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Die Wahrheit

von Annika Claaßen (Autor:in)
163 Seiten

Zusammenfassung

Niemand ist der, der er zu sein scheint. Du kannst nur dir selbst vertrauen. Jeder hat ein Geheimnis, egal, wie gut man es versteckt... In einem kleinen, unscheinbaren Dorf, macht Xenia Müller den größten Fehler, den sie in ihrem ganzen Leben begangen hat. Dabei ist sie nur ein normales Mädchen, das ihr Dorf mit einem Blog interessanter gestalten wollte. Doch zu Beginn ahnt sie nicht, dass eben dieser Blog der Ursprung aller ihrer Probleme und ein Todesurteil für viele ist... Niemand ist vor der Wahrheit sicher. Wirst du sie überleben oder wird dich dein Geheimnis umbringen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die

Wahrheit

Annika Claaßen

Copyright © 2019 Annika Claaßen

Alle Rechte vorbehalten.

Für Freunde,

die mir geholfen haben

und Fremde,

die mich inspiriert haben,

für alle,

die an mich geglaubt haben

und es immer noch tun.

-2-

Ein paar Tage später (wir sind dieses Mal in den Sommerferien umgezogen, am Anfang des Schuljahres) war mein erster Schultag an diesem neuen Ort. Eigentlich sollte es ja nichts besonderes sein, aber da habe ich nicht mit Juliana und Damon gerechnet. Ich bin mir sicher, dass ihr die beiden kennt, aber welche Rolle spielen sie in meiner Geschichte? Lest weiter, dann findet ihr es heraus.

Am ersten Morgen dachte ich jedenfalls noch, dass es so werden würde wie immer, was natürlich nicht sein kann, da jede Stadt und jede Schule unterschiedlich ist. Aber trotzdem gibt es Dinge, die immer gleich sind, der erste Tag zum Beispiel.

Wann immer ich auf eine neue Schule komme, stehe ich am ersten Morgen besonders lange vor meinem Kleiderschrank, oder in diesem Fall in ihm. Es war ein riesiger begehbarer Schrank, in dem ich alle meine Klamotten nach Stil sortiert hatte. Ein neuer Stil bedeutete automatisch eine neue Schule, denn an jeder Schule suchte ich mir einen neuen Look. In diesem Schrank hingen die Klamotten, die ich in den letzten Jahren an den letzten Schulen getragen hatte, und sobald ich die Outfits sah, konnte ich mich an die Schule erinnern, in der ich sie getragen hatte.

Der erste Look, an dem ich vorbei ging, war genau genommen gar kein Look, sondern ein einziges Outfit in mehreren, genau identisch aussehenden Ausführungen. Es war eine Schuluniform, die ich vor fünf Jahren an einer englischen Schule tragen musste. Am Anfang war es ein merkwürdiges Gefühl, dass alle gleich aussahen, aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt und fand es toll, dass die Schuluniform das Gemeinschaftsgefühl gestärkt hat. Es war bis jetzt die beste Schule auf der ich war (nicht einmal Juliana konnte diese Schule interessant machen). Die Lehrer waren zwar streng, aber man hat wenigstens etwas gelernt. Vor fünf Jahren war mein Englisch für mein Alter auch schon recht gut, weil ich mich in den meisten anderen Ländern auf Englisch verständigt habe. Am Anfang habe ich mir oft Mühe gegeben, die Landessprache zu lernen, doch irgendwann, als ich gemerkt hatte, dass wir nach einem Jahr sowieso wieder umziehen, beließ ich es bei Englisch. Ich habe nur die Sprachen gelernt, die mich wirklich interessiert haben. Manchmal habe ich auch unfreiwillig eine Sprache gelernt, wenn mich die Menschen an meiner Schule ignoriert haben, wenn ich nicht die Landessprache gesprochen habe (das ist öfter vorgekommen als ihr wahrscheinlich denkt).

Die nächsten Outfits, die in meinem Schrank hängen, erinnern mich an eine der Schulen, in denen ich ignoriert wurde. Das lag aber nicht unbedingt daran, dass ich die Sprache nicht beherrscht habe, sondern vielleicht war auch mein Stil Schuld daran. Es war eine Schule in Tschechien und ich hatte mir für die Schule einen Grunge-Look ausgesucht. Alle haben mich gemieden, weil ich dort die Rolle des einsamen Mädchens, das auch einsam bleiben wollte, gespielt habe. Ich passe meine Rolle immer den Outfits an, was mich zu einer guten Schauspielerin gemacht hat. Es hat aber auch dazu geführt, dass ich gar nicht mehr weiß, wer ich wirklich bin und wann ich mich verstelle. Vielleicht verstelle ich mich jetzt gerade, in diesem Moment, wenn ich das hier schreibe. Wir werden es nie wissen.

Jedenfalls hat mir der Grunge-Look und die „Ich möchte einsam bleiben“-Einstellung nicht besonders gefallen, weshalb ich in der nächsten Schule in Kalifornien mal den Streber-Look ausprobiert habe. Das ist der nächste Stil, der in meinem Kleiderschrank hängt. Das war aber auch nicht unbedingt die beste Idee, denn die Schule in Kalifornien war die einzige Schule, auf der ich gemobbt wurde. Aber es war mir egal, denn ich wusste ja, dass ich nach einem Jahr schon wieder über alle Berge sein würde.

Und das war ich auch. Nach Kalifornien hatte ich genug von langweiligen, streberhaften Looks, weshalb ich in Frankreich zum Bad Girl wurde. Es war etwas anderes als mein Grunge-Look aus Tschechien, denn als Bad Girl versuchte ich, alle auf die dunkle Seite zu ziehen. Einige, die sich mir angeschlossen hatten, wurden von der Schule verwiesen oder sind schon vorher an einer Überdosis gestorben. Versteht das jetzt nicht falsch, ich habe nie Drogen genommen und die anderen auch nicht dazu verleitet, es kam einfach so von alleine. Es war nicht meine Schuld, im Gegensatz zu dem, was an dieser Schule passiert ist, aber dazu später mehr.

Der letzte Stil, der in meinem Schrank hängt, ist der „Mädchen von nebenan“-Look. Ich habe ihn in Japan getragen, da ich nicht noch mehr Menschen in den Tod treiben wollte. Diese Outfits waren von allen am besten und ich wurde von allen akzeptiert. Sie nahmen mich sofort freundlich auf und behandelten mich so, als sei ich schon seit Jahren an ihrer Schule gewesen.

Ganz hinten in meinem Schrank ist ein freier Kleiderständer. Normalerweise wäre er schon von Kleidern überlagert worden, aber in diesem Ort wollte ich nicht noch einen neuen Look erfinden. Ich sah zu meinen japanischen Outfits und überlegte für einen Moment, sie einfach wieder anzuziehen, doch auch das wollte ich nicht. Nach ein paar Schritten stand ich in der Mitte meines begehbaren Kleiderschranks und sah einmal in die Runde. Schließlich nahm ich von allen Looks die unauffälligsten Outfits und hing sie über den leeren Kleiderständer. An dieser Schule wollte ich keine besondere Rolle spielen, sondern einfach nur morgens hingehen und mittags zurück nach Hause gehen. Nichts auffälliges, nichts besonderes. Niemand sollte sich an mich erinnern, wenn ich nächstes Jahr auf eine neue Schule gehe. Dachte ich zumindest.

