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Im Netz der NSA

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
403 Seiten

Zusammenfassung

Wer schützt uns vor dem eigenen Staat? Sie ist eine der gefragtesten Sicherheitsexpertinnen für die Informationstechnologie (IT). Ihr Talent sich durch die Firewalls zu hacken ist in der Branche gefürchtet. Früh muss Tamara erkennen, dass Talent auch tödlich sein kann. Tamara nimmt einen Auftrag an, der sie an die Grenze ihres Wissens bringt. Je mehr sie sich in das Problem vertieft, je mehr wird ihr klar, dass sie es mit einer ganz neuen Intelligenz von Computervirus zu tun hat und dass sie das Konzept dahinter kennt. Ihr Wissen wird für sie zu einer tödlichen Gefahr, denn ohne es zu wissen, klebt sie bereits im Netz der NSA. Um das Geheimnis zu wahren, schreckt die NSA vor nichts zurück. Kann Tamaras Bruder Sam und Tobias, sie retten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Papa

der immer für uns da ist, egal was wir in unserem Leben anstellen.

1

Pakistan 2008

»Was haltet ihr von einer Pause?«

»Jetzt sag nicht, die knallharte Tami macht schlapp!«

Tamara ignorierte den Spott in Jess‘ Stimme. Wann und wie ihre Freundschaft begonnen hatte, die Erinnerung war ihr verloren gegangen. Ewig. Ein Leben ohne sie war unvorstellbar. Nichts, nicht einmal der ständige Konkurrenzkampf bei allen sportlichen Wettbewerben, der sie beide früher regelmäßig zu Höchstleistungen angetrieben hatte, konnte dieser Freundschaft je etwas anhaben.

Die Hightech-Kleidung hielt, was der Hersteller versprochen hatte. Der Schweiß dampfte von innen heraus, sodass Tamaras Haut sich weiterhin trocken anfühlte. Keine Stellen, die rieben, die Sachen waren leicht, wärmten gegen den Wind und boten den bestmöglichen Schutz in der Region. Mit fünfundvierzig Kilo hatte sie den Rucksack optimal gepackt, Zelt und Schlafsack inklusive. Sie warf einen Blick zu Kamal, der sie angrinste und mit den Schultern zuckte. Er war der Dolmetscher zwischen den Einheimischen und ihnen. Der Ausflug nach Besham war auf seinem Mist gewachsen, im Anschluss an die beeindruckende zwanzigtägige Trekkingtour mit Start in Islamabad. Ihre Eltern hatten ihr die Reise zu ihrem Master of Science geschenkt, Jess hatte das Geld von ihren Sponsoren aufgebracht, indem sie es als Vorbereitung für die Olympischen Spiele verkaufte, und Kamal bekam sowieso immer alles, was er sich wünschte, der verzogene pakistanische Sohn reicher Eltern. Er lebte seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Sein Vater, Professor Durrani, lehrte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Gemeinsam waren sie von Deutschland nach Islamabad geflogen, zu der geführten Trekkingtour Im Angesicht des K2 nur für Reisende mit Klettererfahrung im Gebirge. Insgesamt hatte die Gruppe aus 15 Mitgliedern plus den drei Reiseführern bestanden sowie einer variierenden Anzahl von einheimischen Helfern für die Organisation der Lager, für die Zwischentransporte und die Verpflegung.

Zuerst waren sie zu dem Ort Chilas gefahren, der Märchenwiese am Nanga-Parbat-Basecamp, es folgten Tarshing, das Herrligkoffer-Basecamp, Shaigiri, Mazeno Basecamp, Highcamp und der Mazeno-Pass mit 5.377 Metern die höchste Stelle der Tour. Es ging weiter zum Upper Loiba – da hatte sich Tamaras Vorbereitungstraining voll bezahlt gemacht. Mit Steigeisen und Eispickel mussten sie den Abstieg über die Diamir-Seite bewältigen. Der letzte Teil der Strecke führte über Loiba, Ariel und Sair die Diamirflanke zurück durch das an der Stelle schluchtartig eingeschnittene Diamir-Tal zum Ort Diamaroi und weiter talauswärts. Erst da waren sie auf den Jeep getroffen, der sie nach Chilas brachte.

Es war ein Ausflug in eine andere Welt, umgeben von den mächtigen Gebirgen, die viele Menschenleben gefordert hatten. Alfred Drexlers Grab erinnerte an die zahlreichen Opfer des »Deutschen Schicksalsberges«. Ja, der Nanga Parbat war ein respekteinflößender und doch faszinierender Berg, der ihr offenbarte, wie klein und unbedeutend sie selbst für die Welt war.

Tamara liebte das Klettern in den Alpen. Die Zugspitze hatte sie in allen Varianten bestiegen, aber hier wurden ihr Grenzen aufgezeigt, die sie anerkannte und respektierte.

»In einer halben Stunde erreichen wir den Naltar-See, ideal für eine Mittagspause. Schaffst du das noch?«

»Klar!«

Kamal wechselte ein paar Worte mit den zwei Einheimischen, die eifrig nickten. Tamara korrigierte den Sitz des Rucksacks und trank einen großen Schluck Wasser aus der Sigg-Flasche, bevor sie sich den anderen anschloss.

Es dauerte nicht einmal zwanzig Minuten, und sie erreichten das lauschige Plätzchen. Sie legte die Jacke auf den feuchten Boden und setzte sich darauf. Die letzten Tage und vor allem die Höhenmeter hatten ihr zugesetzt. Ihre sorgfältig ausgewählte Ausrüstung bewährte sich auf dieser Tour. Sowohl im Schnee als auch jetzt hier im spätsommerlichen Klima am Naltar-See. Jessica kam zu ihr rüber, und Mattes, der ihr selten von der Seite wich, erkannte ausnahmsweise, dass seine Anwesenheit unerwünscht war, und blieb bei den anderen Männern. Der Sportmedizinstudent aus Göttingen hieß eigentlich Matthias. Sie hatten ihn erst auf der Trekkingtour kennengelernt, aber Tamara war es gewohnt, dass Jess Verehrer um sich sammelte.

»Bist du schlapp?« Jessica setzte sich auf einen Jackenzipfel.

»Nein.«

»Macht dir dein Knie Ärger?«

»Nein, ist kein Problem.«

In ihrer Kindheit hatte Tami eine Verletzung an ihrem Knie davongetragen, wobei sie das jedoch vor Schlimmerem bewahrt hatte.

»Okay, was ist es dann, das dich beschäftigt?«

Tamara seufzte abgrundtief auf, was ihr einen belustigten Seitenblick von Jess einbrachte.

»Ehrlich, ich weiß nicht, warum du es immer wieder machst! Ich kann es mir nur damit erklären, dass du masochistisch veranlagt bist.«

»Nein, ich bin nur Realist!«

»Tami, du räumst dem Ganzen überhaupt nie eine Chance ein. Du findest einen Jungen nett, merkst, dass er dir mehr bedeutet, und zuletzt folgt dein ultimativer Test. – Rumms! Er fliegt durch, und du lässt ihn fallen wie eine heiße Kartoffel.«

»Ach, und du gibst mir die Schuld, dass sie durchfallen?«

»Ja. Weil es genauso ist, als wenn du einem Hund eine Wurst vor die Nase hältst. Du wunderst dich, dass er danach schnappt, anstatt auf dein ›Friss‹-Kommando zu warten.«

Verblüfft starrte sie Jess einen Moment an, dann brach sie in Lachen aus.

»Das ist überhaupt nicht lustig. Hast du dir mal überlegt, wie ich mich dabei fühle?«

»Nein«, japste Tami, »du armes Würstchen!«

Verständnislose Blicke aus der Männerrunde fielen auf sie. Die Gesichtsausdrücke der Einheimischen zeigten eindeutig, was sie über die bescheuerten Europäerinnen dachten. Dabei versuchten beide, auf der Tour möglichst wenig aufzufallen – für Jessica bei ihrer Größe von einsachtzig und den langen Beinen ein Ding der Unmöglichkeit. Viele kannten sie von Fotos als Sportlerin, immerhin hatte sie schon WM-Gold nach Hause geholt, und nur das olympische Gold fehlte ihr noch in der Sammlung. Dann noch das hellblonde Haar – und alles natürlich, nur Augenbrauen und Wimpern ließ sie färben. Dass sie die optimale Technik für den Hochsprung beherrschte, führte Jess selbst sarkastisch auf ihren mangelnden Vorbau zurück. Mehr Busen hätte sie schon gern gehabt.

Für Tamara war Tarnung ein Kinderspiel. Bei einer Größe von einem Meter dreiundsechzig wurde sie von den meisten einfach übersehen. Sie weigerte sich standhaft, ihre glatten, straßenköterblonden Haare zu färben, egal, wie sehr ihre Cousinen mütterlicherseits sie zu überreden versuchten. Auch ihre spitze Nase, das fliehende Kinn und die dünnen Lippen wirkten nicht gerade als Blickfang. Allein die hellgrünen Augen gaben ihr einen interessanten Touch, doch bevor jemand die entdecken konnte, war er schon an ihr vorbei.

Erschien ein männliches Wesen auf der Bildfläche und zeigte nach wiederholtem Treffen ernsthaftes Interesse an ihr, so verfügte Tami über zwei effektive Hilfsmittel, um die wahre Absicht desjenigen herauszufinden. Ihr loses Mundwerk, geschult von ihren Brüdern Sam und Jonas, galt es erst mal kennenzulernen, und danach gab die Konfrontation mit Jessica, der Traumfrau schlechthin, den Ausschlag. Bisher hatte keiner beide Hürden überwunden. Auch Kamal, als dessen Tutorin sie auf Anfrage ihres Professors fungiert hatte, stand im Begriff, am letzten, ultimativen Test zu scheitern. Diesmal versetzte es Tamara einen Stich, denn sie hatte die Abwehr weit heruntergefahren.

»Okay, der Vergleich ist blöd! Aber der Typ ist echt schnuckelig, und er vergöttert dich.«

»Mich? Du meinst mein Hirn.«

»Und deinen knackigen Arsch!«

»Für seine Masterarbeit als kostenlose Informationsquelle, die ihm die Recherchearbeit macht!«

»Und deinen knackigen Arsch!«

»Wegen meiner Kontakte zu Braun, dem Unternehmen für IT-Security, wo jeder, der was auf sich hält, eine Bewerbung hingeschickt hat!«

»Und deinen knackigen Arsch!«

Tamis Lächeln wirkte müde und freudlos.

»Einverstanden, auch wegen deiner hellgrünen Augen, die hier, in dieser Umgebung und zusammen mit deiner braun gebrannten Haut, besonders zur Geltung kommen.«

»Ach Jess«, seufzte Tamara, »ich bin blöd!«

»Ja. Eindeutig ja. Wer vergleicht sich mit der gewählten sexiest Sportlerin des Jahres 2006! Und ich bewundere deine Intelligenz ... – Habe ich dir erzählt, was mir der Playboy für Nacktaufnahmen bietet?«

»Nein, Jess! Und ich wills auch nicht wissen. Das wirst du nämlich verdammt noch mal bleiben lassen!«

Jessica schlang die Arme um sie und erdrückte sie schier mit der Kraft ihrer Umarmung. »Ich liebe dich.«

»Ich dich nicht.«

Sie lachten wieder. Auf eine seltsame Weise fühlte Tami, wie die frischen Wunden an ihrem Herz anfingen zu heilen. Jessica hatte immer diese magische Fähigkeit besessen. Mit ihr war das Leben leicht, fröhlich und bezwingbar.

»Du solltest ihm eine Chance geben, ehrlich. Auch wenn sein Blick ab und zu an mir hängen bleibt, gibt es da etwas zwischen euch. Stell dir vor, jemand schaut eine Torte an, aber im Grunde mag er lieber den Kuchen daneben ...«

Abwehrend hatte Tamara die Hände gehoben, und als die Freundin das Signal ignorierte, verschloss sie ihr einfach mit ihrer Handfläche den Mund. »Keine weiteren Essensvergleiche für Beziehungen. Mein Zwerchfell hat genug gelitten!«

Kamal tauchte vor ihnen auf, einen Kopf kleiner als Jess, mit dichten schwarzen Haaren und hellbraunen Augen, die Herzen brechen konnten, wenn er lächelte. Seitdem ihre Kommilitoninnen die Bollywoodfilme für sich entdeckt hatten, wurde Kamal mit Shah Rukh Khan verglichen. Selbst Jess entwickelte einen Fimmel für den Schauspieler, weshalb sie mit Begeisterung die Idee der Trekkingtour in Pakistan aufgegriffen hatte. Immerhin stammte die Familie dieses SRK, wie die Fans seinen Namen abkürzten, aus Peschawar. Ursprünglich wollten sie dem Ort einen Besuch abstatten, doch angesichts der Warnungen des Auswärtigen Amtes hatten sie sich dagegen entschieden.

Während der Trekkingreise traten die Unruhen des Landes, die Nähe des Punjab zu Afghanistan, in den Hintergrund. Wie sollte jemand auch beim Anblick des K2 an die Probleme in der Welt denken? Die Menschen waren freundlich auf sie zugekommen, und die Reise war von der Gesellschaft absolut hervorragend organisiert worden. Alles war perfekt, sofern man bereit war, die deutschen Tugenden Pünktlichkeit, Planung und Sauberkeit beiseitezuschieben und sich stattdessen auf die Kultur des Landes einzulassen.

Doch hier in Besham begegneten ihnen die Menschen anders, oder lag es an ihrer Abhängigkeit von Kamal, weil sie selbst nun außerstande wären, den Rückweg nach Islamabad zu organisieren? Die Kontrolle abzugeben, das bedeutete, ein Stück Freiheit aufzugeben, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, und das schmeckte Tamara ganz und gar nicht. Sie war froh, dass ihr Gerhard Braun zu ihrem Master of Science das iPhone geschenkt hatte. Es war mit einer SIM-Karte für Pakistan versehen, und immer, wenn eine Verbindung existierte, nutzte sie es, um die aktuellen Koordinaten ihres Aufenthaltsorts an Sam weiterzugeben. Überhaupt faszinierte sie dieses Smartphone ungemein: Musik, Bilder, Spiele, E-Mail, natürlich die normalen Telefonfunktionen, alle Kontakte und ein Kalender – es war einfach nur genial.

»Ihr scheint ja Spaß zu haben. Bereit für das letzte Stück?«, fragte Kamal.

Jess sprang auf und rief im Weggehen: »Kamal, sag mir eines, magst du Würstchen oder Torten?«

Während der Pakistani der blonden Deutschen verwirrt nachsah, biss sich Tami auf die Lippen, um einen weiteren Lachfall zu unterdrücken.

»Und was macht das Knie? Alles in Ordnung?«, wandte er sich nun an Tamara.

»Ja – sorry, wenn ich euch ausbremse.«

»Mach dir keine Gedanken. Gib mir was aus deinem Rucksack, dann ist er leichter.«

»Nein. Es geht schon.«

Eine Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und hing über dem Stirntuch. Kamal schob sie unter das Tuch zurück und strich ihr dabei wie unabsichtlich mit den Fingern die Wange entlang.

»In unserem Land nehmen Frauen gern männliche Hilfe an.«

»In deinem Land dürfen sie aber nicht studieren, oder wenn, dann heißt es am Ende doch zurück an den Herd.«

»Und ich dachte, du wärst begeistert von Pakistan.« Ein freches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, und Tami fiel keine Antwort ein. Meinte er das wörtlich oder flirtete der ernsthafte Kamal gerade mit ihr?


Drei Stunden später erreichten sie ein in einem Tal gelegenes, von Feldern umgebenes Dorf. Aus der braunen Erde wagten sich die ersten Pflanzentriebe hervor. Ein weicher grüner Flaum bedeckte, so weit das Auge reichte, die Landschaft. Eine halbhohe Steinmauer in der typischen sandigen Farbe umgab das Dorf, das aus Lehmhütten bestand.

Während ihre Begleiter vorliefen, musterte Tami die Gegend. An einem Brunnen sah sie Frauen in schwarzer Burka, nur die Augen sichtbar. Hastig senkte eine von ihnen den Kopf, nahm den Eimer mit Wasser, den sie hochgeholt hatte, und verschwand in einem nahe liegenden Haus. Wie auf ein Signal hin, das sie übersehen hatte, huschten überall verhüllte Gestalten in die Hütten. Nur wenige Kinder liefen noch herum und betrachteten die Fremden interessiert.

»Irgendwie gruselig, oder?«

Jess sprach aus, was Tami empfand. Zwar waren sie auf der Wanderung strenggläubigen Muslimen begegnet, jedoch genauso Menschen anderer Glaubensrichtungen. Dieses Dorf hier war die erste rein islamische Siedlung, die sie besuchten. Kamal hatte davon nichts erwähnt.

Sie beschleunigte ihre Schritte und legte ihm die Hand auf den Arm. »Bist du dir sicher, dass es eine gute Idee ist, deinen Freund zu besuchen?«

»Ja, sicher. Mach dir keine Gedanken. Er erwartet uns.« Er blieb stehen und sah sie fragend an.

»Das ist ein islamisches Dorf. Denkst du nicht, dass hier Europäer unerwünscht sind?«

»Du hast Vorurteile gegenüber dem Islam? Ich bin auch Moslem, stellt das für dich ein Problem dar?«

»Nein, ich habe viele Freunde mit unterschiedlichen Religionen. Aber was ist mit den Menschen im Dorf? Stört es sie? Und was ist mit den Taliban?«

»Tami, nicht jeder Moslem ist Anhänger einer terroristischen Organisation.« Er klang verärgert, und sie schämte sich für ihre Gedanken und Gefühle.

In dem Moment rannte eine Horde Kinder zu Jessica hin, die sie neugierig umrahmten, auf sie einredeten und anfingen, nach ihren Haaren zu greifen.

»Das ist allerdings ein Problem.«

Matthias versuchte etwas Abstand zwischen Jessica und den Kindern zu halten, um sie zu schützen. Sie wusste nicht recht mit der Situation umzugehen, schaute die Kinder nur skeptisch an und war sichtlich überfordert.

Kamal machte ein paar Schritte auf sie zu, ließ einen Wortschwall auf die Kinder niedergehen und machte eine deutliche Handbewegung, dass sie verschwinden sollten. Er erreichte nur das Gegenteil damit, der Lärm nahm zu, und es klang, als stellte ihm jedes von ihnen eine Frage. Als eine kraftvolle Stimme neben Tamara erklang, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hatte weder gesehen, dass sich jemand zu ihr gesellt hatte, noch etwas gehört. Obwohl der Mann ihr ein kurzes Lächeln zugestand, als er ihren Blick bemerkte, wich sie einen Schritt zurück. Sie hatte nicht verstanden, was er sagte, doch der Effekt war unübersehbar. Die Kinder verschwanden im Nu fast lautlos, während sich ein Strahlen über Kamals Gesicht ausbreitete.

»Mein Freund!«, sagte er auf Englisch, kam und umarmte den Fremden neben ihr.

»Allah segne dich, Kamal. Ich hatte euch früher erwartet.«

»Wir mussten eine längere Pause einlegen. Harun, darf ich vorstellen, Tamara Baumann. Ich erzählte dir von ihr. Sie ist meine Tutorin, die ihre Diplomarbeit über Ethical Hacking geschrieben hat.«

Jetzt wandte der Mann Tami seine Aufmerksamkeit zu. Das also war Harun Naseri, von dem Kamal erzählt hatte, und dem er bei einem Computerproblem helfen sollte.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ms Baumann.«

Da er keinerlei Anstalten machte, ihr die Hand zu geben, ließ Tamara ihre hastig sinken.

»Matthias Brunner und Jessica Fiedler«, stellte Kamal die beiden anderen vor.

»Jessica Fiedler?« Harun zog fragend die Augenbrauen hoch. »Die WM-Goldmedaillengewinnerin von Osaka 2007? Hochsprung, nicht wahr?«

»Ja, die bin ich.«

Dieses unsichere Grinsen passte nicht zu Tamaras sonst so selbstbewusster Freundin. Auch sie hatte automatisch die Hand zur Begrüßung ausgestreckt und zog sie jetzt irritiert zurück.

Der Gastgeber deutete eine Verneigung an, bevor er sich erneut seinem Freund zuwandte. »Du bringst eine berühmte Sportlerin aus Deutschland mit, ohne es mir zu sagen? Wie stehe ich da?«

»Es ergab sich kurzfristig.«

Immerhin sprachen sie Englisch, sodass Tami sie verstand. Ein kurzer non-verbaler Austausch folgte. Diese kohlschwarzen Augen des Fremden jagten ihr einen Schauer über den Rücken.

