hohen Lords, gewesen!

»Der kleine Dieb, der immer die Markthändler bestohlen hat«, sagte sie trocken. »Ich habe dir beigebracht, wie man ein Schwert führt!«

Grinsend reichte er ihr das gebratene Fleisch und einen warmen Brotfladen. Seine Augen waren das Einzige, was noch an das zerrupfte, dürre Kerlchen von damals erinnerte. Sie hatte Timbor mit nach Hause genommen, ihn hochgepäppelt und sich um ihn gekümmert. Er war das Kind einer Dirne, die kurz zuvor an einem Fieber gestorben war. Vivien hatte ihm Manieren beigebracht, ihm kleine Arbeiten an Orten verschafft, an denen er zu essen bekam, und ihn im Lesen und Schreiben unterrichtet. Sie hatte es in der Hoffnung getan, dass ihm das später einmal helfen würde, bei einem Handwerker in die Lehre zu gehen.

Ihre kleine Familie hatte ihn bei sich aufgenommen und ihm ein Dach über dem Kopf gewährt, bis ihre Mutter einsehen musste, dass sie keine andere Wahl hatten, als weiterzuziehen. In Forran war es unmöglich, auf Dauer in anständiger Weise ein eigenverantwortliches Leben ohne Ehemann zu führen. Erst hatten sie den kleinen Kerl mitnehmen wollen, doch gerade da war überraschend sein Vater aufgekreuzt und hatte seinen unehelichen Sohn mitgenommen.

»Ich erinnere mich noch gut daran, wie Sanira immer über dich schimpfte.« Er drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Vivien, Vivien, du bist zu impulsiv und unvernünftig. Du musst lernen, deinen Mund zu halten und den Verstand zu gebrauchen. – Lebt sie noch?«

»Ja.«

»Unglaublich. Sie muss über siebzig Jahre alt sein.«

»Zweiundsiebzig, um genau zu sein.«

»Und deine Mutter?«

»Lebt auch noch. Was ist mit deinem Vater?«

»Er starb, als ich vierzehn war.«

»Das tut mir leid.«

»Braucht es nicht, er war ein armes Schwein. Hat sich am Ende zu Tode gesoffen.«

Während sie gierig das Essen verschlang, schaffte sie es nicht, ihren Blick von ihm zu lösen. Diese Wirbel in seinem Haar! Schon damals hatten sie es unmöglich gemacht, ihm eine anständige Frisur zu verpassen. Jetzt war die Ähnlichkeit mit dem Jungen von damals so offensichtlich, dass sie sich wunderte, dass es ihr nicht sofort aufgefallen war.

»Du hast es weit gebracht. Offizier in der Garde des Hohen Lords. Ich dachte, dafür müsste man adelig sein.«

»Das war so, bis Lord Otis zum Ersten Offizier aufstieg.«

Sie verzog das Gesicht. Lord Otis. Sie war dem Forraner nie begegnet, hatte den Namen schon öfter gehört, verband damit aber nichts Gutes.

»Was hast du diesmal gestohlen?«, fragte sie wie beiläufig und leckte konzentriert jeden Finger einzeln ab, bevor sie sich das letzte Stückchen Brot in den Mund schob. Das Unschuldslamm mimend versuchte sie aus ihm herauszulocken, weshalb die Piraten hinter ihm her waren.

»Ich komme mit«, sagte er, als wäre das eine Antwort.

»Wohin mit?«

Er deutete mit dem Kinn auf das Boot. »Du willst schauen, ob die Piraten noch vor der Einfahrt zur Passage kreuzen. Und ich will das auch wissen.«

»Ich nehme niemanden mit.«

»Du kennst die Piraten und du willst mit ihnen verhandeln.«

»Gibt es denn etwas zu verhandeln?«

Statt darauf einzugehen, grinste er sie frech an. Zugegeben, ihr zweiter Versuch war noch plumper als der erste ausgefallen.

»Was hast du mit Oskar gemacht?«

»Nichts weiter, nur ihn abgefangen und ihm eine Münze dafür gegeben, dass er mich seine Arbeit machen lässt.«

»Dafür wird er von Jannis Schläge einstecken müssen.«

»Seit wann lässt du zu, dass kleine Jungen geschlagen werden?«

Im Aufstehen nahm sie ihm den Leinensack mit dem Proviant, den ihr Erster Offizier für sie gepackt hatte, und das Bündel mit Fellen ab.

Auch er erhob sich. »So einfach wirst du mich nicht los.«

Belustigt musterte sie ihn. »Du kannst mich nicht zwingen, dich mitzunehmen.«

Er trat dicht an sie heran. »Bist du dir da so sicher?«

»Absolut.« Vivien spannte ihren Körper an. Die Grundbegriffe des Kämpfens hatte sie ihm beigebracht. Sie war gespannt zu sehen, was er bei der Garde gelernt hatte.

»Tritt sofort von ihr zurück!«

Sie hob den Blick und sah neben Andrés und Jannis, der Oskar am Kragen gepackt hielt, noch fünfzehn weitere Matrosen der Sturmvogel auf dem Felsen stehen, der die Bucht einrahmte. Nach einem kurzen Blick in die entschlossenen Gesichter der Männer wich Timbor langsam zwei Schritte zurück.

»Scheint, als müssten wir unseren Faustkampf auf einen anderen Zeitpunkt verlegen«, sagte sie leise lachend und machte eine höfliche Verbeugung.

»Was wollte er von dir?«, kam es drohend von ihrem Ersten Offizier, der inzwischen am Strand angelangt war, wobei er den unglückselig dreinblickenden Schiffsjungen hinter sich herschleifte.

Der Junge würde seine Tracht Prügel einstecken, auch wenn es ihr leidtat. Doch es gab nichts, was sie für ihn hätte tun können. Er hatte sich diese Suppe selbst eingebrockt und musste sie nun auslöffeln. Er hätte sich niemals bestechen lassen dürfen. Das war gegen die eisernen Regeln, die auf ihrem Schiff herrschten. Ein wenig ärgerte sie der herrische Ton von Jannis, aber sie wusste, er galt nicht ihr, sondern entsprang seiner Sorge um sie.

»Er wollte höflich um Erlaubnis fragen, mit mir zu segeln, und bekam von mir eine Abfuhr erteilt.«

»Das wird er auf keinen Fall«, mischte sich Andrés ein und baute sich drohend vor Timbor auf, der ihm nur bis zur Nasenspitze reichte.

Vivien war schon im Begriff gewesen, sich umzudrehen, und hielt inne. Sie konnte es absolut nicht leiden, wenn einer ihrer Männer versuchte, ihr Vorschriften zu machen. Das wollte und konnte sie aus Autoritätsgründen auf keinen Fall zulassen. »Was hast du gesagt?«

Bevor Jannis ihn bremsen konnte, polterte Andrés weiter: »Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass dieser Forraner mit dir alleine loszieht!«

»Und seit wann erteilst du mir Befehle?«

Niemand sagte mehr einen Ton. Alle schauten zwischen ihr und dem Zweiten Offizier hin und her, der jetzt erst seinen Fehler erkannte.

Er wurde rot und straffte sich. »Verzeiht, Kapitän, es war nicht meine Absicht, dir Befehle zu erteilen.«

»Darum werde ich mich kümmern, wenn ich zurückkomme.«

Andrés, der ein wenig blass um die Nasenspitze geworden war, wich zwei Schritte von Timbor zurück, der mit offensichtlichem Vergnügen dem Wortwechsel gefolgt war.

Noch immer wütend von der Anmaßung ihres Zweiten Offiziers schob Vivien das Boot ins Wasser, warf die Bündel und den Proviantsack hinein und stieg ein. Sie sah Timbor an. »Was ist? Brauchst du eine Extraeinladung oder kommst du endlich an Bord?«, herrschte sie ihn an.

Der Forraner war klug genug, keinen Kommentar abzugeben, und sprang ins Boot, ehe ihn einer ihrer Männer aufhalten konnte.

4

Sturm

Erst als sie aus der Bucht heraus waren, entspannte sie sich wieder. Es hatte eine Zeit gegeben, in der das Leben für sie einfach gewesen war. Die Sehnsucht nach Mintra würde sie niemals verlassen, und manchmal wünschte sie sich, sie wäre nie geflohen. Doch dann, wenn der Wind ihr so wie jetzt über die Wangen streichelte, mit ihren Locken spielte, sich von ihr in die Segel lenken ließ, wusste sie, dass sie gar keine Wahl gehabt hatte. Der Preis dafür wäre zu hoch gewesen. Sie tat ihr Bestes und arbeitete hart an der Kontrolle ihrer Gefühle, weil sie Saniras Erwartungen übertreffen wollte.

Die Entscheidung, nach ihrer Rückkehr von der Insel der Verbannten mit einem Handelsschiff ein eigenes Unternehmen zu gründen, entsprach ihrem Temperament. Hier auf hoher See konnte sie sich in ihrem Element austoben. Nur die Verantwortung, die sie für ihre Männer, deren Frauen und Familien trug, lastete schwer auf ihren Schultern. In dem Moment, da sie einmal Schwäche zeigte, würden sie über sie herfallen wie ein Rudel Wölfe, das den Respekt vor dem Alphatier verloren hatte. Deshalb durfte sie auch keine Milde walten lassen, sondern musste beißen, wenn einer sie herausforderte. Darüber machte sie sich keine Illusionen. Andrés würde seine Strafe erhalten, und es machte ihr keinen Spaß, daran zu denken. Zehn Hiebe mit der Peitsche. Sie hoffte, die Männer würden sich damit zufriedengeben.

»Du kannst es immer noch nicht leiden, wenn man dir Vorschriften macht.«

Sie hatte Timbors Anwesenheit auf dem Boot völlig vergessen. »Pass auf, was du sagst, sonst landest du im Wasser und kannst zur nächsten Insel schwimmen.«

»Danke, dass ich mitkommen durfte.«

Zur Antwort knurrte sie nur.

»Ich stelle es mir schwer vor, diese Meute anzuführen. Für einen Moment fürchtete ich tatsächlich, ich käme um einen Kampf nicht herum. Was ärgerlich gewesen wäre, denn soweit ich es beurteilen kann, hast du fähige und loyale Männer um dich versammelt. Wie hast du es geschafft, Kapitän zu werden?«

»Es ist mein Schiff.«

»Dennoch bist du eine Frau, und auch wenn ich weiß, dass du dich durchaus zur Wehr setzen kannst, sind es doch fünfzig gegen eine.«

»Dreiundsechzig, um genau zu sein. Es gehört mehr dazu, ein Anführer zu sein, als Angst und Schrecken zu verbreiten.«

»Aber es hilft ungemein.«

»Respekt, Vertrauen, und dass ich nie einen Mann verliere, weder durch Kämpfe noch an die See, das ist es, was mich vor allem unangreifbar macht.«

»Nie?«

»Nie.«

»Wir verfehlten dein Schiff mit der ersten Kanonenkugel nur knapp.«

»Ja, ich vergaß, wie beschränkt und furchtsam die Forraner sind. Ein kleines Handelsschiff zu beschießen, ist gegen das Handelsabkommen von Alurin, an das sich selbst die Tarieken halten.«

»Auch nur, weil ihnen die eldemarischen Kaufleute den Zugang zum Handel mit dem Festland garantieren. Mehr als eine Fahrt über das Meer schaffen sie im Jahr nicht. Was bedeutet, dass sie auf den Handel mit Eldemar angewiesen sind. Wie viel von deiner Ware ist für Tarieken bestimmt und wie viel von dem Gold, das du eingenommen hast, kommt von dort?«

Sie schwieg. Es ging ihn nichts an.

»Irgendwie interessant. Da führen die Völker von Alurin gegeneinander Krieg, doch die Kaufleute machen weiterhin miteinander Geschäfte.«

»Es gibt keinen Krieg mehr. Weder zwischen Eldemar und Forran noch zwischen Eldemar und Tarieken.«

»Wie man’s nimmt.«

Aufmerksam sah sie ihn an. »Was willst du damit andeuten?«

»Gar nichts.«

Er hatte es sich auf dem Bündel Felle im Boot gemütlich gemacht, während sie auf der Bank saß, das Ruder und die Seile hielt und das Boot gekonnt in Küstennähe zwischen den Inseln hindurchsegelte. Die Sonne stand tief am Horizont. Sie würde bis zu der ersten Insel der Passage fahren, aber dabei dicht hinter den Felsen bleiben, sodass das Boot von außerhalb der Passage her verborgen blieb, egal wo die Piratenschiffe lauerten. Auf der Insel gab es einen dicht bewaldeten Hügel, der an einer Steilküste endete. Von dort aus würde sie einen hervorragenden Blick auf das gesamte Meer vor der Passage haben.

Tiefe, regelmäßige Atemzüge hoben und senkten Timbors Brust. Er war tatsächlich eingeschlafen. Sie betrachtete seine entspannten Gesichtszüge. An den Wangen und dem Kinn sprossen Barthaare. Er schien zu den wenigen Männern zu zählen, die sich tatsächlich auch auf See die Mühe machten, sich zu rasieren. Dichte, lange Wimpern umrandeten tiefschwarz seine Augen. Schon damals hatte sie ihn, wenn sie ihn beim Schlafen beobachtet hatte, darum beneidet – auch um seinen gesunden Schlaf. Er hatte immer bei ihr im Bett gelegen und war ihr nie von der Seite gewichen. Ein paar Strähnen aus seinen dichten Haaren hatten sich aus dem Band gelöst, das sie zusammenhielt. Es gab ihm einen verwegenen Ausdruck.

Der Sand knirschte unter dem Kiel, als sie das Boot mit dem letzten Wind auf den Strand segelte. Sie stand auf, um das kleine Segel zu reffen, Timbor reckte sich, sprang auf und half ihr bei der Arbeit. Gemeinsam zogen sie das Boot höher auf den Strand. Ebbe und Flut waren innerhalb der Inselgruppe nur schwach ausgeprägt. Es dämmerte bereits. Am Himmel zeigte sich keine einzige Wolke. Ihnen stand eine sternklare Nacht bevor, und der Halbmond würde genügend Licht bieten, dass sie den Pfad durch den Wald zur Steilküste mühelos finden würden. Timbor schulterte das Bündel Felle, während sie den Proviant mitnahm. Sie ging voran. Er folgte ihr wortlos.


Sie lagen nebeneinander dicht am Abgrund. Unter ihnen schlugen die Wellen sanft an die Felsen. Nur die Kälte, die ihr in die Knochen kroch, zeugte davon, dass der Winter nahe bevorstand. Sie wusste, dass es eine trügerische Stille war, dass die Stürme nur eine kurze Pause einlegten, um sich dann mit aller Gewalt über das Meer auszubreiten und jedes Schiff zu versenken, das leichtsinnig hinausgesegelt wurde.

»Es sind vier.«

Ja, auch sie hatte die Schiffe gezählt und Jorges Argos darunter entdeckt. Es war das größte Schiff der Piraten, ein Zweidecker, und 80 Kanonen waren darauf verteilt. Die anderen Fregatten – die Acheron unter Galls Befehl, die Furies von Raschid und Omans Nemesis – waren hingegen alle Eindecker mit jeweils 44 Kanonen. Die Piraten hatten hier eine regelrechte Kriegsflotte aufgefahren. Nicht, dass Vivien die Neptun, die Timbor befehligte und die bis in den letzten Winkel mit Kanonen ausgestattet war, unterschätzte, dennoch überraschte es sie, dass selbst Jorge losgezogen war. Womit hatte Timbor sie so gereizt?

»Wieso folgen sie uns nicht in die Passage?«, fragte er.

»Es ist ein gefährlicher Weg für jeden, der die Lage der Riffe unter der Wasseroberfläche nicht kennt.«

Er nahm das Fernrohr vom Auge, schob es zusammen und musterte Vivien von der Seite. »Du willst mir erzählen, dass du die Einzige bist, die den Weg kennt?« Skepsis schwang in seiner Frage mit.

Mit einem Grinsen schob sie ihr Fernrohr zusammen. »Nein.«

»Also?«

»Seefahrer sind ein abergläubisches Volk.«

»Ich weiß. Stich niemals bei einem blutroten Sonnenuntergang in See. Nimm niemals eine Frau mit auf große Fahrt.«

»Jungfrau. Bitte!«

»Ehrlich?«

»Ja.«

Sie sah das Aufblitzen seiner Zähne.

»Also, was für eine Legende rankt sich um die Inselgruppe?«

»Einst waren diese Inseln das Liebesnest von Lethos, zu dem er die schönsten Frauen aller Völker brachte. Eines Tages beging er einen Fehler und entführte Galani aus Mintra, die ihr Leben der Göttin geweiht hatte. Lishar, die bis zu diesem Zeitpunkt das Treiben des Lethos geduldet hatte, war von seiner Dreistigkeit überaus erzürnt. Bevor Galani dem Charme des Gottes erliegen und ihr Versprechen der Göttin gegenüber brechen konnte, erschien Lishar. Es kam zu einem furchtbaren Streit. Die Erde bebte, das Feuer loderte, die Winde tobten und turmhohe Wellen überspülten die Inseln.«

Sie machte eine kleine Kunstpause zum Zweck der Dramaturgie und stellte zufrieden fest, dass Timbor gebannt an ihren Lippen hing wie schon damals als kleiner Junge.

»Als sich die beiden endlich beruhigten, trieben die Leichen der Frauen zwischen den Inseln im Wasser der Passage, darunter auch die von Galani, der Tochter des Windes. Lishar nahm sie mit und brachte sie zurück nach Mintra, wo man ihr einen Tempel errichtete. Lethos verließ den Ort und kehrte niemals wiederzurück. Seitdem locken die Seelen der verlassenen Geliebten des Lethos die Männer in die kalten Fluten der Passage. Manchmal kannst du ihr Wispern hören, wenn der Wind um die Klippen weht. Oder du siehst die geisterhaften Gestalten, wie sie in langen Gewändern über dem Meer schweben, immer auf der Suche nach dem Gott, der sie so schmählich ihrem Schicksal überließ und sich noch nicht einmal die Mühe machte, ihre toten Körper zu begraben, nachdem sie ihm damit doch so viele Stunden der puren Freude bereitet hatten.«


Sie stieg von der Steilküste hinab und ging tiefer in den Wald, bis sie eine Lichtung erreichte, deren Boden dickes, weiches Moos bedeckte. Schweigend war Timbor ihr gefolgt. Sie holte vier Streifen Trockenfleisch aus dem Leinensack mit dem Proviant, gab zwei davon ihrem Begleiter und hängte den Beutel an einen Ast. Es gab eine Quelle mit frischem Wasser, an der sie ihren Wassersack auffüllte, nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte. Derweil bereitete Timbor ein Lager vor. Als er Anstalten machte, Holz zusammenzutragen, stoppte sie ihn.