Ich zog das unauffälligste der unauffälligen Outfits an und ging nach unten, wo mein Vater schon mit dem Frühstück auf mich wartete. Normalerweise sah ich ihn morgens höchstens eine Viertelstunde, aber am ersten Schultag in einer neuen Schule ging er erst zur Arbeit, wenn ich mich auf den Weg zur Schule gemacht hatte. Auch das Frühstück an sich war besonders, denn an diesem einen Tag, den es jedes Jahr gab, stand mein Vater fast eine Stunde in der Küche, um ein ganz besonderes Frühstück für mich zu machen. Diese Tradition ist noch nicht so alt wie die anderen, denn damit haben wir erst angefangen, nachdem wir in Kalifornien gelebt haben. Ich hatte dort bei einer meiner wenigen Freunde übernachtet (eine Streberin, wer möchte auch sonst etwas mit einem Mädchen im Streberoutfit zu tun haben?) und zum Frühstück am nächsten Morgen gab es Pancakes mit Schokostückchen und Sahne und dazu gebratenen Bacon. Als ich wieder bei meinem Vater war, habe ich mich beschwert, warum ich so etwas nie von ihm zum Frühstück bekomme. Daraufhin hat er mir versprochen, dass er mir so ein Frühstück macht, falls wir wieder umziehen. Ich glaube, er ist wirklich davon ausgegangen, dass wir nie wieder umziehen müssen. Beim ersten Mal, als er mir das Frühstück versprochen hat (vorletztes Jahr, als wir nach Frankreich gezogen sind) war ich so aufgeregt (wegen des Frühstücks, nicht wegen der Schule), dass ich eher aufgewacht war und meinen Vater heimlich in der Küche beobachtet habe. Er hat sich so unbeholfen angestellt, dass ich irgendwann aus meinem Versteck gekommen bin und ihm geholfen habe. Als er mich sah, blickte er mir in die Augen und sagte ernst: „In solchen Momenten vermisse ich deine Mutter am meisten.“ Für einen Moment blieb die Zeit stehen und ich spürte die Wärme meiner Mutter, die ich schon so lange nicht mehr gefühlt hatte. Doch gerade, als ich realisiert hatte, dass es meine Mutter war, lief die Zeit normal weiter und der Moment war vorbei. Mein Vater und ich mussten uns wieder um das Frühstück kümmern. Wir konnten es uns nicht leisten, dass er das ganze Haus in Brand steckt, denn wir hätten die Feuerwehr nicht rufen können. Keiner von uns beiden konnte zu der Zeit Französisch und Franzosen sprechen keine Fremdsprachen, was ich schon bald gemerkt habe. Den ganzen ersten Monat lang habe ich in der Schule kein einziges Wort von dem verstanden, was die Menschen um mich herum gesagt haben. Meinem Vater schien es genauso zu gehen. Doch wir haben das Jahr überlebt und irgendwann sogar Französisch gelernt. Jeden Tag, in der kurzen Zeit, in der wir uns sahen, haben wir, so gut es eben ging, Französisch miteinander gesprochen. Irgendwann verstanden wir das Französisch des anderen jedoch nicht mehr, da ich andere Menschen um mich hatte als er. Ich lernte nur die Sprache der Drogensüchtigen und Schulschwänzer, während mein Vater eher gehobenes und geschäftliches Französisch kannte.

Doch nicht nur unsere Französischkenntnisse wurden besser, mein Vater wurde auch fast schon ein Meister darin, mir mein Erster Schultag-Frühstück zuzubereiten. Es war trotzdem ein Teil meiner Tradition, dass ich früher aufstand als ich sowieso schon musste (viel früher, weil ich ja ewig im Kleiderschrank stehe), um ihm beim Frühstück machen zuzusehen. Ich könnte mich auch direkt zu ihm stellen, aber ich mochte es, in der Tür zu stehen und ihn aus der Ferne zu beobachten. Irgendwann ging ich jedoch trotzdem zu ihm und stand solange neben meinem Vater am Herd, bis das Frühstück fertig war. Dann setzte ich mich an den Tisch und aß meine Pancakes und den Bacon, während mein Vater seinen Kaffee trank und Radio hörte (auch wenn man nicht unbedingt viel von den Lokalnachrichten nachvollziehen kann, wenn man noch nicht einmal 24 Stunden in einem Ort wohnt). Alles wirkte so, als wäre es ein ganz normaler Morgen in einem ganz normalen Leben. Doch mein Vater und ich wussten, dass es das nicht war. Egal, wie oft man umzieht, es ist immer ein bisschen komisch, auf eine neue Schule zu gehen.

Nachdem ich meinen letzten Streifen Bacon gegessen hatte, sah ich auf die Uhr und sagte zu meinem Vater „Ich muss los.“ Wir wohnten zu Fuß nur fünf Minuten von der Schule entfernt, das hatte ich gestern schon nachgeschaut und eigentlich sollte der Weg nicht so schwierig zu finden sein. Mein Vater fragte „Soll ich dich zur Schule bringen?“, doch er kannte meine Antwort bereits. „Der Weg ist nicht weit und ich werde mich schon nicht verlaufen.“ Er wusste, dass er mich nicht umstimmen konnte, also sagte er, wie jedes Jahr: „Viel Spaß und versuche, ein paar Freunde zu finden.“ Ich antwortete, auch wie jedes Jahr: „Mach ich.“ Doch wir beide wussten, dass ich es nicht ernst meinte, denn nach einem Jahr waren wir sowieso wieder weg. Aber es gehörte zu unserem Ritual, also machten wir es immer so, seit ich mich erinnern konnte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich dieses Mal wirklich echte Freunde finden würde, die mir so wichtig sind wie ich selbst. Und ich konnte auch nicht ahnen, dass ich hier eine wichtige Lektion lernen würde.

Also, lasst die Schule beginnen. Macht euch bereit für Xenia Müller.

-3-

Die Erste, die in meiner neuen Klasse auf mich zukam, war Juliana. Wisst ihr, wenn man jedes Jahr an einer neuen Schule ist, kennt man irgendwann die verschiedenen Schülertypen. Und diejenigen, die als erstes mit einem reden, wenn man neu an der Schule ist, sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Klassensprecher oder wollen ein gutes Sozialverhalten, indem sie sich der Neuen annehmen. Das ist normalerweise der erste Schülertyp, den man an einer neuen Schule kennen lernt, aber hier war das nicht so. Juliana war anders, ich würde sagen, sie sehnte sich nach echten sozialen Beziehungen. Ihr Vater ist noch weniger zu Hause als meiner, was eigentlich schon fast unmöglich ist, verdient aber das fünffache von dem, was mein Vater verdient. Sie bekommt Papis Kreditkarte und er denkt, alles sei gut. Ist es aber nicht, denn Juliana ist einsam. Ihre Mutter wurde durch die Abwesenheit ihres Ehemannes zur Alkoholikerin, Julianas Vater hat die Scheidung eingereicht und mit seinem unbezahlbaren Anwalt erwirkt, dass ihre Mutter nicht einmal mehr Besuchsrecht hat. Durch ihr Geld hatte sie zwar viele Freunde, die aber alle nur mit ihr befreundet waren, weil sie reich ist.

Sie tat mir ehrlich leid, aber das war nicht der Grund, weshalb ich mich mit ihr angefreundet habe. Nein, der Grund war, dass sie mir sofort sympathisch war, was nur die Wenigsten schaffen. Wie sie es geschafft hat? Sie hat unsere Gemeinsamkeiten sofort erkannt, denn ihr erster Satz, den sie zu mir gesagt hat, war: „Ich sehe ein weiteres Mädchen, das ohne Mutter aufgewachsen ist.“ Ich war erst mal erstaunt, weil ich gerade erst vor meinem neuen Klassenraum stand. An diesem Satz habe ich gemerkt, dass sie nicht der erste Schülertyp ist, sondern mich aus purer Empathie heraus ansprach. Man kann natürlich nie wissen, ob sie es wirklich ernst meinte oder ob sie nur eine neue Chance auf eine echte Freundin witterte, aber es fühlte sich echt an. Ich spürte von Anfang an, dass sie Schülertyp Nummer 2 war: Das reiche, beliebte Mädchen, das insgeheim total einsam, aber auch total nett ist. Das einzige Problem dieser Mädchen ist, dass niemand über das Geld hinweg schaut, um ihren Charakter erkennen zu können.

