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Western Legenden 05: Tombstone

von Dietmar Kuegler (Autor:in)
110 Seiten
Reihe: Western Legenden, Band 5

Zusammenfassung

An einem kalten Oktobertag des Jahres 1881 peitschten auf offener Straße Schüsse durch die pulsierende Silberminenstadt Tombstone im Südosten Arizonas. Der Gunfight am O. K. Corral kostete drei Männer das Leben und machte die Sieger unsterblich. Wyatt Earp und Doc Holliday wurden zu Western-Legenden. Ein großer historischer Roman, in einer Neubearbeitung des Autors, ergänzt durch Belege, erweckt die dramatischen Ereignisse von Tombstone und die handelnden Personen wieder zum Leben. Die Printausgabe des Buches umfasst 192 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


„Noch einen Whisky.“

„Keinen Whisky mehr, Doc. Sie hatten heute schon genug.“

„Wer sagt das?“

„Kate hat das gesagt.“

„Zum Teufel mit Kate.“ Der hagere, mittelgroße Mann mit dem schmalen, eingefallenen Gesicht, das ganz von einem sauber gestutzten, dunkelblonden Oberlippenbart und von tief liegenden düsteren Augen beherrscht wurde, lehnte sich hinter dem mit grünem Samt bespannten Tisch zurück. Er rückte den tadellos sitzenden, eleganten Prince-Albert-Rock gerade und griff mit seinen schlanken Fingern nach einem Päckchen Spielkarten, das er mit atemberaubendem Geschick auseinanderfächerte.

Der Keeper hinter der Theke grinste dünn und wandte sich den Gläsern im Spülbecken zu. Die Schwingtür des Saloons ging auf. Ein Schwall kühle Luft drang herein. Ein Mann in tropfnassem Umhang trat ein und blickte sich im leeren Schankraum um. Ohne den Keeper zu beachten, schritt er auf den Spieltisch zu, an dem der hagere Mann begann, eine Patience zu legen.

Von der Bahnstation klang das Schrillen einer Dampfpfeife. Auf der Straße polterten Wagengespanne vorbei, das Muhen von Rindern war zu vernehmen. Regenschleier klatschten an die Fenster. Dazwischen waren schemenhaft die Umrisse von Cowboys zu erkennen, die eine kleine Herde vorbeitrieben.

„Holliday?“ Der Mann nahm den Hut mit der triefenden Krempe ab, warf ihn auf einen Nebentisch und öffnete das durchnässte Cape. Er war ein mittelgroßer, bulliger Mann mit struppigem Kinnbart und buschigen Brauen, unter denen hervor er den Spieler anfunkelte.

„John Henry Holliday, Doktor der Zahnmedizin.“ Der Spieler blickte den anderen gleichgültig an. „Was kann ich für Sie tun?“

„Lassen Sie das Theater“, sagte der Mann. „Sie sind kein Doktor, auch wenn Sie sich so nennen. Sie sind ein kleiner Dentist, der bei anderen zugeschaut hat, wie man einem Menschen mit einer Zange im Mund herumfuhrwerkt. Ich kenne Sie, Holliday. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie waren Gehilfe bei einem Zahnarzt in Texas. Das war alles. In Wirklichkeit sind Sie nur ein mieser kleiner Kartenhai.“

„Meinen Sie?“ Der Spieler verzog den Mund in gut gespielter Überraschung und setzte ein ironisches Lächeln auf.

„Ich bin Ferlow“, sagte der andere. „Gus Ferlows Vater.“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Sie erinnern sich verdammt gut. Sie haben Gus Ferlow in einer einzigen Nacht zehntausend Dollar abgenommen. Geld, das er für eine Rinderherde erhalten hat, die er für mich verkaufen sollte.“

„Ich wundere mich immer, wie wenig Verantwortungsbewusstsein die Söhne reicher Männer haben“, antwortete Holliday.

„Hören Sie auf, Holliday. Sie haben Gus betrunken gemacht. Er ist jung und unerfahren. Er hat sich von Ihnen dazu bringen lassen, am Spieltisch sitzen zu bleiben, wenn erfahrenere Männer längst aufgestanden wären. Sie haben ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, und ich kann Ihnen zwei Zeugen nennen, die bestätigen werden, dass Sie Gus betrogen haben.“

Mit einer leichten Handbewegung wischte Doc Holliday die Patience beiseite. Sein hohlwangiges Gesicht war starr wie eine Maske. „Seien Sie vorsichtig, Sir“, sagte er. „Vermutlich meinen Sie die beiden Gentlemen, die ebenfalls am Tisch gesessen und versucht haben, Ihrem Sohn die Dollars abzunehmen. Sie hatten nicht so viel Erfolg damit. Ihr Sohn war ganz wild darauf, aller Welt zu beweisen, was für ein toller Bursche er ist. Er hat mit den Dollars nur so um sich geschmissen. Bevor Sie einen Mann des Falschspiels beschuldigen, sollten Sie sich über die Folgen im Klaren sein.“