»Kein Feuer.«

»Die Nacht wird kalt.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe schon kältere Nächte ohne Feuer überstanden.«

»Wer redet von dir

Belustigt schüttelte sie den Kopf. »Dann solltest du dir ein paar Felle nehmen, anstatt sie alle mir zu überlassen.«

Er legte sich auf die Lagerstätte, dehnte und reckte sich, bevor er unter das dickste Fell schlüpfte. »Wer sagt, dass ich sie für dich ausgebreitet habe?«

Die Hände in die Taille gestützt baute sie sich vor ihm auf. »Das sind meine Felle!«

Er hob die Decke an. »Weshalb ich bereit bin, sie mit dir zu teilen. Außerdem können wir uns so gegenseitig wärmen.«

Sie atmete tief durch. Es war nicht das erste Mal, dass sie die Lagerstatt miteinander teilten, doch damals war er ein kleiner Junge gewesen und sie selbst noch keine Frau. Aber schließlich siegte die Vernunft. Sie legte ihren Waffengurt ab und schlüpfte zu ihm unter das Fell, nahm ihm den Rand der Decke ab und stopfte ihn in ihren Rücken, während sie sich ihm auf der Seite liegend zuwandte. Besser, sie behielt ihn im Auge.

»Du lässt gefälligst deine Hände bei dir, wenn du nicht Gefahr laufen willst, sie für immer zu verlieren!«

»Keine Sorge, ich will ja nicht den Zorn der verlassenen Geliebten des Lethos auf mich ziehen, indem ich eine Mintranerin zum Beischlaf zwinge.«

Sie grinste. »Dummheit war nie eine deiner Schwächen.«

»Und das aus deinem Mund! Wenn du ehrlich wärest, würdest du mir sagen, dass du nie einen klügeren Schüler als mich hattest. Immerhin brauchte ich keine vier Wochen, um das Lesen und Schreiben zu lernen.«

»Eva schaffte es in sechsundzwanzig Tagen.«

»Wer ist Eva?«

»Das spielt keine Rolle. Jedenfalls ist sie klüger als du.«

Er schwieg, und sie spürte seinen intensiven Blick auf sich ruhen.

»Du warst schon immer eine begnadete Geschichtenerzählerin. Vorhin hätte ich schwören können, dass ich eine Nebelgestalt am Waldrand gesehen hätte. Das war einer von deinen Tricks. Wie lange hast du auf den Inseln gelebt?«

Es wunderte sie nicht, dass er sie durchschaute. Dafür kannte er sie zu gut aus einer Zeit, als sie noch nicht das Geschick besessen hatte, Männern etwas vorzuspielen.

»Zwei Jahre.«

»Wie du das mit den wispernden Stimmen hinbekommen hast, kann ich noch nachvollziehen – über den Wind. Aber was ist mit den Nebelgestalten? Wie schaffst du das?«

»Mein Geheimnis. Noch effektiver war es, wenn ich es schaffte, das Schiff mit den Seeleuten, die durch die Passage wollten, ganz knapp auf ein Riff auflaufen zu lassen. Natürlich nicht ernsthaft, nur so weit, dass es eine ordentliche Schramme in der Bordwand davontrug, damit sie später ihre Geschichte zum Besten geben konnten.«

Timbor zog sie spielerisch an einer Haarsträhne. »Und warum sterben deine Männer nicht vor lauter Angst, wenn du sie durch die Passage führst?«

»Ihnen schlottern die Knie vor lauter Schiss, doch sie haben ein Pfand an Bord, das sie vor dem Zorn der verlassenen Geliebten schützt.«

»Ich verstehe – das bist du.«

»Was war mit deinen Leuten?«

»Ein Großteil der Mannschaft sind Soldaten, die sonst nie zur See fahren. Sie standen mit gezückten Schwertern hinter den Matrosen. Jetzt verstehe ich, wovor sie Angst hatten.«

Sie lachte und er stimmte ein.

Sie wurde wieder ernst. »Du weißt, dass uns nicht viel Zeit bleibt, bis die Winterstürme beginnen?«

»Ja. Was schlägst du vor?«

»Du bist Offizier der Garde des Hohen Lords. Also musst du doch eine Strategie haben. Da fällt mir ein – du hast mir immer noch nicht erzählt, wie es dazu gekommen ist.«

»Durch dich.«

»Mich? Ich hatte nie Kontakt zu irgendeinem Adeligen von Forran. Vergessen? Ich war ein Mädchen, das in den Gassen des Hafenviertels lebte.«

»Ja, und das ein besonderes Geschick bewies, sich dort durchzuschlagen. Noch Jahre später haben die Menschen über euch gesprochen. Ihr habt ihnen Hoffnung gegeben und diese mit euch genommen, als ihr sie verlassen habt.«

Sie hörte den Vorwurf des kleinen Jungen in seiner Stimme, den sie zurückgelassen hatte. Doch sie war immer davon ausgegangen, dass er bei seinem Vater ein besseres Leben haben würde. Immerhin hatte er ihn bei sich aufgenommen, nachdem seine Frau ihm über Jahre keinen Sohn geboren hatte, auch wenn Timbors Mutter eine Prostituierte gewesen war und ihn erst mit dem Kind zu erpressen versucht hatte.

»Welche Wahl hat eine Frau in Forran schon, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, außer als Dirne? Nur die, als Ehefrau eines Händlers, Handwerkers oder Gastwirts ihr Leben zu fristen, immer auf seine Gunst angewiesen. Und wenn der Mann stirbt, ist sie der Armut ausgeliefert, weil sie kein Recht hat, sein Vermögen zu erben, außer wenn sie Söhnen das Leben geschenkt hat, die sich um sie kümmern.«

»Ihr alle konntet lesen und schreiben, Sanira nähte vortreffliche Kleidung, deine Mutter war äußerst talentiert im Umgang mit Geld und konnte aus den geringsten Zutaten ein vortreffliches Mahl bereiten, wohingegen du schon damals eine gerissene kleine Händlerin warst. Euch hätten die Türen der reichen Familien offen gestanden.«

»Als Sklaven ohne Bezahlung und ohne Rechte? Abhängig von den Launen der Herren? – Nein danke.«

»Mit deinem klugen Kopf und deinem Geschick hättest du eine gute Partie machen können.«

»Auch nur eine andere Form der Versklavung.«

»Stattdessen segelst du mit einem Haufen wilder Kerle über die Meere, immer auf der Hut, dass sie nicht über dich herfallen, sobald du Schwäche zeigst.«

»Aber dafür bin ich frei.«

»Ist es dir den Preis wert?«

»Ja, und sogar noch viel mehr.« Sie dachte an ihre Unternehmen, die sie – aus der Not heraus geboren – inzwischen zu einer reichen Frau gemacht hatten. Da gab es den Handel zwischen Alurin und den Ländern des Festlands, das Gasthaus in Tinau, das ihre Mutter führte und das berühmt für sein vorzügliches Essen war. Selbst die Königsfamilie, allen voran Prinz Thelos mit seinen Kriegern des Inneren Kreises, speiste dort regelmäßig, wenn sie in Tinau weilte. Zuletzt, aber von ihrem Umfang her nicht zu vergessen, war da noch die Näherei, die, lange Zeit von Sanira geführt, jetzt in Evas Verantwortung lag. Dort brachten sie seit Langem die meisten Mädchen von der Straße in Lohn und Brot. Sie waren zum Hauptlieferanten für Uniformen der Soldaten von Eldemar und der Krieger des Inneren Kreises geworden, neben der Produktion all der Gardrobe für adelige Familien. Selbst das Königshaus von Bersaken ließ seine Kleidung bei ihr fertigen. Daneben gab es eine Kleiderlinie für die Menschen aus dem einfachen Volk, robuste Sachen, qualitativ hochwertig und doch zu einem erschwinglichen Preis zu erstehen. Mit jedem Erfolg, den sie für sich verbuchte, wuchs natürlich die Zahl ihrer Feinde. Selbst Sanira hatte ihr inzwischen unter dem Protest ihrer Mutter nahegelegt zu heiraten, damit ein Mann an der Spitze ihres Imperiums stand, in der Hoffnung, so ihre Neider zum Schweigen zu bringen. Sie hatte sogar geeignete Kandidaten vorgeschlagen. Eine Zweckheirat. Aber damit würde alles ihrem Ehemann zufallen und sie hätte keinen Einfluss mehr auf ihre eigenen Geschäfte. Egal wie groß die Freundschaft und Loyalität des Auserwählten im Vorfeld wäre – wer konnte ihr garantieren, dass er sich davon nicht korrumpieren ließ? Sie fühlte Timbors intensiven Blick, der die Nacht zu erhellen schien.

»Du hast mir noch immer nicht erzählt, wie du zum Offizier geworden bist.«

»Wissen ist Macht, und wenn du ein geschickter Kämpfer bist, dann ist jeder Stein, der dir im Weg liegt, einer, den du nutzen kannst, um dir den Pfad nach oben zu bahnen. All das lernte ich von dir. Also habe ich es dir zu verdanken, dass ich heute da stehe, wo ich stehe.«

Sie drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Finger im Nacken und starrte mit einem Lächeln in den Sternenhimmel. Egal, wie schwer ihr Leben sein mochte, sie hatte Spuren hinterlassen, die niemand mehr wegwischen konnte. Auch Timbor drehte sich auf den Rücken und sah hoch zu den Sternen.

»Wenn Dunkelheit dich hält gefangen,

Und jede Hoffnung in dir erlischt,

Erst dann wirst du die Weisheit erlangen:

Des Tages Licht das Dunkel durchbricht.

Wenn noch Zweifel an dir nagen,

Und Angst dein Handeln ganz bestimmt,

Schau nur die Vielfalt an Sternen, die sagen:

Selbst in schwärzester Nacht ein Licht erglimmt.«

Seine warme Stimme jagte ihr mit dem Gebet, das sie ihm beigebracht hatte, eine wohlige Gänsehaut über den Körper.

Er drehte sich wieder zurück zu ihr, hob seine Hand über ihren Kopf, so wie sie es immer bei ihm gemacht hatte.

»In der Stunde der tiefsten Not halte ich schützend meine Hand über dich. Siehst du am Himmel den hellen Mond, weißt du, ich verlasse meine Kinder nicht.« Mit dem Zeigefinger tippte er ihr kurz auf die Nasenspitze, bevor er seine Hände unter dem Kopf faltete. »Ich hoffe, du hackst mir den Finger jetzt nicht ab.«

»Nein, du hast noch mal Glück gehabt.«

»Es war nie diese Art von Dunkelheit, vor der du Angst hattest.«

Sie schloss die Augen. Er war ihr schon viel zu nahe gekommen. »Genug geredet. Schlaf jetzt.«

»Aye, Kapitän.«


Vivien erwachte, als die Sonne aus dem Meer aufzutauchen begann. Sie hatte tief und fest geschlafen. An ihren Rücken geschmiegt, den Arm um ihre Taille geschlungen, ein Bein zwischen ihre Beine geschoben, schlief Timbor, dessen warmen Atem sie in ihrem Nacken spürte. Vorsichtig befreite sie sich aus seiner Umklammerung. Um ihn nicht zu wecken, ließ sie ihren Waffengurt liegen und stieg nur mit dem Fernrohr bewaffnet den Pfad zu den Klippen hoch. Zwei Schiffe lagen rechts von der Passage, zwei links. Drei Ruderboote hatten an der Argos festgemacht. Auch die Piraten wussten, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Während Viviens Schiff auf seinem Weg mit dem Sturm über das Meer getrieben würde, mussten die Piraten dagegen ankämpfen, um in den sicheren Hafen ihres Heimatortes auf der Insel der Verbannten zu kommen. Jorge war kein Mann, der das Leben seiner Leute für eine Rache aufs Spiel setzte. Im Gegenteil, durch seine Verhandlungen mit den Kaufleuten hatten die Piraten mehr Reichtum erworben als je zuvor, und das mit weniger Verlusten. Warum zögerte er überhaupt, den Rückzug anzutreten? Entschlossen schob sie das Fernrohr zusammen. Es war an der Zeit, Antworten zu erhalten.

Als sie zum Lager zurückkam, hatte Timbor aus den Fellen ein Bündel geschnürt.

Er grinste sie an. »Guten Morgen.«

Ansatzlos und ohne Vorwarnung versetzte sie ihm einen präzisen Fausthieb auf die rechte Kinnseite, der seinen Kopf zur Seite schleuderte und ihn zum Taumeln brachte.

Verblüfft hielt er sich das Kinn, wo sie es getroffen hatte. Morgen würde die Stelle eine ordentliche Schwellung aufweisen.

»Wofür war das?«

Sie gab ihm keine Antwort, griff stattdessen nun mit der rechten Faust an. Erstaunlich rasch reagierte er. Zwar streifte ihr rechter Knöchel die linke Seite seines Kinns, doch der Großteil der Kraft, die sie aufgewandt hatte, verpuffte in der Luft. Sie musste einen Ausgleichsschritt machen, um nicht die Balance zu verlieren, was sie in seine Reichweite brachte. Hätte er sie jetzt angegriffen, hätte sie Schläge eingesteckt.

»Würdest du mir endlich sagen, was los ist? Wenn ich dir heute Nacht zu nahe getreten bin, geschah das nicht mit Absicht. Ich schwöre es bei meiner Ehre.«

»Bei deiner Ehre?« Sie verzog spöttisch den Mund, dann ging sie wieder zurück in Angriffshaltung. Die nächsten Schläge zielten auf den Bauchraum. Seine Reflexe waren gut. Sie landete nur wenige Treffer.

»Ich schlage keine Frauen, also hör verflucht noch mal auf und rede mit mir!«, fauchte er sie erbost an.

Nein, er musste erst aufgeben, dann wäre er auch bereit zu reden, und wenn nicht, musste er weiter leiden. Wenn er nicht zurückschlug, war das sein Problem. Sie ging zu den gemeinen Tricks über, landete eine schnelle Abfolge von Tritten und Schlägen über und unter der Gürtellinie. Er bekam alle Hände voll zu tun, und endlich hörte er auf zu reden und konzentrierte sich stattdessen darauf, sie abzuwehren. Sie trieb ihn über die Lichtung, gab ihm keine Luft zum Atmen.

Dummerweise kannte er genauso wie sie die dreckigen Tricks aus der Gosse, und so hielt er viele ihrer Angriffe auf. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er landete im Dreck, als sie ihn mit einem Sprung und einer Drehung des Oberkörpers mit ihren Beinen von den Füßen fegte. Blitzschnell rappelte er sich wieder auf und stürmte wie ein Stier auf sie zu. Er rammte ihr seinen Kopf in den Bauch und brachte sie damit zu Fall. Hastig wand sie sich in seinem Griff, bevor er sie festnageln konnte. Kaum hatte sie ihn im Rücken, verpasste sie ihm mit dem Ellenbogen einen heftigen Schlag in den Magen. Mit einem Stöhnen stieß er die Luft aus. Blitzschnell warf sie sich nach hinten und drehte sich zurück. Abwehrend hob er die Hände und blieb auf dem Rücken liegen.

»Es reicht! Ich gebe auf. Sag mir endlich, was du von mir willst!«

Prüfend nahm sie ihn in Augenschein. Er lag schweißüberströmt auf dem Rücken, war blass und hielt sich den Magen. Auch sie war schweißgebadet. Er hatte nicht nur hervorragende Reflexe, sondern auch Kraft und Ausdauer. Hätte er es ernsthaft darauf angelegt, mit ihr zu kämpfen, anstatt sie nur abzuwehren, wäre es fraglich gewesen, ob sie aus dem Zweikampf als Sieger hervorgegangen wäre. Nichts war mehr übrig von dem schmächtigen Jungen, den sie früher kannte. Er schien aus puren Muskeln zu bestehen, was ihn zu einem härteren Gegner machte als den Bären Brian aus ihrer Mannschaft, weil er aufgrund seiner Figur wesentlich flinker reagierte.

Sie reichte ihm die Hand und er nahm sie an.

»Wenn du mir beweisen wolltest, dass du noch immer besser bist als ich, hast du dein Ziel erreicht«, murrte er verstimmt. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn, zog das Haarband heraus und fuhr sich mit den Fingern durch das Wirrwarr, um die Mähne erneut zurückzubinden.

»Was hast du gestohlen?«

»Es wird dir nicht gefallen!«

»Das ist mir schon klar.« Sie hob erneut die Fäuste und ging in die Knie. »Rede!«

Grinsend schüttelte er den Kopf, bevor er wieder ernst wurde und tief durchatmete. Lange Zeit betrachtete er sie nur, dann gab er sich einen Ruck. »Vier Mädchen.«

Verblüfft ließ sie die Arme sinken. »Vier Mädchen? Und dafür riskiert Jorge seine vier besten Schiffe?«

»Fünf. Eines haben wir versenkt.«

Sie starrte ihn an. »Das alles wegen vier Mädchen? Der Hohe Lord schickt einen seiner Offiziere los, noch dazu mit einem bis unter die letzte Planke bewaffneten Kriegsschiff, um vier Mädchen aus der Hand von Piraten zu befreien?«

»Nicht ganz.«

»Aha. Nicht ganz?«

»Es wären eigentlich vierzehn Mädchen gewesen, aber nur vier überlebten es.«

Sein Ausdruck verfinsterte sich, während Vivien versuchte, das Gehörte zu verdauen. Zehn tote Mädchen? Weshalb sollten die Piraten Mädchen entführen und sie dann töten? Das ergab überhaupt keinen Sinn. Entweder steckte hinter der Entführung eine Lösegeldforderung oder sie geschah für den eigenen Bedarf. Aber nein, so war Jorge nicht, oder doch?

Timbor trat dicht zu ihr. »Was ich dir jetzt sagen werde, kann mich das Leben kosten. Kann ich dir vertrauen?«

Sie sah in seine Augen. Die Iris schien in den verschiedensten Grüntönen zu schillern, so wie damals, wenn der Wind über die Wälder des Asambra strich. Die Intensität des Farbspiels hypnotisierte sie regelrecht. Ein Prickeln stieg in ihrem Nacken auf. Wäre sie ein Wolf gewesen, hätten sich ihre Nackenhaare gesträubt. Die Luft erschien ihr um ein paar Grad kälter. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob sie es noch wissen wollte. Unwillkürlich griff sie sich mit der Hand in den Nacken und rieb ihn.

»Ja«, kam es leise über ihre Lippen.

»Es war Lord Otis, der mir den Auftrag gab.«

Sie schluckte. »Der Hohe Lord weiß nichts davon?«

Langsam schüttelte er den Kopf.