Nachdem ich erst mal einen Moment lang vor Erstaunen nichts sagen konnte, fragte ich sie: „Wie hast du das erkannt?“ Ich wage zu behaupten, dass ich selber ein Profi darin bin, andere zu durchschauen, aber ich hatte keine Ahnung, woran sie das gesehen hat. Sie lachte leicht (ein fröhliches, kein auslachendes Lachen) und antwortete: „Du trägst braun und das ist in dieser Saison total out.“ Ich sah sie fragend an: „Und was hat das mit meiner Mutter zu tun?“ Ihre Antwort kam, als sei es eine Selbstverständlichkeit: „Du hast keine Frau im Haus, die dich beraten kann. Du musst dich wahrscheinlich von deinem Vater beraten lassen und Männer haben absolut keinen Sinn für Mode.“ Jetzt musste ich auch lachen und ich traute mich sogar, ihr etwas persönliches zu erzählen: „Mein Vater kann mich nicht beraten, denn ich sehe ihm am Tag höchstens eine Stunde lang.“ Ich hatte einen mitleidigen Blick erwartet, wie man ihn von allen bekommt, die nicht in der gleichen Situation sind. Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen und schweigen verlegen oder stammeln etwas wie „Das tut mir sehr leid“. Ich habe schon viele dieser Szenarien erlebt, deswegen erwartete ich eine ähnliche Reaktion von Juliana. Aber sie nahm es mit Humor und erwiderte: „Da hast du ja noch Glück. Ich sehe meinen Vater vielleicht mal fünf Minuten. In der Woche.“ Ich nickte anerkennend und sagte: „Dafür musstest du wahrscheinlich noch nie umziehen.“ Es war eine Art Spiel zwischen uns geworden, wer die traurigere Geschichte hat. Juliana lachte und sagte: „Okay, du hast eindeutig gewonnen. Deine wievielte Schule ist das schon?“ Noch eine Sache, die sie sympathisch machte: Sie zählt eins und eins zusammen. Wenn mein Vater selten zu Hause ist und ich umgezogen bin, war es sicher nicht das erste Mal, dass ich umgezogen bin. Und sie hatte Recht: „So genau weiß ich das gar nicht mehr, aber ich glaube, es ist meine neunte.“ Juliana war nicht schockiert, sondern nickte nur und murmelte: „Das ist heftig.“ Es entstand eine kurze Pause, in der keine von uns beiden wusste, was sie sagen sollte. Irgendwann brach meine neue Freundin das Schweigen, indem sie fragte: „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, oder?“ Ich überlegte. Ich hatte in meinem Leben schon so viele Namen gehört, dass ich dachte, ich hätte ihn einfach nur vergessen. Schließlich nickte ich: „Stimmt. Ich bin Xenia.“ Juliana strahlte mich an: „Ich bin Juliana. Schön, dich kennen zu lernen, Xenia, du bist echt nett.“ Ich lächelte zurück: „Es ist auch schön, dich kennen zu lernen, Juliana.“

Erinnert ihr euch noch an meine Namensbedeutungen und die Frage, für wen ich wer war? Für Juliana war ich eindeutig Xenia, die Liebenswürdige. Wir redeten und lachten noch eine ganze Weile, und irgendwann fragte sie mich: „Wollen wir nach der Schule zusammen shoppen gehen? Oder einen Kaffee trinken? Es ist Anfang des Schuljahres, da gibt es noch nicht so viele Hausaufgaben.“ Ich zögerte. Schließlich waren wir gerade mitten im Umzug und Geld war bei mir im Moment auch knapp. Ich sagte Juliana das, aber sie erwiderte: „Die Kartons kannst du auch morgen noch auspacken, die laufen schon nicht weg. Und wegen Geld mach dir keine Sorgen, geht auf mich.“ Sie hielt die weiße Kreditkarte ihres Vaters hoch und fügte hinzu: „Ich habe Carte blanche. Wortwörtlich.“ Sie sah mich hoffnungsvoll an: „Was den Umzug angeht, hast du Recht und meinen Vater stört es ja sowieso nicht, wenn ich nicht zu Hause bin. Aber das mit dem Geld kann ich unmöglich annehmen.“ Juliana sah mich ernst an: „Oh doch, du kannst. Meinem Vater ist es egal, wie viel Geld ich ausgebe.“ Ich stand noch eine Weile lang so da, als müsste ich nachdenken, doch schließlich lächelte ich: „Okay, du hast mich überzeugt. Dann also nach der Schule.“ Juliana lächelte glücklich.

Passend zum Ende unseres Gesprächs klingelte die Schulglocke und kurz darauf hörte man schon das vertraute Klimpern des Schlüsselbundes eines Lehrers. Es klingt in jeder Schule gleich. Der Lehrer schließt die Tür auf und der Unterricht beginnt.

So unterschiedlich verschiedene Schulen auch sind, so gibt es doch so viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen: Alle Schüler sind unmotiviert und die Lehrer versuchen vergeblich, den Unterricht voranzubringen. An jeder Schule gibt es verschiedene Typen von Schülern: Es gibt die Beliebten, wie Juliana, die eigentlich nur ehrliche Aufmerksamkeit wollen, und es gibt Bad Boys (wer das ist, findet ihr schon noch heraus), die manchmal böser sind, als man denkt. Man darf natürlich auch nicht die Streber vergessen, die sich in 90 Prozent des Unterrichts beteiligen, und an jeder Schule gibt es die Zicken, die über alles und jeden lästern. Ich wurde auch an dieser Schule nicht enttäuscht, wie ich schon zum Teil in der ersten Stunde erfahren konnte.

-4-

Ich saß neben Juliana, was mein Hassfach Geschichte ein wenig erträglicher machte. Es stellte sich heraus, dass sie dieses Fach genauso wenig mochte wie ich. Irgendwie ist es gruselig, wie viel wir gemeinsam haben.

Ich fragte mich allerdings, warum neben Juliana ein Platz frei war. Eigentlich hätte ich gedacht, dass sich alle darum prügeln, neben ihr sitzen zu können, um sich bei ihr beliebt zu machen und an ihr Geld zu kommen. Ab und zu frage ich mich, wer jetzt wohl auf meinem Platz sitzt, obwohl es mir egal sein kann. Eigentlich kann es mir auch egal sein, ob ihr herausfindet, wer der Mörder ist, theoretisch kann mir alles egal sein. Ich bin tot, was kann mir noch passieren? Ich schätze, es ist einfach eine meiner Eigenschaften, anderen zu helfen. Mein Tod scheint also auch etwas Gutes zu haben: Ich muss mich nicht mehr verstellen und finde heraus, wer ich bin. Vielleicht glaube ich nicht daran, dass jeder irgendwann Gerechtigkeit erfährt, deshalb will ich selbst dafür sorgen. Möglicherweise möchte ich mich rächen, für das, was passiert ist. Oder bin ich wirklich so gutherzig, dass ich noch mehr Opfer verhindern möchte? Ich weiß es nicht und ich denke, jeder muss diese Frage für sich selbst beantworten. Wie habt ihr mich kennengelernt? Wie habe ich mich euch gegenüber verhalten? Urteilt über mich, schätzt mich ein, es ist mir egal. Menschen reden immer über irgendetwas und man sollte es nicht persönlich nehmen, wenn man selbst das Thema ist. Es zeigt doch eigentlich nur, dass man interessant ist.