„Ich glaube Ihnen kein Wort“, sagte Ferlow. „Sie sind vor zwei Jahren aus Santa Fe ausgewiesen worden, weil Sie drei Männer erschossen haben. Man hat Sie aus Las Vegas verjagt, weil Sie einen Mann umgebracht haben. Sie haben in Dallas einen Mann abgeknallt und in Fort Griffin auch. Was Sie in Dodge City getrieben haben, weiß ich nicht, aber überall, wo Sie waren, hat es Tote und Verletzte gegeben. Ich werde …“

„Sie werden jetzt gehen, Sir“, sagte Holliday. „Es ist bitter, einen Sohn zu haben, dem man seinen Besitz anvertraut und der dann ohne lange zu überlegen zehntausend Dollar in einer einzigen Nacht durchbringt. Das berechtigt Sie aber nicht, andere zu beschimpfen. Ich spiele ehrlich. Vielleicht spiele ich ein bisschen besser als andere, aber das ist kein Verbrechen. Scheren Sie sich raus, bevor ich böse werde.“

„Sie geben mir auf der Stelle das Geld zurück!“, brüllte Ferlow.

Doc Holliday lachte. Er blickte Ferlow mitten ins Gesicht. Der Rancher beugte sich vor. Da schwang der Lauf eines vernickelten 45er-Peacemaker-Colts unter dem Tisch hoch. Die große, drohende Mündung befand sich im nächsten Moment kaum eine Handbreite vom Gesicht des anderen entfernt.

„Sie sind ein Killer“, keuchte Ferlow. „Sie werden bezahlen, Holliday. Ihnen lege ich das Handwerk.“ Er drehte sich um und hastete zur Tür, den Hut in der Hand. Als er die Schwingarme aufgestoßen hatte und auf der Schwelle stand, wirbelte er unvermittelt herum. In seiner rechten Faust lag ein kurzläufiger Colt. Als er schoss, fauchte ihm bereits ein orangefarbener Blitz entgegen. Holliday hatte seine Waffe gesenkt und schoss unter der Tischplatte hindurch.

Die Kugel des Ranchers bohrte sich in eine Stuhllehne. Der Aufprall von Hollidays Projektil schleuderte ihn herum. Er kippte gegen den linken Schwingflügel der Tür und klammerte sich daran fest. Sein Gesicht war verzerrt, die Augen unnatürlich geweitet. Er ließ seine Waffe fallen, umfasste mit der linken Hand seinen rechten Oberarm und torkelte in den Regen hinaus. Die Schwingtür pendelte hin und her.

Doc Holliday erhob sich und ließ den vernickelten Revolver im Holster unter dem Prince-Albert-Rock verschwinden.

„Es war Notwehr, Doc“, sagte der Keeper. „Ich habe alles gesehen. Ich werde darauf schwören.“

„Danke, Sam.“ Holliday ging zur Theke. „Gib mir jetzt doch einen Whisky.“

Der Keeper nickte und schob dem Spieler ein Glas hin. „Nur einen kleinen, Doc.“

Holliday stürzte den Whisky hinunter. Als er sich umwandte, sah er Kate Elder in der Tür zum hinteren Teil des Saloons stehen. Von ihrer breithüftigen, üppigen Figur und dem herb geschnittenen Gesicht mit der etwas zu großen Nase ging eine ungeheure Sinnlichkeit aus. Doc Holliday schritt zu ihr hinüber. Sie lächelte ihn an, sodass der Keeper es sehen konnte, ihre Augen aber glitzerten kalt.

„Wir müssen verschwinden“, sagte sie leise.

„Es war Notwehr“, sagte Holliday. „Sam wird es dem Marshal bestätigen.“

„Wird er ihm auch bestätigen, dass du hier gesessen hast, als die Express-Kutsche vor zwei Tagen überfallen worden ist?“

„Was soll das?“

„Das erkläre ich dir später.“ Sie drehte sich um.

Holliday folgte ihr. In dem dunklen Gang zum Hof wurde er plötzlich von einem Hustenanfall geschüttelt und lehnte sich an die Wand. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er zückte ein Taschentuch und betupfte seine Lippen. Das Tuch hatte danach dunkle Flecke. Kate Elder stützte ihn. Sie drängte ihn zur Hoftür. Vor dem Stall sah er zwei Pferde stehen, die bereits gesattelt waren. An den Sätteln hingen prall gefüllte Reisetaschen.

„Wo warst du vor zwei Tagen?“, fragte Kate.

