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Aus dem Schatten

von Kerstin Rachfahl (Autor:in)
267 Seiten

Zusammenfassung

David ist entschlossen, die uneheliche Tochter seines Chefs eiskalt mit ihrem Projekt auflaufen zu lassen. Was hat sie denn in ihrem Leben schon geleistet? Glaubt sie ernsthaft, ihm sagen zu können, wie er seine Arbeit zu machen hat? Wäre diese Stefanie bloß nicht so blitzgescheit, sympathisch und wortgewandt. Egal, wie erfolgreich Stefanie in ihrem Beruf als IT-Beraterin ist – nie schafft sie es, den Makel einer unehelichen Tochter zu überwinden. Dabei steht sie sich vor allem selbst im Weg. Wie könnte sie jemals einem Mann vertrauen, wenn der eigene Vater, den sie über alles liebt und bewundert, seine Ehefrau mit ihrer Mutter betrogen hat? Aber so einfach ist die Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich zur falschen Zeit begegnen, nicht. Wird Stefanie bereit sein, das zu erkennen, und Davids Liebe eine Chance geben? »Der Veränderungsprozess in einem mittelständischen Textilunternehmen, eingepackt in eine Familien-Liebesgeschichte – so kann ein unterhaltsamer Liebesroman auch wirtschaftliche Impulse geben.« E. Fieles-Kahl

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Abendessen

Auf dem Stehpult lag der Zettel mit Tischreservierungen, aber einen Kellner konnte sie dort nicht entdecken. Kein Wunder bei der Belegung. Sie schaute sich im Raum um, der von vielen kleinen Ecken und Nischen, die in sanftes Licht getaucht waren, geprägt war. Alte hölzerne Deckenstützpfosten unterteilten den Raum zusätzlich. Trotz der vielen besetzten Tische hörte man nur gedämpfte Geräusche. Als ihr Blick weiter suchend durch den Raum schweifte, sah sie eine der Kellnerinnen in typischer marinefarbener Hose, gestärktem, hellblauem Hemd, roter Krawatte und farblich passender Schürze. Die junge Frau gab ihr ein Zeichen, dass sie sofort für sie da sein würde.

Keine Minute später war sie bei ihr. »Ja, bitte?«

»Stefanie Mansfield. Ich bin mit Herrn Martin Lindemann um 19:30 Uhr zum Abendessen verabredet.«

Mit dem Kugelschreiber fuhr die Kellnerin die Liste entlang. Als sie auf den Namen stieß, hellte sich ihr Gesicht auf.

Stefanie war erleichtert. Unwillkürlich hatte sie die Luft angehalten. So gern sie sich von Martin auch zum Essen einladen ließ, so sehr fühlte sie sich oft durch die Exklusivität der von ihm ausgewählten Restaurants verunsichert.

Die Kellnerin fing eine vorbeikommende Kollegin ab. »Vanessa! Bitte bring Frau Mansfield zu Tisch 12. Herr Lindemann erwartet sie.«

Durch die raffinierte Beleuchtung strahlten die Räumlichkeiten eine warme Atmosphäre aus. Der burgunderrote Teppich dämpfte die Schritte, die Ausstattung in Eiche rustikal passte zu dem Gebäude der umgebauten historischen Mühle. Sie passierten das alte, mit grünblauen Lichtern beleuchtete Mühlrad, das sich, vom Gastraum durch schalldichtes Plexiglas getrennt, träge drehte.

Da saß er.

Ein Kellner hatte ihm eben einen winzigen Schluck Rotwein ins Glas geschenkt, und Martin Lindemann ließ die rubinrote Flüssigkeit einige Runden im Glas kreisen, bevor er daran nippte. Dabei entdeckte er seinen Gast.

»Stefanie! Pünktlich wie immer.« Zum Kellner gewandt sagte er: »Ein vorzüglicher Merlot. Den nehmen wir.«

»Sehr wohl, der Herr.«

Die Angestellte, die Stefanie an den Platz geführt hatte, zog sich zurück und Martin stand auf. Stefanie umarmte ihn innig und küsste ihn rechts und links auf die Wangen. Trotz seiner 69 Jahre war er eine interessante Erscheinung, ein Mann mit tiefschwarzem Haar, das nur an den Schläfen ein wenig grau meliert war.

Manche Männer zogen im Alter mehr Blicke auf sich als in jungen Jahren, ging es Stefanie wieder einmal durch den Kopf, denn für sie gehörte Martin Lindemann in die vorderste Reihe dieser Kategorie. Sein Gesicht schien mit jeder Falte nur noch markanter zu werden, und den Kontrast zwischen seiner Adlernase und dem fülligen Mund fand sie geradezu faszinierend. Dann noch dieses Gesicht mit dem finsteren Touch durch die buschigen Augenbrauen – und wie die hellblauen Augen darunter hervorleuchteten! Seine Figur konnte man zwar nicht direkt als schlank bezeichnen, aber Martin war alles andere als füllig. Die Gegensätze machten ihn einfach unwiderstehlich.

Er hielt sie an beiden Händen und betrachtete sie wohlwollend. »Du siehst fabelhaft aus. Das Kleid steht dir ausgezeichnet.«

Immer, wenn er ihr Komplimente machte, merkte Stefanie, wie ihre Wangen erröteten. Er ist und bleibt ein Charmeur, dachte sie. Tatsächlich liebte sie es, vor dem Kleiderschrank zu stehen und etwas Passendes auszusuchen, wenn er sie einlud. Diesmal hatte sie ein dunkelgrünes Etuikleid gewählt, das durch einen raffinierten Schnitt ihre weibliche Linie betonte. Die Haare hatte sie in einer Hochsteckfrisur zusammengefasst und für die Gelegenheit mit goldenen Spangen festgesteckt. Sogar ihr gefiel der Effekt zu ihrem üppigen, rotblonden Haar, auch wenn sie sonst immer nur Holzstäbchen dafür benutzte. Zur glänzenden, hautfarbenen Feinstrumpfhose hatte sie klassische schwarze Pumps mit vier Zentimeter hohem Absatz an – mehr schaffte sie beim besten Willen nicht – und ihre bloßen Schultern wurden nur von einem mintfarbenen Grobstrickbolero bedeckt. Das Kleid war wirklich ein Traum. Die Perlenohrringe, die sie trug, hatte sie von Martin geschenkt bekommen. Er liebte es, ihr Schmuck zu schenken, doch es gab eine Regel, die er immerhin unter Protest akzeptierte. Sie trug die Perlen nur, wenn sie mit ihm ausging. Der Gedanke, was für ein Vermögen an ihr hing, machte sie sonst zu nervös.

Sie wartete kurz, bis der Kellner die Weinflasche auf einem Beistelltisch abgesetzt hatte und den Stuhl für sie hervorzog. Wie albern für eine emanzipierte Frau, und doch genoss sie an Abenden mit ihm diese kleinen, netten Aufmerksamkeiten.

»Möchte die Dame sich der Getränkewahl des Herrn anschließen?«, fragte der Kellner, als sie sich gesetzt hatte.

»Ja, das möchte sie«, erwiderte Stefanie, »denn er ist der weitaus bessere Weinkenner von uns beiden.« Charmant lächelte sie dem Kellner zu. Als er ihr Lächeln erwiderte, sah sie in seinen Augen ganz kurz etwas aufblitzen. Sie kannte das, denn es begegnete ihr häufig, wenn sie und Martin zum Essen ausgingen – ein verhaltenes Urteil.

Dann reichte er ihr die Karte und wartete einen Moment, um ihr die Empfehlung des heutigen Abends vorzutragen.

Statt Austern wählte Stefanie einen Salat mit Walnüssen, entschied sich ansonsten jedoch für das vorgeschlagene Menü. Milde Bärlauchsuppe und gebratene Entenleber mit Röstzwiebeln, dann Filet, Rippe und Tatar vom Weideochsen sowie einen jungen Altensteiger Ziegenkäse. Zum Nachtisch sollte es karamellisierter Passionsfruchtschaum sein. Auf Kalorien würde sie morgen wieder achten.

Martin schüttelte amüsiert den Kopf, als der Kellner sie verließ. »Du brichst ihm das Herz.«

Stefanie stutzte. »Ich? Wieso das?«

»Wenn du ihn so anlächelst und ganz und gar seinem Rat folgst – aber doch mit mir altem Knacker hier sitzt.«

Sie lachte hell auf. »Ich bezweifle, dass ich ihm damit das Herz breche. Erstens wimmelt es in diesem Restaurant von attraktiven Frauen, und zweitens denkt er vielmehr, dass ich nur hinter deinem Geld her bin und deshalb einen höchst fragwürdigen Charakter besitze.«

»Schade nur, dass du dir nichts aus Geld machst.«

»Wann habe ich das behauptet?«

»Du interessierst dich dafür?«

»Selbstverständlich.« Sie machte eine kurze Pause und versuchte ihn dabei todernst anzusehen, was ihr aber misslang. »Wenn ich es selbst verdiene.«

»Ich wusste, es gibt einen Haken.«

Sie trank einen Schluck von dem Wein. Ein feiner, aromatischer Geschmack mit einem Hauch Cassis und einer Nuance von Zedernholz breitete sich auf ihrer Zunge aus. Er war einen Ticken zu trocken für sie, doch passte der Wein hervorragend zu dem Menü, das sie gewählt hatte. »Also?«

»Also was?« Martin bedachte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, hielt kurz ihren Blick fest und sah dann zum Mühlrad. »Sieht mit dem blauen Licht ein wenig gespenstisch aus, findest du nicht?«

»Huh, das lässt ja hoffen. Spuck es am besten sofort aus, dann können wir den Abend genießen.«

»Lass uns lieber erst essen. Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich etwas auf dem Herzen habe?«

»Na ja, es ist weder mein Geburtstag noch der Jahrestag unserer ersten Begegnung oder sonst einer der üblichen Anlässe, zu denen du mich einlädst.«

»Kann ich nicht einfach mal so mit einer hübschen Frau zu Abend essen?«

»Nein.«

»Du bist immer so hart zu mir!«

»Nein, ich bin ehrlich, und genau das liebst du an mir.«

Der Kellner brachte den ersten Gang.

Stefanie wusste, dass Martin sich nie von ihr würde erweichen lassen, ihr vorher zu verraten, was ihm auf der Seele brannte, darum versuchte sie einfach, das vorzügliche Essen zu genießen. Sie sprachen über Wirtschaft und Finanzmärkte und über Stefanies sechswöchige Reise nach Neuseeland im vergangenen Februar.

Eine wehmütige Fahrt in die Vergangenheit war das gewesen, denn dort hatten ihre Mutter und sie zuletzt gelebt und ihre Mutter war dort gestorben, hatte einfach einen Herzinfarkt bekommen. Ein Erbdefekt, wie die Ärzte bei der Autopsie feststellten. Zum Glück waren die entsprechenden Untersuchungen bei Stefanie ohne Befund geblieben. Damals, mit 13 Jahren, war sie zu den Großeltern gezogen, die in Deutschland lebten. Zum ersten Mal hatte sie ein richtiges Zuhause gehabt, wie sie es bis dahin nie kennengelernt hatte, und eine öffentliche Schule besucht. Für ein Mädchen am Anfang der Pubertät bedeutete das eine große Umstellung, und sie war ihr schwergefallen.

Bei dem Gedanken strich sie sanft über Martins Hand. Dass sie diese Zeit des Verlustes und der Veränderung heil überstanden hatte, verdankte sie ihm. Sie berührte einen der Perlenohrringe, als sie daran dachte, wie sie damals ihr Abitur bestanden und sie von Martin geschenkt bekommen hatte. Die passende Perlenkette war sein Geschenk zum Diplom gewesen.

Sie konzentrierte sich wieder aufs Essen. Der Ziegenkäse bot mit den eingemachten Feigen zusammen einen besonderen geschmacklichen Hochgenuss. Sie war pappsatt und fragte sich, wie sie den Nachtisch noch bewältigen sollte.

Martin ließ nachdenklich den Wein im Glas kreisen, während Stefanie amüsiert seine Körpersprache beobachtete. Wieder mied er den direkten Blickkontakt. Seine Stirn war in tiefe Falten gezogen, die Augenbrauen trafen sich, und immer wieder zog er die Nase kraus und presste dabei die Lippen zusammen. Grimmig und gefährlich. Sie überlegte, ob sie irgendetwas gemacht hatte, das ihn verärgert hatte – außer den üblichen Dingen.

Noch knapp vier Monate, dann stand sein siebzigster Geburtstag an. Siebzig! Konnte es damit zusammenhängen? Innerlich wappnete sie sich gegen seine Bitte. Sie wusste, dass er sie gern auf seiner Feier haben wollte, aber allein der Gedanke daran erzeugte ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Beherzt griff sie zur Weinflasche und füllte ihr Glas wieder auf.

Er sah sie an, legte den Kopf schief und seufzte abgrundtief auf. »Du weißt, es ist mein einziger Wunsch an dich. Es werden so viele Menschen da sein, dass die Familie dich sicher übersieht.«

»Was hältst du von einer Tour mit der Aphrodite durch den Ärmelkanal im kommenden Frühjahr? Die französische Küste hinunter bis nach Bordeaux?«

Er liebte seine Segeljacht, eine schnittige Delphia 47, die mit einer kleinen Mannschaft auskam und aufgrund ihrer Bauweise und Ausstattung in der Lage war, die Ozeane zu überqueren. Das war ein lang gehegter Traum von Martin. Nur hatte er es nie geschafft, sich aus der Verantwortung zu stehlen, die das Führen eines Familienunternehmens mit sich brachte.

Ein feines Lächeln erschien auf seinen Lippen, doch es erreichte seine Augen nicht. Stattdessen sah Stefanie etwas in ihnen, das unwillkürlich ihren Plusschlag beschleunigte.

»Weißt du, was ich an dir liebe?«, fragte er ernst.

»Ja, nämlich, dass ich deine Träume kenne und dir immer wieder sage, dass du sie in die Realität umsetzen sollst, weil man nur ein Leben leben kann. Du liebst es auch, dass ich ehrlich zu dir bin und nichts von dir erwarte, außer ein bisschen von deiner kostbaren Zeit.«

»Ich sterbe.«

Sie starrte ihn an, war sich nicht sicher, ob er das ernst meinte oder einen makabren Scherz machte, damit sie zu seiner Geburtstagsfeier käme.

»Eine weitere Eigenschaft von dir ist, dass du mit Krisen fertigwirst, Stefanie, genauso wie mit dem Tod, ohne daran zu zerbrechen. Es ist bewundernswert, wie du die Verantwortung für deine Oma übernommen hast, als dein Opa starb. Und du hast sie begleitet, als ihre Zeit ablief.«

Stefanie schluckte, spürte einen Kloß im Hals, der jede Antwort im Keim erstickte.

»Keine Sorge, das verlange ich nicht von dir. Ich denke, wenn es so weit ist, werde ich zu feige sein und den leichteren Weg wählen. Geld eröffnet mir andere Möglichkeiten, um zu sterben.«

Immer noch unfähig zu sprechen, schüttelte sie den Kopf, stand auf und legte konzentriert die Serviette auf den Tisch, nahm die Handtasche.

Der Kellner, dem sie in den Weg lief, sah sie fragend an.

»Die Toiletten?«, presste sie hervor.

»Alles in Ordnung? Ist ihnen schlecht? Sie sind ganz blass.«

Tränen schossen ihr in die Augen, und sie brachte kein weiteres Wort heraus.

Er zeigte hinter sich. »An der Bar vorbei, danach direkt links. Dort geht eine Treppe runter.«

Hastig folgte sie der Beschreibung.


Ihre Hände zitterten. Den Kopf in den Nacken gelegt, als könnte das verhindern, dass die Tränen weiter liefen, rang sie um Fassung.

Es musste die Wahrheit sein. Martin würde sie doch niemals belügen, wenn es um seinen eigenen Tod ging. Ja, er hatte recht, sie war weder am Tod ihrer geliebten Mama noch an dem der Großeltern zerbrochen. Doch ihn zu verlieren? Erneut kämpfte sie gegen die aufwallenden Emotionen an. Sie ahnte, dass es Etliches gab, was er mit ihr besprechen wollte, und dass er auf ihre Stärke baute, sie mehr brauchte als je zuvor im Leben. Für einen Moment empfand sie Wut auf ihn – wie er das Restaurant bewusst gewählt hatte, weil er sie genau kannte! Sie hasste emotionale Ausbrüche in der Öffentlichkeit. Entschlossen atmete sie tief durch. Sie straffte die Schultern, putzte sich die Nase, betrachtete kritisch ihr Gesicht im Spiegel. Scheiß Make-up! Wenn man sich ein Mal die Augen schminkte! Den Schaden reparieren oder abschminken? Sie holte Abschminkpads aus der Handtasche, wischte die Wimperntusche von der Augenpartie ab. Kajal und Lidschatten. Eine kühle Creme würde die gereizte Haut an den Stellen beruhigen, der Concealer für Notfälle deckte zuverlässig die roten Stellen ab. Zuletzt puderte sie ihr Gesicht, vor allem die Nase. Heulen konnte sie später noch zu Hause.