Zurück zu dem, worum es eigentlich geht: Geschichte. In der Stunde hat der Lehrer (ein typischer Geschichtslehrer, der viel zu begeistert von seinem Fach ist) das gemacht, was ich gerade auch versucht habe: Zeit schinden. Es bringt mir nichts, irgendetwas hinauszuzögern, denn für mich ist Zeit nicht existent. Eigentlich ist es eher unlogisch, mehr auszuschweifen als nötig, aber das ist mir egal. So gutherzig bin ich dann doch nicht. Ich schinde schon wieder Zeit, seht ihr? Vielleicht liegt es daran, dass ich Geschichte hasse. Warum ich es dann nicht einfach überspringe und mit der nächsten wichtigen Information weitermache? Das hat drei Gründe: 1. Ich möchte euch alles so erzählen, wie es war, 2. alles, was passiert ist, könnte wichtig sein und 3. es ist MEIN BLOG und ich will es so schreiben. Wenn es euch nicht passt, müsst ihr ihn ja nicht lesen.

Jetzt aber wirklich zurück zu Geschichte. Der Anfang der Stunde war wie in jeder anderen Schule, auf der ich jemals war: Der Lehrer sagt, dass es in der Klasse eine neue Schülerin gibt und dann bittet er mich, mich vorzustellen. Dann stehe ich auf und sage meinen Namen und mein Alter. Aber dieses Mal geschah etwas Unerwartetes: Nachdem ich meinen Standardsatz gesagt hatte, fragte mich der Lehrer: „Und wo kommst du her?“ In der Millisekunde, in der mich die Frage körperlich und mental gelähmt hat, habe ich zu Juliana gesehen, denn sie war neben dem Lehrer die einzige Person, die mich angesehen hat. Unsere Blicke kreuzten sich nur für einen Augenblick, doch ihr Gesichtsausdruck war so verständnisvoll (sie war bis dahin die einzige Person aus der Klasse, die meine Geschichte zumindest ein wenig kannte), dass ich mich sofort wieder unter Kontrolle hatte. Komplett ruhig antwortete ich: „Ich weiß es nicht.“ Dann schaute ich mich im Raum um, um mir die verschiedenen Reaktionen anzusehen. Die meisten Schüler lachten und derjenige, der damit angefangen hatte und die anderen Schüler dazu animierte, mit ihm zu lachen, war vermutlich der Klassenclown. Der Lehrer schwieg erstmal und lachte dann unsicher mit dem Großteil der Klasse mit. Nur eine Person lachte nicht: Juliana. Sie sah mich mitfühlend an. Ich zeigte ihr mit meinem Blick, dass alles in Ordnung war. Ohne ein weiteres Wort setzte ich mich wieder hin und gab dem Lehrer mit einem Blick zu verstehen, dass ich es absolut ernst meinte. Er hörte auf zu lachen, klatschte einmal in die Hände und sagte dann: „So, dann wollen wir mal anfangen. Ich weiß nicht, wie weit du an deiner alten Schule gekommen bist, Xenia, aber du kannst ja einfach gucken, wie weit du mitkommst.“ Ich nickte stumm und fragte Juliana leise: „Was habt ihr als letztes gemacht?“ Juliana sah mich skeptisch an und antwortete: „Denkst du, das weiß ich noch? Das war vor den Ferien.“ Ich lachte leise und sagte dann zu ihr: „Stimmt, da habe ich gar nicht dran gedacht. Irgendwie bin ich Gedanken noch in Japan und da waren keine Sommerferien, als ich umgezogen bin. Ich hatte insgesamt ungefähr eine Woche Ferien.“ Sie sah mich schockiert an und sagte, ein bisschen lauter als beabsichtigt: „WAS?!“ Der Lehrer sah zu uns und sagte: „Juliana, lenk Xenia bitte nicht ab. Sie muss besonders aufpassen.“ Hätte ich nicht in den letzten Jahren woanders gewohnt, hätte ich mich beleidigt gefühlt.

Juliana und ich sagten den Rest des Unterrichts nichts, wirklich GAR NICHTS, denn es stellte sich heraus, dass wir das Thema Nationalsozialismus hatten. Meine Ausrede war, dass ich seit mehreren Jahren nicht mehr in Deutschland gewohnt habe, ich hatte mit dem Thema also noch nie etwas zu tun gehabt. Juliana war einfach nur schlecht in Geschichte (nichts gegen dich, in allem anderen warst du super). Selbst wenn wir beide etwas gewusst hätten, wären wir wahrscheinlich gar nicht zu Wort gekommen, denn Max hat sich ständig gemeldet und mit seinem Wissen angegeben. Am Anfang dachte ich, er wäre einfach nur ein Geschichtsfreak, aber später habe ich herausgefunden, dass er einfach ein riesiger Streber ist und in jedem Fach nervt.

Jedenfalls verstand ich gar nichts von dem, was der Lehrer uns erzählte. Das merkte er, weshalb er Juliana und mir bei der Gruppenarbeit Max als dritten Partner zuteilte. Es endete damit, dass er die ganze Arbeit alleine machte, weil er genervt davon war, dass Juliana und ich das Thema nicht verstanden. Und so verging meine erste Unterrichtsstunde an der neuen Schule.

Aber wo bleibt denn der Bad Boy, von dem ich euch erzählt habe? Lest weiter, dann werdet ihr ihn bald schon kennen lernen. Vielleicht habt ihr ja auch schon eine Ahnung, wer es sein könnte. Ratet doch einfach mal, ich bin mir sicher, ihr kennt ihn alle, zumindest die Mädchen. Er hat vor nichts und niemandem Halt gemacht, aber die meisten waren schlau genug, sich nicht von ihm um den Finger wickeln zu lassen. Im Gegensatz zu mir. Dabei hatte ich doch schon genug Typen von seiner Sorte kennengelernt, um zu wissen, worauf ich mich einlasse. Vielleicht hat mir die Tatsache, dass ich eine echte Freundin gefunden hatte, Hoffnung gemacht, dass an dieser Schule alles anders ist. War es ja letztendlich auch, aber auf eine andere Weise, als ich es mir erhofft hatte.

-5-

Die Pausenglocke erlöste Juliana und mich von unserem Leid. Ich kann euch sagen, obwohl ich tot bin, ist Geschichte das schlimmste, das mir jemals passiert ist. Aber die ersten 90 Minuten hatte ich überlebt und Juliana und ich standen nach dem Unterricht ein paar Sekunden vor dem Klassenraum, während alle anderen an uns vorbeiliefen. Der Klassenclown (ich kenne seinen Namen immer noch nicht, aber er interessiert mich auch nicht) kam auf mich zu und sagte: „Vielleicht findest du ja noch irgendwann raus, woher du kommst.“ Und dann lachte er, obwohl es nicht einmal witzig war. Seit wann ist es so schwer, die Neue zu sein? Ach ja, schon immer. Aber das war ich ja gewohnt, also fiel es mir leicht, ihn und seine Bemerkung zu ignorieren. Ich fragte Juliana: „Was machst du normalerweise in den Pausen?“ Juliana schwieg und antwortete leise: „Normalerweise mache ich etwas mit denen, die vorgeben, meine Freunde zu sein.“ Von einer Sekunde auf die nächste veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und mit strahlenden Augen fügte sie hinzu: „Aber jetzt zeige ich dir erst mal die Schule.“ Ich nickte. „Klingt nach einem Plan“, und schon zog sie mich hinter sich her, in die warme Sommersonne des ersten Schultags. Die Wärme schien mir sagen zu wollen, dass es ein toller Tag werden würde, und sie sollte Recht behalten.