»Ich freue mich, Sie als Gäste in unserem Dorf begrüßen zu dürfen. Samira wird Ihnen beiden zeigen, wo Sie untergebracht sind und sich frisch machen können.«

Mit derselben Lautlosigkeit, mit der der Fremde aufgetaucht war, stand wie dem Erdboden entstiegen nun eine Frau in einer Burka hinter ihm. Ihre Augen waren mit schwarzem Kajal geschminkt, Wimperntusche und goldener Lidschatten machten ihren Blick erstaunlich ausdrucksstark. Ein vergnügtes Glitzern lag darin, und unwillkürlich bemerkte Tami, dass sie lächelte. Samira drehte sich um und Tami und Jess folgten ihr. Als Tami sich zu Kamal umdrehte, stand er mit seinem Freund unter einem alten Baum mit knorrigen Ästen, an denen hellgrüne Spitzen vorwitzig hervorlugten. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und machte ein Foto. Eine Dorfbewohnerin sah aus dem Fenster, ohne Burka, Tami winkte ihr kurz, woraufhin der Kopf wieder verschwand. Rasch folgte sie Jessica und Samira. Ein seltsames Verhalten legten die Dorfbewohner an den Tag.

Erleichtert stieß sie den angehaltenen Atem aus, als sie die Unterkunft betraten. Ihre Begleiterin verließ sie mit dem leisen Klimpern, das sie beim Gehen beständig begleitet hatte, so unauffällig, wie sie gekommen war. Im Zimmer gab es zwei ausgerollte Matten, einen Krug mit Wasser, eine Schüssel zum Waschen und Handtücher. Vor dem Fenster hing ein dunkles Tuch, das nur wenig vom Sonnenlicht durchließ. In dem Raum herrschte eine angenehme Temperatur, trotz der Wärme draußen.

»Puh, das ist, als kehrtest du ins Mittelalter zurück!«

Tami zuckte mit den Achseln. »Die gesamte Trekkingtour ist eine Reise in die Vergangenheit.«

»Ja, aber das hier ist anders! Ich dachte, wir würden uns die Gegend von Besham ansehen. Stattdessen landen wir in einem kleinen Dorf in den Bergen und sind umringt von strenggläubigen Muslimen!«

»Sorry. Hätte ich das gewusst! Weißt du, ich frage Kamal später, ob einer der Männer, die uns hergeführt haben, uns zurück nach Besham bringen kann. Dort suchen wir uns ein Hotel, bis er mit dem Job hier fertig ist und zu uns stößt.«

»Meinst du nicht, dieser Harun ist dann beleidigt? Der sieht aus, als würde er keinen Spaß verstehen. Wer weiß, was für Ehrenkodexe hier herrschen, was Gastfreundschaft betrifft.«

»Ich glaube, Kamal findet einen Weg, wenn ich es ihm erkläre.«

»Dir macht es nichts aus, mit uns zu kommen?«

»Weshalb sollte es?«

Jess grinste sie anzüglich an. »Na ja, in so einem Dorf, ganz allein? Wer weiß, was sich da ergibt?«

»Nee, danke. Ich finde es hier auch komisch. Besser wir brechen morgen wieder auf.«

»Meinst du, wir können jetzt die Jungs suchen gehen?«

Ihre spontane Antwort schluckte Tamara hinunter. Hätte sie in Deutschland diese Frage ihrer Freundin als durchgeknallt angesehen, verstand sie im Moment ganz genau, was sie meinte.

»Besser nicht, beim nächsten Mal hängt dir womöglich eine Horde Männer um den Hals.«

»Na, dann müssen wir wohl oder übel abwarten, bis sie hier auftauchen.«

Sie nutzten die Zeit, um sich zu waschen und wechselten die Klamotten, indem immer eine von ihnen Wache stand. Danach streckten sie sich auf den Matten aus, verwendeten dabei die eigenen Schlafsäcke als Unterlage. Zum Reinkriechen war es zu warm. Irgendwann musste ja jemand kommen. Die letzte Mahlzeit hatten sie vor einer gefühlten Ewigkeit eingenommen. Kurze Zeit später hörte Tami die gleichmäßigen Atemzüge von Jess. Klar, sie hatte natürlich gewartet, bis Tami um eine Pause bat. Dabei hatte ihr die Wanderung genauso zugesetzt. Sie schaltete das iPhone ein, um die Bilder anzuschauen, die sie gemacht hatte, hielt inne bei dem von Kamal und Harun Naseri. Die Haltung dieses Mannes – hochmütig, erhaben –, die seines Gegenübers bewundernd geneigt. Sie zoomte auf das Gesicht: scharf geschnittene Gesichtszüge, Lippen, die eine Linie bildeten, missbilligend der Ausdruck in den Augen. Wenn Samira seine Frau war, dann hatte sie mit dem Typen unter Garantie nichts zu lachen. Ihr Blick fiel auf die Oberkante des Displays, und erstaunt stellte sie fest, dass ihr Handy eine Verbindung anzeigte. Sie markierte das Bild zum Versenden, fügte die GPS-Koordinaten hinzu und schrieb noch dazu: Lande Samstag gegen 16:00 Uhr in Frankfurt. Tour ist einfach nur genial. Alles Weitere später zu Hause. LG Tami. Dann verschickte sie es.


In einem Gemeinschaftsraum aßen Tami und Jess gemeinsam mit vier weiteren Frauen auf dem Boden sitzend zu Abend. Alle hatten bunte Pluderhosen an, eng anliegende Oberteile und Tücher. Ihre Haare trugen sie offen oder zu Zöpfen geflochten. Es klirrte und klimperte von all den Fußringen, Armbändern und Armreifen. Nur die Frauen, die Essen in ein anderes Gebäude brachten, zogen sich Burkas über. Jessica mit ihren hellblonden Haaren stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Immer wieder strich ihr eine Hand übers Haar. Da es in einer freundlichen Art geschah und ohne sie zu bedrängen, grinste Jess nur und ertrug es tapfer. Die Unterhaltung erfolgte in gebrochenem Englisch oder mit Händen und Füßen. Gegessen wurde mit den Fingern aus hölzernen Schüsseln. Als Tamara ein scharfes Gericht erwischte, das ihr die Tränen in die Augen jagte, kicherten die Frauen. Zig Fragen lagen ihr auf der Zunge, die ihr zwar unhöflich erschienen, mit denen sie sich angesichts der entspannten Atmosphäre jedoch langsam vorwagte.

»Esst ihr immer für euch getrennt?«

»Meistens. Nicht erlaubt mit Männern essen ohne Burka. So einfacher«, antwortete Samira. »Macht mehr Spaß.«

Sie führte die Gespräche auf der einheimischen Seite an.

»Wo sind eure Kinder?«

»Ich keine Kinder. Malika meine Mama. Jamina wollen Jessica sehen, deshalb Kinder bei Oma.«

Die beiden pakistanischen Frauen kicherten.

»Und Zahra ...«, Samira warf einen scheuen Blick zu Zahra hinüber. Sie hatte sich den Abend über im Hintergrund gehalten. Auch jetzt wirkte sie zwar höflich, jedoch reserviert. »... Frau von Samal.«

»Samal?«

»Ältere Bruder von mein Mann Harun.«

Eine gewisse Ehrfurcht klang da bei Samira durch, und noch etwas anderes, worauf Tamara den Finger nicht hätte legen können.

»Wo zum Teufel sind Matthias und Kamal?«, warf Jess ein.

»Essen mit Männern!«

»Oh, natürlich. Mist, in Matthias‘ Rucksack ist noch mein Necessaire. Dann werde ich ihn wohl mal suchen gehen.«

Jessica stand vom Boden auf und streckte die langen Glieder. Es war eine Ausrede, die Tamara gut verstehen konnte. Natürlich, auch sie wollte raus aus dem Dorf und musste das dringend mit Kamal klären. Kartenlesen konnte sie. Den Weg zurück zu finden war kein Thema. Nur war es ein Risiko, ohne einheimische Begleitung durch eine solche Gegend so dicht an der afghanischen Grenze zurück nach Besham zu wandern, zumal sie die Sprache nicht konnten. Was für eine blöde Idee, die Spritztour zu diesem Dorf!

»Er dein Mann?«, fragte Samira.

»Nein!«

»Oh?«

»Tami, kommst du mit?«

»Klar!« Sie sprang auf.

Auch Samira erhob sich. »Ich euch bringe zu Männern.«

Zahra sagte etwas mit scharfer Stimme, eindeutig um die jüngere Frau zurückzuhalten. Es kam eine Diskussion auf. Missbilligende Blicke streiften Jess.

»Würdet ihr Burka anziehen? Blondes Haar ungewöhnlich für Dorfbewohner.«

An der tiefen Röte auf Samiras Wangen sah Tamara, dass der Pakistani die Frage unangenehm war. Sie wechselten einen Blick, zuckten mit den Achseln. Wenn es den Menschen im Umgang mit ihnen half – wieso nicht. Mit Feuereifer machten sich Jamina und Samira daran, sie einzukleiden. Jessicas Größe war problematisch. Tami selbst verschwand in der Burka, die erstaunlich viel Luft durchließ. Sie nahm das Gefühl von Tarnung als interessant wahr, weil sie verborgen in dem Gewand praktisch gar nicht auffallen würde. Ihre eigene Persönlichkeit wurde reduziert auf die Augen. In ihr entstand ein Eindruck von Freiheit, trotz des Kleidungszwangs, denn niemand könnte sie mehr von den anderen Frauen unterscheiden.


Missbilligend schalt Harun seine Gattin. Samira senkte den Kopf und murmelte leise eine Antwort auf die harsche Frage ihres Ehemanns. Es interessierte ihn nicht, ob er sie damit bloßstellte. Die anderen Männer starrten sie düster an. Sie hockten auf dem Boden, Schüsseln mit Essen waren auf einem Tuch in der Mitte platziert. Neben der beinahe feindseligen Atmosphäre schockte Tami jedoch etwas anderes. In einer Ecke des Raumes lagen Maschinenpistolen, über die einer der Anwesenden hastig ein Tuch gezogen hatte, als sie eintraten. Sie wandte den Blick ab, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, sie habe etwas gesehen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Unwillkürlich fing sie an zu schwitzen. Zum Glück verbarg die Burka ihre körperlichen Reaktionen. Sie sah zu Jess hin, die nichts bemerkt hatte. Angesichts der Männer, die ihre Freundin trotz der Kleidung anstarrten, trat sie ein Stück dichter an Jess heran. Matthias konnte sie nirgends in der Gruppe am Boden entdecken. Kamal war von einem Schreibtisch, auf dem ein Monitor stand, zu ihnen herübergekommen. Unter dem Tisch entdeckte Tamara einen Rechner, nichts Vergilbtes oder Altes, sondern eine funkelnagelneue Workstation von HP.

»Wow, die Burka steht dir. Deine Augen leuchten so hellgrün daraus hervor wie die einer Raubkatze. Aufregend.«

Er stoppte sie, als sie ihre Hand aus der Verkleidung zu befreien suchte.

»Nicht. Das sind Traditionalisten, die den Europäern feindselig gegenüberstehen. Warum seid ihr gekommen? Bekamt ihr nichts zu essen? Oder schmeckt es euch nicht?«

»Doch, aber wir wollten mit dir reden, und wo ist überhaupt Matthias?«

»Er hat sich hingelegt. Die Tour hat ihm ziemlich zu schaffen gemacht. Du weißt, uns Männern fällt es schwer, eine Schwäche zuzugeben.« Er warf einen kurzen Blick zurück in die Runde und beantwortete eine Frage, die Harun gestellt hatte – dann ein leichtes Lächeln, das gleich wieder verebbte. Sah Kamal besorgt aus? Unwillkürlich verschränkte Tamara die Arme. Die Situation missfiel ihr immer mehr.

»Geht mit Samira zu den Frauenräumen. Ich komme zu dir, wenn ich fertig bin. Macht es euch nicht zu gemütlich, ich schätze, dass wir morgen früh wieder aufbrechen.«

Erleichtert atmete sie tief ein. »Genau das wollte ich dir sagen, dass wir zurück nach Besham möchten.«

Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Tuch, dort, wo ihre Nase es etwas anhob.

»Siehst du, ich kann Gedanken lesen!«

Jessica am Ärmel ziehend, trat sie den Rückzug an. Sie schwiegen, bis sie die Räume erreichten, in denen sie untergebracht waren. Samira verabschiedete sich rasch von ihnen.

»Was war das denn?«, stieß Jess aus.

»Ich fürchte, das ist ein Dorf, das in die Konflikte der Region involviert ist.«

»Du meinst die Taliban? Ich dachte, die gäbe es nur in Afghanistan.«

»Wenn es die Taliban sind, dann die pakistanischen. Und die verüben Anschläge, Entführungen und was du noch so in den Medien mitbekommst.«

»Spinnt Kamal total? Was denkt er sich dabei, uns in so ein Dorf zu führen!«

»Ich bezweifle, dass er eine Ahnung davon hatte. Besser, wir lassen alles gepackt, verhalten uns still und sehen zu, dass wir morgen hier rauskommen.«


Erschrocken fuhr Tamara aus dem Schlaf hoch. Jemand hielt ihr den Mund zu.

»Psst. Ich will Jess nicht wecken.«

»Kamal! Du hast mich fast zu Tode erschreckt.«

»Tut mir leid – ich brauche deine Hilfe.«

»Wobei?«

»Bei dem Computerproblem.«

»Worum gehts?«

»Besser, ich zeige es dir.«

Sie schlüpfte aus dem Schlafsack, zog die Hose an, Socken und Schuhe. Wie Diebe schlichen sie durch das still daliegende Dorf. Die Sterne leuchteten am Himmel. So klare Nächte hatte sie nur in den Bergen erlebt. Eine traumhafte Gegend, gäbe es nicht diese Konflikte.

Der Raum, wo vorher die Männerrunde gesessen hatte, war leer. Kamal führte sie zu dem Rechner und deutete ihr an, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Stur blieb sie stehen.

»Harun glaubt, dass ein Virus auf dem System ist. Nein, ich korrigiere mich, er ist regelrecht besessen von der Vorstellung. Ich kann aber nichts finden.«

»Na, dann ist auf dem Computer kein Virus.« Tami zuckte mit den Schultern.

Er seufzte tief auf, sah sich im Raum nach einem zweiten Stuhl um. »Setz dich und bleib exakt da sitzen, verstanden?«

»Ja.«

Kurze Zeit später kam er mit einem Hocker zurück und setzte sich zu ihr. »Das dachte ich zuerst auch. Ich installierte das Service Pack 1 von Vista, das auszuführen er verpennt hatte, und ließ mehrere Scans von Antivirenprogrammen durchlaufen. Alles ohne Befund.«

»Und?«

»Während ich an dem System arbeitete, überwachte ich auch den Traffic und schaute ihn mir an. Es gab einen vermehrten Datenverkehr, obwohl ich selbst das Internet nicht nutzte. Fällt dir dazu etwas ein?«

»In welcher Hinsicht?«

»Wenn du Informationen aus einem System holen willst, anstatt es lahmzulegen. Wie gehst du vor?«

»Sofern ich die IP-Adresse des Systems kenne, für das ich mich interessiere, mache ich als Erstes ein Scanning. So finde ich offene Ports, die ich für meinen Zugang benutzen kann.«

»Aber verursacht das nicht eine sichtbare Belastung auf dem System, das ich scanne?«

»Kommt darauf an, welche Methode ich verwende.« Sie wandte sich dem Rechner zu, bevor er weitere Fragen stellen konnte. Sie liebte es, sich mit solchen Problemen zu beschäftigen. Nach vierzehn Tagen ohne einen Computer lockte die Tastatur sie unwiderstehlich. Kurze Zeit später war sie in die Arbeit vertieft, überrascht von der performanten Konnektivität, die sie in dieser Gegend, abseits jeder Zivilisation, niemals erwartet hätte. Aber das hatte sie ja bereits bei ihrem iPhone bemerkt. Sie konnte es sich nur damit erklären, dass die Region über ein WiMAX (Worldwide Interoperability for Microwave Access) verfügte, das die Wateen Telecom letztes Jahr in Pakistan eingeführt hatte. Sie schaltete ihr Handy ein, das sie am Abend zuvor ausgemacht hatte. In dem grünen Telefonsymbol sah sie eine rote Fünf – die Anzahl der verpassten Anrufe.

»Dein Bruder?«

»Vermutlich. Bestimmt wollte er wissen, wann wir in Frankfurt landen.« Warum sie log, wusste sie selber nicht, aber irgendwie hatte sie keine Lust, mit Kamal über Sam zu reden. Die beiden hegten eine Antipathie gegeneinander. Ja, im Grunde war Sam ein perfektes Vergraulungssystem gegen Anwärter für eine echte Beziehung, nur dass sie diesmal gern darauf verzichten wollte.

»Willst du ihn zurückrufen?«

»Es ist fast elf in Deutschland. Ich melde mich morgen bei ihm.«

Als das Licht anging, blieb ihr das Herz stehen. Auch Kamal sah erschrocken auf. Sie starrte auf die Mündung der Handwaffe, die sich auf sie richtete, und hob automatisch die Hände, als könnte sie so das, was kam, abwenden.

2

Kamal

Samuel Baumann, von seinen Kameraden nur kurz Snipes genannt, verließ die Besprechung. Nächste Woche sollte ein weiterer Lehrgang starten, und er freute sich bereits darauf. Einer der Vorteile, der GSG 9 anzugehören, bestand in der kontinuierlichen Fortbildung. Die Spezialeinheit verfügte über die neuesten Waffentechnologien und Ausrüstungsgegenstände, und die sportliche Fitness stand ganz oben auf dem Programm. Er dachte an ehemalige Kollegen, die inzwischen eine ordentliche Portion Hüftgold angesetzt hatten. Er konnte sich das nicht leisten. Ein paar hatten ihm einen Vogel gezeigt, als er ihnen erzählte, dass er an dem Eignungstest für die GSG 9 teilnehmen wollte. Du spinnst doch, dich für vierhundert Euro brutto mehr so zu quälen – der Kommentar zählte noch zu den harmlosesten Sprüchen. Er hatte es inzwischen aufgegeben, seine Entscheidung zu erklären. Die enge Kameradschaft, die vielfältigen, auch internationalen Einsätze und die Möglichkeit, sich mit den Besten der Welt zu messen, darin bestand seine Motivation.

Zwei Jahre lang hatte er einen Spezialeinsatz in Bosnien absolviert. Dort hatten Flexibilität, Konzentration und Improvisation an erster Stelle gestanden. Die Rückkehr nach Deutschland hatte bei ihm zu einer Desorientierung geführt. An manchen Tagen kam ihm das Leben hier fast surreal vor. Natürlich gab es auch in der Bundesrepublik Verbrechen, Geiselnahmen, Terroranschläge. Auch die organisierte Kriminalität war eine Herausforderung, aber im Vergleich zu Bosnien lebte die Bevölkerung hier im Paradies.

An seinem Arbeitsplatz fuhr er den Rechner hoch, loggte sich ein und rief seine E-Mails ab. Er musste lächeln, als er Tami als Absender einer Nachricht erkannte. Er las die Koordinaten und den kurzen Text. Zum Glück würde sie bald aus Pakistan zurückkehren. Den Trekkingurlaub mit diesem Kamal hätte er ihr nicht erlaubt, aber Papa schaffte es ja nie, seiner Tochter etwas auszuschlagen.

Er hatte sie sich zur Brust genommen, ihr das Material vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt und sie sogar abgehört. Sicherheitshalber hatte er auch einen Hintergrund-Check von Kamal gemacht. Man musste die Ressourcen nutzen, auf die man zugreifen konnte, oder nicht? Weder war er ein Kontrollfreak, auch wenn Tami ihm genau das oft genug an den Kopf warf, noch ein Schwarzseher. Wer wie er tagtäglich mit der Verbrechensbekämpfung zu tun hatte, sah die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Er rief die Seite der Fluggesellschaft auf, um festzustellen, wann ihre Maschine genau aus Islamabad in Frankfurt landete. Zehn vor vier am Samstag. Mist, das kollidierte mit dem Lehrgang. Jo würde das für ihn übernehmen müssen. Er grinste. Sein kleiner Bruder hasste es, wenn er und Tami ihn bei seinem alten Kindernamen nannten. Klar, dass er sich dann wieder so klein vorkam, wie er es in ihrer beider Augen auch noch war. Ihm fehlten Biss und Härte. Als sie alle noch bei ihren Eltern wohnten, hatte Jo ihr familiäres Sportprogramm gemieden wie die Pest und stattdessen ständig die Nase in Bücher gesteckt. Altes Weichei! Garantiert würde er wieder eine Ausrede parat haben, wenn er ihn ansprach, aber er wusste schon, wie er Jonas bestechen konnte. Psychologische Grundkenntnisse gehörten zu seinem Jobprofil.

Mehr unbewusst gab er die Koordinaten in die Website ein, klickte auf »Suchen«. Das Ergebnis bekam er gar nicht mit, denn das Telefon klingelte.

»Polizeihauptkommissar Baumann.«

»Huh, so förmlich? Hey Snipes, Lust, was Neues auszuprobieren?«

»Klar, immer.«

»Na, dann komm rüber zur Anlage.«

Sam sprang auf und war schon auf dem Weg aus dem Zimmer, doch im Geiste sah er gleich Tami den Kopf schütteln. »Die größte Sicherheitslücke für Firmennetzwerke stellen die Benutzer selbst dar. Entweder sie bleiben eingeloggt, verwenden zu simple Passwörter oder kleben sie unter die Tastatur.« Die letztgenannten Angewohnheiten hatte er abgelegt, aber dieses verdammte Ausloggen vergaß er immer noch. Er ging noch einmal zurück zum Computer und loggte sich aus.