„Ich bin in die Berge geritten.“ Holliday atmete rasselnd. „Das weißt du. Ich habe mich schlecht gefühlt.“

„Ich weiß es. Du weißt es. Aber einige Leute haben dich aus der Stadt reiten sehen, und danach ist die Postkutsche überfallen worden. Du weißt, dass du in Santa Fe keine Freunde hast.“

„Woher hast du das erfahren?“

„Eins von den Mädchen aus Pearls Bordell hat es mir erzählt. Der Marshal will dich noch heute verhaften. Und jetzt schießt du auch noch einen Mann über den Haufen …“

„Er hat zuerst geschossen.“ Holliday blieb neben dem Pferd stehen. „Wo sollen wir hin?“

„Hast du das Telegramm vergessen, das Wyatt dir vor ein paar Tagen geschickt hat? Du hast gesagt, du wolltest dir die Sache überlegen. Jetzt gibt es nichts mehr zu überlegen.“

„Wie heißt das Nest noch, wo er jetzt steckt?“

„Tombstone“, sagte Kate.

„Grabstein.“ Doc Holliday hüstelte wieder. Er lachte gequält. „Was für ein Name! Arizona soll um diese Jahreszeit schon sehr warm sein, zumindest so tief im Süden. Vielleicht tut es mir gut.“

„Es wird uns bestimmt guttun.“ Sie blickte ihn drängend an. „Du hast Wyatt Earp und seine Brüder dort.“

„Die Brüder können mich nicht leiden“, sagte Holliday. „Aber Wyatt ist mein Freund … vielleicht mein einziger.“ Er schwang sich in den Sattel und schlug den Kragen des Prince-Albert-Rocks hoch. Kate reichte ihm einen Umhang hoch, den er sich folgsam um die Schultern legte. Er spähte durch die feinen Nieselregenschleier zu den Bergen hoch, die Santa Fe umgaben.

„Ich habe Santa Fe nie leiden können“, sagte er. „Die Leute halten sich für etwas Besseres, bloß weil der Gouverneur hier residiert. Dazu die alte Mission … Pah! Einen Dreck ist das wert. Keine Ahnung von Kultur. Keiner von denen weiß, wie es in Georgia gewesen ist. In Valdosta hat es schon ein Opernhaus gegeben, als hier noch die Sandflöhe um die Wette gesprungen sind. Dort gibt es sogar eine Holliday-Straße.“

„Ich weiß, John.“ Kate bestieg ihr Pferd. „Ich kenne die alten Geschichten. Dafür gibt dir in Santa Fe niemand auch nur einen Cent. Hier hängen sie dich auf, wenn sie dich erwischen.“

„Das ist es ja, was ich meine. Zum Teufel mit Santa Fe.“ Er trieb sein Pferd an, stülpte den Hut auf, den Kate ihm reichte und zog ihn tief in die Stirn. Sie ritten nebeneinander aus dem Hof des Saloons, schwenkten in eine Seitengasse und ritten an der Bahnstation vorbei zum Stadtrand. Auf der Main Street sahen sie den Marshal, einen bulligen, hünenhaften Mann, der von zwei Deputys begleitet wurde. Er schritt nach vorn gebeugt durch die Regenschleier zum Saloon.

Holliday wandte den Kopf und sagte: „Du hast mir schon wieder aus der Patsche geholfen.“ Er dachte daran, dass Kate Elder einmal fast eine ganze Stadt angezündet hätte, um ihn davor zu retten, von einer wütenden Menge gelyncht zu werden.

„Ich bin deine Frau“, sagte sie einfach und zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer in ihr Gesicht. Niemand achtete auf sie, als sie an der Bahnlinie entlang nach Westen ritten und am Stadtrand nach Südwesten schwenkten. Ein kühler Wind traf sie, der ihnen den Regen entgegentrieb. Doc Holliday spürte den Schmerz in seiner kranken Lunge, einen Schmerz, der ihn seit Jahren auszehrte. Er wusste, dass er den Tod in sich trug, und manchmal wünschte er sich, dass einer der Männer, die ihren Revolver gegen ihn zogen, schneller war und besser traf als er. Dann würde alles vorbei sein, die ständigen Schmerzen, die immer schlimmer werdenden Hustenanfälle, die teuflische Schwäche und die langen Nächte, in denen die Angst und die Qual unerträglich wurden. Zugleich aber war noch immer genug Kraft in ihm, gegen den eigenen Körper anzukämpfen, um weiterleben zu können.

„Tombstone“, murmelte er leise vor sich hin. Seine Frau hörte es nicht. Das Rauschen des Regens und des Sturms waren zu laut. Es übertönte sogar den Hufschlag der beiden Pferde.