Wir hatten gerade den größeren Teil des Schulhofs betreten, als Damon auf uns beide zukam. Er schien Juliana komplett zu ignorieren und sprach stattdessen mich an: „Hey, Mädchen mit unbekannter Herkunft.“ Ich war die Neue und er wollte sehen, ob ich mich auf ihn einlasse. Wahrscheinlich hatte er das Gleiche schon bei Juliana und allen anderen Mädchen der Schule gemacht. Ich war schon genug Typen wie ihm begegnet, um zu wissen, wie er tickt, aber aus irgendeinem Grund ließ ich mich von ihm um den Finger wickeln. Doch ganz so schnell wollte ich ihm nicht zeigen, dass er bei mir eine Chance hatte, also sagte ich genervt: „Du nicht auch noch.“ Dann drehte ich mich um und wollte gehen, um zu sehen, ob er schnell locker lässt. Und ich hatte mich nicht getäuscht, er versuchte es weiter. Er lief um mich herum, sodass ich ihm wieder ins Gesicht sehen konnte, und sagte entschuldigend: „Nein, so meinte ich das nicht. Ich frage mich nur...“ Damon suchte nach den richtigen Worten und ich fand sie für ihn: „Wie man nicht wissen kann, wo man herkommt?“ Er nickte: „Genau. Bist du ein Alien oder so?“ Er versuchte es also mit Humor, was eigentlich auch der beste Weg ist, ein Gespräch zu führen, wenn man sein Gegenüber nicht kennt. Ich meine, wer mag keinen Humor? Ich tat also weiterhin so, als würde ich mitspielen und sagte gespielt amüsiert: „Nein, ein Alien bin ich nicht.“ Damon lächelte sein einstudiertes Ich bekomme jedes Mädchen rum-Lächeln, als er antwortete: „Dann besteht ja keine Gefahr für mich.“ Eine Millisekunde lang überlegte ich, wie ich weitermachen sollte, bis ich mich dazu entschied, ihn zu spiegeln. Wenn er der Bad Boy sein wollte, war ich das Bad Girl. Provokant sagte ich: „Nicht nur Aliens greifen an.“ Dann wartete ich Damons Reaktion ab und tatsächlich war er einen Moment lang sprachlos. Er hatte sich jedoch erstaunlich schnell wieder gefasst und sagte beeindruckt: „Wow, eine Frau mit Charakter.“ Seine Bewunderung war so authentisch, dass er sie gar nicht gespielt haben kann. Er hatte wirklich Respekt vor mir. Ich entschied mich dazu, seine Aussage ins Lächerliche zu ziehen, indem ich herablassend lachte und ihn dann ungläubig ansah, während ich fragte: „Ich habe Charakter? Dann weißt du aber mehr als ich.“ Damon lächelte wieder einmal sein einstudiertes Lächeln und sagte: „Ich lade dich auf einen Kaffee ein und beweise dir, dass du Charakter hast.“ Ich wollte es ihm nicht ganz so leicht machen, also sah ich in skeptisch an, woraufhin Damon hinzufügte: „Komm schon, es ist nur ein Kaffee. Keine Vertragsbindung, keine Mindestlaufzeit.“ Ich lachte, aber es war ein echtes Lachen. Ja, ich gebe es zu: Damon hat mich rumgekriegt. Was ist schon dabei? Ich antwortete so selbstsicher wie möglich: „Okay, ein Kaffee.“ Damon lächelte siegessicher: „Wie wäre es morgen nach der Schule?“ Ich tat so, als müsste ich überlegen und antwortete schließlich: „Ja, das müsste passen.“ Damon sagte noch „Wir sehen uns“ und ich lächelte ihm hinterher.

Als er um die Ecke war, sah ich zu Juliana rüber, die offenbar nicht wusste, wie sie darüber denken sollte, doch sie entschied sich, nichts zu sagen. Stattdessen lächelte sie nur ein leichtes, erzwungen Lächeln und ich lächelte unsicher zurück. Wir wussten beide, was Damon für eine Art Junge war und wir beide hatten keine Ahnung, weshalb ich mich auf ihn eingelassen habe. Wir hatten auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die Schulglocke gab uns zu verstehen, dass wir zurück in den Unterricht mussten.

-6-

Kaum hatte es nach dem Unterricht geklingelt, zog Juliana mich hinter ihr her auf den Schulhof und sagte: „Jetzt zeige ich dir aber wirklich die Schule. Beim letzten Mal wurden wir ja unterbrochen.“ Als sie den letzten Satz sagte, warf sie Damon einen Seitenblick zu, während an uns vorbei lief. Er wirkte abwesend und schien gedankenverloren zu sein, doch er wusste ganz genau, dass er wieder mal Aufmerksamkeit bekam. Wie sollte es auch anders sein? Er kannte es gar nicht anders als so: er stand irgendwie immer im Mittelpunkt, selbst, wenn man es gar nicht wollte. Das ist eine Sache, die ich nicht durch Beobachtungen herausgefunden habe, sondern erst später. Wann? Ratet doch mal. Strengt eure grauen Zellen an, damit ihr beim Lesen nicht einschlaft. Wenn ihr den Blog bis hierhin durchgelesen habt, sitzt ihr sowieso schon zu lange am Computer. Schaltet ihn aus, streckt euch, macht einen Spaziergang, irgendwas. Ich warte dann so lange. Glaubt mir, ich habe alle Zeit der Welt.

Seid ihr wieder da, mit frischer Energie und bereit zum Weiterlesen? Was? Ihr wart gar nicht weg? Euer eigenes Pech. Dieser Blogeintrag wird noch ziemlich lang sein, also denkt nicht, dass ihr bald damit durch seid. Es gibt noch eine Menge zu erzählen. Natürlich müsst ihr ihn nicht lesen, aber wenn ihr die Wahrheit herausfinden wollt, dann solltet ihr euch schon noch ein bisschen Zeit nehmen und mich begleiten.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Juliana zeigte mir die Schule. Ich muss euch ja sicher nicht erzählen, wie die Schule aussieht, denn der Großteil von euch ist sicher Schüler hier. Aber ich sage euch, wie sie auf mich gewirkt hat, einfach nur der Vollständigkeit halber. Der erste Eindruck, den ich von der Schule hatte, war nicht besonders spektakulär. Auf mich wirkte das Gelände mit den drei Gebäuden darauf unglaublich klein. Eine kleine Schule für ein kleines Dorf. In anderen Ländern war ich auf Schulen mit mehreren tausend Schülern gewesen, deswegen kam mir alles hier vergleichsweise winzig vor. Und chaotisch. An anderen Schulen, auf denen ich gewesen war, hatten die Räume Zahlen, die zeigten, in welchem Stockwerk, Gang und an welcher Stelle im Gang sich die Räume befanden. Aber an dieser Schule musste man sich auskennen, um die Räume zu finden, da sie keine Nummern hatten, sondern nach Farben benannt waren. Wer hatte sich das eigentlich ausgedacht?

Juliana zeigte mir die komplette Schule, was nicht besonders lange dauerte. Von den Raumnamen, die sie mir gesagt hatte, konnte ich mir nur die Hälfte merken, aber wir hatten sowieso fast die ganze Zeit Unterricht im violetten Raum und von den Fachräumen für Kunst, Musik und Naturwissenschaften gab es nur wenige.

Als wir gerade am Rand des Schulhofs standen, auf dem sich bei gutem Wetter alle Schüler versammelten, kam eine Gruppe von Mädchen auf uns zu. Ich erkannte sofort, wer es war. Damit meine ich nicht die Namen, sondern ihre Funktionen an der Schule. Das Mädchen in der Mitte der Gruppe, umgeben von jeweils einem Mädchen auf jeder Seite, war die Beauty-Queen der Schule. Das beliebte Mädchen, das, anders als Juliana, ihren Ruhm genoss und sich ihrer Macht und ihrem Einfluss auf andere bewusst war. Die anderen beiden Mädchen waren ihre obligatorischen zwei besten Freundinnen, wobei „Diener“ es eher treffen würde. Sie gehorchten der Chefin der Schule aufs Wort und durften als Gegenleistung in ihrer Nähe sein. Ein unfairer Tausch, wenn ihr mich fragt, aber was weiß ich schon.