»Was hat es mit den Mädchen auf sich?«

»Das weiß ich nicht.«

Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, dass du es nicht weißt?«

»Mein Auftrag lautete, sie um jeden Preis von den Piraten zu befreien. Das habe ich gemacht.«

»Du ziehst los, versenkst ein Schiff, tötest … Welches Schiff hast du versenkt?«

»Die Medusa.«

»Tötest dreihundertzwanzig Mann, riskierst die Neptun mit achthundert Mann und weißt gar nicht weshalb?«

»Achthundertdreiundzwanzig, aber nicht alle Mann von der Medusa sind ertrunken oder getötet worden. Einige wurden von den anderen Schiffen, die hinter uns her waren, eingesammelt.«

»Oh, das macht es um Längen besser.«

»Also, was ist? Wie lautet deine Idee? Wie können wir mit heiler Haut aus der Passage raussegeln und noch vor den Winterstürmen nach Hause kommen?«

»Es gibt keine Idee. Wir werden hier überwintern müssen.«

»Das geht nicht.«

»Was ist? Verlierst du auch deinen Kopf, wenn du nicht vor dem Winter zurückkehrst?«

»Nein. Aber die Mädchen werden das nicht überstehen.«

»Wieso nicht? Welche Gefahr sollte ihnen drohen? Immerhin hast du sie aus der Hand der Piraten befreit.«

»Das stimmt, aber es gibt dabei ein Problem.«

»Eines? Oder fünfhundert, wenn wir davon ausgehen, dass die Hälfte deiner Besatzung eher auf Männer als auf Frauen steht?«

Ein flüchtiges Grinsen huschte über seine Lippen. »Nein, das ist nicht das Problem. Ich kann mich auf meine Männer zu hundert Prozent verlassen. Die Mädchen stehen unter meinem Schutz, und niemand wird es wagen, ihnen ein Haar zu krümmen.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Was ist dann das Problem?«

»Das ist schwer zu erklären. Ich muss es dir zeigen.«

»Also gut, dann segeln wir jetzt zurück und du zeigst es mir.  – Eine Idee!« Sie schnaubte aus, dachte an den Anfang ihres Gespräches. »Vier bis unter die Wanten bewaffnete Piratenschiffe, die darauf warten, dass wir aufs offene Meer segeln, und ich soll eine Idee haben, wie das Problem zu lösen ist! Ich bin Kaufmann. Du bist der Soldat, also lass du dir gefälligst was einfallen.«

Langsam zogen sich seine Lippen auseinander. »Gut, aber auch das wird dir nicht gefallen.«

»Das befürchte ich au…«

Weiter kam sie nicht. Ohne es auch nur im Ansatz zu erkennen zu geben, packte er sie am Hemdkragen, zog sie zu sich heran und küsste sie hart und fordernd und mit einer Wildheit, die unter der Oberfläche gelauert hatte, seit sie ihn mit den Fäusten attackiert hatte. Zu ihrer eigenen Überraschung antwortete sie mit derselben Heftigkeit. Sein Kuss schmeckte salzig, ein wenig nach Blut. Sein verschwitzter Körper strömte den Duft des Waldbodens aus, auf dem er gelegen hatte. Das betörte ihre Sinne, brachte sie zurück in ihre Kindheit, in eine heile Welt der Geborgenheit, in der sie sich getrost fallen lassen konnte.

Ihre Finger wühlten sich in sein wirres Haar. Er fuhr mit den Händen unter ihr Hemd, und allein die Berührung entlockte ihrer Kehle ein wohliges Knurren. Dann passierte es. Es schien, als würde in ihrem Innern ein Licht entzündet, ganz dicht an der Quelle ihrer Energie, die sie mit ihrem Element verband. In einer irrsinnigen Geschwindigkeit jagte es durch ihren Körper, folgte dem Netz der Energiebahnen und explodierte von dort aus ihr heraus.

Erschrocken riss sie den Kopf zurück. Sie spürte noch seine Lippen auf ihren, schnappte nach Luft und öffnete die Augen. Erst nahm sie ihn nur verschwommen wahr, und auch sein Blick wirkte benommen.

Dann fasste er sich wieder.

Das arrogante, selbstsichere, zufriedene Grinsen ließ sie die Fäuste ballen.

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, dann hoben sich seine Augenbrauen, während er sich umsah. »Ich wusste seit Langem, dass ich Frauen im Sturm erobern kann, wenn ich es darauf anlege, es jedoch so wortwörtlich zu erleben, ist – das muss ich eingestehen – ein wenig beängstigend.«

»Was faselst du da für ein wirres Zeug?« Sie folgte seinem Blick, nahm ihre Umgebung in Augenschein.

Alles war in Ordnung. Die Bäume um die Lichtung herum standen unversehrt da. Scharf sog sie die Luft ein. Was hatten sie mit dem Kuss bloß angerichtet? Sie sprang von ihm weg, brachte Abstand zwischen sie beide.

»Hey, alles in Ordnung, Vivien. Niemand wurde verletzt.«

Hektisch drehte sie sich im Kreis. Die Bäume um die Lichtung standen, doch jetzt merkte sie es: Der Wald war fort. Aufgerissene Erde und entwurzelte Bäume zeugten von den Urgewalten, die kurz zuvor getobt hatten. Das Gebiet bot einen Anblick purer Zerstörung. Aufgeregt huschten ein paar Mäuse über den Boden. War sie das gewesen? Unmöglich.

Timbor kam einen Schritt auf sie zu.

Sie hob abwehrend die Hände. »Bleib, wo du bist!«

Er hielt inne. Für einen Moment glaubte sie, er würde irgendeinen weiteren männlich überheblichen Spruch loslassen, doch er war klug genug zu schweigen. Bestürzt suchte sie den Waldboden nach Tieren ab, die sie mit der Kraft ihres Elementes getötet hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie über die zersplitterten Stämme und Äste kletterte. Sie entdeckte mehrere Vögel, die auf der Erde lagen, einen Fuchs und zwei Rehe. Aufschluchzend ging sie in die Knie, strich mit der Hand über die Augen des toten Rehs, das vor ihr lag, und schloss dessen Lider. All die Jahre des Übens, all das viele Lernen, die vielen Stunden der Meditation, das körperliche Training – und dennoch hatte sie die Kontrolle verloren, hatte noch nicht einmal gemerkt, was sie anrichtete. Sie schloss die Augen und hob die Hände zum Gebet. Der Wind wehte um sie herum. Geräusche drangen an ihr Ohr. Eine kalte Faust legte sich um ihr Herz.

Sie sprang auf und rannte den Hügel hinauf bis zu dem Punkt, wo die Abbruchkante vor den Klippen lag. Sie starrte auf die Felsen, die mit zersplitterten Baumstämmen übersät waren. Auch im Meer lag jede Menge Holz. Die Wellen hoben und senkten es, trieben die Stämme gegen die Steilküste, wo sie durch die Kraft des Wassers zerbrachen. Daher kamen die ungewöhnlichen Geräusche. Hier oben tobte der Wind stärker. Er riss an ihren Haaren, an ihrer Hose, an ihrem Hemd.

Ein Aufschrei, gefolgt von vielen anderen Stimmen, ließ sie zusammenzucken. Dort unten auf den Piratenschiffen konnte sie die Männer sehen, wie sie zur Reling rannten und zu ihr hochstarrten. Und sie meinte, in der wispernden Stimme des Windes einen Namen zu hören. Galani.


Wie lange sie dort oben gestanden hatte, wusste sie nicht. Ihr Kopf schmerzte von den vielen Gebeten, die sie an Lishar und Lethos gesandt hatte. Sie nahm wahr, wie die Argos ihre Segel hisste und Kurs auf die Heimatinsel der Piraten nahm, dicht gefolgt von der Nemesis, dann der Furies und zuletzt der Acheron, die, bevor sie beidrehte, mehrere Kanonenkugeln in Viviens Richtung abschoss. Fast wünschte sie sich, es hätte einen Sinn gehabt, was sie da taten. Aber die Kugeln trafen nur die Felsen unter ihr und ließen den Untergrund unter ihren Füßen erzittern.

Langsam setzte sie sich in Bewegung auf die Lichtung zu, die keine Lichtung mehr war. Sie sah Rauch emporsteigen. Das spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr, denn die Piraten hatten sie ja auf dem Felsen stehen sehen.

Timbor hatte ein Feuer außerhalb der Lichtung entzündet. Die sechs Baumreihen, die rund um diese herum noch standen, waren ein seltsamer Anblick. Sie hatten im Auge des Sturms gestanden, der entstanden war, weil sie die Kontrolle verloren hatte. Sie strich über die Stämme einiger Bäume. Timbor hatte ihre Bündel nahe dem Feuer abgelegt. Er war nur mit der Hose bekleidet, und sein Oberkörper glänzte vor Schweiß. Die Rehe waren säuberlich zerlegt, und alle Felle hatte er abgeschabt und mit Asche bestreut. Ein Teil des Fleisches war bereits gebraten. Gerade zog er dem Fuchs das Fell ab. Ohne von seiner Arbeit aufzusehen, deutete er mit dem Messer in der Hand auf ein saftiges Stück Fleisch. »Iss, du musst hungrig sein.«

Sie starrte auf das Essen. Ihr Magen drehte sich um. Das Tier war durch ihr Element gestorben. War es damit zu einem Teil der Dunkelheit geworden? Wurde ihre Seele nun auch zu einem Teil der Dunkelheit? Unbewusst griff sie zu ihrem Amulett. Es pulsierte warm unter ihren Fingern, und seine Farbe hatte sich nicht verändert. Sie spürte, dass Timbor sie beobachtete.

»Wir sollten aufbrechen. Die Piraten sind fort«, erklärte sie tonlos.

»Kein Tod sollte verschwendet sein«, zitierte er leise Saniras Worte von einst, und es trieb ihr die Tränen in die Augen. »Wenn du mir hilfst, sind wir schneller fertig.«

Unfähig, ihm zu antworten, sammelte Vivien weiteres Feuerholz auf, um das restliche Fleisch zu braten.


Schweigend lag er in dem voll beladenen Boot. Ob er schlief oder die Augen offen hatte, konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen. Auch in dieser Nacht leuchteten die Sterne, und der Halbmond zeigte ihr den Weg. Kein Wort war mehr zwischen ihnen gefallen. Sie war ihm dankbar für die Stille. Etwas in ihr hatte sich verändert, doch sie wagte nicht, sich damit auseinanderzusetzen. Sanft pulsierte das Licht in ihrem Innern. Ab und an sendete es einen Impuls durch ihren Körper. Das geschah immer dann, wenn sie Timbor ansah oder er ihr zu nahe kam. Sorgsam hielt sie deshalb Abstand zu ihm und vermied es, ihn anzusehen. Der Sand knirschte leise unter dem Bug. Wie aus dem Nichts waren ihre Männer da, unter ihnen Jannis, und halfen ihr, das Boot höher auf den Strand zu ziehen.

»Wie weit sind die Arbeiten an den Schiffen?«

»Die Sturmvogel ist bereit. Die Neptun wird morgen fertig. Was ist mit den Piraten?«

Sie atmete tief durch. »Sie haben ihren Posten aufgegeben. Wir werden also direkt morgen in See stechen. Ein Sturm zieht auf, und je eher wir auf dem offenen Meer sind, desto besser.«

»Ihr habt gejagt?«

Sie starrte auf das Fleisch, das die Matrosen eben entluden. »Meine Beute. Es war ein wenig langweilig, ständig aufs Meer zu starren.«

Der Blick ihres Ersten Offiziers wanderte kurz zwischen Timbor und Vivien hin und her. Timbor hatte feinsinnig erkannt, das sie Abstand von ihm brauchte, und war auf der gegenüberliegenden Seite aus dem Boot gesprungen, um es mit an Land zu ziehen.

»Bringt das Fleisch rüber zu den Forranern. Ihre Reise wird länger dauern als unsere.«

Sie sah den Männern zu, wie sie den Proviant entluden. Fröstelnd wickelte sie sich in den Umhang. Mit einem Kopfnicken entfernte sich der Offizier der hohen Garde von ihr. Sie blieb mit Jannis allein zurück.

»Alles in Ordnung mit dir, Kapitän?«

»Ja.«

»Ist etwas geschehen?«

»Nein.«

»Hast du herausgefunden, weshalb die Piraten hinter den Forranern her waren?«

Einen Moment starrte sie ihn nur an. Die Mädchen. Sie hatte die Mädchen völlig vergessen. Die Piraten waren von dannen gezogen, die Passage frei. Ihre Wege trennten sich hier. Nächstes Jahr konnte sie sich mit den Folgen ihres Handelns auseinandersetzen. Heute war sie abgrundtief erschöpft, und ab morgen gäbe es nur noch ein Ziel für sie: ihre Männer heil zu ihren Familien nach Hause zu bringen.

»Nein«, log sie, »und es spielt auch keine Rolle mehr. Sieh zu, dass die Männer mit den Arbeiten fertig werden.«

»Willst du über Nacht hier auf der Insel bleiben?« Ihr Erster Offizier formulierte die Frage vorsichtig. Er kannte ihr Temperament und hatte nicht vor, sie mit Vorschriften zu reizen.

Ein flüchtiges Lächeln entwischte ihr, aber nach all dem, was passiert war, hatte sie nicht vor, in der Nähe so vieler Männer zu schlafen.

»Nein, ich ziehe mich auf die Sturmvogel zurück und werde mich darum kümmern, dass an Bord alles für die bevorstehende Fahrt sicher vertäut ist.«

5

Neptun

Sie hatte tief und fest in der Koje in ihrer Kajüte geschlafen. Als sie an Deck ging, hatte die Sonne bereits ihren Zenit überschritten. Entschieden schob sie die Erinnerung an das, was auf der Insel geschehen war, aus ihren Gedanken fort und kletterte rasch den Großmast hoch in den Ausguck. Sie atmete die frische Luft tief ein und schloss die Augen. Überall auf ihrer Haut spürte sie die Energie ihres Elementes. Mit der Hand strich sie sanft durch die Luft und verdichtete sie an einigen Stellen, bis ein kleines Segelboot entstand. In der detaillierten Feinheit des Abbildes erkannte sie zufrieden, dass sie fokussiert und konzentriert arbeitete. Der Schiffsjunge, der den Ausguck besetzt hielt, drehte ihr den Rücken zu, wie ihr ein kurzer Blick zeigte, ganz so, wie es von jedem erwartet wurde, wenn sie hier oben war.

Erneut wandte sie ihre Aufmerksamkeit ihrem Element zu und streckte ihren Geist aus. Es war, als würde ihre Seele zu einem Teil der sie umgebenden Luft werden, sich von ihrem Körper lösen und einem Nevarn gleich durch die Luft gleiten. So wie sich ein Feuer knisternd durch das Holz fraß, so spürte sie die Spannung in den Winden. Die einen führten eisige Kälte mit sich, die anderen feuchte Wärme. Jetzt, zum Winter hin, war der Temperaturunterschied besonders groß. Die kalte Luft war schwerer als die warme Luft, die beim Hochsteigen entlang der kühlen Grenzen noch weiter an Gewicht einbüßte, weil sie ihre Feuchtigkeit verlor. Je rascher all das geschah, desto mehr gewannen jene Winde an Geschwindigkeit, die, aus welchen Gründen auch immer, eine feste Bahn entlangzogen. Nicht anders, als es die Naturgewalten von sich aus machten, lenkte Vivien die Luftmassen nach demselben Prinzip. Noch waren die Winde damit beschäftigt aufeinanderzutreffen, doch die Sonne sorgte hoch am Firmament mit der Kraft ihrer Strahlen dafür, dass sich die Luft weiter erwärmte, nach oben stieg und durch die Abkühlung Regen entstand. Ein gewaltiger Sturm braute sich über ihnen zusammen.

Kaum berührten Viviens Füße wieder die Schiffsplanken, bellte sie schon ihre Kommandos. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich die Sturmvogel in einen wimmelnden Ameisenhaufen. Vivien hingegen kroch in jeden Winkel, prüfte jedes Brett und jedes Tau und half, die Ware festzuzurren. An der gesamten Reling entlang wurden Taue für die Männer angebracht, die im Sturm auf Deck arbeiten mussten. Flink kletterte sie den Fockmast hoch, nahm sich dort jede Verbindung vor, danach am Großmast und zuletzt am Besanmast.

Ihre Besessenheit, jeden Zentimeter des Schiffs zu prüfen, machte sich bei der Crew in einem Anstieg der Spannung bemerkbar. Mit großen Augen huschten die Schiffsjungen ihr aus dem Weg oder wurden von den Matrosen fortgescheucht. Zwei, drei Mal klopfte sie den Jungen auf die Schulter, um ihnen Zuversicht zu geben. Schließlich kehrte die Mannschaft von der Insel auf die Sturmvogel zurück.

Besorgt sah Vivien zur Neptun hinüber. Sie war wesentlich stabiler gebaut als ihr Schiff und lag schwerer im Wasser, ließ sich also von schlechtem Wetter weniger leicht aus der Ruhe bringen. Der Sturm, der ihnen bevorstand, würde sie jedoch womöglich unerwartet hart treffen. Auch dort herrschte geschäftiges Treiben. Jannis stellte sich zu ihr, während sie durch das Fernrohr sah. Einer von ihnen musste das andere Schiff aus der Passage segeln, damit es überhaupt auf dem offenen Meer eine Aussicht hatte, nach Hause zurückzukehren.

»Wird es möglich sein, dass ich auf die Sturmvogel zurückkehre, wenn die Neptun auf dem offenen Meer ist?«, fragte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Vivien schob das Fernrohr zusammen und wandte sich ihrem Ersten Offizier zu. Sie hatte schon eine Entscheidung getroffen. »Nein. Darum wirst du sie auch nicht hinaussegeln.«

Heftig schüttelte er den Kopf. »Du wirst hier auf der Sturmvogel gebraucht …«

»… die du sicher in den Hafen von Tinau segeln wirst!«

»Niemand kennt die Winde so wie du.«

»An Bord der Neptun befinden sich mehr als achthundert Mann.«

»Sie haben sich selbst in diese Situation gebracht.«

»Was für einen Sinn hätte es, ihnen erst das Leben zu retten und sie danach in den Tod segeln zu lassen?«

»Du bist eine Frau, und du kennst den Aberglauben der Seefahrer.«

Sie schmunzelte. »Ich bin keine Jungfrau!«

Tatsächlich verfärbten sich Jannis’ Wangen bei ihren offenen Worten tiefrot. »Das können sie nicht wissen.«

»Stimmt, aber ich bin auch nicht das einzige weibliche Wesen an Bord der Neptun.«

Er brauchte einen Augenblick, um das zu begreifen. Dann weiteten sich seine Augen. »War das der Grund …? Aber wieso? Jagen denn Piraten mit einem Aufgebot von mehreren Schiffen ein bis an die Masten bewaffnetes Kriegsschiff wegen einer Frau?«

»Die Frage kann ich dir nicht beantworten. Lass Andrés den Forranern signalisieren, dass ich an Bord komme, derweil packe ich Wechselkleidung, meine Hängematte und ein paar Felle zusammen.«


Zurück in ihrer Kajüte setzte sie sich an den Schreibtisch, spitzte die Feder und tauchte sie in die Tinte. Zuerst schrieb sie ihren letzten Logbucheintrag mit dem Vermerk, dass sie die Verantwortung für das Schiff an ihren Ersten Offizier übertrug. Danach holte sie ein Blatt Papier, runzelte kurz die Stirn und begann, einen Brief an Ricarda und Sanira zu schreiben. Sie steckte die Seiten in einen Umschlag, versiegelte ihn und packte ihn zuletzt sorgsam in Wachstuch ein.