 

*

 

Er beobachtete den Cowboy schon eine Weile. Er lungerte vor dem Alhambra Saloon herum und hielt eine Flasche mit billigem Fusel in der Hand. Ab und zu setzte er sie an den Mund und nahm einen großen Schluck. Dabei schwankte er bereits so stark, dass es manchmal aussah, als würde er gleich umkippen. Immer wieder hob er den Kopf und starrte die Fenster des Alhambra Saloons an.

Irgendwann war die Flasche leer, und der Cowboy stieß einen wilden Fluch aus. „Ich bin genauso gut wie diese dreckigen Stollenkratzer aus den Silberminen!“, brüllte er.

Das war der Moment, in dem sich der hochgewachsene, schlanke, athletische Mann in Bewegung setzte. Er erreichte den Cowboy gerade, als dieser die Flasche gehoben hatte, um sie mit Schwung in eine der mit Goldbuchstaben beklebten Scheiben des Saloons zu schleudern.

„Zur Hölle mit euch!“, schrie der Cowboy. Da wurde sein rechtes Handgelenk von hinten gepackt. Er verlor die Flasche und wurde mit einer harten Drehung zu Boden geschleudert.

Obwohl er betrunken war, war er sofort wieder auf den Beinen und stand taumelnd vor dem großen Mann, dessen kantig geschnittenes Gesicht von einem wuchtigen, sichelförmigen Schnauzbart beherrscht wurde. Der Mann hatte ungewöhnlich helle, graublaue Augen, die wie geschliffene Kiesel schimmerten. Er trug einen breitrandigen, flachkronigen Hut und einen erstklassig geschnittenen, schwarzen Gehrock, auf dessen Aufschlag ein silbernes Abzeichen steckte.

„Du hast deinen Spaß gehabt“, sagte der Mann. „Jetzt habe ich ein feines Zimmer für dich, wo du bis morgen früh schlafen kannst.“

„Geh zum Teufel!“, schrie der Cowboy. „Die haben mich rausgeschmissen.“ Er deutete auf den Alhambra Saloon. „Weil ich ein Kuhtreiber bin, haben sie gesagt. Ich werde es denen zeigen, ich …“

„Du wirst gar nichts“, sagte der große Mann. „Vorwärts!“

Der Cowboy drehte sich halb und griff unvermittelt zum Revolver. Obwohl er betrunken war, war er ziemlich schnell.

Der Deputy Sheriff ließ seine Faust ansatzlos vorschnellen. Sie grub sich in den Leib des Mannes. Der krümmte sich ächzend zusammen. Der nächste Schlag traf seinen linken Kinnwinkel und riss ihn wieder hoch. Er stürzte rücklings in den Staub. Der Deputy bückte sich und nahm den Revolver an sich.

Der Cowboy hatte die Hände auf den Leib gepresst, wälzte sich herum und übergab sich mit gequältem Keuchen. Als er sich mühsam auf die Knie aufrichtete, packte ihn der hochgewachsene Mann am Kragen, zerrte ihn hoch und stieß ihn vor sich her, ohne sich um die neugierigen, hier und da auch feindseligen Blicke der Zuschauer zu kümmern, die sich auf den Stepwalks angesammelt hatten.

Er erreichte das Office des County Sheriffs, trieb den Cowboy, der jetzt leise stöhnte, hinein, brachte ihn in den Zellentrakt und schloss eine der Gittertüren hinter ihm. Dann kehrte er ins Office zurück, wo ein gedrungener, kantiger Mann hinter dem Schreibtisch saß.

„Ein betrunkener Randalierer“, sagte der große Mann und setzte sich an einen anderen Tisch, zog ein Formular heran und füllte es mit der Tintenfeder aus.

„Mir fällt auf, dass es immer Cowboys oder Ranchhelfer sind, die Sie als Randalierer hier anschleppen, Wyatt“, sagte der gedrungene Mann.

„Er hat versucht, eine leere Whiskyflasche in ein Fenster des Alhambra Saloons zu werfen.“ Wyatt Earp blickte den Sheriff ruhig an.

„Welch ein Zufall“, sagte Charles Shibell. „Ich wollte ohnehin mit Ihnen darüber reden. Stimmt es, dass Sie einen Anteil am Alhambra Saloon gekauft haben?“

„Die Hälfte, um genau zu sein“, erwiderte Earp.

„Sie vernachlässigen die anderen Etablissements von Tombstone“, sagte Shibell. „Jeder in der Stadt hat Anspruch auf unseren Schutz, nicht nur Ihre eigenen Besitzungen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass ich meine Pflicht nicht erfülle?“

„Ich will damit sagen, dass ich in letzter Zeit den Eindruck habe, dass Sie es vor allem auf Cowboys und Farmhelfer abgesehen haben.“

„Sie wissen, dass das nicht stimmt“, sagte Earp. „Ich trage nicht zum ersten Mal den Stern. Ich weiß sehr wohl zwischen meinem Amt und meinen privaten Geschäften zu unterscheiden. Oder wollen Sie mir verbieten, mein Geld gewinnbringend anzulegen?“

„Es macht keinen guten Eindruck, wenn der Deputy Sheriff Mitinhaber einer der größten Spielhöllen der Stadt ist.“

„Der Alhambra Saloon ist ein erstklassig geführtes, seriöses Geschäftsunternehmen“, antwortete Wyatt Earp.