Bevor sie die Treppe ganz hochgegangen war, hörte sie die gedämpfte Stimme des Kellners und verharrte.

»... ist immer dasselbe mit diesen reichen Knackern. Kaum ist die Geliebte zu alt, wird sie durch was Jüngeres ersetzt. Und damit es keine Szene gibt, serviert er sie bei einem Abendessen ab.«

»Du hast ’ne Fantasie! Und selbst wenn, ist das besser, als den Freund mit ’ner anderen im Bett zu erwischen.«

»Freund? – Finanzier! Oder Sugardaddy. Die ist garantiert nur halb so alt wie der Typ!«

»Also, ich find sogar, der hat was. Vielleicht steht sie ja einfach auf ältere Männer.«

Genug gehört. Die beiden zuckten erschrocken zusammen, als Stefanie neben ihnen auftauchte.

»Um genau zu sein – mein Vater ist fast exakt 30 Jahre älter als ich. Allerdings sollten Sie, wenn Sie schon über die Gäste reden, darauf achten, wo Sie das tun.«


Als der Kellner den Nachtisch und einen Espresso für sie brachte, würdigte sie ihn keines Blickes. Weil Martin sie aufmerksam ansah, zwang sie sich ein Lächeln auf die Lippen. »Wie lange?«

»Ein Jahr, vielleicht zwei. Ärzte sind nie präzise.«

»Und was ...?«

»Krebs, und bevor du weiterfragst – ja, ich war bei mehreren Ärzten. Die Antwort ist immer dieselbe.«

»Okay, und was möchtest du von mir?«

Er schob ihr die Karte einer Praxis zu. »Die Untersuchung dauert nicht lange. Sie nehmen dir Blut ab, machen einen Ultraschall und du kannst wieder gehen.«

»Wieso?«

»Ich möchte sicher sein, dass bei dir alles in Ordnung ist.«

»Ich bin fit!«

»Bitte, Stefanie, nur für meinen Seelenfrieden. Damals sagten sie, dass der Fehler am Herzen sich erst später zeigen kann, und du ziehst die Untersuchung doch nur um ein Jahr vor.«

Sie nahm die Karte und steckte sie in die Handtasche.

»Das Nächste wird dir nicht gefallen, aber du selbst hast vorhin den Vorschlag gemacht. Ich möchte meinen Traum verwirklichen und mit der Aphrodite die Welt umsegeln.«

»Sag mir wann, und ich sage alles ab, was ich an Projekten auf der Platte habe.«

Er lachte. »Das ist typisch für dich. Kein ‚Bist du wahnsinnig, wie soll das mit der Krankheit funktionieren?‘. Stattdessen bietest du an, mich zu begleiten.«

»Du bist derjenige, der ständig an alles denkt. Ich weiß, dass du es sorgfältig planst. Und dass ich mitkomme – hey, wer ist der Abenteurer von uns beiden?«

»Deine Mama. In dir steckt ein Teil von mir.«

»Stimmt, dieses lästige Verantwortungsgefühl.«

»Genau. Und deshalb brauche ich dich hier. Du würdest nach ein paar Tagen auf einem Boot mitten im Meer doch durchdrehen.«

Er kannte sie. Selbst auf einer Insel neigte sie dazu, einen Koller zu bekommen, sobald der Durchmesser ein gewisses Minimum unterschritt.

»Wofür brauchst du mich hier?«

»Luke und Mathilda. Dem einen fehlen Charakter und Kompetenz, um das Unternehmen zu führen, die andere verfügt über die Kreativität, jedoch fehlen ihr Führungsqualitäten und der Wille, Verantwortung zu übernehmen.«

Bevor Stefanie protestieren konnte, hob er die Hand. »Ich weiß. Ich kenne deine Meinung dazu und ich respektiere sie. Es geht auch gar nicht darum, dass du in meine Fußstapfen trittst. Aber ich brauche jemanden, dem ich vertraue und der die notwendige Fachkompetenz hat, damit ich den Kurs des Unternehmens für die Zukunft setzen kann, jemanden, der nicht eigene Interessen verfolgt, sondern nur meine, und der loyal und absolut ehrlich zu mir ist.«

»Jetzt weiß ich, woher dein Erfolg kommt. Du schaffst es, die Schwachstellen deines Gesprächspartners so geschickt auszunutzen, dass er dir gegen seinen eigenen Willen zustimmt.«

»Ich denke, es ist für dich ein spannendes Projekt, mit all den Herausforderungen, die du so magst. Außerdem wäre es eine Referenz für den Mittelstand in Deutschland.«

»Du möchtest Office 365 bei Aegir einführen?«

»Jeder, der an eine Weltumsegelung denkt, glaubt, das Boot wäre ständig auf Fahrt. In Wahrheit wird es viel in den Häfen der Welt liegen, die meistens mit WLAN ausgestattet sind. Es gibt auch eine Satellitenanlage an Bord. Das bietet Luke und Mathilda die Sicherheit, dass sie jederzeit auf meinen Rat zurückgreifen können, und ich kann lernen loszulassen, ohne sofort die gesamte Kontrolle abzugeben.«

Nachdenklich fing Stefanie an, den Nachtisch zu löffeln. Sie brauchte Zucker. Er ließ ihr Zeit und drängte sie nicht zu einer Entscheidung.

»Wissen die beiden, dass du das Projekt planst?«

»Nein. Die Diagnose kennen sie auch nicht. Selbst Olivia weiß bisher nichts davon. Du bist die Erste, der ich es erzähle.«

»Wie willst du ihnen das Projekt verkaufen?«

»Das ist dein Job. Tilda wird begeistert sein. Sie war es schließlich, die mit der Idee ankam. Luke hingegen ...« Er seufzte abgrundtief. »Ich weiß, dass ihr zwei nie miteinander zurechtgekommen seid. In der Position als kaufmännischer Geschäftsführer ist er ein wenig gereift, aber es wird nicht leicht für dich werden, ihn zu überzeugen. Du musst es wohl auf dich zukommen lassen. Dafür, dass du unseren Chief Information Officer auf deine Seite ziehen kannst, stehen die Chancen fifty-fifty. Ressourcen freizubekommen für die Produktion, die IT-Kosten bei der anstehenden Ablösung der Software zu konsolidieren – das spricht für Office 365. Die Bedenken bezüglich Sicherheit und Datenschutz, die Kontrolle über die Daten abzugeben, das wird Widerstand auslösen, und nicht nur bei ihm. Der CIO wird es dir keinesfalls leicht machen.«

»Wie hieß er noch gleich?«

»David Anderson, 42 Jahre, kein Studium, nur eine Ausbildung zum Fachinformatiker. Den kannst du mit nichts beeindrucken, außer mit Leistung.«

»Warum hast du ihn auf so eine einflussreiche Position gesetzt?«

»Weil er Visionen hat, Projekte umsetzt, statt zu reden, und die Mitarbeiter begeistern kann. Unseren Erfolg der letzten Jahre verdanken wir zum größten Teil ihm.«

»Also brauche ich ihn auf meiner Seite?«

»Ja.«

»Was ist mit dir?«

»Das ist der Deal: Ich starte das Projekt und gebe die Bedingungen vor, entscheiden müssen die anderen. Schaffst du ein Go, kann ich mir den Traum erfüllen.«

»Na toll, das setzt mich noch weiter unter Druck.«

»Du schwärmst mir ständig von Office 365 vor.«

»Ich bin ja auch davon begeistert. Ein Unternehmen muss aber so weit sein, diesen Schritt zu gehen. Das ist ein Veränderungsprozess.«

»Weshalb ich jemanden mit dem Projekt beauftrage, der das technische Know-how mitbringt. Und das Fingerspitzengefühl für die Herausforderungen, die vor uns als Firmenleitung und den Mitarbeitern liegen.«

»Du kennst meine Tagessätze?«

»Ich bin dein Vater.«

»Oh nein. Keine Sonderbehandlung.«

»Ja, ich weiß, was du nimmst. Zuerst musst du die Geschäftsleitung überzeugen. Dann sprechen wir über die beste Vorgehensweise, und danach möchte ich von dir eine Abschätzung des Aufwands.«

»Deal.«


Er wartete auf sie, solange der Kellner ihr in den Mantel half. Das Trinkgeld war großzügig bemessen wie immer bei Martin. Sie hatte den Mund gehalten über die Bemerkungen des Personals und seine Betitelung als Knacker. Vielleicht lernte der Kellner etwas aus dem Abend.

Draußen fing es an zu nieseln. Martin spannte einen Regenschirm auf und Stefanie hakte sich bei ihm unter.

»Wo steht dein Auto?«

»In der nächsten Seitenstraße«, antwortete sie.

»Dass du da noch Platz gefunden hast ...«

»Ich sag dir immer, leg dir einen Kleinen zu.«

Sie erreichten den grasgrünen Corsa.

»Komm her. Lass dich umarmen.«

Die Arme um seinen Oberkörper geschlungen drückte sie ihn an sich, zog tief den Geruch seines Aftershaves ein und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Du schickst mir eine E-Mail mit den Terminen?«, hakte er nach.

»Ja klar. Ein urdeutsches Familienunternehmen in die Zukunft zu bringen, das lasse ich mir doch nicht entgehen.« Tapfer lächelte sie ihm zu und stieg hastig ins Auto, bevor die Emotionen sie übermannten.

Im Rückspiegel sah sie seine Gestalt im Regen stehen, bis sie an der Ecke abbiegen musste.

2

Workshop

Sie glitt von der Kobra in den stehenden Hund und zurück zum Krieger. Schweiß rann ihren Körper hinunter, während sie sich auf ihren Atem konzentrierte und auf die saubere Ausführung achtete. Immer ein Stück weiter dehnen, dabei die Kraft der Muskeln für die Haltung nutzen. Die Yogalehrerin ging über zu Bodenübungen – die Brücke, die Kerze, den Kopfstand, zurück zum liegenden Kind und in die Schlussmeditation.

»Du hast es dir aber heute gegeben, Stefanie. Was hast du zu verarbeiten?«

Stefanie rubbelte sich die Haare trocken. Mit Isabel war sie schon seit ihrem Umzug nach Deutschland befreundet. Damals hatte sie in der Nachbarschaft der Großeltern gewohnt.

Isabel war der einzige Mensch in Stefanies Leben, der alles von ihr wusste und selbst ihre dunkelsten Geheimnisse kannte. Sie trug ihr Haar kurz geschnitten und tönte es zurzeit rot. Das gab ihrem Äußeren ein schalkhaftes Aussehen, das durch ihre Knubbelnase und die leuchtend hellblauen Augen noch verstärkt wurde. Meist funkelten diese Augen vergnügt, so als führte Isabel ständig etwas im Schilde, doch der Eindruck trog. Sie hatte ein sehr feines Gespür für die Probleme der Menschen.

Jeden Mittwoch gingen die beiden Frauen gemeinsam zum Yoga und danach indisch essen. Das war eine Hommage an ihre gemeinsame Reise durch Indien, die sie nach dem Abitur unternommen hatten – zum Leidwesen von Isabels Eltern, denn auf dieser Reise hatte sie ihre wahre Berufung erkannt. Zwar hatte sie sich anfangs noch dem Willen der Eltern gebeugt und Betriebswirtschaft studiert, doch kurz darauf machte Isabel ihren Traum wahr und begann die Ausbildung zur Heilpraktikerin. Inzwischen besaß sie eine gut laufende Praxis, war verheiratet und Mutter von vier Mädchen. Ihr Mittwoch mit Stefanie war eine heilige Einrichtung und Isabels Bedingung gewesen, bevor sie ihrem Georg nach zwei gemeinsamen Kindern endlich das Jawort gab. Auch wenn eine von ihnen ab und an den Termin absagen musste, trafen sie sich doch mindestens zweimal im Monat, trotz Beruf und Familie, und oft sogar häufiger.

»Martin.«

»Du steigst in das Unternehmen ein?« Isabel wusste, dass Stefanies Papa ihr in regelmäßigen Abständen dieses Angebot unterbreitete.

»Nein, aber er hat mich breitgeschlagen, Office 365 bei Aegir einzuführen.«

»Und jetzt bereust du die Entscheidung.«

»Ja und nein.«

»Wie hat er dich überhaupt dazu bekommen?«

Stefanie seufzte tief, sah sich um, ob eine der anderen Kursteilnehmerinnen in der Nähe stand.

»Er hat Krebs. Die Ärzte geben ihm noch ein oder zwei Jahre.«

Isabel schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein! Stefanie, es tut mir so leid. Sag mir, wie ich euch helfen kann.«

»Ich weiß, dass ich auf dich zählen kann.«

»Denkst du, dass er bereit ist, auch andere Wege der Therapie in Erwägung zu ziehen?«

Sie seufzte. »Nein, er ist völlig in der Schulmedizin verwurzelt und hält Heilpraktiker für Scharlatane.«

Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach. Martin und Isabel waren sich nur selten begegnet. Beide respektierten die Rolle, die der jeweils andere in Stefanies Leben spielte, doch andere Gemeinsamkeiten gab es nicht.

»Und warum ist es ihm jetzt so wichtig, Office 365 in das Unternehmen einzuführen? Sollte er sich nicht vielmehr Gedanken um die Nachfolge machen oder sich auf die Zeit konzentrieren, die ihm noch zur Verfügung steht?«

»Genau darum geht es. Du weißt, dass er immer den Traum hatte, mit seinem Boot die Welt zu umsegeln?«

»Ich erinnere mich. Also möchte er, dass du die Cloudlösung in das Unternehmen einführst, sodass er von unterwegs auf die Daten der Firma zugreifen kann.«

»Genau.«

»Was sagt Luke dazu?«

»Die Familie weiß von nichts.«

»Wovon? Dass er stirbt oder dass du das Projekt durchführen sollst?«

»Weder noch.« Sie interpretierte Isabels Blick und kam ihr zuvor. »Er ist ein erwachsener Mann, der ein Familienunternehmen führt, und er muss selber seine Entscheidungen treffen.«

»So wie du.«

»Ja, so wie ich.«

»Luke wird dir das Leben zur Hölle machen.«

»Es ist 20 Jahre her, dass wir uns zuletzt begegnet sind. Martin sagt, er wäre gereift. Immerhin ist er der kaufmännische Geschäftsführer. Er würde das Risiko nicht eingehen, wenn er nicht wüsste, dass er der Aufgabe gewachsen ist.«

»Es sei denn, er hat eine Alternative, auf die er zurückgreifen kann. Leitet er das Unternehmen allein?«

»Nein, es gibt noch einen Externen, der für Technik und Produktentwicklung verantwortlich ist.«

»Siehst du!«

Stöhnend verbarg Stefanie den Kopf zwischen den Händen. »Warum mach ich das bloß?«

»Weil er weiß, dass du ihn liebst und er deine Gefühle schamlos ausnutzen kann.«

»Ja. Und ich verliere ihn wie alle Menschen, die ich zuvor in meinem Leben geliebt habe.«

»Hey, du hast doch mich.«

Sie ließ ein schwaches Lächeln kurz aufblitzen, obwohl ihr zum Heulen zumute war.

»Ich finde, wir müssen dich aufbauen. Lass mich kurz eine Nachricht an Georg schicken, was er für Samstag plant.«

»Nein, das will ich nicht. Ich weiß, dass euch das Wochenende mit der Familie heilig ist.«

»Du gehörst doch dazu.«

»Klar. Hörst du das Knurren? Es kommt von meinem Magen, also lass uns essen gehen.« Stefanie wollte einfach für einen Moment ihren traurigen Gedanken entfliehen. Außerdem half essen immer, wenn sie Kummer hatte.


Sie hatte sich für einen klassischen, dunkelblauen Hosenanzug, eine weiße Bluse und Schuhe mit halbhohem Absatz entschieden. Ihre Haare waren hochgesteckt. Kalter Schweiß klebte an ihren Händen, als sie versuchte, den Laptop an den Beamer anzuschließen.

»Nehmen Sie am besten den HDMI-Anschluss.«

»Würde ich, aber ich habe den Anschlussstecker vergessen.«

Sie atmete tief durch und setzte ein Lächeln auf, obwohl sie sich schwarzärgerte, weil sie tags zuvor nicht überprüft hatte, ob wirklich alles eingepackt war.