Es klopfte an ihrer Tür, und Jannis steckte den Kopf herein. »Gibt es irgendetwas, womit ich dich an deinem Vorhaben hindern kann?«

»Nein.« Sie stand auf und nahm ihr Bündel.

Er seufzte. »Das dachte ich mir. Das Beiboot der Neptun wartet auf dich.«

Sie schlang die Arme um den Mann, der sie so viele Jahren treu auf See begleitet hatte.

Er erwiderte ihre Umarmung. »Komm heil wieder zurück.«

»Das werde ich.« Sie überreichte ihm den Umschlag, auf den er starrte, als hätte sie ihm eine giftige Schlange gegeben.

»Schau nicht so. Pack es in dein Hemd und gib es meiner Mutter bei deiner Ankunft. Dann weiß sie Bescheid.«

»Worüber?«

»Wo ich bin. Damit sie sich keine Sorgen macht. Wer weiß, womöglich bin ich noch vor dir in Tinau.«

»Bei Lethos, so soll es sein.«

»Pass gut auf meinen Sturmvogel auf. Ein Kratzer, und ich lass dich persönlich das gesamte Oberdeck auf deinen Knien schrubben.«

Jannis grinst schwach. »Keinen einzigen Kratzer. Aye Kapitän.«


Statt Matrosen saßen in dem Beiboot Soldaten der Hohen Garde mit dem Abzeichen der Schlange. Vom Deck der Neptun ließ man eine Schaukel herunter, um Vivien hochzuziehen. Kopfschüttelnd und ein wenig gekränkt schnappte sie sich das Seil und kletterte geschwind die Bordwand hoch. Die spürbare Spannung auf dem Schiff war das Erste, was ihr auffiel, und als Nächstes, wie sich die Schiffsmannschaft von den Soldaten absonderte. Zwei der Letzteren standen in ihrer Nähe – voll bewaffnet. Zuletzt starrte sie auf die losen Taue. Weder hatte jemand die Masten auf ihre Sturmtauglichkeit überprüft, noch gab es Seile entlang der Reling, an denen sich die Deckmannschaft bei einem Sturm würde sichern können. Auch die Kanonen auf dem Achterdeck waren nur unzureichend gesichert.

»Wer ist der Kapitän?«

Ein Mann in der Uniform des forranischen Heeres trat vor, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Vivien finster an.

»Das bin ich!«

Sie musterte den schwarzhaarigen, dunklen Mann mit dem Vollbart, dessen Augen wie glühende Kohlen aus dem behaarten Gesicht hervorstachen. Sie verschwendete keine Zeit mit Geplänkel, sondern kam direkt zur Sache.

»Es ist meine Aufgabe, die Neptun sicher aus der Passage zu steuern. Seid Ihr in der Zeit der Vorwinterstürme schon mal auf dem offenen Meer gesegelt?«

Er trat ein paar Schritte näher an sie heran und baute sich demonstrativ vor ihr auf. Doppelt so breit wie sie und mit Armen, die an Baumstämme erinnerten, überragte er sie um Haupteslänge. Sie stemmte beide Beine auf die Planken und ließ ihre Arme locker herunterhängen. Sie hatte keine Zeit, um den Mann in einem Faustkampf auf seinen Platz zu verweisen. Die Soldaten traten ebenfalls dichter an sie heran, aber sie konnte nicht einschätzen, ob sie das taten, um sie zu beschützen oder um sie zu bedrohen. Jedenfalls trug es nicht dazu bei, die Anspannung zu verringern.

»Seit vier Jahren bin ich schon Kapitän auf diesem Schiff und hab es durch so manches schwierige Fahrwasser gesteuert!«

»Ist das so? Dann erklärt mir, warum die Kanonen auf dem Deck so unzureichend befestigt sind. Wo sind die Seile für die Männer, die im Sturm auf Deck zu arbeiten haben? Die Segel müssen am Anfang so gesetzt sein, dass wir leicht und schnell manövrieren können. In dem Moment, wenn wir die Passage verlassen, benötigen wir die Achtersegel und das Großsegel, damit wir von den Inseln wegkommen. Die gesamten Klüversegel sind noch nicht am Klüverbaum befestigt. Wann gedachtet Ihr das zu befehlen? Wenn wir auf See sind?«

Wenn Blicke töten könnten, wäre sie im nächsten Moment tot umgefallen. Bevor der Kapitän sie am Kragen packen konnte, schob sich Timbor schützend vor sie.

»Vorsicht Utz, sie steht unter meinem Schutz!«

Ein böser Fehler! Sie musste sich selbst Respekt verschaffen, sonst würde niemand mehr auf sie hören, wenn ihr aller Leben davon abhinge.

Mit aller Entschlossenheit schob sie sich an Timbor vorbei und stellte sich direkt unter die Nase des Kapitäns. »Mag sein, dass Ihr die Neptun seit vier Jahren befehligt, aber ich segelte schon auf diesen Meeren, da habt Ihr noch an der Brust Eurer Amme gehangen.«

Natürlich war das eine absolute Übertreibung, die aber ihr Ziel nicht verfehlte. Zornesröte färbte die Wangenknochen des Kapitäns tiefrot, aber sie war noch nicht fertig.

»Jetzt verstehe ich auch, warum die eldemarische Kriegsflotte euch auf dem Meer den Garaus machte. Bei der schlampigen Auftakelung Eures Schiffes ist es ein Wunder, dass es noch nicht an irgendeiner Klippe zerschellt ist. Amateur!«

Sie reagierte flink und mit aller Wucht, bevor er es auch nur schaffte, die Faust hochzunehmen. Ihr erster Schlag traf ihn direkt unter dem Kinn, der zweite in die Weichteile, und mit einem Fußwischer zog sie ihm die Beine weg, sodass er auf dem Kreuz landete. Ihr Dolch berührte seine Kehle, bevor er ein zweites Mal Luft holen konnte. Er krümmte sich vor Schmerzen und stöhnte.

»Je rascher Ihr Euch mit mir arrangiert, desto zügiger seid Ihr mich wieder los. Und glaubt mir, es macht mir genauso wenig Freude, hier an Bord zu sein, wie Euch.« Leichtfüßig sprang sie auf die Beine und reichte ihm die Hand.

Er verschmähte das Angebot, wischte sich stattdessen den Schweiß von der Stirn und brachte langsam sein Gewicht auf die Knie, wobei er sich den Unterleib hielt. Hasserfüllt sah er sie an.

Sie nickte knapp. Besser jemand, der sie hasste, als jemand, der sie ignorierte. Er würde sich nichts von ihr befehlen lassen, aber er würde dafür sorgen, dass alles, was sie angesprochen hatte, in Ordnung gebracht wurde. Allein schon, um ihr zu beweisen, dass er wahrhaftig der Kapitän des Schiffes war.

»Habt ihr nichts Besseres zu tun als blöd zu glotzen? An die Arbeit oder es setzt Hiebe!«, brüllte Utz seine Männer an.

Eine hektische Betriebsamkeit entstand, und Vivien war allein mit den Soldaten, die die Stellung gehalten hatten, bereit, im Zweifel einzugreifen. Um dem Kapitän und der Mannschaft ein wenig Raum zu geben, wandte Vivien sich an Timbor, der sie mit grimmiger Miene im Auge behielt.

»Du hast dir einen Feind gemacht«, bemerkte er trocken.

»Ist nicht der erste. Wo kann ich meine Kleiderbündel trocken lagern?«

»In meiner Kajüte, und das kannst du dir selbst zuschreiben. Nach diesem Auftritt gibt es keinen anderen Platz mehr, wo du sicher bist.«

»Ich brauche keinen Aufpasser!«

»Stimmt. Was du brauchst, ist eine Tracht Prügel!«

Er ging voraus und sie folgte ihm.

Eine Kanone, eine Truhe, ein Vorhang, hinter dem sich der Nachttopf befand, und zwischen zwei Balken hing an vier Tauen befestigt eine Kiste. Ein anderes Wort fand sie nicht dafür. Sie war einem Sarg nicht unähnlich, und darin lagen dicke Felle und eine Decke.

Timbor verbeugte sich spöttisch vor ihr. »Mein Reich, das ich bereit bin, mit dir zu teilen.«

Sie hängte ihre Hängematte an zwei weiteren Haken auf, die ganz offensichtlich eigens dafür frisch in die Pfosten geschlagen worden waren. Es war also nie vorgesehen gewesen, sie woanders unterzubringen, aber sie hielt ihren Mund. Das Kleiderbündel und die Felle warf sie in die Matte. Wer konnte wissen, wann sie die Gelegenheit bekäme, sich auszuruhen? Und so brauchte sie in dem fremden Raum nur eine einzige Stelle zu finden, an der all ihre Sachen lagen, wenn sie sich im Dunkeln ohne Lampe zurechtfinden musste.

»Ich kenne schlimmere Unterkünfte«, gab sie zurück, da ließ sie ein schriller Schrei zusammenfahren.

»Verdammt!«, stieß Timbor zwischen den Zähnen hervor, quetschte sich an ihr vorbei und lief wie gehetzt aus der Kammer.

Vivien folgte ihm durch den engen Gang. »War das eines der Mädchen?«

»Ja. Und die gesamte Schiffsmannschaft glaubt, sie wären verflucht. Und schon kommt die nächste Frau an Bord und verprügelt den Kapitän. Dir ist hoffentlich bewusst, dass alle glauben, du hättest den guten Mann verhext?«

Sie presste die Lippen zusammen. Dieser Aberglaube konnte mitunter eine echte Gefahr darstellen. Er eilte weiter den Gang entlang, bis sie zu einer Tür kamen, vor der zwei Soldaten standen.

»Habt ihr ihnen etwas zu essen gegeben?«

»Jawohl, Sir.«

»Spar dir den Titel, Wulf, wir sind unter uns.«

Der Angesprochene starrte Vivien an. »Noch eine?«

Timbor wandte sich zu ihr um. »Ich glaube, es ist besser, wenn du zurück in die Kajüte gehst.«

Energisch schüttelte sie den Kopf und versuchte, an ihm vorbei durch die Tür zu gehen. Aber er blockierte den Eingang rasch mit seinem Arm.

»Wir hatten keine andere Wahl. Nachdem ein Mädchen umgebracht wurde, mussten wir sicherstellen, dass sie sich nicht weiter gegenseitig töten. Auf dem Schiff gibt es nur wenig Platz, und ich wollte sie nicht getrennt in den unteren Frachträumen einsperren, wo ich sie nicht mehr beschützen kann.«

»Lass mich da rein! Sofort!« Viviens Herz schlug höher, denn von drinnen kam erneut ein gellender Schrei. Innerlich machte sie sich auf das Schlimmste gefasst.

Sein Gesicht war eine steinerne Maske, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Widerstrebend ließ er den Arm sinken, und sie drückte vorsichtig die Tür auf. Timbor folgte ihr dicht auf dem Fuß und prallte gegen sie, weil sie nach den ersten Schritten wie angewurzelt stehen blieb.

Hätte er ihr nicht im Weg gestanden, sie hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder hinausgestürmt. Eisige Kälte breitete sich in ihr aus, ihr Amulett dagegen fing an zu glühen.

Die Mädchen fixierten sie. Durch den Raum waberte eine unnatürliche Dunkelheit wie Nebelschwaden, die nicht einmal das Licht durchdringen konnte, das durch das Bullauge in den Raum fiel. Der Ursprung der Nebelfelder schien bei den Mädchen selber zu liegen. Auf Vivien machte es den Eindruck, als sähe sie durch einen fadenscheinigen, heftig durchlöcherten Mantel. Dort, wo keine Schwade schwebte, sah sie alles deutlich. Es erinnerte sie viel zu sehr an das Erlebnis im Lagerhaus, damals in Tinau, als Prinz Tarkan Tamara die schwarze Flüssigkeit hatte einflößen lassen.

»Stammen diese Mädchen aus Mintra?«, flüsterte Vivien unwillkürlich.

»Nein, sie sind Forranerinnen«, gab er ebenso leise zurück.

Es gab drei Kojen in dem Raum. In die Kajütenwände waren drei Eisenringe geschlagen worden, von denen eiserne Ketten ausgingen. Manschetten an den Fußgelenken der Mädchen waren jeweils damit verbunden.

Eines der Mädchen lag bäuchlings auf dem Boden und hatte anscheinend versucht, dasjenige, das ihr am nächsten war, zu erreichen, aber die Reichweite der Kette hatte es nicht zugelassen.

Das andere Mädchen stand an die Wand gepresst, den Mund und die amberfarbenen Augen weit aufgerissen.

Fauchend kam das Mädchen vom Boden auf die Knie. Obwohl Vivien sah, dass es frische Sachen im Raum gab, Wasser zum Waschen, Seife und Handtücher, stank es hier erbärmlich nach Schweiß, Urin und Kot. Die Haare der Mädchen waren verfilzt, ihre Gesichter von einer Dreckschicht bedeckt. Wilde Tiere – nein, schlimmer, Kreaturen, die ihrer Seele beraubt waren.

»Wie lange ist es her, dass ihr sie aus der Hand der Piraten befreit habt?«

»Zwei Wochen.«

»Hat sich ihr Zustand inzwischen verändert?«

Er zögerte mit einer Antwort. »Sie sind ruhiger geworden.«

Vivien ging auf das dritte Mädchen zu, das in seiner Koje hockte, die Beine angezogen mit dem Körper hin und her schaukelte und dabei eine Melodie summte.

»Wie heißt du?«

Ein scheuer Blick, und das Mädchen rutschte ein Stück tiefer in die Ecke. »Marietta.«

Fast hätte Vivien es überhört, so leise sagte sie es.

»Hallo Marietta, ich bin Vivien.« Sie reichte ihr die Hand und wartete geduldig, bis Marietta sie ergriff. Dabei spürte sie die lauernden Blicke der anderen zwei. Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, pures Eis anzufassen. Ihre Haut bekam einen sanften Schimmer, dann konnte sie Wärme spüren.

Marietta betrachtete erst ihre Hand, dann legte sie den Kopf schräg und sah sie an. »Du bist das Licht«, wisperte sie.

»Wer hat dir das angetan?«

Hastig entzog ihr das Mädchen seine Hand, schlang die Arme um seine Beine und presste sich an die Wand.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Marietta. Ich möchte dir nur helfen.« Vivien stiegen die Tränen in die Augen. Sie dachte daran, wie sie Tamara ihrem Schicksal hatte überlassen müssen, was sie nie verwunden hatte. Nie hatte sie sich sehnlicher gewünscht, Heilkräfte zu besitzen.

»Ich heiße Irma. Reichst du mir auch die Hand?«, lockte das Mädchen, das zuvor auf dem Boden gelegen hatte. Hellgraue Augen sahen Vivien mit irrem Blick an.

Vivien stand auf und ging auf sie zu. Kaum war sie in Reichweite, stürzte Irma sich auf sie. Mit dem Arm wehrte Vivien den Angriff ab, packte das Mädchen und umklammerte es. Wie ein Blitz schoss Licht über ihre Haut und Irma schrie auf, dann wurde sie in Viviens Armen schlaff. Erschrocken ließ Vivien sie los.

Timbor fing das Mädchen auf und legte es auf die Koje.

»Ist sie tot?«, fragte Vivien.

»Nein, sie lebt. Was ist passiert?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Das Boot fing an zu schwanken. Die Tritte der Matrosen dröhnten über ihnen.

Grimmig knirschte Timbor mit den Zähnen. »Ich wusste, er würde nicht warten. Du musst das Schiff aus der Bucht steuern.«

Bewegungslos stand Vivien in der Mitte des Raumes.

Er baute sich vor ihr auf. »Es gibt nichts, was du für die Mädchen jetzt tun kannst, außer das Schiff sicher nach Brycgstow zu segeln. Dort gibt es jemanden, der sie hoffentlich heilen kann.«

Sie schüttelte den Kopf, weiterhin starr vor Entsetzen und Kälte.

Timbor packte sie an den Schultern. »Sieh mich an, Vivien!«

Sie hob den Kopf und versank in seinen moosgrünen Augen. Sie fühlte, wie das Licht sich in Windeseile in ihrem Körper ausbreitete. Rasch löste sie sich von ihm, bevor das nächste Unglück geschehen konnte. Sie verharrte einen Moment, als sie merkte, dass die Dunkelheit sich aus dem Raum zurückgezogen hatte. Auf einmal wirkte alles nicht mehr so düster.

Auch Timbor sah sich verblüfft um. »Was hast du gemacht?«

»Nichts«, antwortete sie genauso ratlos wie er.

»Komm, wir haben dafür jetzt keine Zeit.«

Mit einem letzten Blick auf die Mädchen folgte sie ihm aus der Kammer.


Feindseligkeit schlug ihr von allen Seiten entgegen. Konzentriert steuerte sie die Neptun zwischen den Riffen in der Passage hindurch. Statt sich darauf zu verlassen, dass die Männer ihren Befehlen mit der Takelung der Segel folgten, verband sie sich mit dem Wind und lenkte so das Schiff. Es war riskant, denn es kostete sie Kraft, die sie dringend brauchen würde, sobald sie die schützende Enge der Farukinseln verlassen und auf das offene Meer steuern würden. Die Sturmvogel folgte ihnen dicht auf. Jannis musste sein volles Vertrauen in die Mannschaft setzen, da sie sich diesmal nur auf das eine Schiff konzentrierte. Zusätzlich kam für ihn erschwerend hinzu, dass die Neptun langsamer als die Sturmvogel voraus durch das Wasser glitt und nicht annähernd so wendig war wie die Handelsschiff-Fregatte.

Timbor stand schräg hinter Vivien, während vier seiner Männer das Achterdeck an strategischen Stellen absicherten. Sie alle hatten sich mit Seilen an der Reling befestigt. Vivien hatte sich zusätzlich am Steuerrad angebunden.

Dunkle Wolken ballten sich am Horizont zusammen. Windböen kamen auf. Eisige Luft fuhr ihr unter die Kleidung und ließ ihre Finger taub werden. Die erste heftige Sturmböe erwischte sie, sobald sie aus der Passage in das offene Meer hinaussegelten.

»Refft die Untersegel! Setzt das Großmarssegel!«, bellte Vivien über das Deck.

Zu ihrem Erstaunen reagierten die Männer prompt, vielleicht, weil sie sahen, was auf sie zukam. Sie wartete, bis das Schiff ganz aus der Passage geschossen war und genügend Abstand zu der Inselgruppe erreichte. Jetzt musste sie eine Wende einleiten.

»Refft das Großmarssegel, setzt das Vorbramsegel!«

Sanft legte sie das Schiff in die nächste Welle und ließ es von dem tobenden Element emporheben. Die Fahrt in das Wellental erfolgte rasch. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich einer der Soldaten erbrach. Grimmig biss sie die Zähne zusammen. Das würde keine leichte Fahrt werden.