Während die beiden Mädchen still und brav neben ihrer Herrscherin standen, stellte sich das mittlere Mädchen mit einem künstlichen Lächeln als Emily vor. Sie bedachte mich und mein Outfit mit einem abfälligen Blick, der eigentlich unauffällig sein sollte, mir aber trotzdem nicht entging, bevor sie mit übertriebener Freundlichkeit sagte: „Es ist sooo toll, dich kennen zu lernen. Wir konnten ja leider in der ersten Pause nicht miteinander reden. Es muss so unglaublich stressig sein, an eine neue Schule zu kommen.“ Sie zog das „so“ dermaßen in die Länge, dass es mich wunderte, dass sie mitten im Satz keine Luft holen musste.

Ich antwortete, mit dem gleichen falschen Lächeln und der gleichen gespielten Freundlichkeit: „Du hast ja keine Ahnung, wie anstrengend es ist. Besonders mit den ganzen Leuten, die vorgeben, nett zu sein, aber eigentlich nichts mit einem zu tun haben wollen.“ Emilys Gefolge, dessen Namen ich noch immer nicht kenne, nickte verständnisvoll, während die Beauty-Queen selbst einen leicht schockierten Gesichtsausdruck aufsetzte und fragte: „Nicht wahr?“ Ich lachte höflich und sie stieg mit ein. Emily wusste also tatsächlich nicht, dass ich von ihr sprach. Ich verabschiedete mich von ihr mit den Worten „Es war echt toll mit dir zu reden, aber ich müsste mal...du weißt schon“ und einem verlegenen Lachen. Nach einem kurzen Moment verstand Emily, was ich ihr sagen wollte und lachte kurz, bevor sie sagte: „Hat mich gefreut, dich kennen zu lernen.“ Ihre beiden Freundinnen lächelten mich an, während ich an Emily vorbeiging.

Als wir außerhalb von Emilys Hör- und Sehweite waren, lachte Juliana und sagte dann: „Wow, das war echt eine gute Imitation. Und deine Lehrerin in Tschechien hat gesagt, du könntest nicht gut schauspielern?“ Ich lachte auch und antwortete: „Ich habe mir irgendwann zur Gewohnheit gemacht, Menschen, die ich nicht leiden kann, einfach nachzumachen.“ Jetzt lachten wir beide zusammen, doch schon nach einer kurzen Zeit wurden wir von der Pausenglocke unterbrochen.

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Zusammen gingen Juliana und ich zum Kunstraum, wo sich nach und nach auch unsere Mitschüler einfanden. Ein paar Minuten später kam auch unsere Lehrerin, die man sich in keinem anderen Fach als in Kunst vorstellen konnte: eine junge Frau, fast frisch aus dem Studium und mit einer lockeren Art, die man sonst von keinen anderen Lehrern kannte. Es wirkte so, als wollte sie ursprünglich einfach nur Kunst studieren, ist dann aber doch Lehrerin geworden, weil sie sonst nicht so viel mit ihrer Leidenschaft anfangen konnte.

Sie schloss die Tür für uns auf und als ich den Kunstraum betrat, verschlug er mir die Sprache. Alle anderen Räume in dieser Schule waren eher modern und schlicht gehalten, aber dieser hier war anders. Das Erste, das mir auffiel, war die Größe. Der Kunstraum war einfach riesig, neben der Aula wahrscheinlich der größte Raum der Schule. Als zweites fiel mir die Einrichtung auf. Anscheinend hatten viele Schüler über lange Zeit hinweg daran gearbeitet, den Kunstraum zu dekorieren. Zum Teil waren die Tische bemalt, aber nicht mit dem sinnlosen Gekritzel, das man in allen Schulen fand, sondern richtige Kunstwerke. An den Wänden hingen auch einige Gemälde und riesige Säulen, die vom Boden bis an die Decke reichten, standen jeweils in einer Ecke des Raumes.

Juliana sah meinen Blick und erklärte: „Wir haben eine Kunst-AG, die sich um diesen Raum kümmert. Sie wurde von Cleo gegründet, nachdem sie den Schulleiter von ihrer Idee überzeugt hatte.“ Sie nickte mit dem Kopf in die Richtung eines Mädchens, das sich in diesem Raum richtig wohlzufühlen schien. Cleo kam rüber sagte zu mir: „Das haben Schüler aus allen möglichen Jahrgängen gemacht. Es sollte einen Raum in der Schule geben, der anders ist, nicht so langweilig. Was ist da passender als der Kunstraum?“ Ich nickte und antwortete ihr: „Es sieht so toll aus.“

Juliana und ich setzten uns auf die nächstgelegenen Plätze und der Unterricht fing an. Unsere Lehrerin sagte uns, das Projekt für dieses Halbjahr sei etwas, das zeigte, wer wir wirklich waren, tief in uns drin. Ich seufzte leise, denn ich hatte noch immer nicht herausgefunden, was mich ausmachte. Während alle anderen schon Zettel und Stifte aus ihren Taschen holten, saß ich nur auf meinem Stuhl und überlegte, was ich machen konnte. Ich war gerade dabei, einen Zettel auf meinen Tisch zu legen, um einfach nur ein großes Fragezeichen aufzuzeichnen, als mir eine Idee kam. Es gab keine Vorgabe, dass es wir nur einen Aspekt abbilden durften.

Ich nahm einen kleinen Zettel und schrieb Masken und Kleid auf den oberen Teil der Seite. Juliana, die gerade die Umrisse einer Person zeichnete, schaute fragend auf mein Blatt. Ich sah ihren Blick und sagte: „Du wirst schon sehen“. Meine beste Freundin zuckte kurz mit den Schultern und wandte sich dann wieder ihrer Skizze zu.

Unter das Wort Masken schrieb ich verschiedene Emotionen und Gefühle auf, die ich in meinem Leben erlebt hatten und von denen ich geprägt war. Unter Kleid schrieb ich die einzelnen Länder auf, in denen ich gelebt hatte. Juliana sah noch einmal auf meinen Zettel, doch dieses Mal fingen ihre Augen an zu strahlen. Sie zeigte auf die Spalte unter dem Wort Kleid und sagte: „Mach davon eine Skizze, ich habe eine Idee, wie ich dir helfen könnte.“ Jetzt war ich es, die verwirrt war, aber Juliana nickte ermutigend, also fing ich an, eine Skizze von meinem Kleid zu machen.

Als ich damit fertig war, warf ich einen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing und sah, dass es zu spät war, um mit den Skizzen für die Masken anzufangen. Also sah ich zu Juliana hinüber, die mittlerweile die Umrisse einer zweiten, größeren Person neben die erste Person gezeichnet hatte. Neben Juliana saß Cleo, die schon die perfekte Zeichnung eines Farbmischbrettes mit einem Pinsel, mit Licht und Schatten, gezeichnet hatte. Weiter hinten, in einer Ecke des Raumes, saß eine Gruppe Jungs, die, soweit ich es erkennen konnte, weder Zettel noch Stifte auf ihren Tischen liegen hatten. Wahrscheinlich hatten sie die ganze Stunde über nichts gezeichnet und hatten auch nicht vor, ein vernünftiges Ergebnis abzuliefern. Als es zur Pause klingelte, waren die Jungs die ersten, die aufstanden. Sie waren schon längst draußen, als Cleo erst anfing, ihre Sachen einzupacken.

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„Ich dachte, wir wollten shoppen gehen.“ Skeptisch sah ich Juliana an. Wir standen in der Straße, die die Einheimischen Innenstadt nannten.