„Mag sein. Aber Sie sind nicht mehr unparteiisch. Die Situation in der Stadt erfordert es, dass wir so neutral wie möglich sind.“

„Wollen Sie mich entlassen?“, fragte Wyatt Earp scharf.

Die Office-Tür ging auf. Ein mittelgroßer, schlanker Mann mit sorgfältig gestutztem Kinnbart trat ein. Er warf Earp einen schiefen Blick zu und sagte: „Es soll Ärger vor dem Alhambra Saloon gegeben haben.“

„Wir reden gerade darüber, Behan“, sagte Shibell. Der Sheriff wich Wyatt Earps Blicken aus.

„Die Leute reden darüber, dass sich der Alhambra Saloon einen eigenen Deputy Sheriff leistet“, sagte Johnny Behan.

„Wer sagt das?“, fragte Wyatt Earp und richtete sich auf. „Heraus mit der Sprache, Behan!“

„Wollen Sie mich bedrohen, Earp?“ Behan saß wie ein kleiner, gespreizter Hahn auf seinem Stuhl. Er war blass, in seinen Augen flackerte es. Ihm war anzusehen, dass ihm nicht wohl in seiner Haut war, aber er versuchte, es nicht zu zeigen, was nicht gelang. „Ich weiß, dass Sie einen gewissen Ruf haben.“ Seine Blicke glitten immer wieder zu dem blank gewetzten Griff des schweren 45er-Revolvers im rechten Holster Wyatt Earps.

„Was für einen Ruf, Behan? Na los, warum reden Sie immer nur in Andeutungen?“

„Ich lasse mich nicht provozieren!“

„Zu was? Dass Sie Ihren Revolver ziehen?“ Earp lachte. „Da müssten Sie erst mal eine Stunde üben gehen. Oder haben Sie Angst, dass ich auf einen Mann schieße, der nicht mal ein Scheunentor trifft? Für wen halten Sie mich?“

„Wyatt!“ Shibell erhob sich ebenfalls. „Johnny Behan wird voraussichtlich mein Nachfolger sein. Sie können nicht so mit ihm reden.“

„Ich habe verstanden.“ Wyatt Earp nahm das Abzeichen ab und warf es auf den Schreibtisch. „Viel Glück, Behan. Wenn Sie wirklich Sheriff vom Cochise County werden, sollten Sie vielleicht doch ab und zu mit dem Revolver üben.“ Er ging zur Tür. „Ach so, Behan, stimmt es, dass Sie Anteile am Dexter-Corral-Mietstall gekauft haben? Anscheinend machen auch andere Leute Geschäfte in Tombstone.“

„Moment, Wyatt!“, rief Shibell. „So habe ich das nicht gemeint. Was haben Sie jetzt vor?“

„Das, was jeder anständige Bürger tut“, sagte Earp. „Ich werde mir einen neuen Job suchen.“ Er schloss die Tür hinter sich.

Behan sprang auf, trat ans Fenster und blickte der hohen Gestalt nach, die die Straße hinunter schritt. „Er ist ein Mann der Minenbesitzer“, sagte er. „Ich weiß es genau. John Clum und seine Freunde haben ihn und seine Brüder hierhergeholt. Die Minenbesitzer haben ihre Beziehungen spielen lassen, um dafür zu sorgen, dass Virgil Earp Deputy US-Marshal wird. Jetzt ist er auch noch City Marshal von Tombstone. Er ist mächtiger als jeder Sheriff. Die Earps sind Revolvermänner, Shibell. Wenn sie hierbleiben, bedeutet das Krieg!“

„Was glauben Sie, weshalb ich Wyatt den Deputy-Stern angeheftet hatte, Johnny?“ Shibell seufzte und ließ sich wieder am Schreibtisch nieder. „Um ihn unter Kontrolle zu halten. Ich hätte ihn nicht entlassen, aber ich vermute, dass er schon eine Weile darauf gewartet hat, sich absetzen zu können.“

„Am Tag meiner Wahl zum Sheriff des Cochise County hätte ich ihn ohnehin rausgeworfen“, sagte Behan.