»Setzt die Untermarssegel und refft die Obermarssegel!«

Besser nicht zu viel Wind einfangen. Rasch sah sie sich nach der Sturmvogel um. Das Schiff zerteilte das Wasser und flog geradezu an ihnen vorbei. Ihre Männer hatten schlimmere Stürme überstanden. Eine Welle traf die Neptun auf der Breitseite. Eine Kanone kam über das Oberdeck herangeschossen, schlug durch die Reling und stürzte in die Tiefe. Einer der Soldaten rutschte auf die Lücke zu, die die Kanone gerissen hatte. Geistesgegenwärtig löste Timbor sein Seil, sprang nach vorn und packte den Mann, während Vivien versuchte, das Schiff in eine stabilere Lage zu bringen. Doch es hatte sich nicht nur die eine Kanone auf dem Oberdeck selbstständig gemacht. Sie hörte Schreie und splitterndes Holz und spürte, wie der Schiffsrumpf sich gefährlich zu einer Seite neigte. Sie standen kurz vor dem Kentern.

Sie verfluchte Utz mit seiner Nachlässigkeit und ebenso den überstürzten Aufbruch und überlegte fieberhaft, welches Manöver ihnen jetzt am besten helfen konnte. Wenn sie das Schiff wendete, würde sich das Gewicht auf die andere Seite verlagern und die bereits gelösten Kanonen bekämen eine noch längere Rampe, um Fahrt und Wucht aufzunehmen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich die nächste Welle auftürmte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Wind in die Untersegel zu lenken. Damit würde sie Zeit gewinnen, damit die Männer die Kanonen wieder befestigen oder von Bord rollen konnten, bevor die nächste Welle sie wieder emporhob.

»Lethos steh mir bei«, keuchte sie. Sie brauchte alle Kraft, hielt aber das Steuerrad fest. Ihre Finger spürte sie kaum noch, und jeder Muskel in ihrem Arm war angespannt. Dann merkte sie, wie ihr das Schiff entglitt.

Jemand fasste das Steuerrad.

Timbor stemmte seinen Oberkörper gegen sie. »Was soll ich machen?«, schrie er gegen das Geheul des Windes an.

»Wir müssen den Kurs um eine Vierteldrehung nach Luv korrigieren, damit uns die nächste Welle nicht erwischt!«

»Aye, Kapitän, und welche Richtung ist das?«

»Links!«

Mit vereinten Kräften hielten sie das Schiff dem Wind zugekehrt. Es schlingerte. Sie musste das Untersegel am Großmast reffen.

»Kannst du das Steuerrad so halten, damit die Neptun in dieser Lage bleibt?«

»Was hast du vor?«

»Ja oder nein?«, brüllte sie.

»Ja!«

Sie nahm ihr Messer und schnitt sich von den Seilen los. Der Wind schob sie über das Deck. Sie lenkte ihn zum Großmast hin. Flink erklomm sie den Mast, erreichte die Querstange und machte sich daran, das Untersegel einzuholen. Zwei Matrosen hatten erkannt, was sie beabsichtigte, und waren ihr gefolgt. Gerade als sie es geschafft hatten, kam das Schiff erneut ins Schlingern, und einer der Männer verlor den Halt. Ohne weiter nachzudenken, packte Vivien eines der Taue, ließ sich hinter ihm herfallen und erwischte seine Hand im Flug. Bevor sie vom Schwung über Bord katapultiert werden konnte, ließ sie das Seil los, nahm den Wind zu Hilfe, um schließlich, wenn auch unsanft, auf den Füßen zu landen. Sie schlitterte mit ihrer Last über das Deck bis zur Reling, an der sie hängen blieben. Sie rappelte sich auf und half dem Matrosen auf die Beine, der nur benommen den Kopf schüttelte.

»Alles klar?«

»Aye«, erwiderte er eher unsicher.

Sie rannte zurück zum Steuerrad und schlüpfte unter Timbors Armen hindurch.

»Du bist doch von Sinnen! Das hätte dich das Leben kosten können – und uns auch!«, fuhr er sie zornig an.

Sie zitterte von Kälte und Anstrengung.

Die nächste Welle hob das Schiff empor und ließ es wieder hinuntersausen. Diesmal behielt es seine stabile Lage, ohne vom Sturm oder der aufgepeitschten See wie ein Spielball herumgeworfen zu werden. Vivien ließ ihre Sinne ganz behutsam mit den Winden eins werden, griff korrigierend in den Kurs ein, blieb völlig auf ihr Element konzentriert. Timbor gab ihr Halt zwischen seinen Armen, dem Steuerrad und seinem warmen Körper. So verlor sie jeden Bezug zur Zeit.

Irgendwann tauchte wie ein Schatten Kapitän Utz vor ihr auf. »Ich übernehme das Steuer.«

Der Sturm hatte nachgelassen. Die schwarzen Wolken, die sich am Horizont mit dem Meer zu vereinigen schienen, machten es unmöglich, die Tageszeit zu bestimmen. Steif gefroren und völlig erschöpft nickte sie nur. Sie wusste, dass sie noch Kräfte für das nächste Unwetter sammeln musste, das bald aufkommen würde.

Timbor folgte ihr auf dem Weg zu den Kajüten. »Zieh dich um, ich organisiere etwas zu essen.«

Auch dieser Aufforderung folgte sie, ohne zu widersprechen. In der Kammer angekommen schälte sie sich aus der kalten, nassen Kleidung und zog sich nur ein dickes Wollhemd und lange Hosen an, bevor sie in ihre Hängematte schlüpfte. In dem düsteren Zwielicht dauerte alles viel länger, weil sie jede Kleinigkeit ertasten musste. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, kam ihr Zimmergenosse herein, bewaffnet mit einer Laterne, Schiffszwieback, trockenem Fleisch und einer Flasche Rum.

»Erst essen, dann schlafen. Halt mal bitte die Kerze.« Er legte das Essen in seine Schlafstatt und zerrte sich seinerseits das nasse Zeug vom Leib.

Rasch kniff Vivien die Augen zusammen.

»Achtung! Die Kerze.«

Heißes Wachs tropfte ihr auf die Hand. Sie öffnete fluchend die Augen und erstarrte, als sie erst einmal Timbor nackt im Kerzenschein erblickte, der sich mit einem Tuch die Haare trocken rubbelte. Sie hielt die Kerze etwas höher, damit sie ihn besser betrachten konnte. Aus dem schmächtigen Jungen war wirklich ein Mann geworden. Sie mochte keine muskulösen, übermäßig breitschultrigen und behaarten Männer, die in ihrer Gestalt Bären glichen. Timbor war sehnig und muskulös, was ihn zu einem flinken, ausdauernden Kämpfer machte. Er brauchte in einem Zweikampf Taktik und Strategie, um sich gegen Kraft und rohe Gewalt durchzusetzen. Als Kind hatte er all diese Eigenschaften bereits besessen.

»Vivien, hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass es sich für eine Frau nicht ziemt, einen nackten Mann so schamlos zu begutachten, als wäre er ein Stück Fleisch?«

»Du hast dich ausgezogen. Was erwartest du?«

»Zumindest so viel Anstand deinerseits, die Augen geschlossen zu halten. Was jede sittsame Frau machen würde.«

»In dem Fall hättest du mir keine Kerze in die Hand geben dürfen. Außerdem bin ich keine sittsame Frau.«

Er lachte, zog sich ein frisches Hemd und eine Hose an und nahm das Essen von seinem Lager. Er reichte ihr einen Teil davon.

»Sind wir auf Kurs geblieben?«, hakte er nach.

»In etwa.«

»Wie machst du das eigentlich?«

»Ich kenne jede Insel, jeden Felsen und alle Meeresströmungen zu jeder Jahreszeit. Der Sonnenstand und die Sterne sind meine Orientierungspunkte. Außerdem gibt es nur drei Strecken auf der Handelsroute, auf denen du für höchstens vier bis fünf Tage keine Sicht auf eine Küste hast.«

»Du kannst in der Finsternis des Sturms unmöglich etwas erkannt haben.«

»Wenn ich mich darauf konzentrierte, was die Blitze kurz beleuchteten, dann schon.«

Es war gelogen. Sie nutzte bei diesem Wetter ihre Verbindung zur Luft. Jeder Wind trug seine Herkunft im Geruch mit sich. Die Winde, die auf dem Meer durch Wärme und Kälte auf Höhe der Farukinseln entstanden, strömten immer landeinwärts. Das hatte Jannis sie gelehrt.

Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Mannschaft auf der Sturmvogel. Sie hoffte, dass sie die Sturmwinde leichter hatten nutzen können und dass sie schneller vorankämen. Tinau lag zwei Tage weniger weit entfernt von hier als Brycgstow, die Hafen- und Hauptstadt von Forran. Wenn alles gut gelaufen war, würde ihr Schiff schon morgen in den Hafen der Pilgerstadt Tinau in Eldemar einlaufen.

»Wie lange, bis wir in Brycgstow ankommen?«, unterbrach Timbor ihren Gedankengang.

»Das Wetter kann ich nicht vorhersagen.«

»Wenn es so bleibt wie bisher?«

»Und wir den Kurs beibehalten können? Vier, fünf Tage.«

»Vier, fünf Tage?« Sie hörte den Schock in seiner Stimme. »Hatten wir es schon mit einem Wintersturm zu tun?«

»Oh nein, das war lediglich ein Vorbote. Wir können nur hoffen, dass wir in den Hafen einlaufen, bevor die Winterstürme uns erwischen. Die Neptun mag ein beachtliches Kriegsschiff sein, aber einem Wintersturm könnte sie nicht standhalten. Du hast gesehen, was passiert, wenn nur die Kanonen ihren Halt verlieren. Nur ein paar mehr, und wir wären mit Sicherheit gekentert.«

»Der Kapitän hat die Männer angewiesen, die Befestigungen zu verstärken und alles noch mal zu prüfen.«

»Du musst die Mädchen von den Ketten losmachen.«

»Was für einen Unterschied macht das, wenn wir untergehen? Niemand würde es überleben.«

»Wenigstens hätten sie dann eine winzige Chance.«

»Vorausgesetzt, sie bringen sich nicht gegenseitig um.«

»Wer hat ihnen das überhaupt angetan?«

»Es spielt keine Rolle mehr. Er ist tot.«

Sie zögerte. Konnte sie ihm vertrauen? Außer mit Sanira hatte sie bisher mit niemandem darüber gesprochen, was sie damals in Tinau erlebt hatte. Sie hatte gedacht, dass mit dem Tod von Prinz Tarkan all das ein Ende gefunden hätte, ohne zu wissen, was es damit in Wahrheit auf sich hatte. Doch wenn einer in die Fußstapfen des Prinzen getreten war, wäre es für jede Frau, die die Begabung hatte, gefährlich, sich mit einem der Elemente zu verbinden. Sie hatte diesen Umstand, dass es nämlich nur bei Frauen funktionierte, erst viel später durch ihre Nachforschungen in Erfahrung gebracht. Sonas von Bersaken hatte eine blinde Zwillingsschwester, Serena, die Tarkan einst für seine ersten Experimente missbraucht hatte. Dafür hatte Sonas seinen Halbbruder gehasst. Thelos ging es ebenso. Er stand seinem Bruder Sonas sehr nahe und liebte Serena genauso wie dieser über alles. Es war nicht leicht gewesen, die Informationen von den beiden zu erhalten, aber Vivien und Sanira hatten das Vertrauen der Männer gewonnen. Serena hatte von Thelos erfahren, dass Vivien mithilfe des Elementes Luft sehen konnte, und so waren sie miteinander in Kontakt gekommen.

Der Kreis der in die Praktiken von Prinz Tarkan Eingeweihten war klein. Thelos hatte keinen von denen am Leben gelassen, die fähig gewesen waren, all diese Mädchen ihrer Kräfte zu berauben – sie zu einem Teil der Dunkelheit werden zu lassen, wie Sonas es bezeichnete.

»Waren es nur die vierzehn Mädchen?«

»Nein. Es waren vierzehn, die noch lebten.«

»Wie viele?«

»Schätzungsweise fünfundzwanzig. Es ist schwer, es exakt zu sagen, weil sie überwiegend aus den Armenvierteln der Städte oder vom Land stammten.«

»Niemand hat sie vermisst.«

»Das eine Mädchen in der Kammer hat nicht mal einen Namen. Es wurde von den eigenen Eltern für zwei Goldmünzen verkauft.«

»Da ist sie nicht die Einzige. Meistens landen diese Mädchen in Frauenhäusern und nicht auf einem Schiff.«

»Du hattest schon immer ein Herz für die verlorenen Kinder.«

»Kinder und Frauen.«

»Was ist mit den Jungen?«

»Auch für die, wenn sie ein gutes Herz haben.«

»Dann darf ich mich wohl geehrt fühlen.«

»Nein, es gibt eine ganze Menge von ihnen. Der Großteil meiner Schiffsmannschaft setzt sich aus ihnen zusammen.«

Sie hörte sein Lachen und grinste in sich hinein. Aus all den Menschen, denen sie geholfen hatte, war ihr kleines Wirtschaftsimperium herangewachsen. Deshalb waren ihr die Männer an Bord der Sturmvogel auch treu ergeben. Jeden davon hatte sie vor dem Elend oder gar dem Tod gerettet.

»Wer war es, der die Mädchen aus Forran geraubt hat?«

»Es ist vorbei.«

»Wenn es so wäre, wieso waren die Piraten dann hinter dir her?«

»Weil ich sie in ihrem Stolz gekränkt habe, als ich die Mädchen direkt aus ihrem Nest stahl.«

»Also sind sie ein Teil des Komplotts.«

»Nein, sie wurden nur benutzt. Für sie war es eine lukrative Einnahmequelle, die nun versiegt ist.«

»Was macht dich so sicher?«

»Ich weiß es.«

»Du willst mir den Namen nicht sagen.«

»Vivien, du solltest dich ausruhen. Wir brauchen dich, wenn der nächste Sturm aufzieht.«


Kurz vor ihrem Ziel ließ sie ihr Glück im Stich. Einen halben Tag länger – nur einen halben Tag! Hätte das Wetter sich nicht noch so lange halten können? Vivien ratterte ihre gesamte Litanei an Flüchen herunter, die sie in all den Jahren in Hafengassen und auf Schiffen aufgeschnappt hatte. Vom Steuermann der Neptun, der mit Unterstützung von Kapitän Utz das Schiff auf Kurs gehalten hatte, übernahm sie das Steuerrad. Der Wintersturm brachte Kälte und Eis mit. Die Planken wurden zu einer einzigen eisigen Rutschbahn. Nur der notwendigste Teil der Mannschaft war an Deck, der Rest hockte im Rumpf und schickte stumme Gebete an Lethos, den Herrn der Winde und des Feuers.

Sie verloren die ersten Matrosen, diejenigen, denen es an Erfahrung fehlte. Vivien zählte sie bald nicht mehr und versuchte, ihre Ohren vor den verzweifelten Schreien zu verschließen, was ihr genauso wenig gelang, wie ihr Herz abzuschotten. Die Feuchtigkeit in ihren Haaren verwandelte sich in Eis, ebenso ihre Schweißtropfen. Die Segel froren in der Form ein, in die die ersten Sturmböen sie gebracht hatten. Einfach alles wurde von einer Eisschicht bedeckt, wodurch die Neptun zu einem bizarren Gebilde erstarrte, einem Kunstwerk der Elemente. Wie sollte sie das Schiff steuern, ohne die Segel einzusetzen? Sie hörte das klirrende Knirschen des Segeltuches, als eine Sturmbö es seitlich traf, doch das Segel drehte sich nicht, sondern verharrte in seiner Position. Unbarmherzig wurden sie über das Meer getrieben, immer weiter fort vom sicheren Hafen und hinaus in den kalten Tod.

Viviens Blick wanderte zu den Beibooten. Konnte sie wenigstens einen Teil der Menschen an Bord retten, indem sie die Boote zu Wasser ließ? Sie schloss die Augen, verband sich mit dem tobenden Element und spürte sofort die Energie, die durch ihre Adern schoss und sie zu einem Teil des Sturmes werden ließ. Das Verlangen, mit den Winden eins zu werden, erfüllte sie mit einer Sehnsucht, die an ihrer Seele zerrte. Die Luft wisperte ihren Namen, doch sie durfte dem Drang nicht nachgeben. Ihr Wille, ihr Verstand, ihre Fähigkeit, sich mit dem Wintersturm zu verbinden, waren die letzte Hoffnung für die Menschen an Bord der Neptun. Die Männer waren von den letzten Tagen zu ausgelaugt, um die Beiboote gegen die Elemente bis zum Festland zu rudern, von dem sie sich mittlerweile weit entfernt hatten. Ihre Verzweiflung kämpfte mit der Ekstase, die in ihr tobte, ausgelöst durch die Verbindung mit ihrem Element.

Sie öffnete die Augen und erhaschte den Ausdruck von Hoffnungslosigkeit im Blick des Kapitäns. In den letzten Tagen hatte er sie mit seinen Bemühungen, sie nach Kräften zu unterstützen, überrascht. Dabei war sie davon ausgegangen, sich einen Feind fürs Leben gemacht zu haben. Es war aber nicht das erste Mal, dass ein Mann bereit war, seine Gefühle ihr gegenüber im Zaum zu halten, wenn es dabei um seinen eigenen Vorteil ging.

Timbors Arme umschlangen sie, und er zog sie dicht an sich. Es überraschte sie, welche Wärme von ihm ausging, obwohl er genau wie alle anderen von einer feinen Eisschicht bedeckt war. Sein Bart schabte an ihrer Wange, als er seinen Mund an ihr Ohr brachte.

»Wir sind so kurz vor unserem Ziel, Vivien. Du kannst nicht zulassen, dass wir hier sterben.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fauchte sie zurück, gereizt, weil er von ihr erwartete, Wunder zu wirken. Als ob sie nicht bereits alles Menschenmögliche versuchte!

»Keine Ahnung, doch auf der Insel hab ich gesehen, wozu du fähig bist. Jetzt ist nicht die Zeit, mit deinen Kräften zu haushalten!«

»Was glaubst du, was geschieht, wenn ich mich dem Sturm hingebe? Er wird mich mit sich reißen, und dann werde ich es sein, die euch in einem Wirbel auf den Meeresgrund zieht, mit einer Welle, die so hoch anschwillt, dass sie bis weit nach Alurin hineinreichen und alles mit sich in den Tod reißen wird!«

Und mit dem Tod all der unschuldigen Seelen würde sie zu einem Teil der alles verschlingenden Dunkelheit werden. So hatte es ihr Sanira erklärt.

»Wenn du nichts unternimmst, sind wir genauso dem Tod geweiht!«

Eine Sturmbö fuhr in die eingefrorenen Segel, wirbelte die Neptun einmal um sich selbst, dann knirschte es gewaltig und der Besanmast zerbarst.

Männer schrien in Todesqualen auf.

»Kappt die Seile!«, schrie der Kapitän gegen den Sturm an.

Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen, bevor sie vom Achterdeck bis zum Bug des Schiffes vordringen konnten. Dennoch reagierte die Mannschaft, schon weil alle erkannten, dass sie den Mast loswerden mussten, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte. Utz wandte sich zu Vivien um. Sie sah Verzweiflung und Resignation in seinen Augen. Er hatte aufgehört, gegen das unvermeidliche Schicksal anzukämpfen.

Sie atmete tief durch. »Halt mich fest.«

Er antwortete nicht. Sie fühlte nur, wie er den Griff um ihre Taille verstärkte. Hilf mir, Lishar, schütze meine Seele, steh mir bei in der Stunde meines Todes. Stumm wiederholte sie die Bitte wieder und wieder in Gedanken. Dann öffnete sie sich dem Sturm.

Es schien, als würde die Energie durch jede ihrer Poren in sie eindringen. Sie wurde davon fortgerissen, hinabgezogen in einen wilden Strudel purer Kraft, die sie in den Himmel emporzuheben schien. Das berauschende Gefühl unermesslicher Macht durchströmte sie, ließ die Menschen um sie herum wie winzig kleine Lichter erscheinen. Welche Rolle spielten sie schon auf dieser Erde? Die vielzähligen Male, da sie verletzt worden war, strömten durch ihre Gedanken, all die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren waren. Die Arroganz der Mächtigen, die Überheblichkeit der Männer, die ihr das fortzunehmen versuchten, was sie sich erarbeitet hatte. Sie sah Amara, die sie von ihrem Element hatte trennen wollen, egal ob sie dabei ihr Leben verlor. Du gehörst zu uns, deinem Willen beugen wir uns, flüsterte der Sturm ihr in ihren Gedanken ein. Zorn erfasste sie, dem sie sich hingeben wollte, um alles zu zerstören, was ihr jemals Leid zugefügt hatte. Und in der Verbindung echoten Tausende von Seelen mit, die keine Ruhe gefunden hatten, ballten sich um sie herum und vereinten sich mit ihr.

»Ich liebe dich, Vivien, hörst du? Du darfst dich dem Sturm nicht ganz hingeben! Du musst ihn kontrollieren! Ich glaube an dich, Vivien. Rette uns!«

Die Stimme war nur ein leises Wispern gegen all den Lärm, den die anderen Seelen verursachten, und doch berührte sie etwas, das tief in ihr verborgen schien. Durch die schwarze, undurchdringliche Dunkelheit bahnte sich ein sanftes Licht seinen Weg – nur der flackernde Schein einer Kerzenflamme, auf den sie all ihre Aufmerksamkeit richtete. Wirbelstürme tobten, aber sie schienen der Flamme nichts anhaben zu können, weil sie selbst sie beschützte.

Wie aus weiter Ferne sah sie ein Schiff in dem tobenden Wasser, die aufgebäumten Wellen, die es verschlingen wollten. Nein! Sie musste es retten! Vivien konzentrierte ihre Gedanken, leitete den Sturm fort. Eine Stille entstand, und die Wellen senkten sich. Das Meer wurde glatt. Ganz sanft ließ sie den Wind in die Segel fahren, lenkte die Neptun behutsam auf das Land zu.

Hinter ihr bäumte sich der Sturm zornig auf. Wie kannst du es wagen, in das Schicksal einzugreifen?, fauchte eine Stimme. Sie wandte sich ihr zu. Aus Eis hatte sich eine Gestalt geformt. Lethos, der Sohn Gottes, stand vor ihr. Sein Antlitz war im Zorn verzogen, Blitze entfuhren seinen blauen Augen.

Vivien warf einen letzten Blick zurück auf das Schiff, das gerade den Hafen der Hauptstadt von Forran erreicht hatte. Es war gut. Sie ging auf die Knie und senkte das Haupt vor Lethos. »Nimm mich, und lass sie leben«, wiederholte sie die Worte des Eides, den sie vor so vielen Jahren gegeben hatte.

Die Eisgestalt stürzte sich auf sie, hüllte sie ein – und jede Wärme wich aus ihrem Körper. Ihre Körpersäfte wurden zu winzigen Eiskristallen, die zerbarsten. Ihre Knochen zersplitterten, doch seltsamerweise verspürte sie keine Schmerzen. Schwarze, zäh fließende Flüssigkeit drang in sie ein und füllte sie vollkommen aus. Angst erfasste sie, und sie wusste, sie würde damit ihr Schicksal, gegen das sie all die Jahre angekämpft hatte, besiegeln. Sie lenkte ihre Gedanken auf den Menschen, der sie hielt, und auf die winzige Flamme in ihrem Innern. Liebe.

»Lishar, ich bitte dich als deine Tochter, sei meiner Seele gnädig und führe mich durch die Dunkelheit ins Licht.«

6

Brycgstow

Pure Verzweiflung vernebelte ihr die Sinne. Wenn sie versuchte, Luft zu holen, atmete sie stattdessen schwarze Flüssigkeit ein. Sie musste aufhören zu kämpfen, aber sie wollte nicht. Auf keinen Fall würde sie zu einem Teil der Dunkelheit werden. Panik ergriff sie. Da war sie wieder, die winzige Flamme in ihrem Innern, die mühselig versuchte, diese unnatürliche Finsternis mit ihrem Lichtschein zu erhellen. Vivien kroch näher an sie heran, spürte die Hitze, die von ihr ausging, hob sachte ihre Hand über den flackernden Schein. Wie eine Schlange wand die Flamme sich um ihren Arm und pflanzte sich von dort in einem irrsinnigen Tempo fort. Brennender Schmerz zeichnete den Weg des Feuers nach, das ihr Gesicht erreichte. Es drang in ihren Mund ein, in die Nase, die Ohren und in ihre Augen, die sie entsetzt aufgerissen hatte.

Sie lag in einem Zimmer – in einem Bett. Tageslicht drang durch drei Fenster herein und erhellte den Raum. Als sie mühsam den Kopf drehte, der dabei zu bersten drohte, sah sie ein niedriges Tischchen neben dem Bett, auf dem ein Krug und ein Becher standen. Ihre Zunge lag dick und pelzig in ihrem Mund. Sie wollte nach dem Becher greifen, stellte aber mit Entsetzen fest, dass sie sich von der Taille abwärts nicht bewegen konnte. Sie schaute an sich hinab.

Sie sah, dass sein Kopf auf ihrem Bauch lag. Eine Hand hatte er unter seine Wange geschoben, die andere um ihre Taille gelegt. Er saß auf einem Stuhl, den er dicht an das Bett herangezogen hatte. Seine Atemzüge waren tief und regelmäßig.

Erleichtert atmete sie auf. Timbor. Für einen Moment hatte sie geglaubt, sie wäre gelähmt. Sicherheitshalber wackelte sie mit den Zehen, was ohne Probleme funktionierte. Es war lustig, Timbors wild abstehende Haare zu betrachten. Sie hob eine Hand, legte sie auf seinen Schopf und strich sachte darüber. Die Haare waren noch kräftiger als früher und hatten eine dichtere Struktur. Er schlief tief und fest weiter. Sie versuchte mit den Fingern, das Wirrwarr zu glätten – ein hoffnungsloses Unterfangen ohne Bürste.

»Ihr seid wach.«

Die Frau, die im Türrahmen stand, gab sich nicht die Mühe, leise zu sprechen. Kopfschüttelnd betrat sie den Raum mit einem Tablett, auf dem eine dampfende Schüssel stand. Sie trug ein langes, dunkelgrünes Gewand, das ganz schlicht war und in der Körpermitte von einem fein gearbeiteten Gürtel zusammengehalten wurde. In filigranen Stichen waren die Zeichen aller vier Elemente eingestickt. Die langen, dunkelbraunen Haare trug sie offen, nur die seitlichen Strähnen waren am Hinterkopf zusammengebunden, damit sie ihre Haare aus dem Gesicht hielten. Eine weiße Strähne leuchtete unter ihnen hervor und ließ Viviens Herz unwillkürlich höherschlagen. In ihrem Land zeugte die weiße Strähne von einer leibhaftigen Begegnung mit der Göttin oder dem Gott. Diese Menschen galten als weise. Jeder suchte sie auf, um von ihnen Rat zu erhalten. Um den Hals der Frau hing ein schlichtes Lederband, an dem ein Amulett mit einem weißen Stein befestigt war.

»Es tut mir leid.« Die Frau deutete mit dem Kinn auf den schlafenden Timbor. »Ich habe versucht, ihn aus Eurer Kammer zu scheuchen, doch er kann ein ziemlicher Sturkopf sein. Ich habe schon vor langer Zeit aufgegeben, diesem Mann Manieren beizubringen, aber Ihr braucht keine Angst zu haben. Er wird Euch nicht belästigen, sofern Ihr nicht den Fehler macht, und seinem Charme verfallt – vor dem ich Euch hiermit ausdrücklich warne. Frauen sind für ihn wie Kleidungsstücke. Er trägt sie, solange er Spaß an ihnen hat, und danach …« Sie zuckte mit den Achseln.

Sie stützte das Tablett kurz auf dem Tisch neben dem Bett ab, stellte Krug und Becher von dort zu der Schüssel, um auf dem Tisch Platz zu schaffen und das Tablett richtig hinzustellen. Seufzend legte sie dann dem schlafenden Offizier eine Hand auf die Schulter.

Vivien zögerte kurz. »Levarda?«

Die Frau hielt in ihrer Absicht inne, den Mann unsanft wach zu rütteln und nahm Vivien aufmerksam in Augenschein – mit Augen, in denen sich alle Farben zu vereinen schienen.

»Bin ich in Mintra?« Verwirrt sah sich Vivien in dem Raum um, den sie so gar nicht mit den Behausungen in ihrer Heimat in Verbindung bringen konnte. Aber es war lange her, seit sie dort gewesen war.

Langsam ließ sich die Frau auf ihrem Bett nieder. »Vivien?«, wisperte sie.

Einen Moment sahen sie sich beide nur in fassungslosem Erstaunen an. Dann lagen sie sich in den Armen, lachend und gleichzeitig weinend.

Auf Vivien regte es sich.

»Was ist hier los?«, ertönte Timbors schlaftrunkene Stimme.

»Du kannst gehen und endlich ein Bad nehmen. Dein Gestank erfüllt den ganzen Raum.«

Auch Vivien nahm den unangenehmen Geruch jetzt wahr, der für einen Seemann normal war, wenn er nach langer Fahrt wieder an Land ankam.

Timbor ignorierte Levardas Aufforderung. Seine moosgrünen Augen erfassten Vivien besorgt. »Wie geht es dir?«

»Du meinst, außer dass ich einen mordsmäßigen Hunger verspüre und mir der Bauch wehtut, weil du ihn als Kissen missbraucht hast? – Gut.«

»Los, nun scher dich schon endlich weg!«, befahl Levarda Timbor noch einmal.

Er erhob sich und musterte sie beide kurz, bevor er sich an Levarda wandte: »Eine halbe Stunde, dann bin ich wieder zurück.«

»Sei beruhigt. Sie ist bei mir gut aufgehoben. Geh jetzt und nimm ein ausgiebiges Bad. Danach wartet unten eine kräftige Mahlzeit auf dich. Und dann ruh dich aus. Es ist besser, wenn du ausgeschlafen bist, bevor du deinen Bericht abgibst.«

Zögerlich verließ er den Raum.

Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte Levarda sich Vivien erneut zu. »Hast du mit ihm geschlafen?«

»Nein.«

Erleichtert atmete sie auf. »Es ist ungewöhnlich, wie er sich verhält. So kenne ich ihn gar nicht. Er ist seit eurer Ankunft vor zwei Tagen keinen Moment von deiner Seite gewichen. Dabei ist er kein Mann, dessen Aufmerksamkeit lange auf eine Frau gerichtet bleibt, was dich unweigerlich in Schwierigkeiten bringen wird. Hier in Forran gelten andere Regeln als in Mintra, das ist dir hoffentlich bewusst.«

»Absolut. Deshalb lebe ich ja in Eldemar.«

»In Eldemar?« Levarda riss verblüfft die Augen auf. »Wo genau in Eldemar?«

»Tinau.«

Viviens Magen gab einen knurrenden Laut von sich. Sie richtete sich im Bett ein wenig höher auf und stopfte sich das Kissen in den Rücken, inzwischen wieder mit sichereren Bewegungen. Sie nahm zuerst den Becher von dem Tablett und leerte ihn in einem Zug, bevor sie sich dem köstlich duftenden Eintopf mit reichlich Fleisch darin widmete.

»Was machst du hier? Wieso bist du in der Hauptstadt von Forran?«, brachte sie zwischen zwei Bissen hervor.

Mit jedem Happen vom Essen kehrte mehr von ihren Kräften zurück.

»Bist du im Ältestenrat von Mintra? Hören sie dort endlich auf, die Augen von dem Leid, das Mintra umgibt, abzuwenden?«

Einen anderen Grund für Levardas Anwesenheit konnte sich Vivien nicht vorstellen, obwohl auch das ein abwegiger Gedanke war. Die Mintraner lebten seit langer Zeit zurückgezogen von den anderen Völkern am Fuße des Asambra. Oft hatte sie sich in den letzten Jahren gewünscht, dass ihr Volk versuchen würde, mehr Einfluss auf die Entwicklung der anderen Länder zu nehmen. Viel zu viele Menschen litten unter den Ungerechtigkeiten der herrschenden Adelshäuser, egal in welchem Land. Besonders die Frauen und Mädchen aus ärmeren Schichten bekamen es zu spüren.

In Tarieken galten Frauen als Besitztümer, die nicht im Mindesten mehr wert waren als ein Stück Vieh. Tötete ein Mann seine Frau, dann stellte das kein Verbrechen dar, sondern es war sein gutes Recht, das zu tun. In Forran war eine Frau immerhin schmückendes Beiwerk für ihren Mann, und durch gezieltes Verheiraten konnte man eine Tochter gut dazu nutzen, neue Verbindungen im Beziehungsnetzwerk der Macht zu knüpfen. Ansonsten besaßen weibliche Wesen aber auch in Forran äußerst wenig Rechte. Immerhin wurden sie aber als Menschen wahrgenommen, sodass sie weder verkauft noch ungestraft getötet werden durften – mit einer Ausnahme: Mägde waren auch in Forran ein Teil der Besitztümer des Hausherrn, so wie es in Tarieken alle Frauen eines Hauses waren.

Levarda schüttelte den Kopf. »Ich habe Mintra ebenfalls verlassen und lebe hier in Forran.«

Überrascht hielt Vivien mit dem Essen inne und starrte sie an. »Du lebst hier? In Forran?«

Levarda lächelte. »Ja.«

»Aber wieso?«

»Hast du nicht gehört, dass meine Cousine, Lady Smira, vor etwa acht Jahren mit dem Hohen Lord verheiratet worden ist?«

»Was? Bei Lishar! Die wievielte Ehefrau war sie?«

»Die siebte, und sie ist es immer noch.«

»Sie ist die Mutter seiner Kinder? Verstehe, und du hast ihr dabei geholfen. Deshalb zeugt der bis dahin kinderlose Hohe Lord Gregorius auf einmal ein Kind nach dem anderen. Wie viele hat er inzwischen?«

»Vier. Drei Söhne und eine Tochter.«

»Weiß er, wem er das zu verdanken hat?«

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Natürlich nicht, denn dafür müsste man ja bereit sein, in Frauen mehr zu sehen als ein Stück Fleisch.«

»So ist es nicht.«

Vivien atmete tief durch und versuchte, den Zorn in den Griff zu bekommen, der in ihr aufkam. Levarda schien zu spüren, dass sie Zeit brauchte. Bestimmt konnte sie die Spannung in der Luft fühlen, die sich durch die in ihr aufgewühlten Gefühle gebildet hatte. Schließlich hatte sie die Fähigkeit, mit allen Elementen in Verbindung zu treten.

»Wie konntest du nur diesem Monster helfen, seine Macht zu erhalten, nachdem er seine Frauen hinrichten ließ, nur weil sie ihm keinen Thronfolger geboren hatten?«

»Weil es die einzige Möglichkeit war, das Morden zu beenden.«

Vivien wusste, dass sie die Letzte war, die das Recht hatte, Levarda zu verurteilen. Sorgte sie selbst nicht mit all ihren Geschäften dafür, dass das Königshaus von Eldemar das Geld bekam, mit dem es seine Armeen ausrüstete?

»Du kannst hier nicht bleiben!«, erklärte Vivien nachdrücklich.

Levarda sah sie mit einem Lächeln an. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Vivien. Mir geht es hier gut.«

»Gut? – Nur, solange es dem Hohen Lord gefällt. Aber was, wenn er auf einmal auf die Idee kommt, er könnte dich verheiraten, weil du mit seiner Frau verwandt bist? Wach auf, Levarda! Forran ist kein Land für eine Mintranerin, und schon gar nicht für dich.«

»Es ist zu spät. Als ich Mintra gegen die Entscheidung des Ältestenrates verließ, nahm ich mir selbst jede Möglichkeit, zurückzukehren.«

Entschieden schüttelte Vivien den Kopf. »Das glaube ich dir nicht. Niemals würden sie dir die Rückkehr verweigern.«

»Es ist lange her, dass du Mintra verlassen hast. Sie ziehen sich immer mehr von der Außenwelt zurück. Briefe sind das Einzige, was ausgetauscht wird. Nun ja, abgesehen von dem Austausch über Lady Tibana, meine Tante, die Lord Blourred ehelichte. Seine Ländereien grenzen direkt an Mintra. – Aber genug von mir und der Politik unseres Landes.« Levarda hielt inne, betrachtete Vivien und schien jede Einzelheit ihrer Erscheinung aufzusaugen. »Es ist so schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen.«

»Ich kann es noch gar nicht glauben, dass du wahrhaftig vor mir sitzt.« Vivien grinste ihre Freundin an.

»Soll ich dich kneifen, damit du sicher bist, dass du nicht träumst?«

»Nein, danke.« Mit Bedauern blickte Vivien auf die leere Schüssel.

»Keine Sorge, es gibt für dich in der Küche noch mehr zu essen. Du warst völlig am Ende deiner Kräfte. Es war leichtsinnig von dir, den Sturm zu lenken, aber ich bin froh, dass du es gewagt hast. Dir haben wir es zu verdanken, dass die Neptun sicher im Hafen liegt. Wir hielten sie für verloren, als der erste Wintersturm die Küste erreichte.«

Levarda sah sie an. »Ich konnte mir nie erklären, warum so viele Mintraner Angst vor deinen Fähigkeiten hatten.«

»Auch nicht nach der Sache von damals auf dem Fest der Sonne?«

Sie konnte den bitteren Ton in ihrer Stimme nicht verbergen. Mintra! Sie sehnte sich so sehr nach ihrem Heimatland.

»Na ja, es war ein Wirbelsturm, den unsere Ältesten rasch im Griff hatten. Aber dass du es schaffst, den Wintersturm zu zähmen, und dass du bereit bist, Lethos’ Zorn auf dich zu nehmen … Hattest du nicht furchtbare Angst, als er dir gegenüberstand?«

»Gegenüberstand?« Vivien erschauerte, als sie an den Traum zurückdachte, und fast meinte sie, die eisige Kälte erneut in sich zu spüren.