Sie ging auf den Mann zu, der in der Tür stand, und streckte die Hand aus. »Stefanie Mansfield.«

»David Anderson.«

Na klasse. Wunderbar eingeführt. Ein kurzer, kräftiger Händedruck, dann durchmaß er den Raum in wenigen Schritten, öffnete die Klappe am Präsentationspult und zog ein Anschlusskabel hervor. »Das müsste passen.«

»Danke.«

»Keine Ursache, Sie sind nicht die Erste ohne Adapter.«

Was er davon hielt, las sie deutlich in seinem Gesichtsausdruck. Ohne sie weiter zu beachten, setzte er sich auf einen der Stühle, klappte seinen Laptop auf und fing an zu tippen.

Keine Schwäche zeigen. Der Beamer blieb dunkel. Suchend sah sie sich nach einer Fernbedienung um, die es auf jeden Fall geben musste, denn das Teil hing unter der Decke. Sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als Anderson erneut um Hilfe zu bitten.

»Stefanie!«

Mathilda erschien auf der Bildfläche.

»Ich wusste ja gar nicht, dass dein Consulting-Schwerpunkt bei Office 365 liegt!«

Stefanies Halbschwester hatte einen dunkelblauen Rock, eine weiße Bluse und eine Strickjacke an und trug ein Seidentuch um den Hals. Sie kam auf sie zu, umarmte sie herzlich und küsste sie auf beide Wangen. Stefanie merkte, wie der spöttische Blick des CIOs auf ihnen ruhte.

»Du siehst klasse aus. Wie viele Kilo hast du abgenommen? Zehn?«

»So in etwa.«

»Kaum zu glauben! Mit was für einer Diät? Ich glaub, ein paar Kilo weniger, das könnte mir auch nicht schaden.«

»Unsinn! Deine Figur ist top.« Sie wusste, welche Komplimente Tilda gern hörte, besonders, seit sie vor knapp vier Jahren die vierzig überschritten hatte und mehr denn je auf ihre Figur achtete.

»Danke, danke. – Du bist schon hier, David? Sonst kommst du doch zu Besprechungen immer auf die letzte Sekunde.«

Der Angesprochene kam herüber und wurde von ihr genauso herzlich umarmt. Irritiert von Mathildas Verhalten gegenüber einem Angestellten ging Stefanie erneut auf die Suche nach dem Gerät, um den Beamer anzuschalten.

»Wenn Sie die Fernbedienung suchen, die liegt auf der Fensterbank.«

»Danke. Ich wollte sowieso abwarten, bis alle da sind.«

»Natürlich. Selbstverständlich.« Seine Stimme hatte einen spöttischen Unterton.

»Ja, unser David ist so ein hilfsbereiter Mensch. Wie findest du eigentlich die Werbekampagne zu der High-Performance-Kollektion?«

»Hervorragend wie alles, in das du dein Herzblut steckst.«

Flirteten die beiden etwa? Wie lange war Mathilda jetzt verheiratet? Sie rechnete nach und kam auf 19 Jahre. Okay, das ging sie letztlich nichts an, allerdings spielten offizielle und inoffizielle Stellungen in einem Unternehmen schon eine Rolle, wenn ein Veränderungsprozess auf alle zukam. Die Frage war vor allem, wer von den zweien wen beeinflusste.

Sie hörte die Stimmen von Martin und Luke und ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Sie hatte die letzte Begegnung mit ihrem Halbbruder trotz der langen Zeit, die sie zurücklag, noch lebhaft vor Augen. Auf Martins Geburtstagsfeier hatte er ihr seinen Hass entgegengeschleudert. Sie hatte versucht, alles an sich abprallen zu lassen, bis zu dem Punkt, als er handgreiflich geworden war. Da hatte sie ihm eine verpasst. Das Ergebnis war eine gebrochene Nase gewesen. Martin war geschockt gewesen, Olivia entsetzt, Mathilda hatte gelacht, aber die Geburtstagsfeier zum Fünfzigsten mit Familie, Freunden, Geschäftspartnern und Mitarbeitern war damals definitiv geplatzt. Nein, sie hatte sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.

Als Luke hereinkam, würdigte er sie keines Blickes und setzte sich auf einen der Plätze, die am weitesten von ihr entfernt waren, streckte das Kinn vor und verschränkte die Arme vor der Brust. Martin schloss die Tür hinter sich und nickte ihr zum Gruß kurz zu.

»Danke, dass ihr, ... Sie«, sie schenkte Anderson ein professionelles Lächeln, »sich heute die Zeit für Office 365 nehmen. Der Schwerpunkt meiner heutigen Präsentation liegt darauf, das Produkt vorzustellen, die Möglichkeiten aufzuzeigen und die offenen Fragen zu klären.«

Sie aktivierte den Beamer und begann mit dem Einstieg in das Konzept, das hinter dem Microsoft-Service steckte – die Serverprodukte, die zur Verfügung standen, die entsprechenden Clients, die zum Einsatz kamen. Je mehr sie sprach, desto mehr Sicherheit gewann sie zurück. Sie verdrängte die feindselige Atmosphäre, die ihr von zweien der Teilnehmer entgegenschlug, aus ihren Gedanken. Nachdem sie das Grundprinzip erläutert und ein wenig die technischen Herausforderungen dargestellt hatte, die auf ein Unternehmen durch die Nutzung des Services zukamen, leitete sie über zu ihrem Lieblingsteil der Präsentation, der Demonstration der Cloudlösung. Sie hatte einen Test-Account angelegt und diesen mit Inhalten gefüllt. Die Farben spiegelten das Unternehmen wider. Bilder aus ihrem Bestand für die Demo, Profilbilder für die Testbenutzer und die Verwendung des Logos erzeugten ein reales Einsatzszenario. Insgesamt spielte sie drei Verwendungsmöglichkeiten für die Software durch: die erste aus Sicht der Marketingleiterin, die für die Werbekampagne eines neuen Produktes und die Planung des Messeauftritts mit einer externen Agentur zusammenarbeitete. Als Nächstes zeigte sie die Kommunikationsmöglichkeiten auf, die aus unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnissen von Mitarbeitern und Abteilungen entstanden. Ihr Schwerpunkt lag bei den Vertrieblern, die häufig unterwegs waren, und der Kommunikation über verschiedene Zeitzonen hinweg mit dem CEO, der über die aktuellen Ereignisse und die finanzielle Situation informiert sein wollte. Bei diesem Beispiel hörte dann sogar Anderson auf, ständig auf der Tastatur seines Laptops herumzutippen, was Stefanie als persönlichen Erfolg verbuchte. Zuletzt zeigte sie für den Administrator nützliche Werkzeuge auf, mit Regeln für den Informationsaustausch, Multifaktor-Authentifizierung, Delegation von Aufgaben mit den entsprechenden Administrationsrollen sowie Standard-Reports.

Mit leuchtenden Augen sah sich Mathilda in der Runde um. »Meine Begeisterung für Office 365 ist jetzt noch gestiegen. Wann führen wir es ein?«

Stefanie hätte sie am liebsten umarmt.

Martin zeigte ein amüsiertes Lächeln. Luke warf seiner Schwester bitterböse Blicke zu, während Anderson mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm seines Laptops starrte.

»Mir gefällt der Gedanke, die Kommunikationsstrukturen zu verflachen. Außerdem denke ich, dass wir eine abteilungsübergreifende Interaktion zwischen den Mitarbeitern aktivieren können«, gab Martin als weitere Anregung dazu. »Früher geschah das durch unser Familienfest oder organisierte Sportturniere, ist aber irgendwann ganz verloren gegangen.«

»Warum machen wir nicht mal wieder so etwas?«, hakte Tilda nach.

»Ich glaube, persönliche Beziehungen sind hervorragend dazu geeignet, Mitarbeiter an ein Unternehmen zu binden«, führte Anderson Martins Gedankengang weiter. »Deshalb ist das Profil auch so interessant. Hier können sich Kollegen finden, die privat dieselben Interessen verfolgen. Mit Online-Gruppen zu den Interessensgebieten organisieren sie dann vielleicht eigene Events, die den gesamten Zusammenhalt in der Firma stärken oder die Marke in den Mittelpunkt stellen, sofern es um sportliche Aktivitäten geht.«

»Was die Produktivität herabsetzt, weil sie während der Arbeitszeit damit beschäftigt sind, private Interessen zu verfolgen.« Ein herausfordernder Blick begleitete Lukes Kommentar.

»Sicherlich etwas, das man im Auge behalten muss«, stimmte Stefanie ihm zu.

Überrascht sah Anderson sie an und erwiderte: »Es ist ein valider Punkt, jedoch rangiert er für mich weit hinten. Du kannst auch die Gespräche und den Tratsch, verlängerte Pausen, Kaffee trinken und alles, was noch Zeit frisst, nicht kontrollieren. Motivierte Mitarbeiter, die sich mit dem Unternehmen identifizieren, die Ziele kennen, sie akzeptieren und an dem Erfolg arbeiten, sind produktiv. Der Ansatz, den Frau Mansfield vorstellt, ist interessant und kann dazu beitragen, ein positives Arbeitsumfeld zu schaffen.«

Sie hatte nicht erwartet, ausgerechnet von seiner Seite Rückendeckung zu bekommen, doch als er sie nun direkt ansah, erkannte sie, dass seine Worte nur Teil eines gut durchdachten Schachzugs waren. Die hellbraunen Augen, die zum Rand der Iris einen dunkleren Ton bekamen, fixierten sie. Mit der Hand fuhr er sich kurz durch das dunkelbraune, gelockte Haar, das er recht lang trug. Trotz seiner – im Gegensatz zu ihrer – lässigen Kleidung strahlte er Souveränität aus. »Der Aspekt Sicherheit, Datenschutz und Patriot Act fehlten mir bei der Präsentation völlig«, fügte er hinzu.

»Das ist korrekt.« Bestätigen, mehr nicht. Sollte er seine Befürchtungen doch formulieren, sodass sie konkret auf die einzelnen Punkte eingehen konnte.

»Ist das alles, was Sie dazu sagen wollen?«

»Nein. Stellen Sie mir die Fragen, die Sie beschäftigen, und ich versuche, sie zu beantworten. Allerdings bin ich Beraterin, keine Rechtsanwältin.«

»Fangen wir mit der Sicherheit an. Wie sind unsere E-Mails vor Zugriffen von außen geschützt?«

»In der Präsentation zeigte ich die drei Teilbereiche auf. Bei der eingesetzten Hard- und Software liegt der Fokus auf aktuellen, sauber gepatchten Systemen. Die Infrastruktur wird so aufgebaut, wie es die Normen vorsehen, sonst hätten die Rechenzentren nie die vollständige Zertifizierung, also sowohl international anerkannte als auch speziell europäische, erhalten. Firewalls, Spamfilter, Antivirensoftware, Zertifikate, verschlüsselte Verbindungen, regelmäßige Updates und das Überwachen der Aktivitäten – all das gehört zum Konzept. Weiterhin geht Microsoft schlicht und ergreifend davon aus, dass jedes System gehackt werden kann. Darum liegt der zweite Schwerpunkt des Sicherheitskonzepts darauf, zu verhindern, dass bei einem Dateneinbruch alles korrumpiert wird: zeitgesteuerte Zugriffe, automatisches Löschen der Administrationsaccounts, Null-Berechtigungsstufen, eingeschränkte Rechte auf das, was der Administrator pflegen möchte, zuletzt die Werkzeuge, die der Kunde erhält und die er einsetzen kann, um seine Sicherheit zu erhöhen; Rechtevergabe, Verschlüsselung, Reports zur Überwachung und die Möglichkeit eines eigenen Keymanagements

»Was ist mit dem Datenschutz? In dem Moment, wo ich einen Dritten damit beauftrage, die Daten zu lagern oder zu versenden, muss ich gewährleisten, dass diese die gesetzlichen Vorgaben einhalten.«

»Korrekt. Das betrifft die persönlichen Daten der Mitarbeiter. Grundsätzlich bleiben die Verantwortung und die Informationen bei Ihnen. Microsoft verdient das Geld mit der Bereitstellung des Services und nicht mit dem Sammeln von Inhaltsdaten. Es ist sinnvoll zu prüfen, wo sensitive Dateien liegen, wie sie im Unternehmen zirkulieren und ob sie weiterhin außerhalb der Lösung gelagert werden. Beispiel: Die Personalabteilung hat eine eigene Software für die Verwaltung der Mitarbeiterdaten. Warum diese in die Cloud auslagern? In Anbetracht der Größenordnung der umzustellenden Mitarbeiter ist ein Hybrid-Szenario für die Übergangszeit sowieso die sinnvollste Lösung. Vorausgesetzt, Sie entscheiden sich für Office 365. Weiterhin empfehle ich einen weiterreichenden Test mit Mitarbeitern aus verschiedenen Abteilungen. Technikaffine, die gerne neue Möglichkeiten ausprobieren, sogenannte Early Adopters. Hier finden wir am leichtesten heraus, was kritische Daten sind, wo wir auf Grenzen stoßen und ob am Ende ein Einsatz infrage kommt. Letztlich muss auch Aegir fit für die Cloud sein.«

»Fit?«

Das Gespräch fand nur zwischen ihnen beiden statt. Luke saß weiterhin mit verschränkten Armen da, während Mathilda und Martin interessiert dem Austausch folgten.

»Sind Sie bereit, regelmäßig Funktionserweiterungen für die Software zu erhalten? Sie müssen die Sicherheitsrichtlinien einhalten. Der Dienst kann konfiguriert, aber nicht auf individuelle Bedürfnisse angepasst werden. Es findet eine Standardisierung im Unternehmen statt, was die Unterstützung der Mitarbeiter bei Verwendung der Produkte vereinfacht, alles Punkte, die das Unternehmen akzeptieren muss.«

»Was ist mit dem Patriot Act, wenn wir uns verpflichten, einem amerikanischen Unternehmen den Zugriff auf Daten von Kunden zu erlauben, ohne diese im Vorfeld zu informieren?«

»Sie meinen den rechtlichen Akt oder den Zugriff der NSA, wie er seit der Snowden-Affäre bekannt ist?«

»Letzteres können wir außen vor lassen, da hier alle Daten gesammelt wurden, unabhängig davon, wo sie lagern. Der Geheimdienst hat dabei fleißig von den jeweiligen deutschen Behörden Unterstützung erhalten.«

Es gefiel ihr, wie analytisch er an das Thema heranging, durchaus realistisch und ohne Emotionen. Das rang ihr widerwillig Bewunderung ab.

»Der Patriot Act bezieht die Berechtigung aus der Annahme, dass jemand in terroristische Aktivitäten verwickelt sein kann. Das unterliegt rechtlichen Schritten. Wenn Sie den Transparency Report von Microsoft ansehen, können Sie erkennen, wie oft dieser Fall in den verschiedenen Ländern eingetreten ist. Häufiger als die Anfragen aus diesem Grund sind in Deutschland die Anfragen der Steuerbehörden. Jeder kritische Fall wird von den Rechtsanwälten geprüft, da die Daten dem Kunden gehören.«

»Was für technische Voraussetzungen sind bei einer Verwendung des Service notwendig?«

»Serverseitig oder vom Client aus betrachtet?«

»Beides.«

Sie holte das Surface aus dem Standby-Modus. »Wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse zukommen lassen, schicke ich Ihnen den Link. Das ist besser. So vergesse ich nichts.«

»d.anderson@aegir.de.«

»Versendet.« Ihr Lächeln prallte an ihm ab. Was für ein Blödmann. »Weitere Fragen?«

»Von meiner Seite aus vorerst nicht.«

Sie sah die anderen an, wagte sogar einen kurzen Blick zu Luke, der sie weiterhin, die Arme vor der Brust gekreuzt, finster betrachtete. Mathilda hingegen strahlte und zwinkerte ihr zu. Martin nickte bestätigend.

»Okay, dann bedanke ich mich für ihre Zeit und die Aufmerksamkeit und würde mich freuen, eine kurze Rückmeldung zu erhalten, wie Sie sich entscheiden.«

»Die bekommst du, Stefanie. Danke, dass du uns so kurzfristig Platz in deinem Terminkalender eingeräumt hast«, sagte Martin mit einem aufmunternden Blick.

Sie packte das Surface in die Tasche, verabschiedete sich und verließ den Raum. Draußen atmete sie tief durch. Die Feindseligkeiten von Luke, obwohl in keinem Wort geäußert, setzten ihr mehr zu, als nötig gewesen wäre. Warum konnte sie nicht darüberstehen? Verärgert über ihr eigenes Verhalten, das ihm erst einen Platz in ihrem Leben eingeräumt hatte, ging sie den Flur hinunter, bog um die Ecke und sah das Schild für die Toiletten. Wie praktisch, dann brauchte sie auf dem Rückweg nicht noch einmal anzuhalten.