„Wenn Sie in Earp nur einen Revolvermann sehen, irren Sie sich“, sagte Shibell. „Der Mann ist viel gefährlicher. Er ist klug, und er hat gute Beziehungen.“

„Wenn wir nicht aufpassen, zerquetschen die Minenbesitzer diese Stadt wie einen faulen Apfel“, sagte Johnny Behan. „Wir müssen die Viehzüchter und Farmer unterstützen. Von ihnen muss Tombstone noch leben, wenn es kein Silber mehr hier gibt.“

„Ich bin froh, dass ich diese Probleme bald alle los bin“, sagte Shibell. „Der Sheriffstern wird mit jedem Tag schwerer. Ich hoffe, Sie überheben sich nicht daran.“

Behan antwortete nicht.

 

*

 

Mattie stand am Fenster, als Wyatt Earp das kleine Haus betrat, das er gemietet hatte. Er verharrte auf der Türschwelle des Raums.

„Du hast wieder getrunken“, sagte Earp. Sein Gesicht wirkte starr. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines Jägers durch den Raum, hob die Lampenschirme an, zog die Sofakissen zur Seite und fand die halb volle Flasche Bourbon hinter dem Kaminholz. Er öffnete das Fenster und schüttete den Inhalt hinaus. Mattie sah ihm mit glasigen Augen zu. Unvermittelt stieß sie einen Schrei aus und hob die Fäuste, um auf ihn einzuschlagen. Er wich blitzschnell aus, packte ihre Handgelenke und warf sie auf die Couch, wo sie hemmungslos schluchzend liegen blieb. Er stand vor ihr und wartete, bis der krampfartige Anfall vorbei war.

„Ich habe Shibell den Stern zurückgegeben“, sagte Earp, als sie mit verweinten Augen hochschaute.

„Damit du noch mehr Zeit für dieses … Flittchen hast? Wie heißt sie gleich noch? Josephine Marcus? Wie nennst du sie, wenn du bei ihr im Bett liegst? Josie?“

„Du bist betrunken“, erwiderte er.

„Ja, ich bin betrunken!“, schrie sie. „Weil ich es nüchtern nicht mehr ertrage. Seit wir in Tombstone sind, d…“

„Du irrst dich“, unterbrach er sie. „Es hat schon nicht mehr gestimmt, als wir noch in Fort Griffin waren.“

„Weil du nur immer deine Geschäfte im Kopf hast.“ Ihre Stimme klang jetzt jämmerlich. „Ich kann es schon nicht mehr hören. Dies ist ein gutes Geschäft, das bringt eine Menge Dollars. Wir brauchen Einfluss in den Stadtverwaltungen und in den Zeitungen. Und dazu noch deine verdammten Nutten!“ Jetzt brüllte sie wieder.

„Vergiss nicht, wo du herstammst“, sagte Wyatt Earp kalt. „Ich habe dich aus dem Dreck geholt. Du bist jetzt nicht mehr die Hure Mattie Blaylock, sondern Mistress Earp, die ehrbare Ehefrau eines angesehenen Geschäftsmanns.“

„Dass ich nicht lache! Angesehener Geschäftsmann … Was für Geschäfte betreibst du denn? Glücksspiel, Handel mit Fusel, Bordelle.“

„Silberminen“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. „Wir haben uns in Tombstone beträchtlich verbessert. Und es wird noch besser werden.“ Er beugte sich drohend vor. „Benimm dich entsprechend. Wenn ich dich noch einmal mit einer Flasche erwische, prügel ich dich windelweich!“

Sie starrte ihn aus wässrigen Augen an, aber ihre Stimme klang klar, als sie sagte: „Und wenn ich dich mit Josie Marcus erwische, kratze ich ihr auf offener Straße die Augen aus.“

„Frag dich selbst, warum ich manchmal freundlichere Gesellschaft suche, als ich sie hier finde“, sagte Wyatt Earp.

Er hörte die Haustür und warf einen Blick in den Gang. Ein mittelgroßer, bulliger Mann mit mächtigem Seehundsbart hatte das Haus betreten. Er trug ein wappenförmiges Abzeichen aus schwerem Silber auf seinem Rockaufschlag. Seine Krawatte war tadellos gebunden.

„Was ist bei Shibell passiert?“, fragte Virgil Earp. Er nahm den Hut ab und trat ins Wohnzimmer. „Guten Tag, Mattie.“

Sie antwortete nicht. Wyatt Earp nickte ihm zu und verließ das Haus durch die Hintertür. Er blieb im Hof stehen und blinzelte in die brennende Sonne. Über den Bretterzaun hinweg konnte er in das weite, ausgedörrte Land sehen, das sich bis zur Mexiko-Grenze erstreckte.