Als er drei Stunden später wieder den Rechner aktivierte, sah er eine Karte auf dem Bildschirm. Für einen Moment starrte er mit blankem Hirn darauf – Stammesgebiete in Pakistan? Dann fiel es ihm wieder ein: die E-Mail von Tami. Er hatte die Koordinaten daraus in das Kartenprogramm eingegeben. Da musste ihm bei der Eingabe ein Fehler unterlaufen sein. Er öffnete die Mail ein weiteres Mal, kopierte die GPS-Daten, gab sie erneut ein.

Dasselbe Ergebnis. Verdammt noch mal, dieses blöde Weibsstück! Warum konnte sie sich nicht ein Mal an die Vereinbarung halten? Wie blind musste man gegenüber den politischen Verhältnissen sein, um als Europäer in so ein Gebiet zu reisen? Er zückte sein Handy, gab ihre Nummer ein. Sofort ging die Mailbox dran. Klar, was sonst? Während er die nächsten Optionen durchdachte, klickte er auf den Anhang. Ein Foto erschien: ein Baum, daneben ein junger Mann in Jeans und schwarzem Shirt und ein anderer in Pluderhose, weißem Hemd und dunkler Weste. Er speicherte das Bild auf der Festplatte, öffnete es in einem Bildbearbeitungsprogramm und zoomte die Männer heran.

Auch was die IT betraf, wurden hier die neuesten Versionen genutzt, und er gehörte zu denjenigen, die gerne damit herumspielten. Es musste an den Genen liegen, die er mit Tami teilte.

Die westlich gekleidete Person identifiziert er leicht als Kamal. Den anderen kannte er nicht. Er zoomte wieder raus und betrachtete das Bild mit gerunzelter Stirn. Ein Fenster am Seitenrand erregte seine Aufmerksamkeit. Erneut vergrößerte er die Ansicht. Das sah nach einer verhüllten Frau aus. Scheiße, Tami, wo bist du da?

Das Gesicht des Mannes aus dem Foto zu schneiden, zu vergrößern und die Pixel rauszurechnen, kostete ihn knapp zwei Stunden. Danach jagte er das Bild durch die Datenbank. Nur zur Sicherheit – damit versuchte er die Unruhe, die in ihm aufkam, zu unterdrücken. Geduld zählte nicht zu seinen Stärken. Er wusste, sollte der Abgleich negativ ausfallen, würde er den restlichen Tag darüber nachdenken. Er fluchte bereits jetzt innerlich. Andererseits hoffte er, dass es keine positive Übereinstimmung gab. Tami mitten unter Terroristen zu wissen, trieb ihn in den Wahnsinn. Es gab Momente, da verstand er die Leute, die rauchten. Statt einer Zigarette schob er sich ein Kaugummi in den Mund.


Langsam stand Kamal auf, die Hände in einer abwehrenden Geste vom Körper weghaltend. Zwischen den Männern wurde ein Gespräch in einer Sprache geführt, die Tamara nicht verstand. Sie atmete tief durch. In was für eine Scheiße war sie hier geraten? Die letzte Woche in einem netten Hotel in Islamabad – so hätte das Ende dieses Urlaubs aussehen sollen. Es gab dort so vieles zu entdecken. Abgesehen davon galt es sich noch von den Strapazen der Trekkingtour zu erholen. Aber nein, sie musste ja eine weitere Tour machen und Kamal in dieses beschissene Bergdorf zu seinem Freund begleiten.

»Erklär ihm, warum ich dich dazugeholt habe!«

Verwirrt starrte sie Kamal an, der sie auf Englisch angesprochen hatte. Der Schweiß, der auf seiner Stirn perlte und seine geweiteten Pupillen gaben ihr einen Adrenalinstoß. Sie fing an, eins und eins zusammenzuzählen. In seinem Blick lag eine stumme Bitte. Wie schlau sollte sie sein? Ihr Leben hing davon ab. Intelligent ja, dabei aber unwissend, was die Bedeutung des ausspionierten Systems anging. Mist! Schauspielern zählte nicht zu ihren Stärken.

»Ich scanne die Netzwerkstruktur nach offenen Ports, die jemand verwenden kann, um Zugriff auf Ihr System zu bekommen. Kamal sagte, Sie glauben, ihr Computer sei von einem Virus befallen, aber er fand nichts. Da er aber vor Kurzem vermehrten IP-Traffic feststellte und ...«

»Sie kennen sich mit Malware aus?«

»Ich sagte dir doch, dass sie meine Tutorin ist, für den Kurs ‚Sichere Netzwerke und Forensik in der IT‘.«

»Tutorin?«

»Ja, jemand, der dir hilft, einen Kurs zu bestehen, wenn du Schwierigkeiten hast. Tamara kennt sich etwas mit dem Thema aus.«

Etwas? Sie verbiss sich den Protest, bevor er über ihre Lippen kam. Gewiss war das nicht der passende Moment, um mit ihren Fähigkeiten für IT-Security anzugeben. Besser den Ball flach halten.

»Und?«

Harun hatte während des Gesprächs die Waffe abwechselnd auf Kamal und sie gerichtet.

»Sie meinen, ob ich offene Ports gefunden habe?«

»Wie auch immer!«

»So zügig funktioniert das nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, einerseits, um ihr Zittern zu verbergen, andererseits fühlte sie den Trotz, der in ihr hochkam. Dieses verdammte Arschgesicht! Die Mündung der Waffe zeigte auf ihren Kopf.

Hastig begann Kamal, auf seinen Freund einzureden. Sie hatte keine Ahnung, worüber die beiden sprachen, aber sie bemerkte die Kälte in Haruns Augen. Sein Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske. Die höfliche Zuvorkommenheit der Begrüßung des westlichen Freundes war verschwunden. Ein Tropfen Schweiß löste sich von Kamals Stirn und floss seine Schläfe hinunter. Im ersten Moment kapierte Tamara nicht, dass ihr Handy einen Ton abgab, der einen Anruf signalisierte. Die Männer sahen sie an.

»Wer ruft um diese Zeit an?«

»Keine Ahnung!«

»Ihr Bruder.«

Beide Antworten überschnitten sich.

»Los! Geh dran!«

Zögernd schob sie die Hand zu dem iPhone, das neben der Tastatur auf dem Tisch lag. Sie hatte parallel im Webbrowser Informationen von ihrem Blog zur Netzwerksicherheit gesucht.

Ein ungeduldiger Schlenker mit der Waffe. Sie berührte den Touchscreen und hob das Handy ans Ohr.

»Verschwinde da auf der Stelle! Verstanden?«, tönte befehlsgewohnt wie immer Sams Stimme an ihr Ohr – so vertraut und so weit weg.

»Zu spät!«

Als Harun nach dem Handy griff, beendete sie die Verbindung. Der Schlag mit der Waffe kam unerwartet und traf sie am Wangenknochen. Schmerzen schossen durch ihren Kopf, trieben ihr die Tränen in die Augen. Durch den Schleier sah sie, wie Kamal leichenblass drei Schritte zurückwich. Von ihm brauchte sie keine Hilfe zu erwarten.

»Du bist also diejenige, die Ahnung von all dem Internetzeug hat?«

Sie schwieg. Kühler Verstand besiegte die Angst. Sam wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Ihm würde etwas einfallen. Er hatte sie noch nie im Leben im Stich gelassen. Sie musste nur dafür sorgen, dass er genug Zeit bekam.

»Ja«, gab sie zurück, »ich habe verdammt viel Ahnung von IT-Security, und die Sicherheitsvorkehrungen auf Ihrem System sind der letzte Schrott. Jeder Anfänger mit ein wenig Wissen kann es hacken!«

Sie zuckte zusammen, als ein Schuss ertönte, doch statt Schmerz, Dunkelheit, Licht – was auch immer den Tod ausmachte – sah sie weiterhin dieselbe Szene. Also musste sie leben, oder? In Bruchteilen von Sekunden verarbeitete ihr Gehirn die Informationen. Sie wandte den Kopf zu Kamal um, aber an der Stelle, wo Kamal gestanden hatte, stand niemand mehr. Wo ihr Freund gestanden hatte, bedeckte ein roter Fleck die Wand, dicklich, wabbelig wie Wackelpudding, mit weißlichen Elementen in der Mitte. Von dort verteilten sich Spritzer über die ganze Wandfläche. So hatte es damals ausgesehen, als sie im Kindergarten mit einem Teesieb und einer Zahnbürste ein Wasserfarbenbild gestaltet hatte. Langsam begann die gallertartige Masse herunterzurutschen. Ihr Blick wanderte zum Boden. Kamal lag, Mund und Augen weit aufgerissen, ausgestreckt auf dem Teppich, ein Loch exakt in der Mitte der Stirn, zwei Fingerbreit über der Nasenwurzel. Sie wartete auf den Schock. Tränen. Angst? Der Geruch von Urin erfüllte das Zimmer. Nicht von ihr, sondern von dem Toten. Ein zweiter Schuss fiel. Diesmal färbte sich das Hemd auf Kamals linker Brust.

»Das passiert, wenn man Harun belügt.« Fast klang ihr Gastgeber belustigt.

Der Schock hielt sie gefangen, und so, als würde jemand anderes sie steuern, sah sie dem Mörder ins Gesicht. »Ich möchte, dass Sie Jessica und Matthias laufen lassen.« Gehörte die Stimme ihr?

»Du stellst Forderungen?«

»Ja. Dafür sichere ich Ihr System vor dem Zugriff der Amerikaner ab.«

Er trat einen Schritt näher an sie heran. Sie erwiderte seinen Blick. Was hatte sie zu verlieren? Doch nur ihr Leben, oder?

»Was denkst du passiert mit einer Hochspringerin, wenn ihre Kniescheibe zertrümmert ist? Glaubst du, sie kann je wieder im Leben an einem Wettkampf teilnehmen?«

Sie sparte sich eine Antwort, die er von ihr ohnehin nicht erwartete. Stattdessen machte sie dem Gefühl Platz, das in ihr hochkroch und alles andere verdrängte. Es war purer, blanker Hass.


»Harun Naseri, jüngster Bruder von Malik Samal Naseri, steht bei den Amerikanern auf der Liste der einflussreichsten Stammesführer der nordwestlichen Provinz von Pakistan an 157ster Stelle. – Ja?«

»Wird das ein Einsatz zum Sammeln von Informationen oder ...«

»Oberfeldwebel Schmidt, am Ende des Briefings ist Platz für Fragen. Zuhören und Notizen machen ist die erste Devise. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Major.«

Tobias grinste. Oberfeldwebel Wolfgang Schmidt, der Youngster aus ihrem Zug, glänzte mal wieder durch Übereifer. Staufi, wie sie Feldwebel Rainer Stauffer nannten, gab Schmidt kameradschaftlich eins hinter die Löffel. Der formlose Umgang unter den Männern des Kommandos Spezialkräfte täuschte darüber hinweg, dass sie zu einer Eliteeinheit der Bundeswehr gehörten, die mit den Special Forces anderer Länder zusammenarbeitete. Er selbst hatte die Höllenwochen der Navy Seals absolviert, einfach weil er wissen wollte, wo sie als KSK-Soldaten im Vergleich zu einer der bekanntesten Eliteeinheiten der Welt standen. Nein, zu verstecken brauchten sie sich nicht. Zusätzlich hatte er noch eine Spezialausbildung angehängt, sodass er mit vielen neu gewonnenen Fertigkeiten in den Zug zurückkehrte.

Nach einem Monat Heimaturlaub gewöhnte er sich gerade wieder in die Gruppe ein. Der Zug bestand aus zehn Soldaten mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Einer war Sanitäter, in ihrem Fall Oberfeldwebel Sebastian Zöllner, von allen kurz Zoppo genannt. Diese Männer waren seine Familie. Für jeden Einzelnen von ihnen hätte er die Hand ins Feuer gelegt. Oft genug hatten sie sich gegenseitig Rückendeckung gegeben oder aus brenzligen Situationen herausmanövriert. Man kannte die jeweiligen Macken der Kameraden besser als deren Familienmitglieder – Ehefrau und Freundin eingeschlossen. Kein Wunder, dass sie über ihren Job nicht reden durften. Selbst gegenüber den engsten Angehörigen herrschte Schweigepflicht. Das schweißte sie auf der einen Seite zusammen, auf der anderen Seite aber führte es zu erheblichen Konflikten in den außerberuflichen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser Umstand galt für die Mitglieder jeder Spezialeinheit. Scheidungen und Trennungen waren an der Tagesordnung.

»Jessica Fiedler, Tamara Baumann und Matthias Brunner ...«

»Die Jessica Fiedler?«, unterbrach diesmal Zoppo Major Becker, der das Briefing für den Einsatz vornahm.

»Die WM-Goldmedaillen-Gewinnerin im Hochsprung?«, ergänzte Wiesel, Oberfeldwebel Achim Wiesner.

»Sexiest Sportlerin des Jahres 2006?«, steuerte Staufi zur Aufzählung bei.

Tobias verdrehte die Augen. Typisch, dass den Jungs so was zuerst durch den Kopf ging.

»Ja zu dem zweiten Kommentar, den Rest kann ich nicht beurteilen, da ich der Dame persönlich nie vorgestellt wurde.«

Während die Fragesteller blöd glotzten, lachte die restliche Truppe.

»Genannte drei Personen befinden sich zurzeit in der Gewalt von Harun Naseri. Forderungen wurden bisher keine gestellt, und auch bei den Medien gibt es weder Bekennerschreiben noch Drohungen bezüglich der Geiselnahme. Wir verdanken es Polizeihauptkommissar Samuel Baumann von der GSG 9, dass wir informiert sind und über die exakten GPS-Daten des Ortes verfügen, an dem die Deutschen festgehalten werden. Die Amerikaner freuen sich ein Loch in den Bauch über den glücklichen Zufall, der ihnen Harun auf dem silbernen Tablett serviert. Identifiziert wurde er durch ein Foto, das Baumanns Schwester ihm per E-Mail hat zukommen lassen, inklusive der Geokoordinaten.«

»Arbeitet die beim BND?«, unterbrach Wiesel die Ausführungen zum zweiten Mal.

»Nein. Sie ist Diplom-Informatikerin und befand sich laut Aussage des Bruders mit ihrem Freund Kamal Durrani auf einer Trekkingtour in den Himalaja. Sie beendeten die Tour vor fünf Tagen in Islamabad. Ursprünglich sollte die Reise dort mit einem Hotelaufenthalt bis zu ihrem Rückflug am Dienstag enden. Stattdessen brachen sie erneut auf zu diesem Dorf in der Nähe von Besham. Der Grund dafür ist uns unbekannt.«

»Bei der Aufzählung der Geiseln haben Sie Kamal Durrani ausgelassen. Heißt das, er zählt zu den Anhängern der Taliban?«

Major Becker nickte ihm kurz zu. »Das wissen wir nicht. Polizeihauptkommissar Baumann ließ einen Hintergrundcheck zu der Person laufen, aber es gibt keinerlei Hinweise auf eine Verbindung zwischen ihm und den Taliban. Allerdings schrieb Frau Baumann in der E-Mail, dass Harun Naseri ein alter Freund sei, weshalb wir davon ausgehen müssen, dass es sich bei Durrani um einen Schläfer handelt.«

»Erfolgte der Hintergrundcheck vor der Abreise oder nach der E-Mail?«

»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Valider Punkt, den wir nachprüfen sollten.«

»Wieso ließ Baumann überhaupt das Foto, das ihm seine Schwester schickte, durch einen Scan laufen?«

Jetzt kehrte Stille in die Gruppe ein. Nachdenklich runzelte Major Becker die Stirn. »Nehmen Sie es erst einmal als gegeben hin.«

»Es könnte eine Falle sein«, gab Zoppo zu bedenken.

»Okay, ich checke vorsichtshalber die Baumanns. In den Unterlagen, die Ihnen vorliegen, finden Sie die Beschreibung der Örtlichkeiten, aktuelle Satellitenbilder und zusätzliche Informationen, die dem BND zur Verfügung standen. Lassen Sie uns alles Schritt für Schritt durchgehen. Unser Part der Operation wird die Aufklärung sein, weshalb wir zusammen mit einer amerikanischen Einheit als Erste in das Einsatzgebiet transportiert werden.«

Ein Stöhnen ging durch die Gruppe. Das war die langwierigste Aufgabe, die viel Geduld, Konzentration und langes Ausharren erforderte.

»Die Einsatzleitung übernimmt Oberleutnant Werner Frank, allerdings müssen Sie mit einem Mann weniger auskommen, denn Sie, Leutnant Wagner, werden in das SEAL-Six-Team integriert, dessen Aufgabe es sein wird, die Geiseln zu befreien.«

Tobias grinste zufrieden nach der Mitteilung des Majors. Jetzt machten sich die Strapazen der zusätzlichen Qualifikation bezahlt. Endlich ging er an der Spitze in den Einsatz. Die folgenden Stunden verbrachten sie damit, die Einzelheiten der Unterlagen durchzugehen, weitere Fragen zu klären und verschiedene Vorgehensweisen zu diskutieren. Genauso tüftelten sie an der optimalen Einsatzausrüstung und besprachen all die vielen Kleinigkeiten, die so einem Auftrag vorangingen. Gegenüber der Einsatzdauer nahm das Briefing oft das Zehnfache an Zeit in Anspruch.

Am nächsten Tag wechselte Tobias in das Lager der Amerikaner, die auch die Hawks für den Transport der Einsatzkommandos stellten. Major Becker hatte seine Bedenken weitergeleitet. Die Hintergrundchecks über die Baumanns hatten keinerlei Verbindungen zu terroristischen Organisationen oder sonstige Auffälligkeiten ans Licht gebracht. Allerdings kam heraus, dass der Vater, Jens Baumann, 1990 als Berufssoldat in der Fliegerstaffel der Bundeswehr einen Unfall in einer Flugshow erlitten hatte und seitdem mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl saß. Aus diesem Grund wurde der Gedanke an eine Falle für die KSK nicht komplett ausgeschlossen. Besser, man war auf alles vorbereitet. Zur Aufklärung erhielten sie mehr Zeit.


Tamara griff nach dem Glas Wasser und nippte vorsichtig daran. Die Schwellungen im Gesicht verursachten ihr Schmerzen, aber sie verkniff sich das Jammern. Noch lebten sie. Sie wusste, dass in dem Augenblick, wenn Harun die Arbeit als beendet ansah, ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Immer häufiger führte er Gespräche mit jemandem, in denen es eindeutig um sie ging. Das entnahm sie den Blicken, die er ihr zuwarf. Genauso hatte sie dabei den Namen Samal aufgeschnappt. Die Frage für sie war, ob das bedeutete, dass es einen Grund gab, sie länger am Leben zu lassen, oder genau das Gegenteil. In ihrem Schädel hämmerte es. Sie hatte die letzten Tage kaum geschlafen und wurde von den anderen isoliert festgehalten. Zahra hatte Kleidung zur Zentrale gebracht, wie sie das Gebäude bezeichneten, in dem sie arbeitete. Samira hatte ihr am ersten Morgen des Albtraums das Essen gebracht. Bei dem Versuch, ihr einen Zettel von Jessica zuzustecken, stellte sie sich so ungeschickt an, dass Harun es bemerkte. Einen Moment befürchtete Tamara, er würde sie umbringen wie Kamal, doch stattdessen schlug er sie. Seitdem brachte Zahra das Essen, und Tami hatte keine Ahnung, wie es Jess in der Gefangenschaft erging.

Dreimal am Tag bekam sie die Erlaubnis, ihre Notdurft zu verrichten. Sie nächtigte in dem Zimmer, wo der Rechner gestanden hatte. Dunkle Flecken an der Wand zeugten noch von Kamals gewaltsamem Tod, trotz Zahras Säuberungsaktion. Auf dem Boden lagen eine Matte und zwei Decken, auf denen sie zusammengerollt schlief, meistens nur ein paar unruhige Stunden. Die restliche Zeit arbeitete sie an den Systemen. Der Raum sah inzwischen wie ein Computer-Elektronikladen aus. Laptops, Rechner und Handys sollte sie prüfen und auf den neuesten Stand bringen. Ständig saß ihr Harun im Nacken, fortlaufend musste sie ihm erklären, was sie machte. Dabei balancierte sie geschickt auf einem Grat zwischen dem, was sie nicht verbergen konnte, und dem, was sie ihm besser verschwieg oder worüber sie ihm bewusst falsches Wissen vermittelte. Eine Schwierigkeit bestand darin, dass sie keine Ahnung hatte, wie viel Harun von der Materie verstand. Wann immer er der Meinung war, sie arbeite nicht mit vollem Einsatz an der Beseitigung des Problems, schlug er sie. In der übrigen Zeit telefonierte er, machte Fotos und versendete sie. Vor einigen Tagen war er mit einer brillanten Idee angekommen, die sie für ihn verwirklichen sollte. Er wünschte einen Trojaner, der die Systeme der westlichen Länder ausspionierte. Auch darauf ging sie ein – was blieb ihr anderes übrig? Sie versuchte, eine Balance zu finden, indem sie ihm Ergebnisse lieferte, ohne ihm zu viel Einblick in die Materie zu geben. Die ganze Zeit über fotografierte sie mit ihrem Smartphone den Monitor mit den Daten ab, die ihr wichtig erschienen. Sie notierte Namen, Orte, die ihr unterkamen – sofern sie englisch geschrieben waren. Dummerweise konnte sie ja die Schrift nicht lesen und verstand kein Wort der Sprache, was die Auswahl schwer machte, aber egal. Besser ein Haufen überflüssiger Daten, als dass am Ende etwas Wesentliches fehlte.