Für ein Produktionsunternehmen mit 150 Jahren Firmengeschichte auf dem Buckel überraschte sie das Ambiente. Aufmerksam betrachtete sie ihr Spiegelbild. Überall sah sie die Anspannung der letzten Stunden. Sie probierte ein Lächeln und es geriet zu einer Fratze, was so lustig aussah, dass sie tatsächlich lachen musste. Da war sie wieder, die normale Stefanie, der fröhliche Mensch, der das Leben so nahm, wie es kam. Sie wollte die Tür aufdrücken und blieb wie angewurzelt stehen, als sie Stimmen im Flur vernahm – Tilda und Luke.

»Schläfst du mit ihm?«

»Spinnst du total? Aber selbst wenn, ginge es dich nichts an.«

»Wieso ist er dann auf einmal für das Projekt?«

»Ach so, daher weht der Wind. Weil er zugehört hat, im Gegensatz zu dir?«

»Bullshit, was die darstellt. Das sind alles Funktionen, die wir hervorragend in unserer eigenen Infrastruktur aufbauen können.«

»Ach ja? Und woher kommen das Geld, das Know-how und vor allem die Zeit für die Pflege der Systeme? Außerdem hat die einen Namen: Stefanie.«

»Ich möchte zu gerne wissen, wie sie Papa dazu gekriegt hat, dass er ihr den Auftrag gibt.«

»Erstens hat sie noch keinen Auftrag. Das war lediglich ein Vertriebstermin. Zweitens dachte ich, du wärest erwachsen geworden und hättest dein infantiles Verhalten abgelegt.«

»Eines Tages, wenn du aus dem Job fliegst, weil die sich das Unternehmen unter den Nagel reißt, verstehst du, warum ich gegen sie bin.«

»Blödsinn. Glaubst du ernsthaft, Papa hätte ihr nicht angeboten, bei uns zu arbeiten? Sie ist eine hervorragende Unternehmensberaterin und kann sich die Projekte aussuchen. Statt Geld anzuhäufen, gibt sie es aus und lebt. Ihre kleine Eigentumswohnung ist schnuckelig und abbezahlt. Sie muss keine Mitarbeiter bezahlen, sondern vergibt das, was sie nicht selber kann, an externe Partner.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich war neugierig und habe Erkundigungen über sie eingeholt. Wenn ich ehrlich bin, beneide ich sie um das freie und unabhängige Leben, das sie führt.«

»Dann steig doch aus dem Unternehmen aus!«

»Tja, leider liebe ich den Luxus und brauche das Geld dafür. Aber wenn Stefanie all diese Eigenschaften von ihrer Mutter hat, kann ich verstehen, weshalb Papa mit ihr eine Affäre hatte. Es muss so erfrischend anders sein – ein Partner, der keine Erwartungen an dich stellt und dem es egal ist, was für ein Vermögen hinter dir steht.«

»Sabrina liebt mich!«

»Wer spricht denn von Sabrina?«

Im letzten Moment huschte Stefanie zurück in den Waschraum, in eine Kabine. Sie hörte das Klappern der Pumps auf den Fliesen, drückte die Spülung und trat aus der Kabine. Ihre Halbschwester stand vor dem Spiegel.

»Ach hallo, du bist ja noch hier. Ich dachte, du würdest direkt die Flucht antreten, nachdem alle so überfreundlich zu dir waren. Das meine ich übrigens ironisch.«

»Ja, ich weiß.«

Sie wusch sich die Hände. Mathilda rollerte mit einem Kühlgel ihre Augenpartie ab. In dem Licht wirkte sie älter als zuvor in der Besprechung.

»Ich wollte mich noch bei dir für deine Unterstützung bedanken.«

Tilda winkte ab. »Keine Ursache. Ich liege Papa seit langer Zeit damit in den Ohren. David ist ein hervorragender Mitarbeiter, aber wenn du mal fix eine Idee hast und etwas umsetzen möchtest, kann er total anstrengend sein. Es hat drei Tage gedauert, bis mein letzter Praktikant auf die Dateien zugreifen konnte. Mit Office 365 teile ich die Seite mit ihm und zack – ist er bereit loszulegen, ohne dass er in unserem Unternehmen angelegt ist.«

»Und genau darin liegen die Befürchtungen von eurem CIO, nämlich dass er die Kontrolle über die Infrastruktur und die Daten verliert, gleichzeitig aber derjenige ist, der im Zweifelsfall dafür geradesteht.«

»Dir ist klar, dass seine charmante Art und das ansehnliche Äußere täuschen? Darunter steckt ein mit allen Wassern gewaschener Kerl, der exakte Vorstellungen hat, die er durchzusetzen weiß. Er ist ein knallharter Verhandlungspartner und leider gegen weibliche Reize völlig immun, was daran liegt, dass seine derzeitige Freundin ein Vollblutweib ist. Wenn einer das Projekt kippt, dann er.«

»Ich befürchte, Luke ist das größere Problem.«

»Für dich? Ja. Für Office 365? Nein. Ihn interessiert das gesamte Business nicht. Frage ihn mal, ob er Alwaysme kennt! Nein, denn ihm ist es egal, dass es unsere derzeit erfolgreichste Produktlinie ist. Hauptsache, die Kohle fließt, er kann bei den Verbandsveranstaltungen den großen Macker markieren und braucht keinen Finger krumm zu machen.«

»Er ist CEO.«

»Ja, auf dem Papier, aber in Wahrheit führt nach Papa doch David das Unternehmen. Der einzige Grund, weshalb Papa weiterhin zur Arbeit fährt, anstatt das Rentnerleben zu genießen, ist, dass er Anderson die Verantwortung für die Firma übergeben möchte und ihm das gleichzeitig widerstrebt.«

»Was hindert ihn daran?«

»Das hört sich jetzt blöd an, aber er gehört nicht zur Familie.«

»Was ist mit Peter?«

Mathilda seufzte. »Vergiss es. Der ist Künstler. Ich verdiene das Geld für unser Leben.«

Ein verschmitztes Grinsen wanderte über Mathildas Gesicht. »Du bist diejenige, in die er seine Hoffnung setzt. Ist dir das klar?«

Stefanie musste lachen, so absurd war die Vorstellung, dass sie sich jemals so einen Klotz ans Bein binden würde. Sie wollte frei leben und kein Sklave der Verantwortung sein.

Mathilda tippte ihr auf die Nase. »Familie, vergessen? Du bist Single. So, jetzt hoffe ich, dass sich Luke vom Acker gemacht hat. Noch so ein Gespräch mit ihm ertrage ich nämlich nicht.«

3

Auftrag

Es war eine Umstellung für Stefanie gewesen, von zu Hause aus zu arbeiten. Am Anfang ihrer Selbstständigkeit hatte sie einen Raum in einer Bürogemeinschaft angemietet, doch nach dem Kauf der Eigentumswohnung in Hamburg Wandsbek brauchte sie das Geld für die Finanzierung. Da sie für Projekte meist über einen längeren Zeitraum im jeweiligen Unternehmen einen Arbeitsplatz zugewiesen bekam, stellte ein Homeoffice auch die sinnvollste Variante für sie dar. Statt auf die gemeinsamen Ressourcen einer Bürogemeinschaft zurückzugreifen, bezahlte sie eine virtuelle Assistentin für die Büroarbeiten und die Buchhaltung.

Der Anruf von Martin kam am späten Nachmittag.

»Du bekommst den Auftrag.«

Sie lehnte sich zurück, unsicher, ob sie sich über das lukrative Projekt, das sie die nächsten Wochen beschäftigen würde, freuen sollte oder nicht.

»Luke ist dagegen«, stellte sie sachlich fest, mit einer Spur von Hoffnung, dass sie sich täuschte.

»Selbstverständlich. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Du konntest Anderson überzeugen, und da er letztlich das Budget zur Verfügung stellt, ist seine Meinung ausschlaggebend.«

»Interessant. Du sagst, dass du Office 365 ins Unternehmen einführen möchtest und er finanziert es?«

»Es ist meine Firma.«

»Martin, du weißt, dass es eine Umstellung für die Mitarbeiter wird? Außerdem müssen wir erst prüfen, vor welchen Herausforderungen wir bei der Infrastruktur stehen, was ein realistischer Zeitrahmen für das Projekt ist und ob ihr als Unternehmen dafür bereit seid.«

»Ich meine, das ist bei deinem Vortrag rübergekommen, genauso, wie die Vision davon, wie das Arbeiten bei uns in der Zukunft aussehen kann. Letzteres hat David am meisten zum Nachdenken gebracht.«

»Wenn er es finanziert, wird er auch für mich der Ansprechpartner in eurem Hause sein?«

»Klar, und ich schätze, ihr beide werdet prima zurechtkommen.«

Das bezweifelte Stefanie nach dem ersten Kontakt und dem Gespräch mit Mathilda, behielt den Gedanken aber für sich. Eine ihrer größten Begabungen war ihre Anpassungsfähigkeit. Außerdem war sie geschult durch die vielen Umzüge und das Leben in anderen Ländern und Kulturen. Sie hatte gelernt zu erkennen, welche Art der Kommunikation jemand bevorzugte. Indem sie auf dessen Ebene wechselte, gelang es ihr jedes Mal aufs Neue, eine produktive Arbeitsbeziehung aufzubauen. Daher kam sie selbst mit Menschen, die Vorbehalte ihr gegenüber hatten, gut klar. Doch mit David Anderson hatte sie ganz persönlich ein Problem.

»Wann kannst du anfangen?«

»Im Prinzip direkt.«

»Ich schicke dir die Kontaktdaten von David und ihr klärt das weitere Vorgehen ab.«

Mit einem Stoßseufzer legte sie auf. In den letzten Jahren hatte sie sich im Mittelstand einen Namen gemacht, wodurch sie sich inzwischen die Projekte auswählen konnte. In den vergangenen Stunden hatte sie den Termin mehrmals reflektiert. Die Präsentation war aufgrund der familiären Situation schwierig für sie gewesen. Der CIO hatte ein professionelles Verhalten an den Tag gelegt. Sie selbst hatte Unsicherheit und Nervosität gezeigt. Irgendwie sprach er etwas in ihr an, auf das sie aggressiv reagierte, ohne dass sie den Finger darauf hätte legen können. Bevor sie weiter über ihn nachdenken konnte, klingelte ihr Handy ein zweites Mal.

»Stephanie Mansfield.«

»Frau Mansfield, David Anderson hier, von Aegir.«

»Das ging aber schnell.«

»Wie bitte?«

»Ich war davon ausgegangen, dass mir Herr Lindemann noch Ihre Kontaktdaten zukommen lässt, damit ich Sie in der Sache kontaktieren kann, nicht, dass Sie mich direkt anrufen.«

»Herr Lindemann hat mit Ihnen telefoniert? Was hat er gesagt?«

Der Ton in seiner Stimme alarmierte sie, doch es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Das Fundament für ein Change-Management-Projekt war Ehrlichkeit.

»Er rief an, um mir zu sagen, dass sich die Geschäftsleitung in der Mehrheit für das Projekt ausgesprochen hat und es in Ihrer Verantwortlichkeit liegen wird, weil Sie das Budget zur Verfügung stellen.«

»Nun, da war er wohl ein wenig voreilig.«

Sie setzte sich aufrecht hin und wartete gespannt darauf, was als Nächstes kam. Ging er auf offenen Konfrontationskurs mit dem Inhaber des Unternehmens?

»Frau Mansfield?«

»Ja.«

»Ich habe mir für Sie in meinem Kalender einen Termin für morgen um Punkt 13:00 Uhr freigeschaufelt. Da können wir über die genauen Bedingungen sprechen, bevor ich Ihnen einen Auftrag für das Projekt erteile. Seien Sie pünktlich. Ich hasse es, wenn man meine Zeit verschwendet.«

Eine Antwort von ihrer Seite wartete er erst gar nicht ab, sondern beendete das Gespräch abrupt. Verblüfft starrte sie ihr Telefon an. Was für ein Blödmann.


Sie sah auf die Uhr. Keine Gefahr, zu spät zu kommen. Sie hatte genügend Zeit einkalkuliert. Es überraschte sie, als die Dame am Empfang sie statt zur Management-Etage auf dem ersten Flur in den hinteren Teil des Bürogebäudes schickte. Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht, als sie die moderne, kommunikative Gestaltung der Technikabteilung sah. Im inneren Bereich gab es eine offene Küche, Tische und Stühle, auf dem Boden verteilte Sitzkissen, gemütliche Sitzgruppen, dazwischen ein Multifunktionsgerät zum Kopieren, Drucken und Scannen, sodass die Mitarbeiter gezwungen waren, zwischendurch aus ihren Büros zu kommen. Die einzelnen Bereiche wurden durch Blattpflanzen aufgelockert. Die Türen der Büros, die rund um diese Insel platziert waren, standen bis auf zwei offen. Ein Mann etwa in ihrem Alter kam aus einem der Büros und ging zielstrebig auf die Küche zu, bis er Stefanie bemerkte.

»Hi, kann ich Ihnen helfen?«

»Gerne. Ich habe einen Termin mit Herrn Anderson. Können Sie mir sagen, welches Büro seines ist?«

Er kam auf sie zu, grinste und streckte die Hand aus.

»Sie müssen Frau Mansfield sein. Steven Robinson, zuständig für die Exchange-Infrastruktur. David musste noch mal kurz runter in den Serverraum. Möchten Sie was trinken?«

»Ja, gerne. Wenn Sie ein stilles Wasser hätten?«

Sie folgte ihm in die Küche, wo er ein Glas aus dem Schrank holte, es ihr in die Hand drückte und auf den Wasserspender deutete.

»Arbeiten Sie schon länger bei Aegir?«

»Seit zehn Jahren.«

»Wow, ich bin beeindruckt.«

»Weshalb?«

Sie zuckte mit den Achseln, wusste keine Antwort. Es war ihr einfach so herausgerutscht.

»Es ist eine coole Firma. Wir bekommen Rabatt auf die Klamotten und das Arbeitsklima passt, ebenso wie das Gehalt.«

»Vermutlich ist mir die Bemerkung nur so rausgeplatzt, weil ich es mir selbst nicht vorstellen könnte, so lange in einem Unternehmen zu verweilen.«

»Sie sind Freiberuflerin?«

»Sie scheinen mir mit Ihren Informationen über mich eindeutig im Vorteil zu sein.«

Er lachte, sympathisch und ansteckend. Sie merkte, wie sie anfing, sich zu entspannen.

»Jeden Montagmorgen finden wir uns zu einer kurzen Besprechung zusammen. Auf der letzten waren Sie das Thema.«

»Oh, ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?«

»Weder noch. David möchte oft von uns ein Meinungsbild haben, wenn es um die Einführung einer neuen Software oder um Veränderungen geht. Ein Umzug in die Cloud ist eine gewaltige Umstellung.«

»Sie sind pünktlich«, hörte sie die Stimme des CIOs hinter ihrem Rücken und fuhr erschrocken zusammen, wobei ein wenig von dem Wasser überschwappte und auf ihrer Jeans landete.

Andersons Mundwinkel zuckten amüsiert. »Sind Sie immer so schreckhaft?«

Röte stieg ihr in die Wangen. Sie ärgerte sich über beide Reaktionen. Seit wann ließ sie sich so leicht aus dem Konzept bringen? »Nein, aber normalerweise höre ich es auch, wenn jemand kommt.«

»Sie waren in ein Gespräch vertieft. Steven, kannst du nachher mal die Zertifikate auf dem Exchange Server prüfen? Irgendetwas läuft da zurzeit schief.«

»Klar, Boss.«

Anderson zog sich einen Kaffee aus der Maschine. Sie folgte ihm, als er vor ihr her zu seinem Büro wanderte. Er ging zum Schreibtisch, tippte auf die Tastatur. Stefanie setzte sich an den Besprechungstisch. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Der Arbeitsplatz stand etwas nach rechts versetzt mitten im Zimmer, sodass Anderson direkt sehen konnte, wer hereinkam. Dahinter stand eine weiße Bücherwand mit quadratischen Fächern voll mit Literatur und Ordnern. Von dem Platz am runden Besprechungstisch aus sah sie durch das Fenster auf die Grünanlage, die den inneren Bereich des Firmengebäudes zierte und die Mitarbeiter zum Verweilen einlud.

Bevor Anderson zu ihr kam, schloss er die Tür. »Okay, was genau schwebt Ihnen vor?«

»Bitte?« Verwirrt sah sie ihn an.

»Wie wollen Sie das Projekt angehen? Was sind Ihre Vorstellungen.«

»Sie meinen, wenn wir es durchführen?«

Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. Ein Mann der Fakten, der keine Zeit mit Herumlabern verschwendete.