„Sie hat wieder getrunken“, sagte er, als sein Bruder ihm gefolgt war. „Sie wird sich zu Tode saufen, wenn das so weitergeht. Ich habe es satt.“

„Glaubst du, dass sie uns Ärger bereiten wird?“

„Wenn sie könnte … Andererseits weiß sie, dass sie ohne mich verhungert oder zurück in ein Bordell muss.“ Earp schüttelte sich, als streife er alle Probleme wie lästige Wassertropfen von sich ab. „Ich habe den Stern hingeschmissen. Shibell hat es darauf angelegt. Wie es aussieht, ist in spätestens einem halben Jahr Johnny Behan neuer Sheriff des Cochise County, dann hätte ich ohnehin nicht bleiben können.“

„Du hättest trotzdem bleiben sollen“, sagte Virgil. „Wir müssen unsere Finger überall drin haben, auch wenn weder Shibell noch Behan viel zu sagen haben. Sheriff zu sein, ist im Cochise County ein schöner Titel, aber die Musik wird nur in Tombstone gemacht, und hier bin ich der Chef der Stadtpolizei. Kein Sheriff kann mir reinreden. Und ich bin Deputy US-Marshal und zuständig für alle Verstöße gegen das Bundesgesetz.“ Er schnippte mit den Fingern und grinste unter seinem Walrossbart hervor. „In einem Territorium der USA ist ein Sheriff nicht viel wert. Der US-Marshal ist alles. Ich werde dich zum Assistant Marshal ernennen, dann platzt Behan vor Wut in tausend Stücke.“

„Lieber nicht.“ Wyatt Earp schüttelte den Kopf. „Vielleicht von Fall zu Fall, aber nicht sofort. Das sieht zu sehr nach Vetternwirtschaft aus.“

„Zum Teufel damit, was die Leute sagen. Ich bin vom Gouverneur ernannt, und ich tue diesen Job verdammt gut. Ich spare der Stadt Geld. Ich habe die Polizeitruppe von sechs Mann auf zwei verkleinert, also kann ich mir als Deputies nehmen, wen ich will.“

„Lassen wir es so, wie es ist, Virgil.“ Wyatt Earp lächelte seinen Bruder an. „Wir Earps haben immer zusammengehalten, und wir haben immer erhalten, was wir wollten. Ich werde mich an einen Spieltisch im Alhambra Saloon setzen. Dabei erfährt man auch eine Menge. Morgan hat seinen Job als Kutschenbegleiter bei der Wells Fargo. Ich finde, wir sind überall gut im Geschäft.“

„Es wird allmählich Zeit, dass wir etwas mehr tun“, sagte Virgil. „Die Rancher werden immer frecher. Auf ihrem Land verkriecht sich alles Gesindel, das woanders steckbrieflich gesucht wird. Besonders die Clantons und die McLaurys. Das sind alles Viehdiebe und Grenzschmuggler. Die haben ihre Finger in jedem dreckigen Geschäft diesseits und jenseits der Grenze.“

„Du musst es ihnen beweisen.“

„Das werde ich. War es nicht der junge Billy Clanton, der dir dein Pferd gestohlen hatte?“

„Er hat auf seinem Rücken gesessen. Aber er hat gesagt, dass der Mann im Mietstall es ihm aus Versehen gegeben habe. Ich konnte ihm nicht das Gegenteil beweisen.“

„Ich wette, die Hälfte ihrer Herden ist gestohlen. Sie verkaufen das gestohlene Vieh nach Mexiko. Und Johnny Behan sitzt abends mit ihnen und ihren Cowboys zusammen. Ein feiner künftiger Sheriff, der Viehdiebe unter seinen Freunden hat. Wie ich hörte, will er sogar ein paar von den Clanton-Cowboys zu Deputies ernennen, wenn er Sheriff ist.“

„Ich werde heute Abend mit John Clum zusammen sein“, entgegnete Wyatt Earp, „und ihm sagen, dass wir mehr Druck vonseiten der Verwaltung Arizonas brauchen, um mit den Viehdiebstählen, den Straßenräubereien und dem Grenzschmuggel aufzuräumen. Dafür sind wir schließlich hergeholt worden. Aber ohne Unterstützung von oben läuft nicht viel. Ich habe übrigens dem Doc geschrieben, dass für ihn noch Platz in Tombstone sei.“

Virgil verzog das Gesicht.

„Er ist ein guter Schütze“, sagte Wyatt Earp, „und er ist zuverlässig. Wir können Männer wie ihn brauchen.“

„Er ist dein Freund“, sagte Virgil. „Wir müssen den Bürgern von Tombstone zeigen, dass die Cowboys und Viehzüchter das Leben in Tombstone unsicher machen. Wir brauchen öffentliche Unterstützung. Es wäre gut, wenn du dich mit Mattie einigen könntest. Die Leute könnten es uns übel nehmen, wenn du sie sitzen lässt und …“

„Das ist meine Sache, Virgil“, sagte Wyatt. „Ich muss mit Mattie leben.“

„Die Leute sehen es, wenn du jeden Abend zum Bird Cage Theatre gehst, und Behan glaubt, dass Josie Marcus zu ihm gehört.“