Sie ignorierte es, als Harun in den Raum kam, schloss gelassen ein Fenster auf dem Monitor, das er nicht sehen durfte. Dieser Typ verstand verdammt viel von Körpersprache. Sie hielten sich nun seit einundzwanzig Tagen in dem Dorf auf, davon zwanzig in seiner Gewalt. Sie hatte das Licht angemacht, damit ihre Augen nicht durch den Kontrast zwischen der Dunkelheit im Raum und dem Leuchten des Monitors ermüdeten. Die Mündung der Waffe an ihrer Schläfe hatte ihr einmal Angst eingejagt. Inzwischen kam es so häufig vor, dass sie genau wusste, was er in dem Augenblick von ihr wollte. Sie nahm die Finger von der Tastatur, legte ihre Hände in den Schoß und wartete.

»Braves Mädchen, du lernst rasch.«

Bei dem Lob schwang eine gewisse Enttäuschung im Unterton mit. Sie schwieg, müde von all den verbalen Auseinandersetzungen, die sowieso nur damit endeten, dass sie Prügel einsteckte. Anfangs hatte sie die Grenzen ausgetestet. Sie lernte aus Haruns Verhalten. Ihr Widerstand befriedigte sein Bedürfnis danach, zu zeigen, dass er am längeren Hebel saß. Es gab ihm das Gefühl, sie zu brechen. In Wahrheit führte sie den Kampf gegen ihn auf der Ebene der Bits und Bytes fort. Jeden Schlag zahlte sie ihm dort heim.

»Deine Freundin hingegen ist eine echte Kämpferin.« Er lauerte auf ihre Reaktion, auf die er normalerweise zählen konnte. Die Angst um Jess lähmte alle Hoffnungen, die Tamara auf eine Flucht hegte. Sie atmete tief durch. Tot nutzte sie niemandem etwas.

»Blonde Frauen, Europäerinnen, interessieren mich nicht. Bei deiner Freundin werde ich es mir noch überlegen. Mit ihrem Temperament wäre sie eine spannende Herausforderung.«

»Was wollen Sie?«

»Wie ist sie im Bett?«

»Farids Laptop ist total verseucht. Den müssen wir komplett säubern ...«

»Lass mich nachdenken. Wenn ich sie an die Pfosten fessle und in sie eindringe ...«

Weiter kam er nicht. Obwohl er es provoziert hatte, war er zu überrascht von der Schnelligkeit und Heftigkeit ihrer Attacke. Sie war nicht nur mit zwei Brüdern aufgewachsen, Sam hatte mit seiner Übervorsichtigkeit auch dafür gesorgt, dass sie sich wehren konnte. Heute liebte sie ihn für jeden blauen Fleck, den er ihr beim Training verpasst hatte. Blitzschnell schoss sie vom Stuhl nach vorne, rammte Harun ihren Kopf in den Bauch. Ein Schuss löste sich, weil der Idiot den Zeigefinger am Abzug liegen hatte, und traf die Wand. Zusammen gingen sie zu Boden, sprangen gleichzeitig auf, aber bevor er die Pistole erneut auf sie richten konnte, packte sie mit der linken Hand seinen Unterarm. Mit dem rechten Arm umschlang sie seine Taille, drehte ihren Oberkörper ein und warf ihn auf den Boden, ohne seinen Waffenarm loszulassen. Als Nächstes gab sie ihm einen Tritt in die Weichteile. Er schrie vor Schmerz auf, krümmte sich zusammen. Weil er die Waffe immer noch hielt, verdrehte sie seinen Arm und biss ihm so fest in die Hand, dass sie Blut schmeckte. Wieder brüllte er auf. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Schlafmatte.

Von der Küche her hörte sie Haruns Männer heranstürmen. Ihr wurde klar, dass sie die Aktion gewiss nicht überleben würde. Mit einem Satz hechtete sie zu der Waffe. Harun erkannte, was sie vorhatte, rappelte sich trotz der Schmerzen hoch und packte sie. In seinen Augen funkelte die blanke Mordlust. Mit voller Wucht trat sie ihm auf den Fuß und hörte befriedigt das knackende Geräusch, bevor sie ihm noch den Ellenbogen ins Gesicht rammte. Sie hatte nur eine Wahl: die Pistole vom Boden hochnehmen und hoffen, dass ein wenig von den Schießübungen ihres Bruders hängen geblieben war. Natürlich war es keine Heckler & Koch wie die Dienstwaffe der GSG 9, mit der ihr Sam das Schießen beigebracht hatte. Egal. Da die Waffe entsichert war, brauchte sie nur noch den Abzug zu bedienen. Sie brachte sich in Position, packte mit beiden Händen den Griff – weiter kam sie nicht.

Schüsse ertönten von außerhalb des Zimmers. Haruns Leute verharrten in der Tür, als wären sie in der Aktion eingefroren. Dann brach die Hölle los. Es gab ein Krachen, mehrere grelle Blitze machten sie blind. Instinktiv ging sie in die Hocke, die Pistole weiterhin im Anschlag. Hinter ihr stieß Harun Flüche aus, und auf ihren Rücken tropfte etwas Warmes.

»Stop! Hands up!«

Aus all dem Lärm, der Hektik, erklang der Befehl laut, aber dabei ruhig und bestimmt. Die Pakistani gehorchten, ließen die Waffen fallen und erhoben die Hände. Dunkle, vermummte Gestalten bewegten sich wie Schatten lautlos durch den Raum, sicherten eine Person nach der anderen zielstrebig und routiniert, wobei Tami nur Bewegungen wahrnahm und Konturen zwischen roten und weißen Punkten. Zwei davon kamen auf sie zu. Harun hinter ihr war verstummt. Alarmiert nahm sie Gestalten wahr, die zum Schreibtisch huschten, wo ihr iPhone lag.

Statt zu denken, reagierte sie nur. Dass sie die Waffe immer noch hielt, bemerkte sie nicht. Bevor sie auch nur hätte blinzeln können, lag sie auf dem Bauch, die Hand mit der Pistole auf dem Rücken. Die gesamte Aktion hatte Bruchteile einer Sekunde gedauert.

»Hostage secure.«

»Mein iPhone, verflucht noch mal!«

Sie versuchte sich zu bewegen. Unmöglich.

»Nobody will harm you. We are here to save your life. Do you understand me?« Langsam, bedächtig, Wort für Wort – in einer angenehm beruhigenden Art und Weise klang die Stimme dumpf in ihrer Nähe.

»Nein! Das ist mein iPhone! Lass mich los, du Blödmann!« Völlig bewegungsunfähig schrie sie frustriert auf. Alle Daten, alle Informationen, einfach alles war auf diesem blöden Gerät. Sie musste es sicherstellen. Sie drehte den Kopf, blinzelte, sah, wie ihr Smartphone in eine Tüte gepackt wurde, und rastete aus. Es nützte nichts, sondern verstärkte den Druck auf Arme und Rücken.

»TJ, we need your help.«

Eine kurze Pause.

»No, now. It’s the IT specialist who is stressed out.«

»Verdammte Scheiße, wer soll ich denn sonst sein? Lass mich gefälligst los, du Riesenhornochse, und sag deinem Kumpel da, dass er die Pfoten von meinen Sachen lässt. Der hat doch eh davon null Ahnung. Hey, du Idiot!« Sie schrie nicht, sie brüllte.

»You hear?« Völlig unbeweglich, ohne auf ihr Toben zu reagieren, nagelte der Mann sie weiterhin am Boden fest, während er mit der Luft zu sprechen schien. Kurz hielt sie in ihrem Kampf inne, entspannte sich, wartete, dass er den Griff ein wenig lockerte, aber den Gefallen tat er ihr nicht. Die vermummten Gestalten setzten sich mit den Gefangenen, deren Hände nach hinten fixiert waren, in Bewegung.

»Move! Move, move.«

Sie drehte den Kopf zur anderen Seite, sah, wie sich zwischen geschnürten Stiefeln nackte Füße näherten. Zu spät erkannte sie die Absicht dahinter und bekam einen Tritt ins Gesicht.

3

Rückzug

Sie fühlte ein angenehm kühles, feuchtes Tuch auf Stirn und Wange. Ihr Oberkörper lehnte an einer Steinmauer, ihre Beine waren auf dem steinigen Boden ausgestreckt. Man hatte sie also nach draußen verfrachtet. Ihr Schädel brummte, die eine Seite schien auf doppelte Größe angeschwollen. Blinzelnd versuchte sie die Augen zu öffnen, was ihr bei dem linken mühelos gelang, beim rechten nur ansatzweise.

»Wie fühlen Sie sich?«

Was für eine selten dämliche Frage. »Wie im Urlaub in einem Luxushotel!«, giftete sie und bereute die Worte sofort, weil es wehtat, den Kiefer zu bewegen, und das kühle Tuch verschwand. Stattdessen wurde ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet.

»Die Pupillen reagieren.«

Obwohl ihnen die letzten Minuten gehörig zugesetzt hatten, fingen ihre Gehirnzellen wieder an zu arbeiten. Sie lebte, jemand kümmerte sich um sie und prüfte ihren Gesundheitszustand. Außerdem sprach der Typ, der vor ihr hockte, Deutsch mit ihr.

»Wo ist Jessica?«

»Es geht ihr gut.«

»Matthias?«

»Heil und lebendig.«

»Wo ist mein iPhone!«

Stille. Sie brachte Spannung in den Oberkörper, hob den Kopf an. Das dumpfe Pochen wandelte sich zu einem grellen Schmerz, aber die Welt blieb normal, kreiste nicht um sie herum. Sie atmete tief durch, zog das linke Bein an, um aufzustehen. Eine Hand drückte sie oberhalb der Brust zurück gegen die Mauer. Wütend schlug sie danach.

»Fass mich nicht an, du Idiot!«

»Bleiben Sie gefälligst sitzen!«

Sie zuckte zusammen. Bisher hatten die Männer alle ruhig mit ihr gesprochen. Dass jemand zurückblaffte, war eine neue Erfahrung für sie, wenigstens mit dieser Sorte Männer.

»I told you, TJ. She‘s a bitch.«

»Hey, du Pussy! Ich verstehe Englisch! Möchte dich erleben, wenn ich versuch, dir deine Knarre wegzunehmen.«

»Wie lautet Ihr Name?«

Verblüfft hielt sie in der Schimpftriade inne.

»Tamara Baumann, aber das ...«

»Wo sind Sie geboren?«

»Frankfurt, doch das spielt ...«

»Am Main oder an der Oder?«

»Am Main, was soll der Schei...«

»Wann?«

Schlagartig verschwand die Irritation. Erbost funkelte sie den Mann vor sich an oder versuchte es zumindest halbseitig, von dem sie nichts als die glänzenden Augen sah. Alles andere war, obwohl inzwischen der Morgen dämmerte, unkenntlich. Sie sah einen Helm, dunkelgrüne Kleidung, ein mit Tarnfarbe bemaltes Gesicht, Handschuhe, eine Weste, an der allerlei Gegenstände befestigt waren. Er hatte ein Maschinengewehr in der Hand. Der zweite Mann hockte, die Waffe im Anschlag, schräg neben ihnen, ein dritter auf der anderen Seite.

»Sie wissen genau, wer ich bin!«

»Auf dem Bild fehlte die Schwellung im Gesicht.«

Die nächste bissige Bemerkung verschluckte sie, weil er ihr ein weiteres feuchtes, kühles Tuch reichte. Sie nahm es an und presste es auf die Wange, die am meisten schmerzte.

»Beißen Sie mich, wenn ich mir den Schaden genauer anschaue?«

»Da gibt es nix zum Schauen. Nur eine Prellung von dem Fußtritt, und das auch nur, weil einer von euch Vollidioten mich auf dem Boden festgehalten hat. Und ich dachte immer, ihr hättet es drauf und wärt so reaktionsschnell.«

»Hm, normalerweise ja. Aber wenn so ein beklopptes Huhn sich wie eine Furie aufführt, bloß wegen einem Handy, während man versucht, ihr das Leben zu retten, dann kann das auch durchaus zu einer Verlangsamung der Reflexe führen.«

Erwischt. Wie machte er das? Er schaffte es genau wie Sam, die wunden Punkte bei ihr zu treffen. Dass er die verletzte Gesichtshälfte abtastete, merkte sie erst, als ein Schmerz durch ihren Wangenknochen schoss.

»Au! Verflucht!«

»Stimmt, nur eine Prellung, kein gebrochenes Jochbein. Sie können von Glück reden, dass der Typ aufgrund seines Mittelfußbruchs den Tritt nur halbherzig ausführen konnte.«

Er durchsuchte eine Tasche, die auf seinen Oberschenkeln ruhte. Zusammen mit einer Flasche Wasser reichte er ihr eine weiße Tablette. Misstrauisch musterte sie sie.

»Keine Sorge, die Flasche ist frisch.«

»Frisch oder nicht, das stört mich nicht.«

»Angst vor Pillen?«

»Was ist das?«

»Gegen die Schmerzen. Wir müssen ein ganzes Stück aus diesem Gebiet heraus, bevor wir Sie in einem Hubschrauber rausfliegen können. Sind Sie außer im Gesicht noch irgendwo verletzt?«

»Nein. Wie weit ist das Stück?«

»Etwa drei Stunden Fußmarsch.«

Sie nahm die Tablette und spülte sie mit Wasser runter.

»Was passiert mit den Pakistani?«

»Lassen Sie das unsere Sorge sein.«

»Die Frauen und Kinder?«

»Bleiben hier.«

»Ist Ihnen klar, was hier geschieht, wenn die Frauen ohne Männer in dieser Gegend bleiben?«

»Ist Ihnen klar, dass wir Sie aus der Gewalt von Terroristen befreit haben und Sie uns Ihr Leben verdanken?«

»Ja. Und wenn Sie die Finger von den Computern lassen und mir mein iPhone geben, kann ich Ihnen helfen, an die Informationen ranzukommen, die ich herausfiltern konnte.«

»Was wird das? Ein Handel?«

Sie hörte einen Einschlag, aber erst eine Sekunde später den Schuss, danach einen dumpfen Aufprall. Gleichzeitig schien die Hölle loszubrechen. Instinktiv schützte sie mit den Händen ihren Kopf, rollte sich klein zusammen und presste sich eng an die Mauer. Der Soldat, der sie versorgt hatte, deckte sie mit seinem Oberkörper, die anderen schossen. Zwei weitere kamen zu ihnen hinter die Steinmauer. Ein wortloser Austausch fand statt. Ein Nicken, dann packte er sie am Kragen.

»Bleiben Sie dicht bei mir.«

Was für ein Witzbold. Als hätte sie vor, als Ziel durch die Schusslinie zu laufen. Sie würde dem Typen nur von der Seite weichen, wenn er eine Kugel abbekam. Anstatt beisammenzubleiben, zogen die Männer die Linie auseinander. Der Mann lief mit ihr in der Mitte, die Maschinenpistole mit dem Gurt gesichert, während er in der rechten Hand eine Pistole hielt. Die andere war verkrallt im Kragen ihres T-Shirts. So steuerte er ihren Weg. Sie wartete auf die Angst, als die ersten Schüsse den Sand aufspritzen ließen, doch die Ruhe, mit der die Männer vorgingen, übertrug sich auf sie. Sie erreichten ein Gebäude, in das er sie hineinschob. Gleichzeitig ließ er ihren Kragen los.

Sie erkannte es sofort wieder: das Zimmer, das ihnen Samira zugewiesen hatte. Jess hockte auf dem Boden, die Handflächen fest auf die Ohren gepresst. Tränen liefen ihr über das Gesicht, ihr Oberkörper wiegte hin und her. Ein Soldat kniete vor ihr, legte ihr eine Decke um die Schultern. Sie rannte zu Jessica hin, die entsetzt aufschrie und so dafür sorgte, dass sich mindestens eine Waffe der Männer im Raum auf sie richtete.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, rief Tamara. »Wenn du mich unbedingt umbringen willst, dann schrei weiter.«

»Oh Gott, Tami, du lebst.«

Sie schlang die Arme um Jess, die unter der Decke bibberte, als läge die Außentemperatur bei minus 10 Grad. Ganz eng zog sie den Kopf an ihre Brust, streichelte ihr über den Rücken. Sie fühlte, wie Tränen in ihr hochstiegen, das erste Mal der Adrenalinspiegel in ihr sank, doch sie musste stark bleiben.

»Hey, ich habe dich auch vermisst, aber das ist kein Grund mich auszudrücken wie eine Zitrone.«

»Ach Scheiße, Tami, kannst du einmal aufhören, Witze zu reißen?«

»Ja, wenn du aufhörst, dir vor Schiss in die Hose zu machen, und stattdessen etwas Sinnvolles erledigst.«

»Sinnvoll?« Jessica starrte sie an.

»Ja, ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich möchte hier weg. Also auf, Klamotten packen, denn ich will meine Sachen mitnehmen. Und wenn ich da an deine nigelnagelneue ...« Sie bekam einen Schlag auf den Arm, dummerweise auf eine der vielen blauen Stellen, die ihren Körper bedeckten. Scharf sog sie die Luft ein.

»Scheiße, tut mir leid. Habe ich dir wehgetan? Das wollte ich nicht.«

»Ehrlich, Jess, du Weichei. Kannst du mir mal sagen, wie du ohne mich durch die Trainingslager kommst? Indem du ständig rumheulst?«

»Tamara Baumann, was bist du doch für eine blöde Kuh! Ich frage mich, wieso ich nach so vielen Jahren immer noch mit dir befreundet bin.«

Ungerührt von der Betitelung riss Tami die Lieblings-Fleecejacke aus dem Rucksack der Freundin, was diese ein zweites Mal unterdrückt aufschreien ließ.

»Die kommt mit! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lange ich nach der Farbe herumgelaufen bin?« Jessica sprang auf, warf die Decke zu Boden und entriss Tami erbost den Rucksack.

Als sie nach der Taschenlampe griff, hielt Tami die Hand der Freundin fest. »Was hast du vor? Signalfeuer für die Scharfschützen zu geben, damit sie uns leichter treffen können?«

»Nein, aber wie soll ich ...«

An der Stimme hörte sie, dass Jess ein zweites Mal vor einem hysterischen Anfall stand. »Na, dein Fleece konntest du doch auch identifizieren. Nimm raus, was du entbehren kannst.«

»Wieso?«

»Also, mein Schlaf in den letzten Wochen hat sich reduziert auf wenige Stunden am Tag. So schaffe ich keine dreistündige Tour mit vollem Gepäck.«

»Dreistündige Tour? Wir sollen aus diesem Dorf rauslaufen? Was ist das für ein beschissener Plan? Ich dachte, die kämen, um uns zu befreien.«

Tami nahm Jessicas Hand, betrachtete ihre Beine, gab der Freundin einen Schubs.

»Was machst du da?«

»Prüfen, ob du gefesselt bist?«

»Ach Scheiße, Tami, du weißt genau, was ich meine!«

»Nee, die Jessica Fiedler, die ich kenne, die Goldmedaillengewinnerin der Weltmeisterschaft 2007, würde nämlich aufhören rumzulamentieren, die Zähne zusammenbeißen und losmarschieren. Hm, kann es sein, dass sie dich ausgetauscht haben?«

Statt zu antworten, knurrte Jessica. Der Mann, der vor ihrer Freundin gekniet hatte, grinste Tami an und reichte ihr eine Flasche.

»Thanks, but I had one«, bedankte sie sich artig. Ein wenig schämte sie sich für den Wutausbruch zuvor, aber ihr Stressventil lag nun einmal im Austeilen von Gemeinheiten.

»Drink, it‘s not just water.«

»Thanks again, but I don‘t need –«

»Minerals?«

»Oh!« Wie blöd. Natürlich mixten sie ihr kein Beruhigungszeug in das Wasser. Mit der Tablette, die sie an der Mauer genommen hatte, fühlte sie sich für die Situation, in der sie sich befanden, etwas zu relaxt. Sie nahm die Flasche, trank einen Schluck, wollte sie zurückgeben, doch er schüttelte den Kopf. Gehorsam leerte sie den halben Liter. Es schmeckte angenehm zitronig-sauer.

Der Soldat, mit dem sie Deutsch gesprochen hatte, kam zu ihnen herüber. Ein wenig überraschte es sie, dass sie ihn trotz der gleichartigen Kleidung von den anderen unterscheiden konnte.