„Machen wir doch auch“, sagte Juliana und zögerte. Dann fügte sie fast schon ein wenig entschuldigend hinzu: „Ja okay, vielleicht haben wir nicht so viele Geschäfte und vielleicht hast du etwas anderes erwartet, aber mehr haben wir hier nun einmal nicht. Was bringt einem Geld, wenn man nichts damit anfangen kann?“ Den letzten Satz flüsterte sie fast und sie sah in die Ferne. Ich lernte eine ganz andere Seite von Juliana kennen, anders als das fröhliche Mädchen, dem nicht einmal Geschichte die gute Laune verderben kann.

Obwohl ich tatsächlich etwas anderes erwartet hatte und ein wenig enttäuscht davon war, dass es hier nur sieben Klamottengeschäfte, davon kein einziger Markenladen und die Hälfte von ihnen kleine Dorfläden, in denen die Kleider aussahen wie von einer blinden, halbtoten Frau gestrickt, wusste ich, dass ich Juliana aufmuntern musste. Also nahm ich ihren Arm und zog sie mit mir. So begeistert, wie es nur ging, sagte ich: „Komm, lass uns das Geld deines Vaters für hässlichen Kram ausgeben, den wir sowieso nie tragen!“ Sie musste lachen und erwiderte: „Hässlicher als deine Sachen geht es ja wohl nicht.“ Ich sah sie gespielt entrüstet an und fragte: „Was soll das denn jetzt heißen?“ Dann lachten wir beide.

Für Außenstehende wirkten wir vielleicht wie zwei Freundinnen, die sich schon seit Ewigkeiten kannten, dabei waren wir einfach nur zwei Mädchen, die sich heute erst kennen gelernt hatten. Und wir waren zwei Mädchen, die versuchten, ihrer Einsamkeit zu entfliehen. Meine Einsamkeit, nirgendwo richtig zu Hause zu sein und Julianas Einsamkeit, die ihr Vater mit Geld wiedergutmachen wollte. Wir beide brauchten echte Bindungen und ich weiß nicht, wie es für Juliana war, aber für mich war es die erste Freundschaft in meinem Leben, die sich echt anfühlte.

Die nächste Stunde verbrachten wir damit, hässliche Pullis anzuprobieren und so zu tun, als würden wir modeln. Dabei lachten wir so viel, dass wir in einem Laden sogar rausgeworfen wurden, weil wir die anderen Kunden gestört hatten. Am Ende hatten wir nichts gekauft, aber dafür umso mehr Spaß gehabt.

Nach einer Weile hatte ich jedoch keine Lust mehr zu shoppen, weil wir schon fast alle Läden gesehen hatten. Juliana merkte das und fragte mich, ob wir einen Kaffee trinken gehen wollten. Ich nickte, denn das schien mir in dem Moment eine willkommene Pause von den Geschäften. Meine Freundin, die hier aufgewachsen war und alle Straßen hier auswendig kannte, ging mit mir zielstrebig auf ein kleines, familiengeführtes Café zu.

Als wir durch die Tür gingen, spürte ich, wie Ruhe und Gemütlichkeit uns umgab. Es war das komplette Gegenteil von den großen Ketten mit überteuertem To-Go Kaffee. Hier fühlte man sich nicht nur wie ein Kunde, sondern wie ein Mensch. Juliana schien von der ganzen Atmosphäre unbeeindruckt zu sein, wahrscheinlich war sie schon oft hier gewesen. Dieser Eindruck wurde bei mir noch verstärkt, als Juliana die Frau hinter der Theke mit einem Lächeln begrüßte, das zu freundlich für eine fast fremde Person war. Die Frau lächelte zurück und sah mich freundlich an, während sie Juliana fragte: „Das Gleiche wie immer?“, woraufhin meine neue beste Freundin nickte. Die Verkäuferin sah mich an und fragte dann „Und für dich?“, doch ich kam nicht zu einer Antwort, denn Juliana bestellte für mich das, was sie selbst auch trank.

Wir setzten uns an einen Tisch in der Ecke und schon ein paar Minuten später kamen unsere Getränke. Ich sah neugierig in meine Tasse, woraufhin mir die Verkäuferin erklärte, dass es ihr Spezialgetränk sei, das nicht einmal auf der Karte stehe. Mein Blick wanderte leicht verunsichert zu Juliana, die beruhigend sagte: „Vertrau mir, du wirst es lieben. Ich trinke es ständig.“ Unter den neugierigen Blicken von Juliana und der Bedienung nahm ich vorsichtig einen Schluck. Noch bevor ich überhaupt etwas davon schmecken konnte, sagte ich aus Höflichkeit „Mmh“, was eine schlechte Angewohnheit war. Aber glaubt mir, man macht das öfter als man denkt, wenn man in anderen Ländern ständig irgendwelche merkwürdig aussehenden Sachen probieren muss. Doch nach einem kurzen Moment erfüllte ein undefinierbarer Geschmack meinen Mund und ich gab ein weiteres „Mmh“ von mir, dieses Mal ein echtes. Juliana und die Bedienung sahen mich lächelnd an, doch als durch die Tür am anderen Ende des Raumes Kunden kamen, entschuldigte sich die Frau und widmete sich den anderen Personen.

Nachdem wir eine Weile lang schweigend an unseren Getränken genippt hatten, fragte Juliana: „In wie vielen Ländern hast du eigentlich schon gelebt?“ Ich musste tatsächlich über die Frage nachdenken und entschied mich schließlich dazu, ihr die Wahrheit zu erzählen: „Ich weiß es gar nicht so genau, es waren einfach schon zu viele, um sie alle zu zählen.“

Meine Freundin sah mich mit großen Augen an und sagte dann: „Ich bin echt neidisch. Ich wünschte, ich wäre schon so oft verreist. Das Geld dafür hätten wir, aber mein Vater hat keine Zeit für Urlaub und alleine lässt er mich nicht reisen. Alles, was ich habe, ist dieser kleine Ort.“ Ich versuchte, ihre Stimmung ein bisschen zu heben und antwortete ihr scherzhaft: „Wenn du möchtest, können wir gerne tauschen.“ Als sie darauf nicht reagierte, fügte ich hinzu: „Ehrlich, so toll ist es nicht, jedes Jahr in einem anderen Land zu wohnen. Denn wenn man woanders wohnt, muss man sich auch immer wieder neu eingewöhnen und anpassen.“

Juliana zuckte mit den Schultern: „Ist trotzdem interessanter als mein Leben.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, sagte Juliana noch: „Erzähl mir was über die Länder, in denen du warst.“ Nun war es an mir, mit den Schultern zu zucken: „Was möchtest du denn hören?“ Juliana dachte eine Weile lang nach und fragte dann: „In welchem Land fandest du die Kultur am besten?“ Ich musste nicht lange überlegen und antwortete sofort: „Kalifornien. Die Menschen dort waren total offen und gastfreundlich. Wir wurden regelmäßig von unseren Nachbarn zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Die Schule war nicht unbedingt so toll und meine Mitschüler auch nicht, aber mit allen Menschen, die ich nur außerhalb der Schule kannte, habe ich mich sehr gut verstanden.“

Juliana lächelte und stellte ihre nächste Frage: „Und welche Landschaft ist am schönsten?“ Es wunderte mich, dass sie nicht die Frage stellte, wo man am besten shoppen konnte, aber vielleicht wollte sie mir das momentan ersparen, da ich mich ja gerade erst mit ihr durch die Geschäfte gequält hatte.

Auf ihre Landschaftsfrage konnte ich auch sofort antworten: „In Schottland. Die Seen, die Berge, einfach traumhaft. Unser Haus lag direkt zwischen einem Berg und der Meeresküste, in einem kleinen Ort namens North Berwick. Wenn man den größten Berg dort hochgestiegen ist, den North Berwick Law, konnte man die gesamte Stadt überblicken und auf dem Meer sogar bis zum Bass Rock, einer kleinen, von Vögeln bewohnten Insel rüberschauen.“ Ich schloss die Augen und befand mich für einen Moment wieder in North Berwick. Ich stand auf dem höchsten Punkt des Berges, und während der Wind meine Haare zerzauste, genoss ich die Aussicht auf das unruhige Meer. Als ich in Gedanken den Berg hinunterging und in Richtung Hafen ging, stieg mir der Fischgeruch in die Nase, der das ganze Dorf einhüllte.