»Wie ich bereits gestern sagte, würde ich gerne mit einer technikaffinen Testgruppe starten. Vorzugsweise lerne ich die Aufgabengebiete am Arbeitsplatz kennen. So bekomme ich ein Gefühl für die Prozesse und kann einschätzen, wie sich diese durch Office 365 effizienter gestalten lassen. Grundsätzlich müssen wir die Schnittstellen analysieren, prüfen, wie sich die Nutzung der Bandbreite ins Internet durch den Einsatz der Lösung verändert und uns anschauen, ob die Unternehmensregeln, die unter Garantie existieren, sich damit abbilden lassen.«

»Eine Woche?«

»Ja.«

»Nur für die Entscheidung?«

»Ja. Die Kosten sind höher, wenn sich bei einer Einführung herausstellt, dass die Lösung nicht ...«

Mit einer knappen Handbewegung schnitt er ihr das Wort ab. Verärgert runzelte sie die Stirn, trank einen Schluck Wasser und presste die Lippen zusammen.

»Ihr Dienstleistungssatz von 7.500 Euro netto für eine Woche Beratung ist alles andere als ein Pappenstiel.«

Er lehnte sich nach vorn, legte die Arme auf den Tisch und faltete die Hände, während er ihr direkt in die Augen sah. Den Oberkörper gestrafft erwiderte sie den Blick.

»Ich denke, Sie können uns in Anbetracht ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen einen besseren Preis anbieten.«

Sie schob das Kinn vor und fixierte ihn. Daher wehte der Wind. Wer hatte es ihm gesteckt? Luke oder Mathilda?

»3.750 Euro«, bot er an.

Die Hälfte der zuvor genannten Summe. Sie zog die Lippen auseinander. »Wieso unterstützen Sie das Projekt, wenn Sie es in Wirklichkeit überhaupt nicht wollen?«

»Ich habe mich dafür ausgesprochen.«

»Mag sein, aber Sie handeln anders.«

»Also geben Sie uns keinen Rabatt?«

»Wie kommen Sie auf 7.500 Euro in der Woche?«, hakte sie nach.

»Das steht auf Ihrer Webseite. 1.500 Euro am Tag inklusive aller Reisekosten. Da Sie diesmal in Hamburg arbeiten, entfallen diese Kosten.«

»Hätten Sie weitergelesen, hätten Sie festgestellt, dass bei einem mehrtägigen Engagement der Preis auf 1.200 Euro sinkt, und es ist eine Mischkalkulation. Jeder Kunde bezahlt dasselbe.«

»4.000 Euro.«

Sie beugte sich vor, faltete die Hände auf dem Tisch, betrachtete dabei ihre gepflegten Fingernägel. »Jeder Kunde bezahlt dasselbe«, wiederholte sie ungerührt und hob den Kopf. Sein Gesichtsausdruck war eine unlesbare Maske. Sie nickte zur Bestätigung, trank das Glas leer und stand auf.

Er lehnte sich im Stuhl zurück und zog die Augenbrauen hoch. »Was haben Sie vor?«

»Wonach sieht es aus?«

»Sie gehen?«

»Wow, Sie sind ein Schnellmerker.«

»Springen Sie mit allen Ihren Kunden so um?«

»Nein, nur mit denen, die mir nicht passen.«

»Sie wollen das Projekt ausschlagen?«

»Erfasst. Es ist sinnlos, etwas anzufangen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.«

»Und was sagen Sie Ihrem Vater?«

»Dass ich bezweifle, dass sein Unternehmen so weit ist, in die Cloud zu gehen.«

»Sie bekommen den Auftrag.«

»Kein Interesse mehr.«

Er stand auf, schob den Stuhl zurück, ging auf sie zu und blieb zwischen ihr und der Tür stehen.

»Hören Sie auf, albern zu sein. Es ist garantiert nicht das erste Mal, dass ein Kunde mit Ihnen über den Preis verhandelt. Sie haben Ihre Position deutlich gemacht. 6.000 Euro die Woche und keinen Cent mehr.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Erklären Sie mir wieso?«

Ein amüsiertes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Wieso ich auf den Preis eingehe?«

»Nein, dieses Ganze. Sie stehen der Lösung kritisch gegenüber, sprechen sich dann aber dafür aus. Sie bekommen die Kosten aufgedrückt, ärgern sich darüber, dass mein Vater mich vor Ihnen informiert, lassen mich antanzen – und wozu?«

»Um mit Ihnen die Rahmenbedingungen und den ersten Aufwand abzuschätzen?«

Sie fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er grinste sie weiterhin an, was sie maßlos ärgerte.

In einer defensiven Geste hob er die Hand. »Versetzen Sie sich in meine Lage. Office 365 steht nicht das erste Mal auf unserer Agenda. Bisher hat nur Mathilda darauf gedrängt, dass wir einen Test fahren, vor allem mit Sharepoint. Dann tauchen Sie wie aus dem Nichts auf und plötzlich steht Martin mit Volldampf hinter der Lösung, möchte sie am liebsten gestern statt heute einführen. Wieso? Brauchen Sie Geld?«

Empört holte sie Luft, merkte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht schoss.

Das Grinsen verschwand. Aufmerksam musterte er sie.

»Vielleicht hätten Sie im Vorfeld eine Backgroundrecherche anstellen sollen, dann wüssten Sie, dass meine finanzielle Situation völlig in Ordnung ist. Mein Vater kam auf mich zu, und der einzige Grund, weshalb ich hier stehe, ist, dass er mich darum gebeten hat.«

»Ich habe einen Backgroundcheck durchgeführt und mit zweien ihrer Referenzkunden Kontakt aufgenommen. Nur deshalb bin ich überhaupt bereit, mit Ihnen zu verhandeln.«

Sie schnappte nach Luft. »Sie haben was

»Wissen Sie, wie viele Mitarbeiter das Unternehmen Ihres Vaters hat?«

»Keine Ahnung. Welche Rolle spielt das jetzt?«

»1.463 weltweit, 627 in Deutschland. Davon arbeiten knapp 50 Prozent seit 10 Jahren bei dem Unternehmen, 14 Prozent seit 15 Jahren, 16 Prozent seit 20 Jahren, 8 Prozent seit 25 Jahren und 2 Prozent seit 30 Jahren. Wissen Sie, wie selten so eine Mitarbeiterstruktur ist?«

»Nein, denn mit so etwas beschäftige ich mich nicht.«

»Das sollten Sie, denn es ist das Unternehmen Ihres Vaters. Auch wenn Sie das uneheliche Kind von Martin Lindemann sind.«

»Ja, genau. Die Firma meines Vaters und der Familie meines Vaters. Ja, ich bin das uneheliche Kind aus einer Affäre, die mein Vater hatte, während seine Frau mit einer Vierjährigen und einem Neugeborenen zu Hause hockte! Ich mag Martin, aber das heißt noch lange nicht, dass es mir gefällt, dass er seine Frau mit meiner Mutter betrogen hat!«

»Soll das heißen, Sie hegen keinerlei Ambitionen, die Firma zu übernehmen?«

Aha. Da lag der Hase im Pfeffer. Sie wusste genau, wer seine Informationsquelle war. Noch nie hatte sie sich vor jemandem so gehen lassen. »Nicht im Geringsten! Egal, was Luke behauptet oder wer auch immer. Weder bin ich an Aegir interessiert noch an dem Geld der Familie. Genauso wenig verspüre ich irgendwelche Rachegelüste oder möchte das Unternehmen ruinieren. Ich weiß, wo mein Platz ist!«

Unbewusst hatte sie die Fäuste geballt, und ihm die letzten Worte entgegengeschleudert. Innerlich kämpfte sie dagegen an, dem Mann vor sich eine runterzuhauen, weil ihn ihr Privatleben einen Scheißdreck anging. Gern wäre sie aus dem Büro gestürzt, nur leider stand er ihr im Weg und machte keine Anstalten, diesen freizugeben. Stattdessen betrachtete er sie mit gerunzelter Stirn.

»Atmen Sie.«

»Bitte?«

»Sie halten die Luft an.«

»Ja, damit ich nicht platze!«

»Ihr Vater vertraut auf Ihre Fähigkeiten. Mir ist es wichtig, dass Ihnen die Verantwortung bewusst ist, die Sie mit der Akzeptanz für das Projekt tragen. Sie sind bereits jetzt ein Gesprächsthema in der Gerüchteküche und jeder weiß, dass Sie sein uneheliches Kind sind.«

»Ich frage mich, woher?«

Er grinste sie frech an. Seine Fähigkeit, die Ruhe zu bewahren, faszinierte sie. Sonst war sie immer diejenige, die einen klaren Kopf behielt, angespannte Situationen wieder auf eine sachliche, konstruktive Ebene zurückführte. Ihr eigenes Verhalten reflektierend fragte sie sich, weshalb er sie so aus der Fassung brachte, und fand keine Antwort darauf.

»Also, da wir nun alles geklärt hätten – wann fangen Sie an?«

»Pah!«

Sachliche Ebene!, mahnte sie sich und atmete tief durch. »Aus all den von Ihnen genannten Gründen glaube ich, dass es besser ist, wenn jemand anderes das Projekt übernimmt.«

»Wenn Sie es nicht machen, macht es keiner. In Anbetracht Ihres Rufes bin ich davon überzeugt, dass Sie in der Lage sind, mit der Situation umzugehen, jetzt, wo Sie wissen, was alles mit hineinspielt.«

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie ihn. Er stellte sie vor ein Rätsel. Sie besaß eine ausgeprägte Empathie und eine hohe soziale Intelligenz, was es ihr leicht machte, Absichten und Bedürfnisse von Menschen zu verstehen und entsprechend zu handeln. Warum misslang es ihr bei ihm?

»Okay, ich fange am Montag an. Sie stellen eine Gruppe von Leuten zusammen, ich gestalte einen Workshoptag zum Einstieg. Für jeden Teilnehmer brauche ich einen Rechner mit Internetzugang. Ein Tag, an dem ich mir die Arbeitsweise anschaue, zwei Tage, an denen sie mit der Software spielen können. Der letzte Tag ist für die Feedbackrunde, bei der Sie dabei sein sollten. Am Ende erhalten Sie von mir eine Dokumentation der Ergebnisse sowie meine Einschätzung, ob ein Wechsel auf Office 365 für Aegir sinnvoll ist.«

»Kann die Gruppe sich aus verschiedenen Abteilungen zusammensetzen?«

»Das sollte sie sogar. Ideal sind Personalwesen, Finanzwesen, Marketing, Design, Vertrieb und IT. Ich meine, die Produktion können wir außen vor lassen.«

»Wie viele Personen?«

»Maximal vierzehn.«

»Ist notiert. Was ist mit Luke bei der Feedbackrunde?«

»Ich freue mich, wenn er daran teilnimmt«, log sie, »gerne auch Martin und Mathilda.« Sie sah Anderson auffordernd an.

Er erwiderte ihren Blick amüsiert und trat zwei Schritte zur Seite.

»Danke.«

»Frau Mansfield, hätten Sie Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen?«

»Nein!«

Sie rannte fast aus dem Büro, während hinter ihr sein Lachen erklang. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Wieso nahm sie das Projekt überhaupt an? Wie hatte er es geschafft, sie so in eine Ecke zu manövrieren? Sie hasste das Gefühl, manipuliert worden zu sein.

4

Early Adopter

Am Mittwochabend saß Stefanie zusammen mit Isabel beim Inder. Die Yogastunde hatte ihr geholfen, die Welt wieder ins rechte Licht zu rücken, nachdem sie die letzten Tage ständig ihr Gespräch mit David Anderson analysiert hatte. Vor allem die Tatsache, dass sie sich bis jetzt nie mit dem Unternehmen ihres Vaters befasst hatte, führte zu einer intensiven Recherche. Er hatte einen wunden Punkt bei ihr getroffen. Sie sammelte alle verfügbaren öffentlichen Informationen über die Aegir GmbH. Viele Kleidungsstücke in ihrem Schrank stammten von dem Unternehmen, weil sie für Reisen genial waren, eine super Qualität hatten sowie schick und farbenfroh daherkamen. Natürlich hatte es bei dem Kauf auch eine Rolle gespielt, dass sie mit dem Hersteller verwandt war. Aber mit der Firmengeschichte hatte sie sich nie befasst. Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Friedrich Lindemann mit der Produktion von Funktionskleidung begonnen. Doch erst mit der Übernahme durch seinen Sohn Martin gewann die Marke Aegir ihre heutige Bedeutung und eroberte Marktanteile im Outdoorbereich. Nachhaltigkeit bei den Ressourcen und faire Arbeitsbedingungen, auch in den asiatischen Produktionsländern, das alles zeichnete Aegir aus. Das Unternehmen hatte einige Preise eingeheimst. Sie liebte Martin, doch zum ersten Mal war sie stolz, seine Tochter zu sein, und empfand echten Respekt vor der Leistung ihres Vaters. Genauso überraschte es sie, dass Mathilda die treibende Kraft hinter den frischen Designs war, den stilvollen Schnitten und den perfekt an die unterschiedlichen Sportlinien angepassten Materialien. Und gerade das war ein wesentlicher Grund dafür, dass die Marke an der Spitze stand. Die Kommunikation im Social Web, der Aufbau der Webseiten mit den Gesichtern und persönlichen Geschichten der Mitarbeiter zu ihrem Job und Werdegang – das war einmalig. Ihr fielen gleich zig Möglichkeiten ein, wie die eingeschlagene Richtung mithilfe von Office 365 weiter ausgestaltet werden konnte.

»Hey! Hörst du mir überhaupt zu?«

Verwirrt hob sie den Kopf und sah Isabel an. »Hast du mit mir geredet?«

»Nee, mit dem Kellner. Natürlich mit dir, du bist ja völlig weg. Wie sieht er denn aus?«

»Wer?«

»Na, der Typ, der dir im Kopf rumspukt.«

Verflucht, sie wurde rot, obwohl sie nicht einen einzigen Gedanken an einen Mann verschwendet hatte. »Ich fange am Montag mit dem Projekt bei Aegir an. Das beschäftigt mich. Kein Kerl.«

»Oh, das ging rasch. Was ist mit Luke?«

»Überstimmt.«

»Du musst mit ihm arbeiten?«

»Nein, verantwortlich für das Projekt ist dieser David Anderson.«

»Dieser? Also doch ein Kerl.«

»Hör auf, mir jedes Wort im Mund umzudrehen. Es geht um den Job und darum, dass alle über das uneheliche Kind des Inhabers reden.«

»Warum nimmst du den Auftrag dann an? Moment, ich erlebe soeben ein Déjà-vu. Genau darüber haben wir letzte Woche gesprochen! Deine Antwort heute?«

»Weil ich es möchte.« Verblüfft von ihren eigenen Worten legte sie die Gabel beiseite.

»Aha, trotz Luke und brodelnder Gerüchteküche?«

»Genau deshalb!«

»Sorry, ich kann dir nicht mehr folgen. Das musst du mir genauer erklären.«

»Es ist so, als wollte mir jeder Steine in den Weg legen.«

»Also eine Trotziges-Kind-Reaktion?«

Stefanie grinste, griff die Gabel und schob sich eine Portion Tandori Chicken in den Mund. Sie kaute, schluckte. »Du solltest Coach werden.«

»Nein danke. Ich liebe meinen Beruf als Heilpraktikerin.«


Stefanie warf einen Blick in die Runde. Der Sitzungsraum, Meeting Room genannt, gehörte zu der IT-Abteilung. Sie hatte Anderson eine E-Mail mit ihren Anforderungen geschickt, nachdem er ihr die Teilnehmerliste mit Namen und jeweiligem Aufgabengebiet im Unternehmen hatte zukommen lassen. Die Tische standen in U-Form angeordnet, jeweils drei Plätze rechts und links, fünf in der Länge, das offene Ende zeigte zur Leinwand. Ein Tisch an der Seite beherbergte ihren Laptop und die Materialien und an den Wänden reihten sich ein Flipchart und Stellwände aneinander, exakt so, wie sie es gewünscht hatte.

Beim Eintreten wurden die Teilnehmer zunächst von einem Plakat mit einer ersten Visualisierung für den Tag auf dem Flipchart begrüßt. Eine dampfende Kaffeetasse, eine Wolke, eine Glühlampe und ein Willkommensgruß, alles in fröhlichen Farben gezeichnet.

Steven, der ihr bei ihrem Termin mit Anderson so freundlich geholfen hatte, war auch unter den Teilnehmern. Kurz plauderten sie miteinander, als er den Raum betrat.

Stefanies Outfit war an das Unternehmen angepasst – diesmal nicht geschäftlich, sondern sportlich geprägt: bequeme Cargohose, T-Shirt, Hoodie-Jacke und Sportschuhe, alles aus der Kollektion von Aegir aus dem letzten Jahr. Ihre Bemühungen wurden mit einem Lächeln belohnt, das jedem Einzelnen beim Hereinkommen über die Lippen huschte.