Er legte Jess die Hand auf die Schulter. »Sie machen das hervorragend.«

Jess schenkte ihm ein herzzerbrechendes Lächeln, wie die Medien es immer betitelten. »Und Sie hielten Ihr Versprechen, Tami heil zu mir zu bringen. Danke.«

»Okay, wie ich sehe, sind Sie fast fertig mit Packen. Wir verteilen Ihre zwei Rucksäcke auf uns beide. Es wäre also cool, wenn Sie auf so viel verzichten würden wie irgend möglich.«

»Auf keinen Fall!«, fuhr Tami dazwischen.

»Spinnst du, Tami? Du hängst doch nie an Klamotten!«

»Der Rucksack! Niemand nimmt mir den Rucksack weg, damit das klar ist. Und wo ist nun mein iPhone?«

»Bei dem Techniker, und jetzt hören Sie verdammt noch mal auf, uns wegen dem blöden Handy auf die Eier zu gehen, verstanden?«

Statt darauf einzugehen, blitzte sie ihn an, was mittlerweile schon ganz gut funktionierte. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie bedeutsam dieses Teil für sie war. Sie hatte alle Codes darauf gespeichert, genauso die drei gehackten Administratoren-Passwörter von einem deutschen und zwei amerikanischen Rechenzentren. Sie musste die Unternehmen informieren, aber das konnte sie ja schlecht dem Typen sagen. Scheiße! Sie schwang sich den Rucksack auf den Rücken, verbiss sich das Stöhnen. Verdammt, dieser Mistkerl von Harun hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes windelweich geprügelt. Da sie weniger Gepäck drin hatte, verstellte sie die Gurte, bis sie bequem saßen. Zuletzt zog sie die Kappe auf.

»Puh, Sie haben sich soeben einen Feind gemacht«, bemerkte Jess bedeutungsvoll, »und nur mal so unter uns zwei Hübschen – bisher ist sie Ihnen nicht ansatzweise auf die Eier gegangen. Glauben Sie mir, ich spreche aus jahrelanger Erfahrung.« Damit schwang auch Jessica ihren Rucksack auf den Rücken, doch als sie die Kappe aufziehen wollte, bremste der Soldat sie ab.

»Besitzen Sie ein Tuch?«

»Sie meinen so ein Bandana?«

»Ja, oder so was in der Art.«

»Klar, aber mir ist nicht mehr kalt.«

»Es geht eher um die blonden Haare.«

»Oh, natürlich.« Jessica zog ein Tuch aus dem Rucksack, leuchtend blau, und starrte zweifelnd darauf.

Tami kramte ihres hervor, kakifarben. Sie half der Freundin, die Haarpracht darunter zu verstauen, sodass nichts mehr hervorsah. »Müssen wir uns jetzt noch Dreck ins Gesicht schmieren, so wie Sie?«

Der Typ ging ihr aus irgendeinem Grund auf die Nerven, obwohl er ihnen half.

»Ja, am besten fingerdick, vor allem über den Mund! – Sofern das hilft!«

Als er ihr den Rücken zudrehte, zeigte sie ihm den Mittelfinger. Jess neben ihr kicherte. Sie hockten sich in dem zugewiesenen Bereich hin. Immer wieder hörten sie Maschinengewehrsalven. Besorgt behielt Tami die Freundin im Auge. Dann kam das Zeichen zum Aufbruch. So wie zuvor gingen sie in auseinandergezogener Linie. Der Soldat, der neben Jessica gekniet hatte, lief auch mit ihr, während der Deutsche an Tamaras Seite blieb.


Eine halbe Stunde später erreichten sie ein frei stehendes Gebüsch. Als dort weitere Einsatzkräfte auftauchten, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie hatte weder eine Bewegung wahrgenommen, noch etwas gehört, als hätten sie sich schlicht und ergreifend aus der Luft materialisiert. Blass und abgemagert, aber unverletzt, sah sie Matthias in ihrer Mitte. Zehn Soldaten, drei Zivilisten, so setzte sich die Gruppe zusammen.

Während sie halbherzig zuhörte, wie Mattes und Jessica sich über die Ereignisse der letzten Wochen austauschten, ging sie in die Knie und ließ sich auf den Boden fallen. Sie atmete tief durch. Sie wusste, sie benötigte jede Kraftreserve, die sie noch besaß. Sie durfte vor allem Jess gegenüber keine Schwäche zeigen. Die brauchte sie mehr als jemals zuvor im Leben. Aber am liebsten hätte sich Tamara auf der Erde zusammengerollt, sich den Rucksack unter den Kopf geschoben und gepennt. Die Erschöpfung kam aus der Tiefe ihrer Seele. Die Angst, die Sorgen, die Ungewissheit der zurückliegenden Wochen, der Balanceakt, bei dem sie am Ende doch zu Fall gebracht worden war. Zum Glück waren die beiden so beschäftigt mit den Ereignissen, dass keiner von ihnen sie beachtete. Nur ein paar Atemzüge mehr, nur einen Moment länger ausruhen.

Eine Flasche erschien vor ihrer Nase. »Möchten Sie noch eine Tablette?«

»Nein.« Sie nahm jedoch die Flasche und trank sie Schluck für Schluck leer.

Kurz sprach er auf Englisch ins Headset.

Ein Soldat näherte sich mit einer Tasche. Er zog einen Handschuh aus, legte zwei Finger an Tamaras Hals, sah auf die Uhr. »Okay, sie bekommen von mir eine Spritze mit ...«

Der Typ redete ebenfalls deutsch!

»Scheiße, nein! Sehe ich aus wie ein Junkie?«

»Sie sind erschöpft, dehydriert, standen unter Stress.«

»Mag sein, aber noch entscheide ich selbst, ob ich ein Aufputschmittel nehmen muss oder nicht.«

Die beiden wechselten einen Blick. Der von dem, der vor ihr hockte, war eindeutig. Wenn sie ihr gegen den Willen eine Spritze verpassten, konnten die zwei was erleben.

TJ, wie ihn seine Kameraden nannten, schüttelte den Kopf. »Geben Sie mir den Rucksack.«

»Nein.«

»Sind Sie immer so stur?«

»Ja, und das ist meine beste Eigenschaft.«

»Klappen Sie zusammen, ist es für uns mehr Arbeit, als wenn wir den beschissenen Rucksack nehmen.«

»Konzentrieren Sie sich auf den Job. Ich halte durch, keine Sorge.«

»Dann los. Sie gehen direkt hinter dem Pointman und bestimmen das Tempo. Ich schwöre Ihnen, klappen Sie zusammen, weil Sie so ein verfluchter Dickschädel sind, kriegen Sie noch dazu von mir einen Tritt in den Arsch, verstanden?«

Statt einer Antwort gab sie ihm die leere Flasche zurück. »Hier, damit mein Gepäck kein unnötiges Gewicht aufweist!«

Starr richtete sie den Blick auf den Weg. Sie machte einen Schritt nach dem anderen. Der Mann an der Spitze passte sein Tempo an ihres an. Kam sie dichter, beschleunigte er, wuchs der Abstand, verlangsamte er. Relativ zügig verstand sie, dass sie einfach nur in ihrer eigenen Geschwindigkeit zu gehen brauchte, deshalb schaltete sie mental die Gruppe aus. Sie leerte den Kopf und kam in einen Zustand, in dem Zeit keine Rolle mehr spielte, sondern nur der nächste Schritt wichtig war. Schließlich blieb der Soldat vor ihr stehen.

»Extraction point.«

Sie fand einen Baum, rutschte auf den Boden.

Der Typ reichte ihr einen Riegel. »Eat.«

Sie starrte darauf, wollte ihn beiseiteschieben, doch ein Blick in die Augen des Mannes, und sie wusste, sie folgte besser der Aufforderung. Kraft zum Kämpfen hatte sie keine mehr. Bei dem ersten Bissen spuckte sie das Zeug fast wieder aus. Es kam ihr vor, als äße sie puren Zucker. Ekelhaft. Wie konnte jemand nur so einen Süßkram in sich reinstopfen? Doch brav schluckte sie die Masse runter. Die Wirkung kam sofort in Form eines Energieschubs. Ruckzuck hatte sie auch den Rest aufgegessen. Der Mann reichte ihr eine Flasche und sie trank sie aus.

Sie verlor den Fokusblick, nahm wieder ihre Umgebung wahr. Zwei Soldaten sicherten die anderen Seiten der Stellung ab. Die restliche Gruppe entdeckte sie knapp einen halben Kilometer von ihnen entfernt, wo sie den Hang hochkletterten, den sie zuvor mit ihren letzten Kraftreserven überwunden hatte. Verblüfft drehte sie den Kopf und sah in das grinsende Gesicht des Mannes, der vor ihr hergegangen war.

»Du hattest ein zügiges Tempo drauf, und TJ wollte nicht, dass wir wegen den anderen langsamer gehen. Er dachte, wenn du Zeit bekommst zum Nachdenken über deine Erschöpfung, klappst du zusammen.«

»Ist er euer Anführer?«

»Für diesen Teil der Operation – ja.«

Sie nahm den Mann vor sich genauer in Augenschein. Er hockte keineswegs wie sie entspannt auf der Erde, sondern hatte das Maschinengewehr, so wie die gesamte Wegstrecke über, im Anschlag. Die Stimme kam ihr bekannt vor.

»Sie waren das. Sie haben mich am Boden festgehalten.«

»Ja. Tut mir leid, das mit dem Tritt.«

»Verziehen! Sie müssen sowieso mehr darunter leiden als ich.«

Kurz wandte er sich ihr zu. Sie grinste ihn unter Schmerzen an. »Bei eurem Haufen bekommt man Fehler garantiert lange unter die Nase gerieben.«

»Scheiße – ja.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung, und Tami hielt den Mund. Noch hockte sie hier im Feindesland. Bei dem Gedanken schüttelte sie leicht den Kopf. Vor einer gefühlten Ewigkeit hatte sie in dem Land Urlaub gemacht. Heute befanden sie sich mitten in einem Krieg.

Erschöpft ließ sich Jessica neben ihr auf den Boden fallen. Ihren Rucksack trug einer der Soldaten, ein anderer, der ähnlich fertig wirkte wie Jess, den von Mattes.

»Musstest du so ein Tempo vorlegen?«

Und das ausgerechnet von Matthias, der ihr bei der Tour auf den Mazeno-Pass ständig in den Ohren gelegen hatte, sie würde alle ausbremsen.

»Ja.«

Sie hatte es nur sagen wollen, um ihn zu ärgern, doch ihr wurde klar, dass es stimmte. Nur weil sie auf niemanden Rücksicht genommen hatte, hatte sie die Tour geschafft. Sam nannte es immer den Tami-Tunnelblick, wenn sie die Zähne zusammenbiss und über ihre Leistungsgrenzen hinweg marschierte oder rannte. Eine Reflexion über die Strecke, die Erschöpfung der anderen hätte den inneren Schweinehund laut werden lassen und ihr gesagt, dass sie aufgeben sollte. Genauso wie schlichtes Einlenken, den Rucksack von jemandem tragen zu lassen, durchaus vernünftig gewesen wäre. Das eine Scheitern führte zm nächsten. Es hätte ihr gezeigt, dass sie es unmöglich schaffen konnte. Sie lächelte still in sich hinein. Dieser TJ hatte das genau erkannt, was ihr selbst in dem Moment keineswegs bewusst gewesen war. Hatte er sie mit Absicht geärgert, so wie sie zuvor Jessica im Dorf?

Mit dem Wind kam das Geräusch. Verblüfft starrte sie den Helikopter an, der unweit von ihnen landete. Drei Männer sprangen heraus, sicherten die Gegend. Zwei weitere Hubschrauber kreisten in der Luft.

»Ready?«

Sie nahm die Hand des Pointmans an, die er ihr hinhielt, und gab ihm diesmal den Rucksack, als er sie dazu aufforderte. Gemeinsam rannten sie zu der Öffnung in dem Fluggerät. Sie sprang rein. Das Innere war verdammt spartanisch eingerichtet, aber es gab immerhin Sitze, wenn auch nur wenige. Sie setzte sich und schnallte sich die Gurte um, was ihr einen überraschten Blick von einem Soldaten einbrachte, der genau das bei ihr hatte machen wollen.

Sie grinste ihn an. »I have a brother ...«

Ein Satz, der für den Typen keinen Sinn ergab. Er konnte ja nicht wissen, dass Sam bei der GSG 9 arbeitete und ihr letzten Sommer zum fünfundzwanzigsten Geburtstag einen Flug in einem Black Hawk geschenkt hatte. Allerdings hatte der eine komfortablere Ausstattung besessen. Der Mann setzte ihr ein Headset auf, sodass ihre Ohren vor dem Lärm geschützt waren, sie aber an der Kommunikation im Helikopter teilnehmen konnte.

»And I have a sister. Everything okay?«

Sie nickte, während er sich dem nächsten Passagier zuwandte. Jessica war jede Farbe aus dem Gesicht gewichen. Der Mann schnallte ihre Freundin fest und setzte ihr ebenfalls ein Headset auf.

»Siehst du, jetzt kommst du auch mal dazu, mit einem Hawk zu fliegen.«

»Danke, darauf kann ich gerne verzichten.« Im selben Moment schüttelte Jess den Kopf und begann sich gegen den Anschnallversuch des Soldaten zu wehren. »Nein, lass, ich muss hier raus. Eher lauf ich nach Hause, als in dieser Kiste zu fliegen.«

Kurz entschlossen schnallte Tamara sich ab und wechselte zu dem Platz neben Jessica. Sie ergriff Jess‘ Hand und machte dem Soldaten ein Zeichen, dass er die Freundin anschnallen sollte. »Hey, weißt du noch, was du mir damals gesagt hast, als ich in der Steilwand hing und mich keinen Millimeter vorwärts traute?«

»Ja.«

»Dass es reine Kopfsache ist und ich mich einfach auf den nächsten Schritt oder Zug konzentrieren soll.«

»Ja, aber das hier ist etwas völlig anderes. Ich kann nicht Hubschrauber fliegen.«

Matthias wurde auf den Platz verfrachtet, auf dem zuvor Tamara gesessen hatte. Gewichtsausgleich, dachte sie. Bei ihm sah sie ein Grinsen im Gesicht. Klar, Helikopter zu fliegen war ein Jungentraum, außer der Junge hieß Jonas Baumann. Sie schnallte sich ebenfalls wieder an.

»Aber der Typ da vorne. Und es ist garantiert nicht der erste Flug, den er macht.«

»Okay, da ist was dran.« Jess atmete tief durch, versuchte ein Lächeln, was ihr aber misslang. Fünf der Soldaten, die sie begleitet hatten, stiegen ein und verteilten sich, darunter die zwei Deutschen. Ein Kontrollblick desjenigen, der Jessica und Matthias angeschnallt hatte, sein Daumen ging nach oben und der Helikopter hob ab. Panisch krallte Jess die Finger in Tamaras Hand. Ihr Atem veränderte den Rhythmus, wechselte in eine Schnappatmung.

»Manchmal sind die Dinge gar nicht so, wie man sich‘s vorgestellt hat, sondern besser ...«, sang Tamara an.

Drei Köpfe ruckten herum. Einer der Männer schüttelte den Kopf. Im Stillen schwor sie sich, dass sie es Jess für den Rest ihres Lebens nicht verzeihen würde, sie in diese peinliche Situation gebracht zu haben. Dafür lockerte sich der Griff ihrer Freundin.

Tapfer sang sie das Lied von Rosenstolz weiter, während ihr alle über die Intercom zuhörten. Es war eins von Jessicas Lieblingsliedern. Am Ende des ersten Refrains ließ Jess endlich ihre Hand los, stieg in den Gesang ein. Als der Teil mit den Flammen kam, begann die Freundin, mit den Fingern züngelndes Feuer nachzumachen. Tamara machte mit. Sollten die Typen doch denken, was sie wollten.

Zum Schluss holte sie extra tief Luft, sodass sie den Endton lange halten konnte. Jessica stieg wieder ein mit »Ich geh in Flammen auf, ich geh in Flammen auf ...«, und die letzten drei Wiederholungen sangen sie zusammen. Als sie fertig waren, lachten sie, bis ihnen die Tränen über das Gesicht kullerten, während die Männer sie anstarrten, als kämen sie von einem anderen Planeten.

»Ihr habt sie nicht mehr alle, ehrlich!«

Matthias‘ Stimme schwankte zwischen Entsetzen, Ratlosigkeit und ernsthafter Besorgnis, ob sie verrückt geworden waren. Scheißegal, dachte Tami. Sie lebten. Jessica lebte. Sie alle hatten das Abenteuer heil überstanden.

»Ich liebe dich.«

»Bis zum Mond und wieder zurück«, antwortete ihre Freundin.

4

Lager

»Crazy bitch!«, stellte Zoppo fest.

Sie hatten die Geiseln zum Doc gebracht und gingen zusammen zum Debriefing.

»Hey TJ, meinst du, wir können sie für den nächsten Geiselbefreiungseinsatz buchen?«

»Besser nicht. Sonst verlangt sie noch von uns, dass wir mitsingen.« Doch auch Tobias huschte ein Grinsen über das Gesicht, als er an den kurzweiligen Flug zurückdachte. Garantiert würden seine Amifreunde nicht ruhen, bis er ihnen den Text übersetzte, den die zwei Frauen gesungen hatten, egal, wie lange er behauptete, er hätte ihn vergessen. Außerdem war er sicher, dass er nie wieder das Lied würde hören können, ohne an die verrückten Hühner zu denken. Noch während er mit Zoppo, Staufi, G-Man, den er vor Tamara gerettet hatte, und den anderen zum Besprechungsraum ging, holte er sein Handy hervor und tippte Target secure ein. Er hatte Samuel Baumann versprochen, sofort Rückmeldung zu geben, wenn er vom Einsatz kam. Der Mann war vor lauter Sorge schier durchgedreht, als er mit ihm gesprochen hatte, um mehr Details über seine Schwester und deren Freundin abzufragen. Wer weiß, ob das Mädel daran dachte. Wieder musste er grinsen. Baumanns Hinweis, dass Tamara mit Vorsicht zu genießen sei und er, wenn sie austeilte, besser Kontra geben sollte, anstatt ihr nett zu kommen, hatte sich ausgezahlt.

Diese grüne Iris von der Frau! Auf den Bildern von ihr, die sie zur Verfügung gestellt bekommen hatten, kamen sie überhaupt nicht zur Geltung, wahrscheinlich, weil es sich dabei um Tageslichtaufnahmen handelte, keine, die in der Dämmerung gemacht wurden. Die Augen von Lola, seinem Kater aus Kindheitstagen, hatten auch immer nachts intensiver geleuchtet. Ihre Iris entsprach anscheinend der von Katzenaugen. Selbst der dunklere äußere Rand und die Sprenkel erinnerten ihn daran. Und genauso wie eine Katze reagierte sie: auf der einen Seite angeschmust zu kommen, wenn sie etwas wollte, auf der anderen das Fell sträuben, sodass der Eindruck von doppelter Größe entstand, wenn sie keine Lust mehr hatte, gestreichelt zu werden.

Die Frage, ob sie ihn beißen würde, hatte er absolut ernst gemeint, denn Lola hatte immer genauso reagiert, wenn er das Gefühl hatte, man schenke ihm nicht genug Aufmerksamkeit. Da lag er eine Zeit lang auf dem Rücken und ließ sich von ihm den Bauch kraulen, um im nächsten Augenblick die Krallen in seinen Arm zu schlagen und die Fangzähne in seinen Handballen. Den Namen Lola hatte der Kater bekommen, bevor sie wussten, dass es sich um eine männliche Katze handelte. Erst bei der Kastration wurde es offenbar. Den Namen hatte er behalten, weil sich alle in der Familie daran gewöhnt hatten.

Laura hatte der Stubentiger ums Verrecken nicht gemocht. Wann immer sie da war, verschwand er, und eines Tages war er einfach nicht mehr zurückgekommen. Komisch, dass er ausgerechnet heute daran denken musste. Er würde noch mal mit Laura reden. Beim Aufwachsen von Kindern gehörten in seinen Augen Tiere einfach dazu.