Als ich die Augen wieder öffnete und zu Juliana schaute, sah sie mich mit großen Augen an und fragte dann: „Kann ich noch eine Frage stellen?“ Ich nickte: „Natürlich, du kannst so viele Fragen stellen wie du willst.“ In Gedanken fügte ich noch hinzu: Je mehr du fragst, desto weniger können wir nachher noch shoppen.

Julianas nächste Frage war, an welches Land ich meine schönste Erinnerung hatte. Ich zögerte, als alte Gefühle in mir aufstiegen, die ich vor Jahren erfolgreich verdrängt hatte. Denn meine schönste Erinnerung war gleichzeitig verbunden mit einer meiner schlimmsten Erinnerungen. Nein, ich rede nicht von meiner Mutter, denn wie ihr ja wisst, habe ich keine richtige Erinnerung an sie.

Die Rede ist von Tschechien, dem Land, in dem ich zum ersten Mal einen Traum hatte, der zerstört und danach wieder zusammengeflickt wurde. Wir lebten in der Hauptstadt, Prag, und in dieser Stadt war ich mir zum ersten Mal der Tatsache bewusst, dass ich immer wieder andere Rollen spielte und nicht einmal mehr wusste, wer ich selbst war. Diese Tatsache brachte mich dazu, Schauspielerin werden zu wollen. Ich entschied mich also dazu, für die Theater-AG vorzusprechen. Es war ein großer Fehler, denn ich habe nicht nur eine Absage bekommen, nein, ich wurde regelrecht niedergemacht.

Die Lehrerin sagte mir, es sei eine Schande, dass ich überhaupt versuchte, Theater zu spielen, wenn ich nicht einmal einen eigenen Charakter hätte. Sie sagte mir, ich solle wiederkommen, wenn ich wüsste, wer ich bin. Ich könne keine Schauspielerin sein, wenn ich nicht einmal zu mir selbst gefunden hätte, erzählte sie mir. Denn wie, um alles in der Welt, sollte ich glaubhaft eine Rolle spielen, wenn ich nicht einmal glaubhaft ich selbst sein konnte? Dass ich mein ganzes Leben lang quasi nichts anderes gemacht hatte als glaubhaft Rollen zu spielen, ignorierte sie und machte ich vor allen Anwesenden nieder. Niemand widersprach ihr. Natürlich nicht, jeder wollte einen Platz in der AG haben und da kam eine Konkurrentin weniger wie gerufen.

Ich weiß, was ihr jetzt vielleicht denkt, jeder bekommt mal Rückschläge, aber die meisten machen daraus nicht so ein großes Drama. Das liegt daran, dass die meisten, nachdem sie eine Absage bekommen haben, einfach mit ihrem Leben weitermachen und eine neue Bestimmung finden. Doch bei mir war es etwas anderes, denn ich erkannte, dass die Lehrerin Recht hatte: Wie konnte ich irgendetwas vernünftig machen, wenn ich nicht einmal wusste, wer ich selbst war? Die Antwort war offensichtlich, zumindest für mich: Ich konnte nie etwas Vernünftiges machen, bevor ich nicht zu mir selbst fand. Ihr denkt euch jetzt vielleicht: Ist doch nicht so schlimm, viele Menschen müssen erst zu sich selbst finden. Aber diese Menschen haben es nicht schon ihr Leben lang versucht und sind immer wieder daran gescheitert.

Den Tränen und einem mentalen Zusammenbruch nahe, rannte ich in den nächstgelegenen Park, Vojanovy Sady, ein Park, in dem ich mich vorher schon oft mit Freunden getroffen hatte, und setzte mich auf eine Bank. Um mich herum standen wunderschön blühende Magnolien, doch sie waren mir damals nicht bewusst aufgefallen. Vor mir war ein kleiner Teich, in dem sich mein Gesicht spiegelte. Als ich meine geröteten Augen sah, wandte ich den Blick ab, als würde das die Situation besser machen. Ich sah mich um, doch alles um mich herum wirkte damals dunkel und farblos. Komisch, dass ich die rosafarbenen Blüten erst in meiner Erinnerung richtig wahrgenommen habe. Rückblickend sieht man oft vieles anders, zum Beispiel, dass hinter jedem Rückschlag immer eine Chance steht. Eine Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen. Doch in der Situation selbst braucht man oft erst einmal einen Anstoß.

Jedenfalls saß ich dort auf der Bank und konnte schon gar nicht mehr richtig weinen, sondern schluchzte nur lautlos und weinte keine Tränen, sondern einen regelrechten Wasserfall. Ich hatte eine tiefe Existenzkrise und war mit den Nerven am Ende. Plötzlich sah ich aus den Augenwinkeln einen Schatten und hörte ein leises Knarren, als sich eine Person neben mich auf die Bank setzte. Ich sah sie nicht an, denn wer auch immer es war, ich wollte ihm oder ihr meinen jämmerlichen Anblick ersparen. Die fremde Person legte einen Arm um mich und ich ließ es geschehen, denn ich brauchte dringend eine Schulter zum Anlehnen und ich spürte die Wärme, die von dieser Person ausging. Er oder sie sagte nichts, sondern hielt mich einfach im Arm und ließ mich weinen.

Nach einer Weile hörte ich schließlich auf zu schluchzen und die Tränen ließen schließlich auch nach. Noch immer saß die Person stumm neben mir. Als sie den Arm von mir löste, sah ich die Person endlich an und betrachtete sie eine Weile lang: Es war ein Junge, ich schätzte ihn ungefähr fünf Jahre älter als mich selbst ein, mit dunkelblonden Haaren und verständnisvollen grün-braunen Augen, die einen vertrauenswürdigen Eindruck schafften.

Mit einem leichten, aufmunterndem Lächeln fragte er mich: „Ist alles in Ordnung?“ Ich lachte tatsächlich ein wenig und sagte: „Naja, nicht so ganz, sonst würde ich sicher nicht hier sitzen und weinen.“ Jetzt lachte auch er und erwiderte: „Stimmt, das war eine blöde Frage, tut mir leid. Also, was ist passiert?“ Sein freundlicher Blick ließ keine Zweifel, dass ich ihm nicht vertrauen konnte, also erzählte ich ihm die ganze Geschichte mit dem Theater und meinem Traum des Schauspielerns. Er nickte hin und wieder verständnisvoll und als ich zu Ende geredet hatte, blickte er mir tief in die Augen und sagte: „Hör zu: lass dir von niemandem sagen, dass du etwas nicht kannst. Nur du kennst deine Grenzen, niemand sonst. Und wenn du daran glaubst, dass es keine Grenzen gibt, dann gibt es auch keine.“

Ich hörte jedem seiner Worte aufmerksam zu und sagte dann: „Klingt so als hättest du Erfahrung damit. Mit Grenzen und ihrer Überwindung, meine ich.“ Er schüttelte mit dem Kopf: „Noch nicht, aber ich arbeite daran. Und ich hoffe für uns beide, dass wir wirklich alles erreichen können, was wir wollen, denn sonst waren alle Anstrengungen und Bemühungen umsonst.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739464633
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Zauber Geheimnis Magie Freundschaft Lüge Unsterblichkeit Blog Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Annika Claaßen (Autor:in)

Annika Claaßen wurde 2001 in Ostfriesland geboren und lebt dort auch heute noch mit ihrer Familie. Sie hat 2019 ihr Abitur gemacht und macht zurzeit eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement. "Die Wahrheit" ist ihr erstes Buch.
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Titel: Die Wahrheit