»Dein Haar. Du hast eine weiße Strähne.«

Erschrocken sah Vivien Levarda an, forschte dann in deren Miene, doch die blieb ernst. Kein Zeichen davon, dass sie sich über sie lustigmachte.

Vivien nahm ihre Haare in einem Bündel zusammen und starrte auf die feine, schneeweiße Strähne. »Ich dachte, es wäre nur ein Traum gewesen.«

Levarda nahm ihre Hand. »Viele glauben, es wäre ein Segen, doch in Wahrheit ist es eine große Verantwortung, die uns aufgebürdet wird. Ich wünschte, ich wäre ihr niemals begegnet.«

»Woher weißt du, dass mir Lethos begegnet ist und nicht Lishar?«

»Erstens ist die Luft eines seiner Elemente, nur deshalb bekamst du die Strähne. Zweitens konnte ich seinen Zorn spüren. Du musst ihn um Vergebung bitten.«

»Das werde ich. Versprochen. Doch welche Wahl hatte ich? Die Neptun und alle an Bord wären gestorben.«

»Ich bin froh, dass du den Mut dazu hattest.«

»Es hätte mich meine Seele kosten können.«

»Darum hoffe ich, du wirst nie wieder in deinem Leben etwas so Leichtsinniges machen.«

»Wie geht es den Mädchen? Haben alle drei überlebt?«

»Alle. Ein gebrochenes Bein, ein gebrochener Arm, geprellte Rippen, aber sie leben.«

»Kannst du ihnen helfen?«

»Ich bin keine so gute Heilerin wie meine Mutter, aber in den letzten Jahren blieb mir nichts anderes übrig, als viel zu lernen.«

»Das meinte ich nicht«, sie musterte Levarda, die noch immer ihre Hand hielt, »sondern das, was man ihnen angetan hat.«

Langsam schüttelte ihre Freundin den Kopf. »Soweit es mir bekannt ist, kann das niemand. Aber ich hoffe, dass ich es wenigstens schaffe, dass sie es so weit verarbeiten können, um weiterzuleben.«

»Hier in Forran? Als was?«

»Wenn sie mental stabil sind, kann ich sie vielleicht bei einer der adeligen Familien als Hausmädchen unterbringen.«

Ein Hausmädchen war in Forran eigentlich eine Sklavin. Wie es den Hausmädchen erging, lag völlig in der Hand des Hausherrn. Traf es sie gut, bekamen sie regelmäßig zu essen, wurden mit Kleidung versorgt und allem, was sie sonst noch benötigten. Im schlimmsten Fall wurde ein Hausmädchen zur Bettzofe des Herrn. Doch über das eigene Leben konnte es niemals bestimmen.

Vivien dachte an die zarte, verängstigte Marietta mit den hellgrauen Augen. »Sie haben keine eigenen Familien mehr. Niemand wird sie vermissen, nicht wahr?«

»Nein.«

»Dann bring sie nach Tinau, wenn sie wieder gesund sind. Sie können bei uns leben.«

»Bei uns? Du bist verheiratet?«

Vivien lachte. »Nicht doch! Lethos bewahre mich vor der Ehe. Selbstverständlich nicht. Aber meine Mutter und Sanira leben bei mir. Sie würden sich freuen, weitere Hilfe zu bekommen. In Eldemar gibt es bezahlte Arbeit für Frauen, und sie haben dort gewisse Rechte, wenn auch nicht viele.«

»Sanira. Sie lebt?«

»Allerdings.«

»Sie muss schon sehr alt sein.«

»Sie ist zweiundsiebzig, aber wenn du sie siehst, wirst du sagen, dass ich lüge. Niemand sieht ihr dieses Alter an.«

»Ich wünschte, ich könnte auch noch auf den Rat meines Meisters zurückgreifen.« Levardas Blick verlor sich in weiter Ferne.

»Dann begleite doch die Mädchen nach Tinau.«

Levarda strahlte. »Genau das werde ich tun.«


Kaum war Levarda gegangen, stand Vivien auf. Ihre Beine waren wackelig, und sie fühlte sich trotz des kräftigen Eintopfes und obwohl sie einen Krug Wasser getrunken hatte, noch schwach. Doch sie musste zurück nach Eldemar und sich mit eigenen Augen überzeugen, dass die Sturmvogel sicher im Hafen von Tinau lag, um dort den Winter zu verbringen. Suchend sah sie sich im Raum um.

»Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich dich einfach gehen lasse?«

Timbor stand frisch gewaschen mit feucht glänzendem Haar und tiefen Ringen unter den Augen in der Tür.

»Wie willst du mich daran hindern?«

»Ich dachte, du wärst tot, so kalt warst du. Weder konnte ich deinen Atem spüren noch deinen Puls fühlen.«

Er kam auf sie zu, bis er vor ihr stand. Seine Nähe ließ ihr Herz höherschlagen, und das Licht in ihr erwachte zum Leben. Sanft strich er ihr mit der Hand über die Wange. Seine Finger hinterließen eine warme Spur auf ihrer Haut. Noch nie hatte sie bei der Berührung eines Mannes etwas Derartiges verspürt.

»Aber etwas in mir sagte mir, dass du lebst und dass ich es wüsste, wenn du tot wärst. Trotzdem hast du mir eine Heidenangst eingejagt.« Er nahm die feine, weiße Strähne in ihrem Haar und ließ sie durch seine Finger gleiten. »Sie war urplötzlich da, als hättest du den Kampf um dein Leben damit bezahlt.«

Sie wich einen Schritt zurück.

Er runzelte die Stirn. »Vivien, du weißt, dass du keine Angst vor mir haben musst.«

»Wer sagt, dass ich Angst vor dir habe?«, wisperte sie.

Erneut kam er auf sie zu und erneut wich sie zurück. Schritt für Schritt durchmaßen sie das Zimmer wie in einem Tanz, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

»Ich bin nicht der erste Mann, den du geküsst hast.«

»Nein.«

»Ich bin auch nicht der erste Mann, mit dem du das Bett teilst.«

»Nein. Und nein, ich werde das Bett nicht mit dir teilen, wenn es das ist, worauf du aus bist.«

Er grinste sie nur an, und in seinen Augen lag ein Versprechen, das ihren Herzschlag beschleunigte.

»Also, wie hast du das mit den anderen Männern gemacht? Du kannst mir nicht erzählen, dass es jedes Mal einen Sturm ausgelöst hat.«

Sie atmete tief durch und überlegte, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Würde er daraus einen Vorteil ziehen oder verstehen, dass sie niemals würden zusammen sein können?

»Ich stand noch nie vor dem Problem, die Kontrolle zu verlieren.«

»Es war das erste Mal, dass so etwas geschehen ist?« Ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie hätte ihn ohrfeigen können, hätte sie nicht Angst gehabt vor dem, was dann passieren würde. Sie hatte ihre Kräfte noch längst nicht wieder unter Kontrolle. Seine moosgrünen Augen nahmen einen warmen Ton an, der sie an einen Sommertag am Fuß des Asambra erinnerte. Sogar goldene Farbsprenkel konnte sie darin erkennen. In Windeseile huschte das Licht durch ihren Körper, und bis in die Fingerspitzen hinein konnte sie das Prickeln fühlen.

»Wir können uns langsam vorantasten und schauen, was passiert.«

»In einer Stadt mit – wie vielen Einwohnern?«

»Du hast recht, wir sollten uns einen anderen Ort dafür suchen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keinen Ort.«

Als er die Hand hob, um sie erneut zu berühren, duckte sie sich unter seinem Arm durch.

Langsam drehte er sich zu ihr um. »Ich liebe dich, Vivien. Ich kann dich nicht einfach gehen lassen.«

»Sagst du das zu jeder Frau, die du ins Bett bekommen möchtest?«

Verärgert schüttelte er den Kopf. »Du solltest nicht alles glauben, was dir Levarda erzählt. Woher kennt ihr euch überhaupt?«

»Vergessen? Ich bin in Mintra geboren.«

»Und musstest flüchten.«

»Damals waren wir noch Kinder.«

»Eine lange Zeit … in der ein Mensch sich verändern kann.«

Sie legte den Kopf schief. »Mag sein, dennoch würde ich ihr immer noch mein Leben anvertrauen.«

»Und mir nicht?«

»Männer sind komplizierter.«

»Bleib bei mir, und ich zeige dir, wie einfach ich bin.«

Sie lachte und schüttelte den Kopf, bevor sie wieder ernst wurde. »Mein Platz ist in Tinau und nicht im Bett eines Mannes. Such dir jemand anders, um dein Bett zu wärmen, Timbor. Ich bin nicht die Richtige dafür.«

»Du bist die Einzige.«

Zornig winkte sie ab. »Unsinn! Du willst mich nur haben, weil du mich nicht haben kannst! Denkst du wirklich, ich würde auf deine Masche reinfallen? Für wie dumm hältst du uns Frauen?«

»Frauen im Allgemeinen oder dich?«

»Spar dir deine Schmeicheleien! An mich sind sie bloß verschwendet. Wo sind meine Sachen?«

»Meine Magd weicht sie im Waschzuber ein.«

»Was ist mit meinen anderen Sachen?«

»Welchen?«

»Dem Bündel vom Schiff.«

»Noch dort, mit Ausnahme deines Geldbeutels. Der liegt unter dem Kopfkissen.«

»Dann lass das Zeug holen.«

»Ich werde alles mitbringen, wenn ich von meiner Besprechung zurück bin.«

»So lange kann ich nicht warten.«

Er zuckte mit den Schultern. »Dir bleibt nichts anderes übrig. Nutze die Zeit, um dich auszuruhen und noch etwas zu essen. Danach reden wir weiter.«

Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, verließ er den Raum. Sie schwankte zwischen Erheiterung, Fassungslosigkeit und Zorn angesichts seiner Dreistigkeit, ihr Befehle erteilen zu wollen. Glaubte er wirklich, sie würde sich von so einer Kleinigkeit wie fehlender Kleidung aufhalten lassen?


Tatsächlich stellte diese Kleinigkeit sich als eine größere Herausforderung dar als angenommen. Timbors Magd hielt sich strikt an seine Anweisung und rückte kein einziges Kleidungsstück heraus, selbst dann nicht, als sie ihr zuletzt sogar eine Goldmünze bot. Das Mädchen machte für einen Moment große Augen, doch dann schüttelte es entschieden den Kopf. Vivien zweifelte nicht daran, dass Timbor seine Magd ordentlich behandelte. Sie war adrett, gepflegt gekleidet und wohlgenährt, und sie betete den Boden an, auf dem ihr Hausherr wandelte.

Gleiches galt für die Köchin, eine ältere Dame mit schneeweißem Haar. Als Vivien in ihrem Nachtgewand die Küche betrat, riss die Köchin kurz die Augen auf, fing sich dann aber gleich wieder. Vivien gewann ihr Wohlwollen, indem sie zwei weitere Portionen des köstlichen Eintopfes, einen halben Laib Brot mit Butter und vier Stücke Apfelkuchen verdrückte. Es schmeckte einfach nur himmlisch, vor allem nach den Monaten auf See. Dennoch, trotz ihres Lobes musste sie nach einem weiteren erfolglosen Bestechungsversuch schließlich aufgeben.

Allerdings hatte sie von der Köchin erfahren, dass der Eingangsbereich von zwei Soldaten aus Timbors Einheit bestens bewacht wurde. So konnte sie sich die Konfrontation ersparen. Hemd, Wams, Hose und Jacke – sämtlich Timbors Sachen – passten ihr hervorragend. Sie brauchte noch nicht mal die Ärmel oder Hosenbeine umkrempeln. Anders sah es bei den Stiefeln aus, die waren ihr zwei Nummern zu groß. Kurzerhand stopfte sie sie mit Stoff aus, den sie vom Nachtgewand abriss. Dann präparierte sie das Bett, damit es aussah, als läge jemand darin. Zeit war der wichtigste Faktor für ihre Flucht. Wöchentlich pendelten auch im Winter Flussschiffe zwischen Brycgstow und Tinau, doch Vivien bevorzugte die Aussicht, mit einem ihrer eigenen Boote zu fahren. Sie wählte das Fenster, das nach hinten hinausging. Mit einem kurzen Blick konnte sie vom zweiten Stock aus sehen, dass Timbors Haus im äußeren Kreis lag, der die Festung des Hohen Lords von Forran umgab. Sie wusste, dass der mittlere Kreis den Offizieren mit Familie sowie dem niederen Adel vorbehalten war. Der Festung am nächsten lag der innere Ring mit dem einflussreichen Adel und den Beratern.

Hier, im äußeren Kreis, waren die Häuser dicht aneinandergebaut, doch da dieses Gebäude als Eckhaus auf zwei Seiten von einer Straße flankiert wurde, bot es ihr eine ausgezeichnete Ausgangslage für ihre Flucht zum Flusshafen – bis sie die Soldaten entdeckte. Sie bewegten sich zugegebenermaßen recht unauffällig in der Menschenmenge auf der Seitenstraße und waren ihr nur aufgefallen, weil sie alles so aufmerksam beobachteten. Leise fluchend zog Vivien den Kopf zurück. Warum musste das winterliche Wetter sich aber auch ausgerechnet heute von seiner besten Seite zeigen? Dann grinste sie. Im Grunde war es perfekt. Sobald sie das Haus verließ, konnte sie sich ebenfalls unter die Stadtbevölkerung mischen. Sie brauchte nur etwas, um ihre Haare zu verbergen. Sie durchsuchte Timbors Truhe, bis sie auf ein dunkelblaues Tuch stieß. Es passte hervorragend zu ihren türkisfarbenen Augen, sorgte aber leider auch dafür, dass ihre Augen noch viel heller und auffälliger wirkten, sobald es den widerspenstigen roten Lockenkopf bedeckte. Egal. Ihr rannte die Zeit davon. Nicht, dass sie daran zweifelte, ihren Weg gehen zu können, auch wenn Timbor wieder zu Hause wäre, doch seine Anwesenheit würde alles verkomplizieren.

Eine Weile beobachtete sie die Männer. Ein paar Mal sah einer hoch zu ihrem Fenster. Es war also kein idealer Weg für die Flucht. Sie ging in den Flur, suchte den Zugang zum Dach und fand die Luke. Geduckt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schlich sie sich über die benachbarten Hausdächer. Die Abstände zwischen den Häusern waren so klein, dass sie sie mit kleinen Sprüngen überbrücken konnte. Sie erreichte eine kleine Seitengasse, legte sich auf das Dach und schaute eine Weile hinab. Als sie sicher war, dass niemand sie sehen würde, sprang sie vom Dach und ballte die Luft unter sich, sodass sie federleicht auf den Füßen aufkam. Sie schritt rasch aus, kam auf eine der belebteren Ringstraßen und mischte sich unter die Menge. Den Kopf hielt sie gesenkt und fluchte leise, weil sie weder ihr Schwert noch ihren Dolch dabeihatte, aber niemand belästigte sie, bis sie zum unteren Bereich des Marktes kam, der an das Hafenviertel grenzte.

Schmeichlerisch sprach eine der vielen Prostituierten sie an, die in diesem Viertel ihr Geld verdienten: »Hey, Bursche, du bist ja noch ganz grün hinter den Ohren. Was hältst du davon, wenn ich dich in die Welt der Liebe einführe?«

Sie hatte dunkelbraune, lockige Haare – war sogar gekämmt. Die freizügige Kleidung, die die Frau trug, war sichtlich gewaschen und wies nur wenige Schlammspritzer auf. Ihre braunen Augen waren mit schwarzer Kohle in Szene gesetzt, und sie hatte sogar rote Farbe aufgetragen, die ihren weichen, vollen Mund betonte. Ihr verführerisches Lächeln stand jedoch im Kontrast zu dem toten Glanz in ihren Augen.

Vivien zögerte. Sie wusste, dass sie nicht jeden Menschen in dieser verfluchten Stadt retten konnte, dennoch rührte die Frau sie. Wenn man es nach ihrem Aussehen einschätzen konnte, übte sie schon viel zu lange diesen Beruf aus. Nach einem raschen Blick in die Menschenmenge trat Vivien dichter an die Frau heran und drängte sie an die Hauswand.

»Oho, nicht so eilig! Erst das Geld, junger Mann, dann das Vergnügen.«

Fauliger Atem schlug Vivien aus dem Mund der Frau entgegen, und sie verzog angewidert das Gesicht. Der Geruch des Hafenviertels hing an ihr, und auch das machte sie abstoßend. Um den Gestank nicht länger als notwendig ertragen zu müssen, holte Vivien schnell aus der Innentasche ihres Wamses drei Goldstücke heraus und drückte sie der Frau in die Hand. »Wie ist dein Name?«

»Rosamund.«

»Wenn du klug bist, Rosamund, kaufst du dir damit andere Kleidung, besuchst ein Badehaus und erwirbst einen Fahrschein für die Überfahrt nach Tinau. Frage nach dem Gasthaus Zum Goldenen Hirsch und dort nach der Wirtin. Sie wird dir eine Arbeit vermitteln, mit der du Geld verdienen kannst, ohne Männern deinen Körper feilzubieten.«

Die Frau sah sie völlig entgeistert mit offenem Mund an, was Vivien veranlasste, die Luft anzuhalten. Dann schaute sie auf die Hand, in der die drei Goldmünzen lagen.

Hastig drückte Vivien ihre Finger wieder über die Münzen. Sie lächelte die Frau an. »Nutze diese Gelegenheit, die dir das Schicksal bietet.« Damit wandte sie sich ab und wollte die Gasse zum Hafen weiter hinunterlaufen.

Ein Mann packte die Dirne am Arm und begann ihr die Finger aufzubiegen, die sie krampfhaft geschlossen hielt. Ein weiterer Mann stand neben Vivien und hielt ihr einen Dolch an den Hals, während ein dritter breit grinsend vor ihr stand. Das waren keine Soldaten, keine Krieger, einfach Männer aus dem Hafenviertel, abgemagert, verdreckt, stinkend, aber nicht zu unterschätzen in ihrer Verschlagenheit.

»Wo drei Goldstücke sind, finden sich auch mehr«, sagte der Mann vor ihr und kam ihr noch näher, während sich die Spitze des Dolches in ihren Hals bohrte. Warmes Blut rann ihr den Hals hinab.

Irgendwann würde ihr weiches Herz sie in den Tod treiben, aber nicht heute. Sie ließ kurz den Blick schweifen, schaute, ob außer den Dreien noch jemand zu der Bande gehörte. Niemand interessierte sich für sie. Die Menschen huschten an ihnen vorbei und ignorierten sie. Wer sich als wohlhabender Stadtbewohner ohne bewaffnete Eskorte ins Hafenviertel wagte, war selber schuld. Sie kannte die Regeln nur allzu gut aus der Vergangenheit. Die Kleidung, die sie trug, war trotz ihrer Schlichtheit viel zu kostbar für die Gegend. Sie stellte nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie einer Prostituierten Goldmünzen gegeben hatte, ein lukratives Opfer für die Diebe dar.