Beim Debriefing gingen sie die Aktion in allen Einzelheiten durch. Dabei wurde die Frage gestellt, weshalb G-Man und er die Aufgaben getauscht hatten. Sein Job hatte in der Befreiung von Jessica Fiedler und deren Betreuung auf dem Rückweg bestanden. Sie hatten es schlicht und ergreifend deshalb gemacht, weil sie nicht wussten, ob die Frau in der Stresssituation noch über genügend Englischkenntnisse verfügte, um ihre Anweisungen zu befolgen. Bei Tamara Baumann mit ihrem Auslandssemester in England gingen sie davon aus, dass sie es konnte, außerdem zeigte ihr Profil, dass sie mit schwierigen Situationen gut fertig wurde. Als Nächstes stand der Tritt im Fokus, den Harun Naseri seiner Geisel noch verpasst hatte, als er bereits im Gewahrsam des Seals-Teams war und Tamara von G-Man gesichert wurde. Das Thema nahm der Kommando-Offizier keineswegs auf die leichte Schulter. Jeder, der sich auch nur eine kleine Unaufmerksamkeit geleistet hatte, bekam eine Abreibung. Der Zustand von Harun Naseri war ein weiterer Punkt auf der Liste: gebrochene Nase, gebrochener Mittelfuß. Die Beteuerungen des Teams, sie hätten den Terroristen so vorgefunden, halfen nichts. Mehrmals wurde das Filmmaterial abgespielt, und dabei fielen die Reaktionen von Tamara Baumann auf, die erstaunlich professionell auf die Erstürmung des Gebäudes reagierte. In ihren Bewegungsabläufen und der Art, wie sie gegen G-Man ankämpfte, wurde deutlich, dass sie Erfahrung in Nahkampftechnik besaß. Das ließ auch Haruns Aktion mit dem Tritt in einem anderen Licht erscheinen. Die Pistole hielt sie so sicher wie jeder von ihnen. TJ ahnte, dass es für die Amerikaner bei der Befragung der Frau einigen Klärungsbedarf gab.

TJ reinigte die Waffen, gab zurück, was zur Ausrüstung des Navy-Seal-Teams gehörte. Erst danach wusch er sich Dreck und Schweiß vom Einsatz ab. Im Gemeinschaftsraum wartete das volle Einsatzkommando, und er musste den Text von dem Lied, wie er befürchtet hatte, übersetzen.

Seine erste Geiselbefreiungsaktion, diese Aktion würde ihm im Gedächtnis haften bleiben. Aber auch die Amerikaner versicherten ihm, dass sie noch nie so eine Geisel erlebt hätten.

»Fucking crazy tough bitch«, fasste G-Man am Ende des Abends die Ereignisse zusammen. In jedem Wort schwang allerdings Respekt mit.

Im Gegensatz zu seinem deutschen Zug, in dem Jessica Fiedler weiterhin das Hauptthema blieb, waren die Amerikaner vor allem von der nervenstarken Tamara Baumann beeindruckt, nicht zuletzt wegen ihres Durchhaltevermögens auf dem Marsch, trotz ihres Zustands. Sichtbare Stellen ihrer Haut hatten blaue Flecken aufgewiesen, ihre rechte Gesichtshälfte hatte angefangen, in gelben Schattierungen zu leuchten, doch kein Klagelaut war ihr über die Lippen gekommen. Das Mädchen hatte eine richtig harte Zeit hinter sich, und trotzdem hatte sie ihre Freundin zum Lachen gebracht.


Drei Tage blieben Tobias zur Regenerierung, als er wieder im deutschen Militärlager angekommen war, dann folgte ein weiterer Einsatz, der 27 Tage dauerte. Ergebnis waren zwei von den Taliban gesäuberte Dörfer und eine Menge Gefangener, die verhört werden mussten. Er verschlief einen kompletten Tag. Nach einer ausgiebigen Dusche, sofern man langsam tröpfelndes lauwarmes Wasser so bezeichnen konnte, und einer kalorienreichen Mahlzeit fühlte er sich wieder fit. Er machte sich auf zurück zu seinem Zimmer in dem Container, den er mit Zoppo teilte. Draußen hing ein Schild. Das bedeutete, dass sein Kumpel Zeit für sich allein benötigte. Tobias schnappte sich zwei ansatzweise kühle Flaschen Bier aus dem Kühlschrank im Flur. Sternenklar war die Nacht. Das Panorama war eine Wucht. In solchen Momenten konnte er fast vergessen, dass er sich in diesem Land in einem Einsatz befand, der auch schon deutsche Soldaten das Leben gekostet hatte, ganz zu schweigen von den Amerikanern und den Spezialkräften der anderen Länder.

Sein Gang stockte, als er sah, dass sein Lieblingsplatz bei dem Dingo – einem Transport-Fahrzeug, das auf dem Fahrgestell eines Unimogs basierte – bereits belegt war. Doch dann schien ihm, als käme ihm die Gestalt dort seltsam bekannt vor. Als er das gesummte Lied vernahm, wurde seine Ahnung zur Gewissheit.

»Hi.«

»Belege ich Ihren Platz?«

»Ja.«

Sie machte Anstalten aufzustehen.

»Bleib sitzen. Hier steht schließlich kein Schild, dass dieser Platz für Tobias Wagner reserviert ist.«

»Hi Tobias, ich bin ...«

»Tamara Baumann, ich weiß. Ich dachte, sie hätten deinen knackigen Arsch längst nach Deutschland verfrachtet. Was hast du diesmal ausgefressen, dass du noch hier bist?«

»Der Deutsche!«

Er grinste sie an und sah einen Blick aus den hellgrünen Augen, der ihn erst forschend musterte, um dann an den Bierflaschen hängen zu bleiben. Die Aufforderung war unmissverständlich. Ergeben seufzte er.

»Lust auf ein Bier?«

»Teilst du’s mit mir?«

»Wenn wir es so betrachten – vor allem da es kühl ist ... Hoppla!«

Sie hatte ihm eine der Flaschen flink aus der Hand geschnappt. »Bevor du es dir anders überlegst. Prost, Tobias.«

»Prost, Tami.« Er ließ sich neben ihr nieder.

»So dürfen mich nur Freunde nennen.«

»Ich dachte, da ich deinen Arsch unter Einsatz meines Lebens gerettet habe, stände mir das zu.«

Sie tranken beide einen tiefen Schluck, und sie stöhnte auf. »Wow, hätte nie gedacht, dass ich deutsches Bier vermissen könnte.«

»Seit wann bist du hier im Lager?«

»Gestern.«

»Was? Die Amis haben dich einen Monat lang dort behalten?«

»Jupp.«

»Darf ich fragen, weshalb?«

»Na ja, der erste Grund war wohl Kamal Durrani.«

»Dein Freund.«

»Nein.«

»Nein?«

»Ein Freund von mir, nicht mein Freund. Ich meine, wir hatten nichts miteinander.«

»Aus dem Mund deines Bruders hörte sich das anders an.«

»Du hast mit Sam geredet?«

»Lang und ausführlich. Ich hoffe, du hast dasselbe gemacht.«

»Ja, sobald man es mir erlaubt hat. Also ihm habe ich diesen Mist mit Kamal zu verdanken! Na, der kann was erleben.«

»Ich dachte, du wärst mit Kamal nach Pakistan gereist, oder hat dich dein Bruder dazu gezwungen?«

»Nein. Ja, schon, aber Kamal war kein Terrorist!«

»Ach ja? Was macht dich da so sicher?«

»Es ist mir egal, was ihr alle denkt. Außerdem ist er tot, und es spielt keine Rolle mehr.«

Sie schwiegen, tranken aus ihren Flaschen.

»Warst du dabei?«

»Ein sauberer Schuss mitten zwischen die Augen.«

Er machte nicht den Fehler zu fragen, wartete stattdessen darauf, dass sie weitersprach.

Sie erzählte ihm, wie sie Kamal kennengelernt hatte, von der Trekkingtour und den Leuten, mit denen sie die Reise gemeinsam erlebt hatte, von Matthias, der sich beim ersten Anblick von Jess in diese verliebt hatte. Er erfuhr davon, wie Kamal sie in Islamabad gebeten hatte, ihn zu seinem Freund zu begleiten, der seine Hilfe bei einem Computerproblem brauchte, und davon, dass Jessica auf keinen Fall in der Stadt habe zurückbleiben wollen. Matthias sei einfach mitgekommen, weil er sich davon Chancen bei der Athletin erhofft hatte. Er bekam alles von der Ankunft in dem Dorf geschildert, von dem seltsamen Gefühl, das sie beschlichen sowie dem Bild, das sie Sam mitsamt den GPS-Daten geschickt hatte. Zuletzt redete sie von der Nacht, in der Kamal gestorben war. Sie zögerte einen Moment, bevor sie fragte: »Wieso hat Harun ihn nur umgebracht?«

Er sah, wie ihr die Frage zu schaffen machte. Auch er verstand vieles von dem nicht, was ihm hier unten begegnete. Ihre Erlebnisse waren noch weit entfernt von dem Grauen, das er in seinen Einsätzen zu Gesicht bekam. Vor langer Zeit hatte er aufgehört, sich diese Fragen zu stellen. Stattdessen lag seine Konzentration auf dem Job, der in erster Linie, so obskur es klang, darin bestand, jeden Kameraden heil durch den Einsatz zu bringen. Alles andere – die politischen Hintergründe des Einsatzes in Afghanistan, die UN-Charta – spielte keine Rolle, wenn man dort draußen auf sich allein gestellt war. Oft genug hatte die deutsche Militärführung sie ihrem Schicksal überlassen, schlicht und ergreifend, weil sie einen Einsatz zwar befehligen konnte, ihr aber dann die Mittel fehlten. Mitunter ging es um einen einzigen simplen Hubschrauber, um den Trupp im Notfall aus einer brenzligen Situation herauszuholen. Stattdessen kamen dann die Verbündeten und hatten mehr als einmal ihr Leben gerettet.

»Die Amerikaner glauben, Kamal Durrani sei ein Schläfer gewesen?«

»Und ich seine Komplizin. Nur weil ich anders reagiere, als sie es erwarten. Dabei habe ich ihnen die Organisation auf einem Silbertablett serviert.«

»Du meinst auf einem iPhone.«

Grinsend zwinkerte sie ihm zu und leerte ihre Flasche.

»Hast du es wiederbekommen?«

Statt zu antworten, holte sie es aus der Hosentasche und hielt es hoch. Er wollte danach greifen, aber hastig zog sie es weg. »Hey! Nur anschauen, nicht anfassen.«

Er hätte schwören können, dass sie rot wurde, als er im letzten Moment eine anzügliche Bemerkung hinter einem Grinsen verborgen zurückhielt und ihr der zweideutige Sinn ihrer Worte bewusst wurde.

»Immerhin hast du es wieder. Um ehrlich zu sein, bin ich überrascht, dass sie es dir zurückgegeben haben.«

»Das wollten sie auch nicht.«

»Okay, ich gestehe, du hast mich am Haken. Wie bist du drangekommen?«

»Sorry, das untersteht der Geheimhaltung.«

»Soso.«

»Hey, frage ich dich, wo du dich herumgetrieben hast?«

»Was ist mit Jessica und Matthias?«

»Die sind längst wieder zu Hause.«

»Sind die beiden ein Paar?«

»Nein, wie kommst du darauf?«

»Na ja, extreme Erlebnisse verbinden zwei Menschen manchmal.«

»Hoffentlich nicht.«

»Du kannst Matthias nicht leiden?«

Sie zuckte die Achseln. »Er ist ganz okay, aber sie passen einfach nicht zusammen.«

»Das ändert natürlich alles.«

Kritisch musterte sie ihn. Nahm er sie auf den Arm? Das Zucken um seine Mundwinkel war eindeutig. Sie beschloss, es großzügig zu übergehen.

»Sam hat sich fast einen der Presseheinis vorgeknöpft. Zum Glück waren Jonas und Papa dabei.«

»Jonas?«

»Mein jüngerer Bruder.«

»Deine Familie holt deine Freundin vom Flughafen ab? Warum nicht ihre Eltern?«

»Sie hat bloß ihre Mutter, aber die legt nur Wert auf ihre Mutterrolle, wenn dabei etwas vom Ruhm ihrer Tochter für sie abfällt. Sie ist Model.«

Sie sahen beide zum Sternenhimmel auf, und dann geschah es: Mehrere Sternschnuppen durchquerten den Himmel.

»Wow.«

»So was bekommt man hier häufiger zu Gesicht. Ein Meteoritenschauer.«

»Tja, Chance verpasst. Statt einer wissenschaftlichen Erklärung wäre an diesem Punkt Romantik angebracht gewesen.«

»Darauf stehst du?«

Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, reiner Sarkasmus. Ich bin mit zwei Brüdern aufgewachsen, da verlernt man schon früh jede Art von Romantik. Hast du Geschwister?«

»Nein, ich bin Einzelkind.«

»Huh, die schlimmste Sorte.«

»Okay.« Er rückte an sie heran und streckte den Arm hinter ihrem Kopf vorbei in Richtung Himmel aus. »Siehst du den leuchtenden Stern, da wo meine Fingerspitze hinzeigt?«

»Jaaa?«

»Zwei Sterne weiter nach links, der da, ein Stück nach rechts oben, weiter runter und noch ein Stück rechts, dann ein Stern zurück zum hellsten ergibt ein lang gezogenes Dreieck. Wenn du von da aus jeweils einen Stern nach rechts und links bogenförmig runtergehst, siehst du das Sternbild Bootes, zu Deutsch Bärenhüter. Im Juli ist das hier am deutlichsten zu erkennen.«

»Und das hast du nicht eben erst erfunden? Du kennst Sternbilder?« In ihren Worten klang Skepsis durch.

Er drehte ihr den Kopf zu. So dicht war er bei ihr, dass er die Wärme, die sie ausstrahlte, intensiv wahrnahm. »Ich dachte, du als Gipfelstürmerin kennst den Himmel.«

Es war seine Absicht gewesen, mit ihr zu flirten und sie zu verunsichern, einfach, weil er wissen wollte, ob er diese harte Schale knacken konnte. Doch als sich ihre Handfläche weich an seine Wange legte und sie ihn küsste – sanft, vertrauensvoll, ohne Angst oder Vorbehalte, wurde ihm klar, dass er zu weit gegangen war. Behutsam löste er den Kuss und hoffte, dass sie die Zurückweisung verkraften würde.

»Tut mir leid, das war blöd von mir.«

Er sah die Verletztheit in ihren Augen, bevor sie sie vor ihm verstecken konnte. Mist, verfluchter! Sie hatte in letzter Zeit genug Scheiße erlebt. Innerlich ohrfeigte er sich für seine Spielerei. »Es liegt nicht an dir.«

»Ja, ich weiß. Du stehst auf Jessica.«

In ihren Worten schwang so viel gelebte Erfahrung mit, dass es ihm wehtat und ihn in Rage versetzte. »Nein, aber ich bin verheiratet und erst vor zwei Monaten Vater einer entzückenden Tochter geworden.«

»Und das hast du dir genau überlegt? Bei dem Job hier?«

Er hatte mit vielem gerechnet, aber dieser Ton voll Trauer und Verlust, mit dem sie ihn das leise fragte, ließ ihn schlucken. Sie meinte die Frage absolut ernst. Er zögerte. Dann fiel bei ihm der Groschen: der Unfall ihres Vaters. Er war Berufssoldat gewesen.

Hastig senkte sie die Augen, zeichnete mit dem Finger Spuren in den Sand. Sie hob den Kopf, zog die Nase kraus. »Hey, tut mir leid. Ich glaube, unser Small Talk driftet ab zu einem heiklen Gespräch zwischen Freunden.« Kurz blitzten ihre Zähne hell auf.

»Und ich dachte, wir hätten den schwierigen Teil erreicht, als du mir die Geschichte der Trekkingtour erzählt hast.«

»Touché.«

»Freunde?«

»Nenn mich Tami.«

»Mein Spitzname ist TJ.«

Sie grinsten zusammen.

»Okay, dann kann ich dir ja eine Frage stellen. Es gibt da etwas, das mir aufgefallen ist und das ich nicht verstehe. Warum versteckst du dich ständig hinter deiner Freundin?«

»Bitte?« Sie schnappte hörbar nach Luft.

Verdammt, was machte er? War er unter die Psychologen gegangen? – Zu spät für einen Rückzieher.

»Ich meine, du ziehst mit deiner Freundin herum und setzt dich permanent dem Vergleich und ihrer Konkurrenz aus. Also, was willst du? Vermeiden, dass dich jemand sieht?«

»Spinnst du jetzt völlig?«

»Nein, ich mein das ehrlich. Du bist eine interessante Frau, du kannst durchaus etwas vorweisen. Hast einen Einser-Abschluss im Examen, und den Job konntest du dir aussuchen! – Und ja, die Informationen hat mir Sam gegeben. Wir brauchten ein Profil von dir. Also. Weshalb die Komplexe?«

Einen Moment schien sie versucht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Im Grunde hätte er es ehrlich begrüßt. Er wollte nur noch eines: dass sie den Abend vergessen und ihn aus ihrem Gedächtnis streichen würde.

Abrupt stand sie auf und reichte ihm die leere Flasche. »Danke für das Bier und die Lektion in Sachen Arschloch. Ich hab fast vergessen, warum ich mir geschworen hatte, zeit meines Lebens einen gigantischen Bogen um Möchtegern-Rambos zu machen.«

Er atmete erst auf, als sie außer Sichtweite war. Mit der Zungenspitze fuhr er sich über die Lippen. Ihr Geschmack, der Kuss, das Lied und die Augen – nein, so leicht würde er sie nicht vergessen, im Gegenteil, sie würde ihm lange, schlaflose Nächte bereiten.


Tamara stand vor der Tür eines Einfamilienhauses in Düsseldorf-Kaiserswerth. Eine Woche hatte sie überlegt, ob sie diesen Besuch machen sollte. Jetzt fühlte sie einen Knoten in ihrem Magen. Der Vorgarten mit zwei kugelförmig zugeschnittenen Buchsbäumen, Lavendel und Rosen mit dicken Blüten, die einen betörenden Duft verströmten, vermittelte einen so trügerischen Eindruck von einer heilen Welt. In Wahrheit wohnten hier zwei Menschen, die ihr einziges Kind verloren hatten. Der Weg zur Haustür war in Rundbögen gepflastert und wies keinen einzigen Unkrauthalm oder Moos auf. Der Rasen auf beiden Seiten, englischer Rasen, war kurz getrimmt.

Sie stieg die zwei Treppenstufen hoch, trat unter das Vordach der Veranda, die rechts und links von geschmiedeten Bänken eingegrenzt war. Darauf lagen schlichte weiße Auflagen und Kissen in floralem Design. Die Hausnummer aus Messingziffern passte zum Namensschild, auf dem »Familie Prof. Dr. N. Durrani« eingeprägt stand.

Als sie klingelte, zitterte ihre Hand. Was sagte man Eltern, die ihren Sohn, das einzige Kind, verloren hatten? Die Medien bezeichneten Kamal Durrani als Terroristen, als sogenannten Schläfer. Erstaunlich behutsam ging die deutsche Presse dennoch mit seinem Vater, dem Professor um. Er hatte eine öffentliche Erklärung abgegeben, in der er von Kamal als einem Mann sprach, der fleißig und strebsam seinen Lebensweg gegangen sei, höflich und zuvorkommend den Eltern gegenüber, einem Familienmenschen, der die Traditionen ehrte. Aber er sei hier in Deutschland auch mit der Schwierigkeit konfrontiert worden, gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen, die es einem Jugendlichen schwer machten, ein akzeptierter Teil der Gesellschaft zu sein. Im Leben eines jeden Heranwachsenden komme die Frage nach Identität auf. Wer ist man eigentlich? Deutscher? Pakistani? In dieser Krise des Erwachsenwerdens seien Kinder, und genau das wären sie auch mit zwanzig Jahren noch, anfällig für die Ideologien charismatischer Anführer. Deutschland selbst habe unter Hitler diese Erfahrung gemacht. Ohne die Probleme in Pakistan zu kennen, habe Kamal nur die Ablehnung in dem Land gefühlt, in dem er aufwuchs, das ihm als Heimat erschienen sei, ohne es je wirklich zu sein.

Die Presseerklärung hatte Tamara mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert und in Deutschland eine Debatte über die Integration von Flüchtlingen ausgelöst. Was für eine Ironie, denn Prof. Dr. Durrani hatte schon vor langer Zeit einen Lehrauftrag an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf angenommen. Dort leitete er inzwischen das Institut für pharmazeutische Technologie und Biopharmazie und galt als absolute Koryphäe in den Bereichen Pädiatrie, Geriatrie und Individualisierte Medizin. Die Gleichsetzung des Professors mit einem politischen Flüchtling zeigte, dass die deutsche Gesellschaft noch immer zu unerfahren im Umgang mit Menschen aus anderen Ländern war, um sie als echte Bereicherung für Deutschland zu empfinden. Dabei waren unter ihnen Wissenschaftler, Forscher, Führungskräfte und Ingenieure, die dazu beitrugen, den technologischen Fortschritt in der Bundesrepublik zu erhalten und weiter auszubauen.

»Ja, bitte?«

Dunkle, fast schwarze Augen musterten sie dezent mit einem prüfenden Blick.

Tamara suchte, überrascht, dass der Professor ihr persönlich aufmachte, nach Worten. »Es tut mir leid, Professor Dr. Durrani, dass ich Sie so unangekündigt an einem Sonntag überfalle ...«

Sie sah, wie der Ausdruck im Gesicht ihres Gegenübers wechselte. Statt höflich und offen sah er sie reserviert und ablehnend an. Klar, vermutlich dachte er, sie wäre eine weitere Journalistin, die nach einer Story suchte.