Aufmerksam beobachtete sie, wie die Teilnehmer eintrafen. Wer kam mit wem, wie setzten sie sich hin, was machten sie, nachdem sie sich gesetzt hatten?

In dem Raum selbst gab es weder Getränke noch Snacks, aber vor der Kücheninsel war ein Buffet aufgebaut – keine Limonade, dafür Wasser, Tee, Kaffee und ein paar Säfte, Joghurt, Obst, Müsliriegel, Milch, verschiedene Müslisorten, geschnittenes Gemüse und drei Dips dazu. Alles überaus gesund. Ihr persönlich fehlte die Schokolade.

Fasziniert stellte sie fest, dass nur einer der Teilnehmer einen Rettungsring um den Bauch hatte, alle anderen verfügten über normalgewichtige, teilweise kurvige oder sportliche Körper. Sie machte sich eine innere Notiz, die Mitarbeiter des Unternehmens einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Gelegenheit würde sie beim Mittagessen bekommen. Anderson hatte ihr in seiner kurzen Art mitgeteilt, dass er für die Mittagsmahlzeiten der Woche einen Gruppentisch in der Kantine reserviert hatte.

Nachdem alle eingetroffen waren, schloss Stefanie die Tür und ging zum offenen Ende der aufgestellten Tische. Erwartungsvoll richteten sich die Blicke auf sie – mit zwei Ausnahmen: Ein Mann Mitte dreißig, mit kurzen, schwarzen Haaren, skizzierte etwas auf einem Blatt Papier, die Stirn nachdenklich gerunzelt. Eine Frau mit einem Pferdeschwanz aus blond gelockten Haaren und einer Brille auf der Nase, die sie immer wieder hochschob, tippte auf ihrem Smartphone.

»Als Erstes möchte ich mich bei Ihnen allen ganz herzlich für die Bereitschaft bedanken, mit mir eine Woche lang die Möglichkeiten von Office 365 zu entdecken. Bevor wir starten, hier drei Regeln, die für diese Zeit in der Gruppe gelten.«

Sie ging zum Flipchart und deckte das zweite Blatt auf, bemerkte, dass der Mann von seiner Skizze aufsah und den Blick nach vorn richtete.

»Erstens: Jede Frage ist erlaubt. Zweitens: Jeder Beitrag wird wertgeschätzt. Drittens: Wir lassen einander ausreden. Gibt es zu einer der Regeln Fragen?«

Sie betrachtete die teils amüsierten, teils nachdenklichen oder verwirrten Gesichtsausdrücke.

»Keine Frage, nur eine Anmerkung«, sagte die Frau mit dem Pferdeschwanz, die ihre Aufmerksamkeit vom Smartphone auf Stefanie gerichtet hatte. »Ab und an müsst ihr mir dazwischenquatschen, sonst hör ich nie auf zu reden.«

Ihre Bemerkung löste allgemeines Gelächter aus.

»Keine Sorge, ich stoße dich an, wenn du wieder zu viel und vor allem zu schnell laberst«, gab Steven zurück, der neben ihr saß, und versetzte ihr einen freundschaftlichen Rippenstoß. Die Geste wurde von einer der älteren Teilnehmerinnen mit einem tadelnden Blick bedacht, deren ungewöhnlich dickes, dunkelbraunes Haar sich auf ihrem Kopf zu einer Hochsteckfrisur türmte.

»Ich weiß, dass Sie sich alle teilweise schon lange kennen. Da sind Sie mir gegenüber im Vorteil. Ich möchte dennoch eine Vorstellungsrunde voranstellen, mit ein paar wenigen Fragen, die Ihnen vielleicht unüblich erscheinen. Aber bevor wir fortfahren, habe ich eine Frage an die Runde. Ich habe bei meinem kurzen ersten Besuch festgestellt, dass die Mitarbeiter in der IT-Abteilung sich duzen. Ist das eine Ausnahme oder üblich bei Aegir?«

Der andere ältere Teilnehmer mit kurzen, grauen Haaren und einem kernigen Körperbau übernahm die Antwort. Er hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und man sah, wie er die Muskeln am Unterarm spielen ließ. »Das ist bei uns unternehmensweit üblich«, sagte er. »Es unterstreicht unser Firmenmotto ‚Wir sind ein Team!‘ Es wäre also schön, wenn du dich in unser Team einfügst.«

Stefanie bemerkte ein angenehmes, warmes Gefühl, das sich von der Bauchgegend her in ihr ausbreitete. Sie wusste, dass es sich in ihrem Gesicht widerspiegelte, indem sie wie ein Honigkuchenpferd grinste. In ihren Workshops bevorzugte sie das Duzen, achtete aber genau darauf, dass sich jeder damit wohlfühlte. Bei den ehrlichen Worten hier empfand sie aber noch etwas anderes. Sie fühlte sich ehrlich willkommen, und das passierte sonst nie zu Beginn eines Projekts. Normalerweise schlugen ihr Skepsis, Kritik, Angst vor Veränderungen und Ablehnung entgegen. Wenn sie Glück hatte, hielt sich das die Waage mit Neugierde, Begeisterung, Visionen und dem Wunsch nach Veränderung. In dieser Gruppe hier herrschte eine überwiegend positive Atmosphäre, und sie musste unwillkürlich an das Gespräch mit Anderson denken und seinen Hinweis darauf, dass die Mitarbeiter schon lange bei Aegir arbeiteten.

»Danke, das finde ich klasse. Und ich füge mich gerne in das Team ein. Ich bin Stefanie, 39 Jahre alt, bin ausgebildete Trainerin und Prozessbegleiterin. Meine Leidenschaft ist Office 365, weil es meiner Vision einer freieren, kreativen Arbeitsweise entgegenkommt. Ich liebe die Möglichkeiten, die es mir bietet, weiß aber, dass der Weg zum Ziel – dorthin, wie wir einmal mit der IT arbeiten könnten – noch steinig ist. Was mich an meinem Job begeistert, ist, dass ich ständig mit unterschiedlichen Menschen und Unternehmenskulturen zusammenkomme. In jedem Unternehmen gibt es eigene Arbeitsprozesse, die sich bewähren. Sie zu analysieren und ihr Optimierungspotenzial zu entdecken, macht mir einen Heidenspaß. In meiner Freizeit erwandere ich mir fremde Länder. Kommen wir nun zu euch und dem, was mich an eurer Person interessiert.«

Sie trat zum Flipchart und blätterte um. Diesmal hatte sie ein kleines Vorstellungscomic gezeichnet. Ein Lachen ging durch den Raum und Stefanie spürte einen Anstieg der positiven Energie, der sie beflügelte.

»Klar interessiert mich euer Name und die Abteilung, in der ihr arbeitet. Dazu möchte ich aber noch wissen: Was begeistert euch bei eurer Arbeit? Gebt ein Beispiel, was ihr in der Freizeit gerne macht. Warum nehmt ihr euch die Zeit für den Workshop? – Ihr seht, dass auf jedem Tisch verschiedenfarbige Karten und Stifte liegen. Verwendet für die Beantwortung der Fragen die grüne Karte. Achtet darauf, so zu schreiben, dass die anderen nicht sehen, was ihr notiert. Ihr bekommt zehn Minuten Zeit. Danach sammle ich die Karten ein. Bitte schreibt leserlich, denn ich werde Stück für Stück den Inhalt vorlesen und ihr dürft dann gerne raten, wer die Person hinter diesen Antworten ist. Fragen zur Aufgabenstellung?« Sie legte eine kurze Pause ein, warf einen Blick in die Runde.

Alle schwiegen.

»Okay, die Zeit läuft.«

Sie beobachtete die Gruppe und versuchte, die innere Struktur zu erkennen. Da gab es eine Rothaarige, die Kleinste und Jüngste, die sich direkt neben den Mann gesetzt hatte, der die Skizzen zeichnete. Ihr Blick wanderte immer wieder zu ihm hinüber, versteckt, den direkten Kontakt meidend. Der Zeichner, schätzte sie, musste Simon sein, einer der Hauptdesigner für die Kollektion, dementsprechend schlussfolgerte sie, dass die Rothaarige sicher Karen, die Direktrice, war. Neben dem Designer saß eine Frau, die schick gekleidet war und Sex-Appeal ausstrahlte. Ihre weiblichen Reize hatte sie noch verstärkt durch den Kontrast von hellblond gefärbten Haaren zu ihren glänzenden, braunen Augen und dem mit Lippenstift in Szene gesetzten klassisch geschwungenen Schmollmund. Sie war sich sowohl ihres attraktiven Aussehens als auch ihres Effekts auf Männer bewusst. Ein gefährliches Biest, dachte Stefanie und grinste in sich hinein. Sie passte in die Marketingabteilung von Mathilda. Womöglich war das Lucy, die für die Organisation der Shootings und Events zuständig war. Dafür sprach ebenfalls, dass sie dynamisch und schwungvoll ihre Karte beschrieb. Außerdem würde sie auch in Gegenwart der Models garantiert nicht unter Minderwertigkeitskomplexen leiden. Mit ihrer Figur hätte sie selbst ein Model sein können, schlank und dennoch weiblich perfekt proportioniert. Stefanie rutschte ein Seufzer heraus. Egal, was sie anstellte, so würde sie selbst nie aussehen.

Der Mann mit dem Bauch saß neben der Frau, und die beiden tuschelten zwischendrin kurz, was mit einem Grinsen von der männlichen Seite endete. Stefanie ging davon aus, dass es sich bei ihm um Gerald aus dem Marketing handelte, zuständig für die Kataloge. Es herrschte eine freundschaftliche Harmonie zwischen ihnen, das sah man an der Art und Weise, in der sie kommunizierten.

Unberührt von der Tuschelei der anderen schloss eine Frau mit einem modisch geschnittenen Bob die Reihe an der Stirnseite. So genau konnte Stefanie sie nicht einschätzen. Ihre Miene wirkte verschlossen. Neben ihr folgten Steven, den sie bereits kannte, und die junge Frau mit dem blond gelockten Pferdeschwanz, die, nachdem sie anscheinend die Karte fertig geschrieben hatte, wieder auf dem Smartphone tippte. IT – definitiv.

Wenn sie davon ausging, dass sich die Abteilungen zueinandergesetzt hatten, musste das Fanny sein, verantwortlich für die Bürosoftware. In dem Fall wäre die Schwarzhaarige mit dem Bob wohl Leila, zuständig für Server-Infrastruktur, Datenbanken und Schnittstellen. Dann musste der strohblonde Mann mit den hellblauen Augen und den Sommersprossen Sebastian vom Vertrieb sein. Neben ihm saß dann Claus, der Älteste in der Gruppe – Vertriebsleitung. Interessant, sie hatte gedacht, er würde im Anzug erscheinen. Stattdessen trug er wie sie Cargohosen, Turnschuhe, ein T-Shirt mit kariertem Baumwollhemd darüber. Für ihren Geschmack war er etwas zu klein, aber doch ein attraktiver Typ, der definitiv jede Menge Sport trieb. Er grinste ihr zu, als er ihren Blick bemerkte. Unwillkürlich lächelte sie zurück. Blöd, dass sie immer so rasch rot wurde, und ein kritischer Punkt, wenn sie so eine Gruppe moderierte. Die Letzte in der Reihe besaß traumhaft dickes, langes, dunkelbraunes Haar. Sie hatte ebenfalls eine sportliche Figur und einen kleinen Busen und saß kerzengerade auf dem Stuhl. Stefanie tippte auf Victoria, die das Personalwesen von Aegir leitete.

Ihr Handy gab einen kurzen Vibrationsalarm – der Timer, der das Ende der Aufgabenstellung einleitete. Stefanie sammelte die Karten ein, mischte sie und fing an vorzulesen.

»Dass nie ein Tag dem anderen gleicht und es immer wieder unerwartete Probleme gibt. Mountainbiken! Weil David mich gezwungen hat!«

Stefanie zog die Augenbrauen hoch. Alles lachte.

»Arme Fanny, du hast wirklich einen furchtbaren Chef!«, rief die Hellblonde lachend. »Ich gebe dir mal einen Tipp, wie man mit dem umgeht.«

»Keine Chance, Lucy. Der weiß, was er will und ist total immun gegen deinen Charme.«

Bevor die Diskussion weiter abdriften konnte, zückte Stefanie die nächste Karte.

»Die Talente von anderen Menschen zu entdecken, bevor sie selbst sie wahrnehmen. Triathlon. Um sicherzustellen, dass die Unternehmensrichtlinien eingehalten werden.«

»Victoria!«, rief der sommersprossige Kerl. »Hey, Gratulation übrigens zum dreiundzwanzigsten Platz bei dem ITU World Triathlon! Echt coole Leistung«.

Diesmal schoss Victoria die Röte in die Wangen. »Danke, Sebastian.«

»Du machst beim ITU mit?«, stellte ihr Sitznachbar verblüfft fest.

»Ja.«

»Wieso sponsern wir das nicht?«

»Machen wir«, erklärte Sebastian. »Hab nur vergessen, es dir zu erzählen.«

»Gratulation, Vic, das ist eine echte Leistung.«

Perfekt. Die Vorstellungsrunde lief super.

»Etwas Neues aus wenig Material zu schaffen. Meinen Garten gestalten. Weil es sich interessant anhörte.«

»Und weil Simon dabei ist«, spottete die Hellblonde.

»Lass Karen in Ruhe!«, setzte ihr Sitznachbar eine klare Grenze, was die Angesprochene lediglich mit einem Achselzucken beantwortete.

»Kreativ sein zu können. Malen. Weil ich mehr Input und Ideen von den Mitarbeitern und Fans erhalten möchte.«

»Du glaubst, das funktioniert mit Office 365, Simon?« Skepsis lag in der Stimme der Schwarzhaarigen.

»Nach dem, was ich von Mathilda gehört habe, ja, durchaus.«

Die Blicke aller richteten sich auf Stefanie.

»Ich denke, am Ende der Woche wissen wir darauf die Antwort. Okay, der Nächste. Das Reisen und die Partys. Segeln. Möglichkeiten der Kommunikation über Zeitzonen hinweg.«

Die Hellblonde sprang auf. »Das bin natürlich ich, wer sonst?«

Die einen grinsten, die anderen schüttelten belustigt den Kopf.

»Was machst du beim Segeln, Lucy? Den neuesten Bikini zur Schau tragen oder den Skipper bezirzen?«, spottete Fanny. Die Angesprochene zwinkerte ihrer Kollegin zu. Interessanterweise sah der Sommersprossige angestrengt auf die Tischplatte, während Stevens Gesicht einen verträumten Ausdruck einnahm. Hui, der eine hatte was mit ihr, der andere schwärmte für sie.

»Menschen zu überzeugen und die Begeisterung für das Produkt zu spüren. Klettern. Effizientere Gestaltung der Termine.«

»Das ist unser Claus«, stellte Lucy fest.

»Eindeutig«, bestätigte Fanny.

»Wer sonst?«, sagte Claus, der ältere Mann.

Also schien er die Führungsperson in der Gruppe zu sein, wenn diese zwei Rädelsführerinnen so zahm mit ihm umgingen.

»Das Außergewöhnliche im Alltäglichen erkennen. Fotografieren. Andere Wege der Kommunikation mit dem Außenteam finden.«

»Gerald, deine Fotos sind echt genial«, sagte der Sommersprossige. Er hatte ein Motivationstalent, wie es schien, etwas, worauf sie im Laufe der Woche würde aufbauen können.

»Das viele Reden. Segeln. Pflegen von Kundenbeziehungen.«

»Aha.« Fanny warf Lucy einen vielsagenden Blick zu. »Da haben wir ja den Skipper.«

»Sebastian«, sagte Lucy und ließ den Rest unkommentiert.

»Lösungen finden, wo niemand eine sieht. Kochen. Prüfen, ob es für uns überhaupt einsetzbar ist.«

»Okay, dann bin ich mal wieder der Letzte in der Runde«, seufzte Steven. »Leila und ich wechseln uns ständig damit ab.«

»Das super Team und ein cooler Boss. Marathon. Zu sehen, was an dem Gerede über die Cloud Substanzielles dran ist.«


Stefanie ging zum Flipchart, blätterte um und schrieb Office 365 in die Mitte des leeren Blatts. Sie zeichnete eine Wolke drum herum sowie Sprechblasen mit den Begriffen Zwang, Unternehmensrichtlinien, Möglichkeiten, Bindung, Kommunikation, Koordination, Organisation, Beziehungen, Herausforderungen und Substanz. So visualisierte sie den Grund für die Anwesenheit der Teilnehmer in dem Kurs. Dazu malte sie Strichmännchen in unterschiedlichen Stimmungen.