Rosamund fing an zu wimmern, weil der Mann ihr den Arm umdrehte.

»Wenn dir dein Leben lieb ist, rückst du deinen Geldbeutel raus, Bürschchen.«

»Eure Manieren lassen zu wünschen übrig! Lasst die Frau los!«

Einen Moment sah der Mann Vivien überrascht an, dann schüttelte er lachend den Kopf. »Scheint, als hättest du deine Situation noch nicht begriffen. Aber egal, wir brauchen dich nicht, um an dein Geld zu kommen. – Töte ihn!«

Noch bevor der Mann, der ihr den Dolch an den Hals hielt, begriff, wie ihm geschah, hatte sie sein Handgelenk gepackt. Sie drehte sich, und ihre rechte Faust landete mit voller Wucht auf seinem Nasenbein. Vor Schmerzen heulend ließ der Mann seine Waffe fallen.

Vivien duckte sich rechtzeitig, bevor der Rädelsführer sie packen konnte, rammte ihm den Ellenbogen in den Magen und schleuderte ihn dann, indem sie ihn am Arm packte, über ihren Rücken. Ihr nächster Angriff galt dem Mann, der Rosamund noch immer gepackt hielt und der Probleme hatte, zu begreifen, was da vor ihm geschah. Sie rammte ihm ihr Knie mit voller Wucht in die Weichteile. Einen unmenschlichen Schrei ausstoßend sank er zusammengekrümmt auf die Erde. Gerade noch rechtzeitig wirbelte Vivien herum, verpasste dem Wortführer, der sich wieder aufgerappelt hatte, einen Faustschlag ins Gesicht und erwischte diesmal auch bei ihm die Nase. Er jaulte auf. Sie bückte sich, schnappte sich den Dolch, packte den Mann am Kragen und hielt ihm die Waffe an den Hals.

»Das nächste Mal überlegt ihr euch gut, wen ihr auszurauben gedenkt. Kapiert?«

Er nickte mit zusammengepressten Lippen, einen Schweißfilm auf dem Gesicht.

Sie ließ ihn los, schnappte sich die Frau und zerrte sie mit sich. Ihr war klar, dass die drei Männer ihre Wut an Rosamund auslassen und die Frau das nicht überleben würde. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, die ihr unwillkürlich Platz machte, und bediente sich dabei ein wenig ihres Elementes.

»Bitte, bitte, lasst mich laufen!«, wimmerte die Prostituierte. Während sie sich anfangs starr vor Schreck hatte mitziehen lassen, fing sie nun an, Widerstand zu leisten.

»Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten. Ich werde dir nichts antun.«

»Bitte!« Sie versuchte ihr Handgelenk aus Viviens eisernem Griff zu befreien.

Verärgert blieb Vivien stehen, warf rasch einen Blick in ihre Umgebung, doch niemand beachtete sie. Die Frau streckte die Faust aus, in der sie die ganze Zeit die Goldstücke krampfhaft festgehalten hatte, sogar, während man ihr den Arm umdrehte.

»Hier, nimm und lass mich gehen!«

Vivien sah die Verzweiflung in den braunen Augen, die angesichts der Gefahr zum Leben erwacht waren. Die Angst würde auf dem Boot schlimmer werden, wenn es einem für sie ungewissen Schicksal entgegenging, ganz egal, was Vivien ihr beteuerte. Rosamund hatte in ihrem ganzen Leben gewiss nie etwas Schönes erlebt. Die Vorstellung, dass sie in einem anderen Land lernen sollte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, musste für sie unvorstellbar sein. Ihr blieb keine Zeit, es ihr lange zu erklären. Sie war immer im Kontakt mit ihrem Element, und die Geräusche, die ihr die Luft zutrug – klappernde Hufe – bedeuteten, dass sie sich beeilen musste.

Sie versuchte es mit ihrer sanftesten Stimme: »Hör zu, Rosamund, das Gold ist mir egal. Es spielt keine Rolle für mich, aber dein Leben ist mir wichtig. Wenn ich dich hier zurücklasse, werden die Männer dich finden.« Eindringlich sah sie die Frau an. »Du arbeitest für sie, stimmt’s?«

Der Frau schossen Tränen in die Augen und sie zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub, durch das eine Brise fährt.

»Ich weiß, das alles ist beängstigend für dich. Wenn ich dich hier zurücklasse, dann verprügeln und vergewaltigen sie dich, und womöglich töten sie dich danach. Wenn nicht, wirst du weiterhin für sie anschaffen, und du weißt, was das bedeutet. Komm mit mir und ich verspreche dir bei meiner Ehre, bei Lishar und Lethos, dass ich dir ein Leben ermögliche, das du dir im Moment nicht vorzustellen vermagst.«

Die Reiter kamen näher. Es mussten mindestens fünf sein, dem Lärm nach zu urteilen. Auch in der Gasse, in der sie standen, kam Unruhe auf.

»Vertrau mir und komm mit.«

»Ich habe Angst.«

Vivien schwieg. Mehr konnte sie nicht tun. Die Entscheidung musste Rosamund allein treffen.

Schließlich gab sie ihren Widerstand auf und nickte schwach, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Vivien nickte ihr aufmunternd zu. »Dann los, wir müssen uns beeilen.«

Kurz schloss sie die Augen, intensivierte ihre Verbindung zu ihrem Element, lauschte, von wo die Reiter kamen. Sie ritten den direkten Weg zum Flusshafen. Leise fluchend öffnete sie die Augen wieder, und sie eilten los.

Kaum hatten sie den Hafen erreicht, verlangsamte Vivien ihre Schritte. Sie richtete sich auf und passte sich dem Tempo des Treibens auf den Kais an. Suchend blickte sie über die Boote, die entweder entladen oder beladen wurden. Als sie die Odena entdeckte, ließ ihre Anspannung nach. Das Glück war ihr hold. Die Mannschaft lud eben die letzte Ware an Bord.

Zielstrebig steuerte sie auf das Schiff zu. Sie hörte die Reiter, die hinter ihnen ebenfalls den Hafen erreichten, vermied es aber, sich umzudrehen, und ging stattdessen gelassen weiter. Rosamund drückte sich dicht an sie, was den Gestank, der über dem Hafen lag, noch zusätzlich mit ihrem Mief anreicherte. Vivien atmete möglichst flach. Endlich erreichten sie das Schiff.

»Bleib hier stehen und rühr dich nicht von der Stelle. Halt deinen Kopf gesenkt.«

Sie hörte die ersten Pfiffe und anzüglichen Bemerkungen, als Rosamunds Anwesenheit den ersten Hafenarbeitern auffiel. Kein Wunder. Rasch zog sie ihre Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. Ein warnender Blick, ein entschiedener Druck mit dem Wind, und die Hafenarbeiter wichen respektvoll zurück.

Vivien wandte sich dem Boot zu. »Hey, du da! Wo ist der Kapitän der Odena?«

»Er prüft die Ladung.«

Sie erklomm die Planke, doch der Mann, der ihr geantwortet hatte, blockierte ihr den Weg.

»Niemand betritt dieses Schiff ohne die Erlaubnis des Kapitäns.«

»Gut, so sollte es auch sein, Ofran. Ich hoffe dennoch, du machst bei mir eine Ausnahme. Immerhin zahle ich deinen Lohn.«

Er kam näher, betrachtete sie, riss überrascht die Augen auf. »Was machst du hier?«

»Das ist eine lange Geschichte. Wie lange braucht ihr noch, bis wir ablegen können?«

»Eine halbe Stunde.«

»Das ist zu lange. Hol die Frau an Bord und bring sie in die Kabine des Kapitäns.«

»Aye, Kapitän.«

»Und platziere den bulligsten Bär aus der Mannschaft an der Planke. Niemand kommt mehr an Bord der Odena. Verstanden?«

Ofran grinste übers ganze Gesicht, als er einen Blick auf die Reiter erhaschte, die sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnten und dabei an jedem Boot stehenblieben.

»Ich nehme an, das gilt vor allem für die Garde des Hohen Lords?«

»Triff keine Annahmen, sondern führe meine Befehle aus!«

»Aye, Kapitän.«


Vivien atmete auf, als sie eine Stunde flussaufwärts gesegelt waren. Für die letzten Meilen mussten die Männer noch an die Ruder, weil die Strömung hier zu stark wurde. Dann erreichten sie endlich die Biegung, an der sich der Fluss Karum, der in den Höhen des Katakmas entsprang, in zwei Seitenarme teilte. Den Lakum, der nach Forran floss, waren sie von Brycgstow heraufgekommen, der Kartin, in den sie nun einbogen, floss nach Tinau und von dort ins Meer.

Rosamund lag zusammengerollt in der Koje der Kapitänskajüte. Vivien hingegen stand am Bug, ließ sich den frischen Wind um die Nase wehen und genoss es, einmal keine Verantwortung für die Führung des Schiffes zu tragen. Barko, der Kapitän, gesellte sich zu ihr. Er war vor Jannis ihr Erster Offizier auf der Sturmvogel gewesen. Sie hatte viel von seiner langjährigen Erfahrung über die Seefahrt gelernt. Als er sie vor drei Jahren bat, ihr aufgrund seines hohen Alters die Führung eines der Flussschiffe zu übergeben, war es ihr schwergefallen, ihn gehen zu lassen. Mit seiner Ruhe und seinem Fachwissen erinnerte er sie an ihren Vater.

Er nahm seine kalte Pfeife aus dem Mund. »Wärst du so nett?«

Sie grinste und schaffte einen windstillen Raum um ihn herum, während er sich mithilfe eines Holzstabes an der brennenden Schiffslaterne den Tabak anzündete. Dankbar zog er ein paar Mal kräftig an seiner Pfeife und stieß den Rauch in wohlgeformten Wolken aus. Der aromatische Duft der Kräutermischung füllte die Luft. »Werde ich in Zukunft Probleme haben, wenn ich in Brycgstow anlege?«

»Ich glaube nicht. Ich habe nichts angestellt. Nicht deswegen hat man mich verfolgt.«

»Sondern?«

»Jemand wollte einfach nur, dass ich bleibe.«

»War es der Offizier, auf dessen Brust das Zeichen der Schlange prangte?«

»Mag sein.«

»Du weißt, was das Zeichen bedeutet?«

»Nein.«

»Es steht für die Listigkeit der Männer in dieser Gruppe, und das gilt ganz besonders für ihren Anführer.«

»Was ist mit den anderen Zeichen, die die Männer der Garde tragen? Welche Bedeutung haben sie?«

»Der Adler steht für die Weitsicht, der Bogen für die Reichweite, die Axt für die Kraft, der Schild für die Verteidigung, das Pferd für die Schnelligkeit, der Löwe für die Stärke, und die gekreuzten Schwerter sind das Abzeichen des Ersten Offiziers der Garde des Hohen Lord Gregorius, und sie stehen für die Gerechtigkeit.«

»Ich wusste gar nicht, dass du dich so für die Garde interessierst.«

»Es ist wichtig, sich mit den Gepflogenheiten der anderen Länder auszukennen, mit denen man Geschäfte treibt, und das weißt du besser als ich. Also, was es hat es mit dem Offizier auf sich? Weshalb war er hinter dir her?«

»Ich bin eine Frau, er ist ein Mann.«

Barko runzelte die Stirn. »Und deshalb das Aufgebot an Soldaten?«

Vivien zuckte mit den Achseln. Es war die einfache Zusammenfassung dessen, was geschehen war.

Barko seufzte. »Timbor, so heißt jener Offizier, war der jüngste Soldat, der je zum Ersten Offizier der Garde des Hohen Lords ernannt wurde. Und nicht von irgendeiner Abteilung, sondern von der der Listigkeit. Lord Otis hat anfangs viel Kritik dafür einstecken müssen, doch der junge Mann hat sich schnell bewährt. Viele Anschläge, die Prinz Tarkan auf den Hohen Lord auszuüben versuchte, scheiterten an ihm.«

»Du warst dabei?«, wandte sie sich überrascht an Barko.

»Nein. Ich höre jedoch zu, wenn Leute mit mir reden, so wie du. Du solltest ihn nicht unterschätzen.«

»Ehrlich, Barko, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Er schuldet mir sein Leben.«

»Und deshalb warst du nicht auf der Sturmvogel?«

»Ich habe die Neptun sicher in den Hafen von Brycgstow gebracht.«

»Die Neptun? Den Stolz der forranischen Kriegsflotte? Ich hörte, sie sei in einen Wintersturm geraten.«

Obwohl ihre Männer wussten, dass Vivien die Fähigkeit besaß, die Winde zu lenken, ahnte keiner von ihnen, wie weit diese Fähigkeit reichte. Gemeinsam auf einem Schiff über die Meere zu segeln, machte es unmöglich, die Begabung zu verstecken. Das half zwar dabei, dass die Matrosen ihre Führung akzeptierten, doch sie würde nicht den Fehler machen, alles zu offenbaren. Sie dachte an Prinz Tarkan und daran, wie er sich durch die schwarze Flüssigkeit Tamaras Kraft einverleibt hatte, wie immer das auch vor sich gegangen sein mochte. Und sie dachte zurück an die Mädchen, die Timbor befreit hatte.

»Wenn es so gewesen wäre, hätte sie dann den sicheren Hafen von Brycgstow erreichen können?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

»Wohl kaum. Da hast du wie immer recht. Was ist mit der Frau in meiner Kabine?«

»Ich stolperte über sie, als ich mich auf den Weg zum Hafen machte.«

»Stolpertest? Gehört sie zu den verschwundenen Mädchen?«

»Den verschwundenen Mädchen?«

»Der forranische Händler, mit dem wir unsere Geschäfte machen, erzählte mir davon.«

»Was genau hat er erzählt?«

»Dass er seine Töchter nicht mehr aus den Augen lässt und sie in seinem Haus einsperrt. Seine Älteste hatte ihm bisher die Bücher geführt, ein nettes Ding. Ich fragte ihn, ob sie verheiratet sei, weil sie nicht mehr da war, und da berichtete er mir von den Vorfällen.«

»Nein, Rosamund ist keins von diesen Mädchen. Sie ist eine Frau. Sie ist älter als ich.«

Eine Weile standen sie nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. So weit war es schon, dass die Bevölkerung Angst um die Töchter hatte. Sie musste mit Levarda reden, sobald sie die Mädchen nach Eldemar brachte, und wenn sie nicht käme, dann würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als selbst erneut nach Brycgstow zu segeln.

»Sag, Barko, verschwinden auch in Eldemar Mädchen?«

»Nicht, dass ich wüsste, aber ich werde mich umhören. Auch mir bereitet es Sorge.«

Vivien wusste weshalb. Seine älteste Tochter war im selben Alter wie Irma. Warum hatte Timbor ihr nicht den Namen des Mannes verraten, von dem er die Mädchen zurückgeraubt hatte?

7

Tinau

Fest vertäut für die nächsten Tage ruhte die Odena an der Anlegestelle des Handelshauses Etraderiaf im Hafen von Tinau. Es herrschte lebhaftes Treiben. Die Flussboote wurden mit Waren beladen oder entladen. Karawanen standen bereit, um in die Handelsstadt der Tarieken, Eibalin, aufzubrechen. Die Stadt lag direkt an der Grenze am Eingang zur Schlucht, durch die der einzige Landweg zwischen Eldemar und Tarieken führte. Manchmal kam im Winter der Handel mit dem Nachbarland zum Erliegen, dann wurde es auch im Hafen etwas ruhiger. Obwohl es Barkos Aufgabe war, wartete Vivien wie immer, bis die gesamte Ladung gelöscht war und bis auf die Wachen alle Mann die Odena verlassen hatten.

Ihr erster Weg führte sie zum Goldenen Hirsch, wo sie die verängstigte Rosamund unterbrachte. Hier konnte sie die Verantwortung an Magda abgeben, die das Wirtshaus leitete und genau wusste, wie sie mit den Frauen umgehen musste, die Vivien ihr brachte. Das warmherzige Lächeln der älteren Frau, die Ruhe, die sie ausstrahlte, und der warme Eintopf gaben der Prostituierten genug Sicherheit, dass sie sich schließlich einverstanden erklärte, zu bleiben. Es war schwer, sein Heimatland zu verlassen und alles hinter sich zu lassen, das wusste Vivien aus eigener Erfahrung. Zum Glück sprachen hier alle Angestellten die vier Sprachen des Landes Alurin, und so würde es Rosamund leichter fallen, in der Fremde zurechtzukommen, denn sie konnte sich auch mit der Wirtin in ihrer Muttersprache unterhalten. Wenn sie erst mal Vertrauen fasste und merkte, dass ihr kein Unheil mehr drohte, würde man sehen, wo ihre Talente lagen, um der Frau eine angemessene Arbeit zu geben. Dann würde sie gewiss aufblühen, wenigstens hoffte Vivien das. Niemand konnte die Vergangenheit rückgängig machen, auch wenn Vivien sich das schon oft genug gewünscht hatte.

Obwohl es bereits auf Mitternacht zuging, warteten ihre Mutter und Sanira in der Wohnstube auf sie. Das Haus lag ein Stück entfernt vom Hafen in einem Viertel abseits des geschäftigen Treibens der Pilgerpfade und wirkte von außen ein wenig heruntergekommen. Es war größer als die direkt danebenstehenden Häuser und nach hinten hinaus mit dem Nachbarhaus verbunden. Ein Innenhof, rechts und links von Mauern eingefasst, lag zwischen den Gebäuden. Hier gab es einen Brunnen, der sie mit Frischwasser versorgte, und ringsherum hatte Ricarda Kräuterbeete angelegt.

Beide Frauen hielten eine Näharbeit, obwohl die Öllampen nur wenig Licht spendeten. In Mintra verließen sich die Menschen auf viele Sinne, statt nur auf einen. Vivien hatte sorgfältig darauf geachtet, dass ihre Haare einschließlich der weißen Strähne komplett unter dem Tuch verborgen waren.

»Vivien, wann wirst du endlich vernünftig?«, begrüßte sie Ricarda vorwurfsvoll. »Ein Kriegsschiff der Forraner nach Brycgstow zu segeln, wenn die Zeit der Winterstürme beginnt! Ganz abgesehen von den Gefahren, die einer Frau in Forran drohen. Wir haben uns Sorgen gemacht!«

Vivien nahm ihre Mutter in die Arme und drückte sie. »So dramatisch war es gar nicht, und außerdem war ich nicht allein auf dem Schiff.«

»Wie meinst du das?«

»Timbor ist jetzt Offizier der Garde des Hohen Lords Gregorius. Er war mit seinen Soldaten auf der Neptun und hat auf mich aufgepasst.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101249
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Heroric Fantasy Magie der Elemente Sword England Low Fantasy All Age Literatur Romantische Fantasy Mittelalter Romantasy Romance Fantasy

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Licht und Dunkelheit: Vivien