»Mein Name ist Tamara Baumann. Ich war dabei, als ihr Sohn ermordet wurde.«

5

Deutschland 2012

»Wer von Ihnen ist davon überzeugt, dass seine Infrastruktur sicher ist?«

Tami ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Einige der Teilnehmer hatten ein selbstzufriedenes Lächeln aufgelegt, andere wirkten verunsichert, und etwa zehn hoben die Hand.

»Immerhin ein Sechstel von Ihnen. Und wer von denen, die ihre Hand gehoben haben, möchte heute der glückliche Gewinner eines kostenlosen Live-Security-Checks werden?«

Wie immer bestand das Seminarpublikum zum überwiegenden Teil aus Männern. Diesmal gab es gerade mal zwei Frauen. Niemand hob die Hand. Klar, die Leute kannten ihren Ruf.

»Keiner? Okay, ich leg noch eins drauf. Neben dem Check erhalten Sie einen Tag Dienstleistung von mir, um das Loch zu stopfen, wenn wir eines finden. Nun?«

Jetzt gingen die Hände hoch. Sie wählte denjenigen aus, in dessen Gesichtsausdruck sich für sie die größte Selbstsicherheit spiegelte. So würde sie den eindrucksvollsten Effekt erzielen, der dann bei den anderen umso besser hängen blieb.

»Prima. – Daniel«, wandte sie sich an ihren Kollegen, der im Background am Laptop arbeitete, »wir haben einen Freiwilligen, du kannst also aufhören, Flensburg zu hacken, um deine Strafpunkte zu löschen. Es nutzt eh nichts.«

Ein Lachen ging durch den Raum.

»Ihr Name und Ihr Unternehmen?«, forderte sie den Freiwilligen mit einem herzerfrischenden Lächeln auf.

»Olaf Jansen, Global Transport GmbH.«

»Sind Sie Firmeninhaber oder der IT-Administrator?«

»Der IT-Administrator, und ich bin regelmäßiger Leser Ihres Blogs ‚IT mit Sicherheit‘ sowie Zuhörer ihres Podcasts ‚Safer IT‘.«

»Daniel, Daniel, was haben wir uns da heute nur rausgepickt?«

»Du! Ich bin völlig unschuldig. Wäre es nach mir gegangen – ich hätte den Damen den Vortritt gelassen.«

»Ist das ein Machospruch? Sie müssen nämlich wissen, dass es in unserer Abteilung ein Sparschwein gibt. Ein Euro pro Spruch.«

»Ja, und das meiste zahlst du ein!«

Wieder Lachen aus der Menge.

Sie liebte es, auf der Bühne zu stehen. »Okay, fangen wir an. Während Daniel versucht, in das System von Herrn Jansen einzubrechen, beschäftigen wir uns mit den Risiken, die der Trend ‚Bring Your Own Device‘ oder ‚BYOD‘ für uns Administratoren bedeutet. Halt – dazu noch eine Frage in die Runde. Wer von Ihnen sagt gnadenlos nein, wenn ein Mitarbeiter sein eigenes Gerät mitbringen möchte?«

Dass mehr als ein Drittel der Teilnehmer die Hände hob, überraschte sie nicht. In der IT zu arbeiten, womöglich noch als Administrator eines mittelständischen Unternehmens, zählte in ihren Augen zu den stressigsten Jobs, die jemand ausüben konnte. In den IT-Abteilungen machten komplexere Infrastrukturen, Budgetkürzungen, mehr Server, PCs, Smartphones, iPads, Tablets bei immer weniger Mitarbeitern den Job zu einem unmöglichen Spagat zwischen all den Anforderungen. Sie hingegen führte bei der Braun Security ein echtes Luxusleben, jedenfalls in ihren Augen. Um sich ständig mit den neuesten Techniken zu beschäftigen, durfte sie den lieben langen Tag lesen, testen, lernen und kniffelige Probleme lösen. Zwischendurch gab sie Vorträge, bildete die technischen Mitarbeiter intern weiter und leitete Penetrationstests für die Kunden. Was für einen besseren Job konnte es geben?

Auch heute ging es in der Session darum, dass sie den Teilnehmern mit deren Interaktion aufzeigte, wo die Probleme und Herausforderungen beim Thema Sicherheit lagen. Der Trend hin zu Cloudlösungen war aus technischer Sicht ein vernünftiger Schritt und im Grunde der einzig wahre Weg für den Administrator heraus aus dem Dilemma. Im Zuge des Alltagsgeschäfts blieb den meisten jedoch null Zeit, regelmäßig zum Patchday die Infrastruktur upzudaten. Von proaktiver Risikoanalyse, Bewertung oder aktiver Umsetzung in den Unternehmen konnten die meisten nur träumen.

So lag Tamaras Schwerpunkt auch heute darin, den Teilnehmern vor Augen zu führen, vor welchen Problemen sie standen, und wie sie Sicherheitskonzepte mit einfachen Hilfsmitteln in den Berufsalltag einführen konnten. Als Daniel es am Ende schaffte, sich live in die Administratorkonsole eines Servers bei der Global Transport GmbH einzuwählen, war das ein echtes Aha-Erlebnis für alle. Gerade die älteren Betriebssysteme boten einem Hacker die besten Angriffsflächen. Es war einfach kostenmäßig eine Herausforderung, die Infrastruktur zu modernisieren, da viele Prozesse angepasst werden mussten.

Geduldig stand Tamara nach dem Vortrag den Teilnehmern Rede und Antwort, während ihr Kollege anfing, die Sachen zusammenzupacken. Daniel zählte zu den ITlern, die alle Vorurteile bedienten: Brille, Übergewicht und blasses Gesicht. Er war introvertiert, fast ein wenig menschenscheu, gehörte aber zu den Besten in der Abteilung. Sie arbeitete gern mit ihm zusammen. Sein strukturiertes Vorgehen leistete einen wertvollen Beitrag in den Veranstaltungen, denn die Zuhörer konnten ihm mühelos folgen. Er schaffte es, dass jeder Teilnehmer das Gefühl hatte, genau zu verstehen, was er am Rechner zauberte. Am Ende glaubten sie gar, selbst in der Lage zu sein, in ein gesichertes Rechenzentrum einzubrechen. Das machte Tamara die Aufgabe leicht, ihre Zuhörer zu sensibilisieren, damit sie aktiv Konzepte für die Sicherheit ihrer Infrastruktur aufstellten.

Bei all dem Wissen und den Informationen, die heutzutage zur Verfügung standen, empfand sie es als sträflich leichtsinnig, wie oftmals mit Technologie umgegangen wurde. Auch sie konnte sich ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellen. In ihren Augen war es eine absolut faszinierende, ja einmalige Errungenschaft, geprägt von militärischen Interessen, von der Forschung, von Entwicklern und Nutzern gleichermaßen. Eine anarchische Möglichkeit, Menschen weltweit zu vernetzen, egal, welcher Religion sie angehörten, welcher ethnischen Gruppe oder welchen gesellschaftlichen Rang sie innehatten. Es war ein Baustein für Freiheit und Demokratie. Jeder konnte sich auf einfachste Weise mit anderen Menschen vernetzen und austauschen, ohne dass er dafür das Haus verlassen musste.

Natürlich barg diese Technologie auch Gefahren. Das Zauberwort lautete für sie „Medienkompetenz“. Die Anwender mussten sich bewusst werden, was sie taten und wie sie sich schützen konnten. Es war schon erschreckend, was sie über manche Menschen bei der Recherche im Internet herausfand, selbst wenn derjenige glaubte, nur wenige Informationen preiszugeben oder nur selten im Netz online zu sein. Gleichzeitig liebten alle die kostenlosen Tools. Dabei übersahen die Anwender gern, dass sie einen hohen Preis für die Annehmlichkeiten zahlten, indem sie Informationen frei verfügbar machten. Die kriminelle Elite hingegen entdeckte rasch die Möglichkeiten, die das Netz bot.

Eines der Projekte, die ihr am meisten am Herzen lagen, nämlich „Empowerment in IT“, wurde von der Familie Durrani finanziert. Es bot Frauen in Pakistan Weiterbildung in der Informationstechnologie, und Tamara steckte eifrig jede Menge freiwillige Stunden in dieses Projekt. Zehn Tage im Jahr gab sie Präsenzunterricht vor Ort. Webinare und Tutorials fanden abends oder an den Wochenenden online statt. Es machte ihr Spaß und gab ihr das Gefühl, den Menschen in der Region dabei zu helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.


»Wow, fast ausschließlich Neuner-Bewertungen. Bist du überhaupt dazu gekommen, was zu essen?«

Melanie von der Event-Agentur packte den Stapel Bewertungsbögen in ihre Tasche.

»Essen? Es gab was zu essen? Wann?«

»Ehrlich Tami, du bist ein Workaholic! Mach so weiter, und du hast mit fünfunddreißig einen Burn-out. Komm, ich lade dich ein. In welchem Hotel übernachtest du?«

»California.«

»Nie gehört. Wo ist das?«

»Mein Auto.«

»Du schläfst im Auto?«

»Nicht in irgendeinem Auto, in meinen California, das ist ein VW-Bus der Camper-Variante. Bett unten, ausfahrbares Zelt oben und Küche.«

Melanie stand mit offenem Mund da. Dann klappte sie ihn wieder zu. »Das ist jetzt nicht dein Ernst. Zahlt dir dein Chef keine Spesen?«

»Doch, aber ich kann Hotels nicht leiden. Die Einladung zum Essen nehme ich aber gerne an.«

»Was magst du?«

»Alles außer Sushi.«


»Wo bist du?«

»Toilette.«

»Zu genau! Das meinte ich nicht.«

»München.«

»Fährst du heute zurück?«

»Nein, habe morgen noch einen Termin bei Microsoft.«

»Wie war dein Vortrag?«

»195.«

»Natürlich. Was sonst?«

»Was sonst? Das ist eine Hammerleistung!«

»Genau. Etwas anderes erwarte ich nicht von dir!«

»Du hast keine Ahnung.«

»Stimmt, aber ich weiß, wie du tickst.«

Pause.

»Was hast du an?«

»Jeans, T-Shirt, Turnschuhe.«

»Und trotzdem eine 195?«

»Bei uns zählt Fachkompetenz, kein sexy Aussehen!«

»Hilft aber ungemein beim Publikum.«

»Männer!«

»Tami!«


»Tami, bist du noch hier drin? Wir wollen losfahren.«


»Muss Schluss machen.«

»Schade! Jetzt, wo es spannend wird.«


Beim Chinesen schmeckte das Essen so lecker, wie es Melanie versprochen hatte. Daniel und zwei weitere Sprecher vom Event hatten sich angeschlossen. Sie diskutierten über die aktuellen Funktionen von Windows Server und darüber, was in der Zukunft kommen sollte. Tamara musste aufpassen, keine Sachen zu verraten, bei denen sie unter dem Non-Disclosure-Agreement stand – kurz NDA genannt. Als sie vor einem Jahr zum ersten Mal den „Microsoft Most Valuable Professional (MVP) Award for Enterprise Security“ verliehen bekommen hatte, hatte sie einen Freudentanz aufgeführt. Für sie stellte das die höchste Auszeichnung dar, die sie erreichen konnte. Den MVP-Award erhielten IT-Profis, die sich in der Community engagierten, für ein Produkt brannten und diese Begeisterung in die Welt hinaustrugen, ohne einen Profit davon zu erwarten. Der Award galt nur für ein Jahr. Die Belohnung bestand nicht in der Anerkennung durch das Unternehmen, sondern in der Chance, mit anderen von einer Technologie begeisterten Menschen weltweit in Kontakt zu treten. Und besonders lockte die Einladung zu dem einmal im Jahr stattfindenden MVP-Summit nach Redmond. Dort trafen alle mit den Vertretern der Produktgruppen zusammen, und ein reger Austausch fand statt. Blöderweise hatten die USA Tamaras ESTA-Antrag abgelehnt, und so hatte sie nur an vereinzelten Online-Sessions teilnehmen können. Wenigstens hatte sie das deutsche Event besucht, den Community Open Day.

Durch das Programm wusste sie inzwischen wesentlich mehr über die zukünftigen Entwicklungen des Produkts als die Microsoft-Mitarbeiter in Deutschland selbst – was einige von ihnen wiederum störte. Für sie bestand die Kunst darin, eine Balance zu finden. Auf der einen Seite galt es, die Leute bei ihrem Job zu unterstützen, auf der anderen, den NDA einzuhalten.

Gegen elf hockten von der Gruppe nur noch sie und Melanie an der Bar. Daniel hatte lange zuvor ein Taxi zum Hotel genommen, und Melanies Kollegen verschwanden mit zwei Mädels, nachdem sie alle vom Chinesen in eine angesagte Kneipe gewechselt waren. Dabei hatte Mel anfangs ihr Bestes gegeben und mit dem einen sogar heftig geflirtet.

»Verflixt, ich möchte doof sein und sexy aussehen.«

Tamara lachte. Melanie hatte inzwischen einiges an Alkohol intus. »Mel, mit Kollegen was anzufangen, ist eine bescheuerte Idee. Entweder ziehst du am Ende an ihnen vorbei und ihr Ego verkraftet es nicht, oder sie klauen dir deinen Job«, versuchte sie zu trösten.

»Was für eine negative Einstellung!«

»Nein, eine, die von Erfahrung zeugt.«

»Hattest du mal was mit einem Kollegen?«

»Nein, aber ich bin oft genug Zeugin und darf es ausbaden, weil am Ende einer von beiden geht. Schwupp, ist ein wertvoller Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin, in die du viel Zeit investiert hast, futsch.«

»Und wo willst du den Mann fürs Leben finden?«

»Ich bleibe Single.«

»Blödsinn, jede Frau sehnt sich nach einer Beziehung, auch wenn sie behauptet, Single sein zu wollen.«

»Mir reichen zwei Brüder, mein Vater, mein Nonno, jede Menge Cousins, ein Chef und die Kollegen. Das ist mehr Mann, als eine Frau verkraften kann. Glaub mir, ich bin froh, wenn ich abends in meiner Wohnung bin und niemand mich nervt, dass er was zu essen haben möchte oder frisch gebügelte Hemden.«

»Und was ist mit Sex?«

Tamara trank einen kräftigen Schluck aus ihrem Bierglas. Im Gegensatz zu Melanie, die einen Cocktail schlürfte, stand sie mehr auf den bitteren Geschmack. »Valider Punkt.«

»Ich hasse diese One-Night-Stands. Außerdem wird es immer schwerer, welche zu bekommen. Um gegen den Nachwuchs anzukommen, brauche ich viel zu viel Spachtelmasse.«

»Quatsch! Du siehst klasse aus. Wie alt bist du?«

»Vierunddreißig, und glaub mir, sobald du die Dreißig überschreitest, wird es mit jedem Jahr schwerer.«

»Na dann auf die Dreißig!«, prostete Tami und trank einen großen Schluck aus dem Glas. In zwei Wochen würde es für sie selbst so weit sein. Als Sechzehnjährige hatte sie angefangen, für jedes runde Jahrzehnt jeweils eine Liste anzulegen, mit den Zielen, die sie bis dahin erreicht haben wollte. Bei zwanzig lag sie voll im Plan, jetzt, bei dreißig fehlte ihr nur ein Posten: der Gipfel des Mount Whitney in der Sierra Nevada. In den letzten Jahren hatte sie Viertausender gesammelt, und diesen hätte sie noch gerne der Sammlung hinzugefügt. Sie stand vor demselben Problem wie bei dem Summit. Sie bekam einfach keine Einreisegenehmigung für die USA. Selbst Sam hatte es bisher über seine Kanäle nicht geschafft, ihr ein Visum zu besorgen, nur, weil sie damals die NSA gehackt hatte. Dabei hatte sie ihnen jede Menge Informationsmaterial über die Struktur der pakistanischen Taliban geliefert.

»Neulich war ich so verzweifelt, dass ich mir für die Hochzeit meiner Cousine einen Begleiter buchte.« Melanie stieß erst einen abgrundtiefen Seufzer aus, um gleich darauf mit leuchtenden Augen zu träumen.

»Du meinst so wie in diesem Film, wie hieß er noch?«

»Wedding Date mit Dermot Mulroney. Also den würde ich garantiert nicht von der Bettkante schubsen. Aber – ja, genau so.«

»So was gibt es in der Realität?«

»Jupp, in Deutschland. Und ich sage dir, die haben es drauf!«

»Soll das heißen, sie machen mehr, als dich zu begleiten?«

»Ja, sofern du dafür bezahlst.« Ein anzügliches Grinsen erschien auf Melanies Gesicht. »Alles, was du dir wünschst – ehrlich! Da geht es nur um dich und deine Bedürfnisse. Kein Vorspielen eines Orgasmus, um deinen Lover zu motivieren. Ich meine, ich hatte ja keine Ahnung, dass es verschiedene Arten von Orgasmen gibt.«

»Oh Gott, hör bloß auf!«

»Warum, ist dir das peinlich?«

»Nein, ich werde sonst neidisch. Ich meine, ein Dildo ist besser als nichts oder ein miserabler One-Night-Stand, aber verglichen mit multiplen Orgasmen?«

»Möchten Sie noch einen Drink vor der Sperrstunde? Danach stehe ich Ihnen gerne für weiteren Service zur Verfügung.«

Vor Schreck verschüttete Tamara etwas Bier auf ihrem T-Shirt. Das anzügliche Grinsen des Kellners zeigte deutlich, dass er sie belauscht hatte. Oder redeten sie zu laut? Doch statt zu erröten, musterte sie den Barkeeper nur mit hochgezogenen Augenbrauen durchdringend, was ihn wie gewünscht verunsicherte.

»Nein, danke. Wissen Sie, die Verpackung muss schon einfach stimmen in so einem Fall.«

Melanie brach in Lachen aus. Dann sah sie genau hin. In Wahrheit stellte der Typ äußerlich gesehen durchaus eine ansprechende Erscheinung dar: Dreitagebart, schwarzes, zurückgegeltes Haar, kohlrabenschwarze Augen, durchtrainierter Body, beide Unterarme tätowiert und völlig von sich überzeugt.

»Hm, gilt das Angebot auch für mich?«

Das zauberte dem Typen wieder ein selbstsicheres Grinsen ins Gesicht. »Klar, und die Runde geht auf mich, Ladys.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst?« Tami starrte abwechselnd hinter dem Barkeeper her und zu Melanie hin.

Die zuckte mit den Achseln. »Wieso denn? Der Typ sieht aus, als hätte er Stehvermögen.« Sie fing an zu kichern.

»Du bist betrunken. Morgen bereust du es.«

»Mag sein, aber jetzt gibt es für mich kostenlosen Spaß, und du gehst leer aus. So ein Begleiter ist teuer, den kann ich mir maximal einmal im Monat leisten.«

Sie tranken die letzte Runde aus und verabschiedeten sich vor der Tür, wo Tami nochmals versuchte, Melanie davon zu überzeugen, lieber ein Taxi nach Hause zu nehmen. Stattdessen nahm diese ihr Handy und tippte etwas ein.

»Und gesendet. So, das ist die Nummer für multiple Orgasmen. Soweit ich weiß, gibt es eine Niederlassung in Frankfurt. Eine exklusive Adresse. Lebt rein von Mundpropaganda. Dafür ist der Kontakt teuer, aber jeden Cent wert. Die Telefonnummer kannst du nur ein Mal nutzen. Seriosität und der Schutz der Kundinnen stehen bei denen oben auf der Liste.«


Als sie im Schlafsack in ihrem VW California lag, prüfte Tami die Nachrichten auf ihrem Handy. Tatsächlich gab es eine E-Mail von Melanie mit einer Achthunderter-Nummer, und im Betreff stand: »Viel Spaß mit dem Service Femme Discrète!«


»Bist du wach?«

»Nein.«

»Wenn dir der Barkeeper das Angebot macht, dir seinen Körper für Sexdienste zur Verfügung zu stellen, heißt das, du siehst billig aus?«

»Schwer zu sagen, kommt auf den Barkeeper an.«

»Südländischer Typ, Sixpack-Bauch, tätowiert und glühend schwarze Augen.«

»Seit wann stehst du auf Klischees?«

»Tu ich nicht, immerhin liege ich mit meinem Handy im Bett statt mit dem Barmann.«

»Wie tief war dein T-Shirt ausgeschnitten?«

»Das spielt keine Rolle, selbst mit Push-up kann ich bei dem Busen nichts rausholen.«

»Nicht jeder Mann steht auf überdimensionale Titten.«

»Hey! Das kostet dich fünf Euro.«

»Sorry, aber du hast damit angefangen.«

»Womit?«

»Sex.«

»Stimmt.«

»Such dir einen Freund.«

»Ich dachte, den hätte ich bereits.«

»Einen richtigen.«

»Jetzt hörst du dich an wie Nonno.«

»Intelligenter Mann. Hör auf ihn.«

»Ja, das ist er. Du würdest ihn mögen.«

»Muss Schluss machen.«

6

Pläne

Tami stellte die Tüten ab und ließ sich mit einem Stöhnen auf den Sessel in der Eisdiele fallen. Nie wieder würde sie mit Jessica einkaufen gehen! Wie hatte ihre Freundin es überhaupt geschafft, sie zu diesem Trip zu überreden?