»Fanny, ist es okay, wenn ich einen Blitz über dein Männchen male, oder ist dir eine Gewitterwolke lieber?«

»Blitz passt besser. Gewitterwolke sieht so aus, als würde sich was zusammenbrauen, was nicht der Fall ist. Denn, um ehrlich zu sein, finde ich es jetzt schon spannend.«

»Prima. Ihr bringt eine tolle Einstellung mit, muss ich schon sagen.«

»Um uns zu motivieren?«, kam direkt die Spitze von Lucy.

Stefanie lachte. »Das kann nie verkehrt sein, oder?«

»Soll ich das Malen übernehmen?«

»Simon, du kannst dich im Laufe der nächsten Tage voll an den Stellwänden austoben, aber heute gehören sie erst mal mir allein«, konterte sie.

Es war definitiv eine anstrengende Gruppe mit vielen Individualisten, abgesehen von Karen und Steven, die einen angenehmen Eindruck machten. Leila, Lucy, Fanny und Victoria würden sie garantiert vor Herausforderungen stellen.

»Kommen wir zum Ablauf der nächsten Woche. Wir machen gleich einen kurzen Break, bevor ich euch den restlichen Vormittag durch verschiedene Arbeitsszenarien mit der Software führe. Dann folgt das Mittagessen. Am Nachmittag bekommt ihr von mir Aufgabenstellungen, die ihr in Zweierteams löst, wobei jeder bei seinem Szenario am Rechner sitzt, während der andere unterstützt. So entwickelt ihr gemeinsam ein Gefühl für die Möglichkeiten von Office 365. Der Tag endet mit einer Feedbackrunde. Am Nachmittag gibt es keine offiziellen Pausen. Ihr entscheidet selbst, wann ihr eine Pause macht. Morgen ist ein normaler Arbeitstag, an dem ich bei jedem vorbeischaue und seinen Arbeitsalltag kennenlernen möchte. Das ist mein Löcher-in-den-Bauch-frage-Tag, wie ich ihn gerne nenne. Dafür wäre es klasse, wenn ihr mir sagt, wann es euch am besten in den Kram passt.«

»Wie lange willst du arbeiten?«, fragte Claus.

»Wenn es zeitlich knapp wird, kommt am Mittwoch der halbe Tag dazu. Doch sofern ich korrekt informiert bin, gibt es hier Gleitzeit. Wer beginnt um sieben?«

Victoria hob die Hand.

»Perfekt. Und jetzt brauche ich noch einen, der bis sechs Uhr abends im Haus bleibt.«

Leila, Fanny und Simon hoben die Hände.

»Das sieht doch gut aus. Okay. Starten wir mit Office 365.«

Stefanie zeigte der Gruppe dieselben Szenarien wie bei der Erstpräsentation vor der Geschäftsführerrunde – mit einem wesentlichen Unterschied: Es gab zig Fragen und Anmerkungen. Als der Timer wieder ihr Smartphone vibrieren ließ, atmete sie tief durch. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt wie nach einem anstrengenden Wandertag.

5

Dynamik

Die Kantine bestand aus einem einzigen lichten Raum, ebenerdig angebaut an das Hauptgebäude, der im Sommer auf eine Terrasse hinaus erweitert werden konnte. Neben der ungewöhnlichen Architektur faszinierte Stefanie die offene Raumstruktur mit vielen kleinen Inseln sowie die verblüffende Akustik. Denn obwohl die Kantine um diese Zeit voll war, wurde kein stressiger Geräuschpegel erreicht, eher existierte ein angenehmes Grundrauschen. Wasserspiele und großblättrige Grünpflanzen lockerten die Atmosphäre auf. Sie kam sich vor wie bei einem Kluburlaub auf den Kanaren. Nicht, dass sie so einen jemals gemacht hätte, aber sie erinnerte sich an die Bilder von Isabel, die ihren Urlaub gern mit ihrer Familie auf Fuerteventura verbrachte. Claus steuerte zielstrebig eine Ecke an, die etwas abseits lag – an zwei Seiten abgeschirmt mit Grünpflanzen. In der Mitte prangte auf dem Tisch eine ausgeschnittene Wolke mit den Worten: Reserviert für Stefanie Mansfield. Wasser, Gläser, in Wolkenservietten eingepacktes Besteck. Sie schmunzelte. Irgendwie süß.

»Für diese Woche übernimmt die Personalabteilung die Kosten für die Verpflegung«, erklärte Victoria und händigte allen Teilnehmern grüne Chips aus.

Verblüfft starrte Stefanie auf die Kochinseln, an denen verschiedene Gerichte frisch zubereitet wurden. Es gab eine Salatbar, eine Obstauswahl, Joghurt, Kuchen, Nachtische und eine Bäckertheke, außerdem als Hauptgerichte Gemüse, chinesisches Essen, Pasta und klassische deutsche Hausmannskost. Sie kam sich vor wie in einem Marché-Restaurant.

»Salat, Gemüse, Pasta und Hausmannskost gibt es immer. Das internationale Gericht wechselt ständig. Ich kann dir die chinesische Pfanne wärmstens empfehlen«, erläuterte ihr Claus.

»Wow, ich bin beeindruckt, gab es das schon immer?«

»Nein, das Konzept ist vor knapp fünf Jahren eingeführt worden. Eine Kampagne für gesünderes Leben, weil wir wollten, dass unsere Mitarbeiter innerlich hinter dem stehen, was wir nach außen hin verkaufen. Deshalb ist Wasser auch kostenlos, während du Limonade kaufen musst.«

»Und es hat sich gerechnet«, ergänzte Victoria die Ausführungen des Vertrieblers. »25 Prozent der Mitarbeiter essen in der Kantine. Familienangehörige dürfen ebenfalls zu moderaten Preisen mitessen. Du kannst dir sogar Mahlzeiten für abends mitnehmen. Unser Krankenstand liegt weit unter dem Branchendurchschnitt.

»Dabei hast du damals dem Projekt skeptisch gegenübergestanden.«

»Ja, weil ich einfach zu viele Kantinenprojekte habe scheitern sehen.«

Stefanie folgte der Empfehlung von Claus, nahm dazu einen Salat und ein Stück Brot, das noch warm war. Daran könnte sie sich gewöhnen! Interessiert beobachtete sie, wie die Teilnehmer sich am Tisch platzierten. Sie hatte bewusst den Platz in der Mitte gewählt. Rechts und links von ihr setzten sich Claus und Victoria hin, ihr gegenüber Lucy, neben sie Fanny und auf deren andere Seite der hellblonde Steven. Das überraschte sie wenig, wenn sie daran dachte, wie verträumt er Lucy angehimmelt hatte. Neben ihn setzte sich Sebastian. Besser die Konkurrenz im Auge behalten ..., dachte sie. Leila nahm den Platz am Kopf ein, gefolgt von Gerald, der die Lücke zu Victoria schloss. Am anderen Ende saßen Simon und Karen, wobei Letztere den Stuhl neben Fanny wählte. Das überraschte sie. Sie hätte gedacht, dass Karen bei Claus Schutz suchen würde.

»Weißt du, Stef«, sprach Lucy sie an und unterbrach sich: »Es ist doch okay, dass ich den Namen abkürze, oder? Der ist so lang! Also, du könntest viel mehr aus deinem Typ machen.« Sie musterte Stefanie kritisch.

Stefanie rang sich ein Lächeln ab. »Ich nutze morgens die Zeit lieber zum Schlafen, als mich zum Schminken früher rauszuquälen.«

»Das meinte ich nicht. Natürlicher Look ist in, die Sommersprossen gelten als niedlich – auch wenn sie mir persönlich in dieser Menge zu viel wären.«

»Lucy, du bist immer so umwerfend nett!«

»Vic, das meinst du doch jetzt nicht ironisch?«

»Meinst du das jetzt im Ernst?«, mischte sich Claus ein. »Dass diese Bemerkung geradezu vor Ironie trieft, musst selbst du bemerken«, ergänzte er.

»Warum hacken alle auf mir herum? Ich bin doch nur ehrlich. Vier Kilo Bauchspeck weg, die Kleidung etwas mehr figurbetont, die langweiligen langen Haare mit einem frechen Schnitt aufgefrischt, der zu den Sommersprossen passt, vielleicht sogar eine Dauerwelle rein, und voilà, selbst du würdest ihr hinterhersehen.«

»Wer sagt, dass ich das nicht mache?«

»Unser Claus! Immer so charmant. Hui, jetzt wird unsere Trainerin rot.«

So würdevoll wie möglich legte Stefanie die Gabel neben den Teller. »Danke für deine Tipps. Ich sehe, du verstehst was von deinem Job. Sollte ich das Verlangen verspüren, mehr aus meinem Typ zu machen, werde ich mich an dich wenden.« Den Rest ließ sie unter den Tisch fallen. Sie verstand, warum Karen die andere Tischseite gewählt hatte. »Victoria, du hattest das Thema Unternehmensrichtlinien aufgebracht. Kannst du mir ein paar nennen?« Besser, sie fing an, das Tischgespräch zu übernehmen, bevor es in Bereiche abdriftete, die sie lieber vermeiden wollte. Sie verstand, dass Lucys Worte ehrlich gemeint waren und es ihr lediglich an Taktgefühl mangelte. Es war aber interessant, wie gut die meisten der Kollegen damit klarzukommen schienen.

Die Gespräche am Tisch plätscherten dahin. Stefanie bekam ein besseres Gespür für die unterschiedlichen Dynamiken. Claus hatte eindeutig die Alpha-Position in der Gruppe, obwohl auch Victoria von allen mit viel Respekt behandelt wurde. Klar, sie saß in der Personalabteilung. Leila hielt sich komplett aus den Gesprächen raus, während am anderen Ende der Tischreihe eine intensive Diskussion über Farben begann, in die sich rasch auch Claus einmischte. Selbst Lucy versuchte, über Fanny hinweg ihre Meinung dazu beizutragen. Interessanterweise wirkte Karen überhaupt nicht mehr schüchtern und gab der Marketingfrau mehrmals Kontra mit sofortiger Rückendeckung durch Simon. Dass Karen ihn vergötterte, war eindeutig. Spannender war die Frage, aus welchem Grund der Designer sie ständig in Schutz nahm.


Im Waschraum betrachtete Stefanie ihr Gesicht im Spiegel und rümpfte die Nase. Jede Menge Sommersprossen zogen sich über ihren Nasenrücken und beide Wangenpartien. Als Kind hatte sie die lustig gefunden, weil ihre Mama sie liebte. In der Pubertät hatte sie zentimeterdick Make-up aufgetragen, um sie zu verstecken. Sie grinste. Heute gehörten sie einfach zu ihrem Gesicht dazu. So what? Ja, die Haare waren langweilig. Kein Pony, Mittelscheitel. So reichten sie ihr bis zur Schulter. Am liebsten trug sie die Haare offen. Wenn sie anfingen, sie zu stören, wickelte sie sie hoch und befestigte sie mit einem Stäbchen oder Stift am Kopf, je nachdem, was sie in ihrer Tasche fand. Eine total praktische Frisur, die auf Reisen überhaupt keiner Pflege bedurfte und die Besuche beim Friseur auf ein Minimum zu beschränken half. Früher hatte sie der karrottenfarbene Rotton geärgert. Je älter sie wurde, desto mehr bleichte er in ein helleres Rot aus. Inzwischen gefiel ihr der Farbton, vor allem weil er echt war. Kritisch betrachtete sie die Bauchspeckrolle. Statt 72 Kilo wog sie inzwischen 65, doch das Abspecken war ihr schwergefallen. Gerne hätte sie noch vier Kilo weniger auf den Rippen gehabt.

Victoria gesellte sich zu ihr an das Waschbecken und sah ihren kritischen Blick im Spiegel, noch bevor Stefanie woanders hinsehen konnte.

»Du solltest dir das nicht zu Herzen nehmen. Lucy redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Der Vorteil ist, du wirst nie erleben, dass sie hinter deinem Rücken über dich redet. Sie verträgt übrigens dieselbe Offenheit, ohne nachtragend zu sein. Ein unglaubliches Selbstbewusstsein besitzt sie außerdem.« Victoria seufzte. »Ich wünschte, davon könnte ich mir eine fette Scheibe abschneiden.«

»Sie hat nur einen wunden Punkt getroffen.«

»Ja, darin ist sie ja auch Meisterin. Dir ist klar, was dir im Laufe der Woche, in der du den Workshop hier machst, passieren wird?«

»Nein?«

Victoria wich ihrem Blick aus.

»Du meinst, sie spricht mich auf das familiäre Verhältnis an?«

»Unter Garantie. Von ihr haben auch alle anderen erfahren, dass du das uneheliche Kind vom Chef bist.«

»Woher weiß sie es?«

»Von Mathilda, ihrer Chefin. Deine Halbschwester scheint große Stücke auf dich zu halten.« Neugierde klang durch die Worte. »Ungewöhnlich bei der Konstellation.«

Stefanie vermied es, den Köder zu schlucken. Sie lächelte Victoria an. »Danke für den Hinweis. Dann bin ich ja jetzt gewappnet.«


Nachdem sich alle wieder im Besprechungsraum versammelt hatten, machte Stefanie mit ihnen ein Spiel mit zwei Hintergründen. Erstens, damit die Trägheit nach dem Essen verschwand, zweitens zur Unterstützung der Teamarbeit. In ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, wie oft Spiele das Lernen unbewusst unterstützten und förderten. Alle ließen sich ohne Probleme animieren, und danach waren sie wieder fit für die nächste Runde. Nach einer kurzen Verschnaufpause verteilte sie die Aufgabenstellungen passend zu den beruflichen Themen der Teilnehmer.

»Stopp!«, hielt Stefanie die Gruppe auf, die sich bereits in Zweierteams zusammenfand. Sie holte ein Kartenspiel hervor und begann es zu mischen. »Es gibt immer zwei Pärchen in dem Stapel. Jeder von euch zieht eine Karte und dann finden die zwei zusammen, die dieselbe Karte in der Hand halten.«

»Macht es nicht mehr Sinn, dass wir uns von den Abteilungen her gruppieren?«, wandte Victoria ein.

»Nein. Das kann natürlich durch das Zufallsprinzip passieren, aber es bringt eine frische Perspektive auf die Arbeitsabläufe, wenn ihr jemanden aus einer anderen Abteilung zieht.«

Leila, Victoria, Karen und Gerald sahen wenig begeistert aus, doch Stefanie vertraute auf das System. Es hatte in den Workshops überraschende Ergebnisse gebracht, manchmal auch Konflikte erzeugt, die jedoch für die Gruppe hilfreich waren. Isabel schwor darauf, und Stefanie hatte gelernt, dem Universum oder Gott – wie auch immer man es bezeichnen wollte – zu vertrauen. Hinter allem steckte ein Plan. Gespannt wie die anderen wartete sie auf das Ergebnis. Steven und Lucy, Karen und Sebastian, Fanny und Victoria, Claus und Leila. Das letzte Paar waren Simon und Gerald. Eine bunte Mischung der Abteilungen.

»Los gehts. Und denkt daran: Jeder bearbeitet seine eigene Aufgabenstellung. Der andere nimmt in der Zeit eine beratende Funktion ein, unterstützt, gibt Tipps, aber übernimmt nie die Maus oder die Tastatur.«

Innerhalb einer Viertelstunde herrschte eine konzentrierte Atmosphäre. Nach und nach stieg der Lärmpegel. Es begannen angeregte Diskussionen. Stefanie hielt sich komplett im Hintergrund. Die Aufgabenstellungen waren so vorbereitet, dass jeder sie ohne Schwierigkeiten nachvollziehen konnte. Dabei lernten sie die Vision hinter Office 365 kennen, die sie persönlich so liebte: eine Lösung verschiedener Softwareprodukte, die es Teams in der Summe ermöglichte, so zu arbeiten, wie sie es wollten und brauchten. Nicht die Technologie diktierte den Weg, sondern die Menschen, die sie nutzten, bestimmten, was sie wählten. So waren die Aufgabenstellungen aufgebaut. Es gab verschiedene Wege, um zum Ziel zu gelangen. Die Art, wie die Teilnehmer die Aufgabe lösten, gab Stefanie Hinweise auf die bisherige Vorgehensweise, die sie sich morgen am Arbeitsplatz genauer anschauen wollte. Am Ende kam jedes Team nach vorn und stellte die Aufgabe und die jeweilige Lösung vor, während sich Stefanie fleißig Stichworte aufschrieb. Die Stellwände erhielten anregende, lebendige Skizzen. Die Gruppe löste sich langsam diskutierend auf. Niemand hatte auf der Uhr nachgeschaut, ob der Workshoptag beendet war. Sie ließen ihn einfach ausklingen. Das sprach für die Unternehmenskultur, die hier herrschte. Sie spürte, wie die Bewunderung für Martin in ihr stieg, aber gleichzeitig verspürte sie einen Stich bei dem Gedanken, wie wenig Zeit mit ihm ihr noch blieb. Den Gedanken an seinen nahenden Tod verdrängte sie ständig, weil ihr das alles so unwirklich vorkam, wenn sie Martin sah. Er wirkte so dynamisch und kein bisschen krank.


Konzentriert arbeitete sie an einer Liste für den morgigen Tag, an dem sie die Teilnehmer an ihrem Arbeitsplatz aufsuchen wollte. Die Reihenfolge verlief von Victoria über Claus, Sebastian, Lucy, Gerald, Karen, Simon, Fanny und Steven bis zu Leila ganz am Schluss. Sie begann sich die Punkte zu notieren, auf die sie den Fokus richten wollte. Sie spürte Vorfreude, all die Arbeitsplätze kennenzulernen, Neugierde darauf, zu sehen, wie das Unternehmen funktionierte, und Faszination bei der Aussicht zu erforschen, vor welchen Herausforderungen die Branche stand.

»Was für ein Glück, dass wir eine Pauschale vereinbart haben.«

Stefanie hob den Kopf von ihrem Surface, auf dem sie die Fotos, die sie von den Skizzen der Stellwände gemacht hatte, mit Notizen versah.

In einer lässigen Geste schob sich David Anderson seine dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Stefanie wappnete sich innerlich. Auf keinen Fall wollte sie sich von ihm provozieren lassen. Langsam ging er die Stellwände ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sie beobachtete die Art, wie er den Raum einnahm, das Zimmer mit seiner Präsenz füllte, trotz der Freizeitkleidung, die er heute trug. Er war ähnlich gekleidet wie Claus, hatte zu einer schwarzen Hose aus Hightech-Material ein beigefarbenes T-Shirt und ein kariertes Hemd an, das dessen Ton aufnahm, dabei aber ins Braune überging, um dann durch Gelbtöne noch einen helleren Touch zu erhalten. Der CIO war ein Standardmodel für den Aegir-Katalog, wie Stefanie inzwischen von Gerald wusste. Sie grinste bei dem Gedanken.

»Ihre Arbeit macht Ihnen Spaß.«

»Sonst würde ich sie nicht machen«, konterte sie.

»Es ist fast acht Uhr.«

Stefanie zog ihr Smartphone heraus und tippte auf die Taste. Wow, er hatte recht. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

Mit einem Schmunzeln, das sich in zahlreichen Falten um seine Augen widerspiegelte, betrachtete er sie. »Sie müssen Hunger haben. Ich kenne da einen Italiener gleich um die Ecke.«

Im Normalfall hätte sie das Angebot angenommen – eine perfekte Gelegenheit, den Projektverantwortlichen in einer entspannten Atmosphäre kennenzulernen, mehr darüber zu erfahren, was ihn antrieb, vor welchen Problemen er stand, weshalb er dem Projekt skeptisch gegenüberstand. Doch dieser Mann beeinflusste ihr Verhalten auf eine Art, die sie immer wieder die Kontrolle verlieren ließ. Das verunsicherte sie. Nein, wenn sie ehrlich war, machte es ihr eine Heidenangst.

»Danke für das Angebot. Mein Tag beginnt morgen sehr früh und ich möchte noch ein paar Sachen vorbereiten.«

»Sie geben mir zum zweiten Mal einen Korb?« Amüsiert nahm er sie ins Visier.

Sie wich seinem forschenden Blick aus, packte die Materialien zusammen und fing an aufzuräumen.

»Der Besprechungsraum steht Ihnen für die gesamte Woche zur Verfügung. Es besteht also keine Notwendigkeit, alles wegzupacken.«

Sie ignorierte die Bemerkung und setzte die Arbeit fort. Besser, sie beschäftigte sich mit etwas, als weiter darüber nachzudenken, dass sie sich mit ihm allein im Raum aufhielt.

»Kann ich Sie nach Hause fahren?«

»Danke, ich bin mit dem Auto da.«

»Der grüne Corsa?«

»Kennen Sie die Autos aller Mitarbeiter?« Das kam spitzer raus als beabsichtigt.

»Nein, aber er stach heute auf dem Parkplatz hervor. Fünfzehn Jahre?«

»Sechzehn.«

»Ich dachte, Sie hätten so viele Projekte?«

»Ich investiere mein Geld lieber in meine Reisen als in einen Gebrauchsgegenstand. Er funktioniert und fährt, mehr ist nicht nötig.«

»Typisch Frau.«

»Was für ein Auto fahren Sie?«

»Einen silbernen BMW Roadster, aber meistens bevorzuge ich mein Motorrad.«

»Sie fahren Motorrad?«

»Sehen Sie, was Sie alles über mich erfahren, wenn wir ins Plaudern kommen.«

Er lehnte sich an einen der Tische, die Arme verschränkt. Diese Art, wie er sie ansah! Ihr Hals wurde trocken, ihr Puls schoss auf 120 hoch.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend«, blockte sie ihn ab.

»Pizza Margherita, Steinpilzravioli, gemischter Salat mit Thunfisch, nichts dabei?«

»Die Arbeit ruft. Sie wollen doch sicher das meiste aus der Pauschale rausholen.«

»Wer sagt, dass ich das nicht bei einem Abendessen mache – Stefanie? Du kennst inzwischen die Gepflogenheiten im Unternehmen, da wäre es albern, wenn wir uns weiter siezen.« Er stieß sich ab und machte Anstalten, auf sie zuzugehen. Es war ihr egal, was er von ihr dachte. Sie musste dringend den Raum verlassen.

»Klar, kein Problem. Also vielen Dank für das Angebot, aber ich muss jetzt los.«

Erst in ihrem Corsa atmete sie tief durch. Im Rückspiegel betrachtete sie ihr Gesicht, das noch immer rot glühte. Dieser Typ brachte sie echt aus der Fassung. »Hey Stefanie, aufpassen! Keinen Blödsinn veranstalten. Der Mann hat eine Freundin, und es gibt nur einen einzigen Grund für ihn, nett zu mir zu sein, nämlich, einen Weg zu finden, um das Projekt zu boykottieren, ohne bei Martin den Eindruck zu erwecken, dass er dagegen ist.«

Im Spiegel blitze ein Scheinwerferlicht auf, gefolgt von einem satten Motorengeräusch. Langsam fuhr ein Motorrad an ihrem Auto vorbei. Eine Hand hob sich zum Gruß, dann gab er Gas. Das Teil passte zu ihm: schnittig, graumetallic, elegant und gefährlich.

6

Arbeitsalltag

»Die meisten Bewerbungen gehen bei uns als PDF oder Word-Datei ein. Es sind viele dabei, die wir aufbewahren, um später darauf zurückzugreifen, wenn wir eine weitere Stelle ausschreiben. Ich hätte also gerne einen Platz, wo ich sie mit Schlagworten versehen speichern kann. Genial wäre eine Vorschau, um meine Erinnerung aufzufrischen, ohne das Dokument komplett aufrufen zu müssen.«

»Wie viele Bewerbungen bewahrt ihr auf?«

»Im Moment sind das etwas über zweihundert, teilweise auf Stellen, die wir ausgeschrieben hatten, aber auch Initiativbewerbungen.«

»Das ist eine Menge.«

Victoria lächelte. »Ja, wir sind ein begehrter Arbeitgeber mit dem niedrigsten Krankheitsstand in der Branche, einem tollen Arbeitsklima und geringer Fluktuation, weshalb wir nur wenige Stellen im Jahr ausschreiben.«

»Wie ist der Prozess von der eingehenden Bewerbung bis zur Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten oder eine Kandidatin?«

»Je nachdem, wie die Bewerbung bei uns einläuft. Kommt sie per Post, wird sie erst von uns eingescannt, bis auf wenige Ausnahmen, bei denen wir uns ganz sicher sind, dass die Bewerbung für uns ungeeignet ist. Kommt sie per E-Mail, entfällt dieser Schritt. Wir hatten mal eine Datenbankanwendung dahinter, die uns aber viel zu aufwendig und komplex war. Deshalb nutzen wir sie nicht. Es gibt ein Sammelpostfach, auf das wir alle zugreifen, und Standard-Absageschreiben für die, die direkt aussortiert werden. Die Vorlagen liegen auf dem Fileserver. Bei allen anderen nehmen wir uns die Zeit, konkret und individuell zu antworten. Es wäre natürlich auch genial, an dieser Stelle einen Workflow zu initiieren, damit wir wissen, ob eine Absage geschrieben worden ist. Zwei andere Themen brennen mir unter den Nägeln, wenn ich Ich wünsch mir was spielen darf.«

»Schieß los.«

»Es geht um die notwendigen Informationen für die Mitarbeiter, die wir aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen aushängen müssen. Die Änderungen am Schwarzen Brett werden oft gar nicht wahrgenommen. Da wäre ein Automatismus gut, sodass alle Mitarbeiter automatisch eine Infomail erhalten, wenn ich ein Dokument update oder frisch reinstelle. Blöderweise sind die Aushänge weiterhin notwendig, weil ja nicht alle Mitarbeiter ein E-Mail-Konto besitzen.«

»Das wäre ein Thema, das wir mal genauer untersuchen könnten. Es gibt nämlich einen abgespeckten Plan für Mitarbeiter, die keinen festen Arbeitsplatz haben, direkt für solche Fälle. Und was ist das Zweite?«

»Die Weiterbildungsmaßnahmen. Wir denken uns immer viele coole Sachen aus. Einmal geht es um die Bewertung der Führungsebene, wenn wir solche Maßnahmen vorstellen – ob sie es für sinnvoll erachten. Dann wäre der Input der Mitarbeiter genial, denn sie hören auch oft von tollen Schulungen, die wir gar nicht mitbekommen. Also eine Art Vorschlagswesen, später dann auch ein Feedback mit einer Bewertung, damit wir wissen, ob es Sinn macht, diese im Portfolio zu behalten.«

Sie diskutierten weiter über die einzelnen Punkte. Stefanie sah sich die bisherigen Arbeitsabläufe intensiv an, ebenso die ungenutzte Datenbank für die Bewerbungen.


Chaos. Nein, ein brummender, summender Bienenstock. Mehrere Reihen von langen, ausladenden Tischen, auf denen sich Stoffe, Nadeln und Scheren ausbreiteten, beherrschten die Mitte des Saals. Die Wände entlang, direkt bei den Fenstern – futuristische Nähmaschinen auf schmalen Tischen mit hängenden Leuchtröhren darüber. An diese angrenzend, mit einer breiten Arbeitsplatte, auf der Schnitte und fertig genähte Sachen lagen, ein Tisch, sodass ein L entstand. Das Bild der Arbeitsplätze wurde abgerundet durch jeweils eine weibliche oder eine männliche Schneiderpuppe, die auf verschiedene Größen eingestellt werden konnte. Nach einem Computer suchend glitt Stefanies Blick durch den Raum, bis sie die Tablets entdeckte, mit denen die Mitarbeiter herumliefen, oder die verdeckt auf ihren Tischen herumlagen. Mit strahlenden Augen kam Karen auf sie zu.

»Hier drin sieht es chaotisch aus, aber glaub mir, dahinter steckt System. Komm, ich zeige dir erst mal unser Reich.«

Die junge Frau war heute ein völlig anderer Mensch, begeistert und leidenschaftlich bei der Sache. Keine Spur mehr von Schüchternheit. Nur gestern beim Mittagessen hatte diese Karen kurz durchgeblitzt.

Nach rechts an den Saal angrenzend gab es ein gigantisches Lager, in dem die Stoffe bis unter die Decke geschichtet waren. Dorthin führte sie die Direktrice zuerst. Eine schwere, feuerfeste Tür trennte den Teil des Gebäudes vom Flur. Kein einziges Fenster gab es in dem Raum, dafür ein Licht, das die Stofffarben unverfälscht herüberbrachte. An den Regalen hingen Leitern, die sich auf Rollen in einer Schiene über die ganze Länge entlangfahren ließen. Die Stoffe waren nach Material und danach in Farbtönen sortiert. Im Raum war es angenehm kühl, jedoch trocken. In der Luft hing ein frischer, zitroniger Duft mit einer Spur von Lavendel.

In der entgegengesetzten Richtung, links vom Saal, wo das geschäftige Treiben herrschte, gab es eine weitere feuerfeste Tür. Das Summen und Brummen verstummte, als sie den Flur dahinter betraten. Links und rechts konnte Stefanie durch satiniertes Plexiglas in das Innere von Büroräumen spicken. In einige Plexiglaselemente waren Landschaftsfotografien eingearbeitet. Insgesamt herrschte eine inspirierende, kreative Atmosphäre in diesem Bürokomplex, völlig anders als die in den Räumlichkeiten, die sie bisher gesehen hatte.

»Arbeitest du überhaupt an einem Computer oder nur mit dem Tablet?«

»Nein, ich sitze schon jeden Tag am Rechner, allerdings verteilt auf die Arbeitszeit maximal zwei bis drei Stunden, meistens, um mich mit meinem Team auszutauschen, durch ein paar Blogs zu stöbern oder auf unserer Facebook-Seite die Einträge und Kommentare anzusehen. Außerdem verwandele ich die Entwürfe von Simon in Schnitte und drucke sie aus. Die restliche Zeit schneidere und experimentiere ich in der Schneiderei. Das ist der Saal, in dem du zuerst gewesen bist. Ich versuche, Stoffe auf andere Art zu kombinieren, und probiere sie in unserem Testzentrum aus. Wusstest du, dass wir eine Kältekammer haben? Wir können auch Regen, Wind und Sonne in verschiedenen Kammern testen.«

»Hier?«

»Ja. Die Räume sind im Keller. Macht total Spaß! Wirkt wie ein riesiger Abenteuerspielplatz mit Kletterwänden, Wasserbecken und Sandkasten.«

»Meinst du, ich darf da mal rein?«

»Von mir aus kann ich es dir direkt zeigen.«

Stefanie seufzte, schüttelte aber den Kopf. »Nein, besser nicht, sonst schaff ich mein Arbeitspensum heute nicht. Also, wozu hat dich Office 365 inspiriert?«

»Kommunikation. Siehst du, wir sind die Zentrale, doch in jedem Land, in dem wir unsere Produkte verkaufen, gibt es eine Kreativabteilung. Einfach, weil die Kultur und daher das Modebewusstsein sich von Land zu Land unterscheiden. Ich denke, Simon wird dir die Idee mit der sozialen Plattform besser darstellen als ich, denn das ist sein Kind. Für mich ist die Videokonferenz wichtig. Oft versuchen wir, uns per Telefon gegenseitig die Feinheiten der Entwürfe darzustellen, und tauschen uns darüber aus, was wir gegebenenfalls verändern müssen, damit es auf dem Markt bei den Kunden ankommt. Das ist oft ziemlich mühselig. Viel einfacher wäre es, die Änderungen mit einer Videokamera zu zeigen, die ja in die Tablets integriert ist. Du könntest dann sogar um die Schneiderpuppe drum herum gehen oder auf die Details zoomen. Genauso würde ich gerne die Schnittmuster übernehmen und gemeinsam mit den anderen daran arbeiten, meine Notizen direkt in die Zeichnung schreiben oder eben die Schnittlinien verändern, und das alles online. Derzeit kommen wir maximal einmal im Jahr zu einem persönlichen Treffen zusammen. Wenn überhaupt.«

Stefanie notierte fleißig alles, bevor sie mit den Fragen anfing. Welche Tablets waren vorhanden und was für Programme kamen zum Einsatz?

»Wenn du gerade schneiderst oder Stoffe suchst, bekommst du weder E-Mails noch Anrufe mit«, schlussfolgerte sie, als sie sich Karen bei der Arbeit in dem Saal vorstellte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101270
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Familienroman Romantic Suspense Contemporary Wirtschaftsroman Entwicklungsroman Liebesroman Liebe

Autor

  • Kerstin Rachfahl (Autor:in)

Kerstin Rachfahl, geboren in Stuttgart schreibt seit 2011. Sie studierte internationale Betriebswirtschaft, arbeitet u.a. als Controllerin in einem Verlag und gründete 1991 mit ihrem Mann ihr IT-Unternehmen. Von 2012 bis 2016 zählte sie zu den wenigen deutschen Frauen, die mit dem MVP-Award (Microsoft most valueable Award) ausgezeichnet worden sind. Seit 1996 lebte Kerstin Rachfahl mit ihrer Familie in Hallenberg. Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite: Kerstin-Rachfahl.
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Titel: Aus dem Schatten