Und sie selbst musste an geistiger Umnachtung leiden. Eine Shoppingtour mit Jess war schon zu normalen Zeiten der Wahnsinn, aber jetzt, da sie hochschwanger war, artete das Unternehmen zu einer Katastrophe aus.

»Es macht überhaupt keinen Spaß, mit dir einkaufen zu gehen«, maulte Jessica und ließ sich langsam im Sessel nieder. Während man ihr von hinten nichts von der Schwangerschaft ansah, hatte sie vorn einen niedlichen runden Bauch, auf dem sie gemütlich ein Glas hätte abstellen können. Ihre Haut wirkte frisch, die Augen hatten einen Glanz, wie ihn nur schwangere Frauen ausstrahlten. Ihre Haare waren noch voller als sonst und zogen mit ihrem hellen Blond die Blicke aller Männer auf Jess, achter Monat hin oder her. Der Kellner übersah sogar die Mädels in bauchfreien T-Shirts am Nebentisch und kam schnellstens zu ihnen herüber. Wenigstens den Vorteil hatte es, mit Jess unterwegs zu sein, von dem sie mit profitierte.

»Darf ich Ihnen etwas bringen?«

Er wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt. Dankbar für die rasche Bedienung, weil sie nach der Anstrengung dringend Zucker brauchte, kam Tami ihrer Freundin zuvor.

»Einen Latte macchiato, ein Banana-Split und eine Flasche Wasser ohne Kohlensäure.«

»Du hast nicht mal einen Blick in die Eiskarte geworfen!«

»Brauche ich auch nicht. Banana-Split gibt es überall.«

»Probier doch mal etwas Neues aus.«

»Nein, danke.«

»Ich nehme den Müslibecher, einen Orangensaft und ein Pellegrino.«

Der Kellner wechselte zu dem Tisch der Mädels, deren Mienen sich direkt aufhellten, nachdem sie zuvor schon spitze Bemerkungen abgegeben hatten, weil sie warten mussten.

»Hey, pass auf, sonst wirst du zu einem Snob!«

»Nur weil ich statt Wasser die Marke nenne, bin ich noch lange kein Snob.«

»Wart ab. Ehe du dich versiehst, bist du im Lions Club, das Baby lernt Geige, und Urlaub verbringt ihr nur noch in Luxusanlagen.«

»Wir werden älter, ich bin bald Mutter. Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden. Apropos, wie sieht es bei dir an der Männerfront aus?«

»Papa ärgert sich über das Kilo, das er zugenommen hat, und behauptet, es läge an Mama und uns. Es gab zum Essen Tiramisu und Crème brulée, weil wir ja eigentlich alle kommen wollten.«

»Also – wir hatten einen Grund!«

»Ach ja, sicher. Sam und ich nicht?«

»Punkt an dich. Ich meinte aber nicht diese Art Männerfront, also deine normale ...«

»Es gibt auch eine unnormale?«

»Was ist mit Matthias?«

»Du meinst den Matthias, mit dem wir manchmal klettern waren? Der sich fast von der Klippe gestürzt hätte, als er deinen Ehering sah?«

»Du magst ihn doch.«

»Zum Wandern in den Bergen, ja.«

»Was ist mit diesem Daniel, mit dem du ständig unterwegs bist?«

»Der ist ITler!«

»Ja und?«

»Nett, aber nicht mein Typ, außerdem arbeiten wir in derselben Firma und sind Kollegen. So was passt nie.«

»Weißt du, Jonas hat da ...«

»Wage es nicht, mich verkuppeln zu wollen! Ich bin glücklich. Hey, warum denken immer alle, dass sie mich mit einem Mann verbandeln müssen?«

»Du wirst dreißig. Ich sehe da die ersten Falten. Du wirst im Alter einsam sein!«

»Dann gründe ich mit Sam eine WG.«

»Das überlebt keiner von euch.«

»Okay, das stimmt.«

Als Jessica auf die Toilette ging, atmete Tamara tief durch. Sie hatte von einem Dorf gehört, in dem Jungesellinnen und Junggesellen an ihrem dreißigsten Geburtstag die Straße fegen mussten, bis jemand sie mit einem Kuss erlöste. Langsam bekam sie Angst vor dieser ominösen Altersgrenze, und das, obwohl sie sich rundum glücklich fühlte. Warum sah das niemand? Ihr Handy gab den Signalton für eine SMS ab.

Landen Freitag um 15:40 Uhr. Freuen uns auf deine Party. Nonno

Sie grinste. Opa und Oma kamen aus Mailand herübergeflogen. Klasse, dass alle an sie dachten und mit ihr feiern wollten. In dieser Familie konnte niemand einsam sein. Im Gegenteil. Am meisten liebte sie die Ruhe nach den vielen Besuchen.

Rasch ging sie auf die sichere Chat-App. Nur einmal kurz schauen.


»Sitze in der Sonne. Trinke einen Latte macchiato und esse einen Bananensplit«, tippte sie dann doch ein.

»Ich wusste gleich, dass du sadistisch veranlagt bist!«

»Tja, einen Vorteil muss es ja haben, in Deutschland zu sein mit einem genialen Job.«

»Planst du deinen Geburtstag?«

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Das ist bei dir leicht.«

»Und da behaupten Männer immer, Frauen wären kompliziert.«

»Sind sie. Wie geht es Jess?«

»Woher weißt du????«

»Dass du mit ihr in der Eisdiele sitzt? Gedanken lesen, vergessen?«

»Langsam wirst du mir unheimlich.«

»Das sollte ich auch.«


»Mit wem schreibst du da?«

Hastig drückte Tamara die Displaysperre. So vertieft im Chat, hatte sie die Rückkehr der Freundin nicht bemerkt. Aus diesem Grund, wegen all der Fragen, die unweigerlich kämen, chattete sie normalerweise nie in der Anwesenheit von anderen mit ihm.

»Und?«

»Uninteressant.«

»Ach ja? Und wieso hast du dann so einen entrückten Gesichtsausdruck?«

»Weil es um ein technisches Problem ging.«

»Und dieses glückselige Lächeln?«

»Quatsch, du spinnst.«

»Dass du gelächelt hast?«

»Nein, das Adjektiv! Glückselig. Du weißt, dass ich meinen Job liebe. Jedes Problem ist eine Herausforderung. Ich lächele ständig bei der Arbeit.«

»Ja klar.«

Die Getränke wurden gebracht, und Tamara bekam eine Verschnaufpause.

»Kommt er zu deinem Geburtstag?«

»Wer?«

»Dein Chatfreund.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Weiß Sam Bescheid?«

»Jess, du spinnst! Hör auf.«

»Also, wenn weder ich noch Sam Bescheid weiß, muss es ja echt was Ernstes sein.«

Der Kellner kam mit den bestellten Eisbechern. Tamara tauchte den Löffel in die Sahne und schob sich den süßen Berg in den Mund. Wie sollte sie aus der Geschichte nur wieder rauskommen? Wenn sie jetzt sagte, dass sie doch mit einem Freund gechattet hatte anstatt mit einem Kunden, wäre Jessica noch hartnäckiger dabei, und wenn sie Sam fragte – besser nicht daran denken. Seit dem Vorfall in Pakistan hatte er sich zu einem regelrechten Kontrollfreak entwickelt. In Gedanken ging sie die Sicherheitsmaßnahmen durch, die sie getroffen hatte. Auch ihre Freundin löffelte sich Eis in den Mund. Das war den Schwangerschaftshormonen zu verdanken, denn im Normalfall hätte Jess das Eis völlig ignoriert, wenn es darum ging, sie auf einen Freund festzunageln.

»Na, ihr zwei Hübschen?« Jonas küsste Tami auf die Wange, bevor er sich ausgiebig seiner Frau widmete.

»Igitt, ist ja eklig. Könnt ihr jetzt aufhören mit dem Ablecken?« Sam ließ sich auf den Stuhl neben Tami plumpsen.

Klar, dass Sam es nicht mochte, wenn andere das Vergnügen hatten. Ehe sie sich‘s versah, zog er ihren Eisbecher rüber und hatte ihr den Löffel aus den Fingern geluchst.

Verflixt! Wie machte er das nur immer so geschwind?

»Hey! Bestell dir gefälligst selbst ein Eis!«

»Ich hab Hunger, bestell dir ein neues.«

Der Kellner hielt neben ihr an. Was für eine aufmerksame Bedienung!

»Bitte noch ein Low-Carb-Diät-Banana-Split.« Mit einem gekonnten Augenaufschlag begleitete sie den zuckersüß gesprochenen Satz, was den armen Kerl zusätzlich verwirrte.

Prompt schob Sam ihr das Eis zurück. Sie hielt die Hand für den Löffel auf.

»Wie kann man nur so was Perverses essen?« Er wandte sich an den Kellner. »Einen doppelten Espresso und den Schokoeisbecher mit diesen Knusperkugeln drauf.«

»Ich nehme nur einen doppelten Espresso.«

Eine Zeit lang hatte die Familie daran gezweifelt, wer schwanger war, Jessica oder Jonas. Nun versuchte ihr Bruder die angefutterten Kilos wieder loszuwerden. Ein wenig hatte sie Mitleid gehabt, das aber rasch vergangen war. Wenn die beiden Händchen hielten, war es immer noch ein seltsamer Anblick. Vor allem Sam war es schwergefallen, das zu sehen.

Lange Zeit hatten alle in der Familie geglaubt, dass Sam und Jessica das ideale Pärchen wären. Doch Sam war nie auf die Verführungsversuche von Jess eingegangen. Tami wusste, weshalb. Wenn je eine Frau die Chance gehabt hatte, Sams Entschlossenheit, sich niemals zu binden, aufzuweichen, dann ihre beste Freundin Jessica. Aber im Gegensatz zu Jonas, dem Jüngsten, waren sie beide nicht in der Lage, die Vergangenheit zu vergessen. Ihre Angst war zu groß, den Menschen, den sie am meisten liebten, so sehr zu verletzten, dass er – oder in ihrem Fall sie selbst – daran zerbrach. Bisweilen, wenn er den beiden verstohlene Blicke zuwarf, die niemand sehen sollte, erkannte sie seine Zweifel und sah ein echtes Bedauern. Egal, wie viele kurzfristige Beziehungen ihr Bruder einging – in ihren Augen zählte er zu den einsamsten Menschen, die sie kannte.


Sie dachte an ihre Rückkehr aus Pakistan, oder besser aus Afghanistan, denn am Ende war sie ja von Kabul aus nach Hause geflogen, und wie das alles zwischen Jonas und Jess angefangen hatte. Der Presserummel war natürlich schon vorbei gewesen, bevor sie selbst überhaupt in Deutschland angekommen war. Jessica Fiedler für 27 Tage Geisel der Taliban, das war ein gefundenes Fressen für die Journalisten gewesen. Tamara Baumann war dagegen völlig uninteressant – ein Glück für sie, doch für ihre Freundin bedeutete das alles die Hölle. Jo hatte ihr in der Zeit beigestanden und gezeigt, was er in seinem Jurastudium bisher gelernt hatte. Er beriet Jess im Umgang mit den Medien ebenso wie mit dem Deutschen Sportbund und den Sponsoren. Es gab ein exklusives Interview für die »Zeit« sowie eine Sendung für das Fernsehen. Zu beiden Interviews zwang Jonas Tami mitzukommen. Sie sollte einen Teil des Rummels von der WM-Siegerin im Hochsprung abfangen, ihr Luft verschaffen. Die Gleichung war leider nicht aufgegangen. Die Presse sah in Tami nur die Begleitung der berühmten Sportlerin. Wen interessierte schon eine Tamara Baumann? Tami war froh darüber, denn sie wusste, dass jeder Schritt, jede ihrer Äußerungen genauestens verfolgt wurden.

Mit dem Geld aus dem Medienrummel war sie immerhin in der Lage gewesen, das Projekt »Empowerment in IT« in Pakistan auf solider Basis zu gründen. Während der Olympischen Sommerspiele 2008 hatten sie und Jonas dann Jessica nach Peking begleitet. Dort hatten sich ihr Bruder und ihre Freundin beim nervlichen Kampf um den Einzug ins Finale ineinander verliebt. Der ständigen Verfolgung durch die Paparazzi war Jonas mit einer Engelsgeduld begegnet, nicht ohne ihnen entsprechende Grenzen zu setzen. Er schaffte es sogar, Tami vor einer Strafe zu bewahren, als sie einem Fotografen mit einem gezielten Faustschlag die Nase brach. Allerdings hatte sie daraufhin China mit dem nächsten Flieger verlassen müssen, was Jonas dann gnadenlos zu seinem Vorteil genutzt hatte.

Tami hatte das wirklich als Verrat empfunden, im Gegensatz zu ihren Eltern. Die betrachteten Jessica sowieso als ein weiteres Kind, da sie schon immer mehr Zeit bei den Baumanns als zu Hause bei ihrer Mutter verbracht hatte. Papa war ihr erster Trainer gewesen – von ihnen allen. In die obere Liga der Leichtathleten hatte es Tamara jedoch nie geschafft, weil ihr Knie sie behinderte. An die Leistung der anderen konnte sie so nicht heranreichen.

Die Hochzeit hatte im kleinsten Kreise stattgefunden, am Teich im Garten ihres Elternhauses – ohne Presse. Am Abend waren Sam und Tami dann betrunken in die Betten gefallen, unter tadelnden Blicken ihrer Mutter und amüsierten ihres Vaters. So war aus Jessica Fiedler Jessica Baumann geworden. Nach drei Jahren Bangen war sie nun endlich schwanger – im achten Monat. Wer die beiden miteinander sah, wusste, dass sie zusammengehörten.


Tamara seufzte und wünschte, sie könnte ein Stück von ihrem Glück abbekommen. Ihr ältester Bruder interpretierte das Seufzen anders. Ein fettes Grinsen trat auf sein Gesicht.

»Ja, auch du Küken hast in einer Woche eine Drei vorne stehen. Lass mal sehen!« Er beugte sich vor, musterte sie intensiv. »Sieh an, sieh an, lauter Falten um die Augen. Hättest du nur ein Mal auf den Rat von Jess gehört und die Creme benutzt – aber nein. Jetzt hast du die Quittung.«

Gerade noch rechtzeitig wich er der fliegenden Sahne aus, die zum Glück auf dem Boden landete und nicht im Gesicht eines anderen Gastes. Wäre das peinlich gewesen! Musste er sie ständig provozieren?

»Ich glaube nicht, dass sie deshalb stöhnt. – Sam?«

»Jess, halt den Mund oder ich kündige dir die Freundschaft!« Langsam ging sie ihr echt auf die Nerven. Erst musste sie sie von einem Babyausstattungsladen zum nächsten in Frankfurt schleppen, und jetzt biss sie sich an dieser blöden Idee fest, dass sie einen Freund hatte. Wütend schaufelte sie sich Eis in den Mund.

»Huh, wie lange liegt euer letzter Streit zurück? Damals hattest du dir, wie hieß er doch gleich ...?«

»Georg«, half Sam nach.

»Genau, Georg angelacht, den Tamara dir unbedingt ausreden wollte.«

Fast wäre Tami Jonas um den Hals gefallen, dafür, dass er die alte Kamelle herauskramte. Dieser Georg hatte sich als echter Arsch entpuppt, der gleich zwei Nummern parallel laufen hatte.

»Jeder macht Fehler«, gab Jess zurück.

»Übrigens – das mit dem Geschenk klappt«, lenkte Sam plump auf ein neues Thema ab. Es lag einfach in seinen Genen, sie und Jessica zu beschützen.

»Ehrlich?« Ein Strahlen lief ihrer Freundin über das ganze Gesicht.

»Ja.«

»Wie hat er ...«

»He he!«, mischte sich Jonas hastig ein und erstickte jeden weiteren Hinweis im Keim.

Wie ärgerlich, Tami platzte fast vor Neugierde. »Was bekomme ich denn zu meinem Dreißigsten?«

»Das wirst du sehen, wenn es so weit ist!«, maßregelte Jo sie.

»Wer holt Nonno und Nonna vom Flughafen ab?«

»Du«, schoss es beiden Männern gleichzeitig aus dem Mund.

»Keine Chance, das ist mein interner Schulungstag, und der geht bis fünfzehn Uhr, da kann ich keinesfalls um fünfzehn Uhr vierzig am Flughafen sein.«

»Was ist mit Jens?«

»Mama und Papa haben da noch einen Termin, den sie unmöglich verschieben können. Jo, du hast eine eigene Kanzlei. Du kannst doch deine Zeit selbst einteilen«, bettelte Tami.

»Sicher, aber unser Ultraschall ist am Freitagnachmittag, und den lasse ich in keinem Fall sausen.«

Jetzt stöhnte Jessica abgrundtief auf. »Also gut. Jonas holt sie ab.«

»Nein, kommt nicht infrage, Jessica. Tami arbeitet ständig, sie kann an ihrem Geburtstag mal eine Stunde früher Schluss machen!«

»Ihr zwei Weicheier! Okay, ich hol sie ab.«

»Ich dachte, du hättest eine Fortbildung und wolltest erst an dem Samstag aus Bonn anreisen?«, wandte sich Jonas an Sam.

Der zuckte nur mit den Achseln. Jetzt nagte das schlechte Gewissen an Tamara.

»Ehrlich Tami, du entwickelst dich zu einem echten Workaholic – einsam, vergrämt und total egoistisch!«

Die Mahnung ihrer Freundin kam an. »Okay, okay. Ich mach es!« Sie schob den Stuhl zurück und stand auf.

»Und jetzt haust du beleidigt ab?«, fragte Jonas verblüfft.

»Nein, ich muss nur mal! Willst du mitkommen?«


Nachdenklich sah Sam seiner Schwester hinterher. Ja, sie gehörte zu der schwierigen und temperamentvollen Sorte Frau. Letzteres kam eindeutig von der italienischen Abstammung mütterlicherseits, genauso wie ihre knapp ein Meter fünfundsechzig. Die geringe Größe machte sie leicht mit ihrem umso loseren Mundwerk wett, aber dass sie jetzt so gereizt reagierte – wegen des Dreißigsten? Nein, Tami zählte zu den Menschen, die jedes Lebensjahr genossen. Sie betrachtete es als Geschenk, älter zu werden, und das verstand er besser als jeder andere. Okay, sie hatte ihren letzten Viertausender auf der »Bis-30-Liste« offen, aber das würde sich ja bald ändern. Nur wusste sie davon noch nichts.

»Also, Sam, wie hat er es hinbekommen?« Jonas sah ihn erwartungsvoll an.

»TJ hat super Connections in die USA.«

»Bessere als du? Wo du bei der Bundespolizei arbeitest?«

»Offensichtlich.«

»Was macht er denn beruflich?«, hakte Jess nach.

»Er ist Berufssoldat.«

»Pilot?«, fragte sie weiter.

»Ach, hört auf, mich zu löchern, mehr braucht euch nicht zu interessieren.«

»Und sie kann einfach so einreisen?« Jonas, der mit Sam seit einem Jahr an dem Thema werkelte, war in seiner Berufsehre gekränkt.

Dass der normale Weg hier versagt hatte und andere Netzwerke funktionierten, erschien ihm als Rechtsanwalt schier unmöglich, und wenn es um die Anschauungsweisen von Gerechtigkeit ging, tendierte seine Flexibilität gegen null.

»Nein, die Auflage ist, dass ich sie begleite.«

Beide starrten Sam an. »Was?«

Unschuldig zuckte er mit den Achseln. »Wo ist das Problem?«

»Und du willst das mit ihr machen?«

»Ja! Ich klettere auch häufiger mit ihr in den Alpen rum. Außerdem bin ich im Training, da ist so ein Viertausender eine Kleinigkeit.«

»Das mag sein, aber ihr geht euch so oft an die Gurgel, dass der Spaß vorbei ist, bevor er richtig begonnen hat«, wandte Jessica ein.

»Ach ja? Und wem wurde kurz zuvor angedroht, die Freundschaft gekündigt zu bekommen?«

»Das ist was anderes.«

»Spuck es aus, du kannst es eh nicht bei dir behalten«, ermunterte Jo seine Frau. Jessica sah sich erst nach allen Seiten um, bevor sie so dicht an die beiden heranrückte, wie es ihr Bauch zuließ.

»Findet ihr auch, dass Tami sich verändert hat?«

»Sie arbeitet mehr?«, machte Jonas einen Vorschlag.

»Schluss mit dem Rätselraten, Jess! Sie kann jeden Moment wiederkommen. Spuck es aus.«

»Als ich vorhin vom Klo zurückkam, saß sie dort mit einem glückseligen Lächeln und tippte auf ihrem Handy herum.«

Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu, zuckten die Schultern. So etwas Besonderes war das bei ihrer Schwester nicht. Wann legte sie schon mal ihr technisches Spielzeug beiseite?

Jess verdrehte die Augen. »Sie chattet mit jemandem!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492261
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Terrorismus Liebesroman Computervirus USA Frankfurt Cybercrime NSA Affäre Spezialkommando Staatstrojaner Informationstechnik Krimi Ermittler Psychothriller Liebe

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Im Netz der NSA