„Was Behan glaubt oder nicht, ist mir ziemlich egal“, sagte Wyatt Earp. Er schaute seinem Bruder nach, der das Haus umrundete und aus seinem Blickfeld verschwand. Er lehnte sich gegen den Hofzaun. Wenn er an Mattie dachte, hatte er keine Lust mehr, zurück ins Haus zu gehen. Das war einmal anders gewesen. In Fort Griffin, Texas, hatte er Mattie geliebt. Auch noch in Dodge City und in den vielen anderen Städten, wo sie gewesen waren. In den letzten Monaten aber waren sie sich immer fremder geworden. Mattie wollte ein beschauliches Leben führen, ein kleines Haus, Kinder, keine größeren Ansprüche, kein Aufsehen.

Wyatt Earp war einunddreißig Jahre alt. Er hatte immer etwas Besonderes sein wollen. Ihn hatten immer nur zwei Dinge interessiert: Geld und öffentliches Ansehen. Zu Geld hatte er es gebracht, und wenn ihm in Tombstone etwas Zeit blieb, würde er als wohlhabender Mann hier weggehen. Dafür sorgten die Vereinbarungen, die er und seine Brüder mit den Vertretern der Silberminengesellschaften getroffen hatten, und seine ausgeprägte Geschicklichkeit, Dollars immer in die richtigen Geschäfte zu investieren.

Aber mit Ansehen und Einfluss hatte es bislang nicht ganz geklappt, immer war er nur zweiter oder dritter Mann gewesen. Wichita, Dodge City und jetzt Tombstone. Nie hatte er es geschafft, selbst Marshal oder Sheriff zu werden, immer war er an irgendwelchen Kleinigkeiten gescheitert. Diesmal musste es klappen.

Der sengende Wind umstrich ihn. Wyatt Earp zündete sich ein langes, schwarzes Zigarillo an und kehrte zurück ins Haus. Die Wohnstube war leer. Er hörte Schritte im Obergeschoss. Mattie war ins Schlafzimmer gegangen. Vermutlich hatte sie sich eingeschlossen. Wyatt Earp dachte an Josie Marcus, die junge Tänzerin vom Bird Cage Theatre. Er würde heute Abend zu ihr gehen. Egal, was die Leute dachten oder sagten.

 

*

 

Johnny Behan war allein im Sheriffs Office, als Ike und Billy Clanton und die Brüder McLaury anklopften und eintraten.

„Shibell ist schon im Bett“, sagte Behan und grinste selbstgefällig. „Wer etwas erreichen will, darf nicht zu früh schlafen gehen.“

„Viel erreichen Sie auch nicht“, sagte Ike Clanton, ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und kantigem Schädel. „Die Minengesellschaften werden immer mächtiger. Bald ist es so weit, dass wir nicht mal mehr in die Stadt reiten dürfen, um unsere Saloons zu besuchen, einen Whisky zu trinken, Musik zu hören und Spaß mit ein paar Mädchen zu haben. Bald dürfen wir nicht mehr in den Geschäften von Tombstone einkaufen.“

„Übertreiben Sie nicht, Ike“, sagte Behan. „Sie sehen, dass das Sheriffs Office auf Ihrer Seite ist. Ich werde bald Sheriff des Cochise County sein.“

„Was nutzt das schon?“, sagte Billy. „Boss in der Stadt ist Virgil Earp, und er hat außerdem den Stern des Deputy US-Marshals.“

„Wie wäre es, wenn Sie erst einmal die Finger von anderer Leute Vieh lassen würden?“ Auf Behans Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. „Ich kann nicht viel für euch tun, wenn ihr euch selbst immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Die Earps warten nur darauf. Sie liegen den ganzen Tag auf der Lauer, um mich und euch zu erledigen.“

„Wir sind mit unseren Farmen schon hier gewesen, als es noch keinen einzigen verdammten Digger hier gab“, sagte Tom McLaury. „Ich erinnere mich noch an Ed Schieffelin, der wie ein Verrückter bei einer Affenhitze mit seinem Spaten im Boden herumgewühlt hat. Wenn ich gewusst hätte, was daraus wird, hätte ich ihm den Schädel eingeschlagen.“

„Ihr habt auch Vorteile von Tombstone“, sagte Behan. „Wie weit habt ihr früher reiten müssen, um einkaufen zu können? Wie viele Meilen hattet ihr bis zum nächsten Whisky? Ihr könnt euer Vieh schneller und leichter verkaufen.“

„Das ist nicht alles. Die Minenbesitzer haben alles an sich gerissen. Sie wollen unsere Ländereien haben, sie wollen die Preise für Rindfleisch diktieren, und sie wollen, dass wir aus Tombstone verschwinden. Wir stören ihre Geschäfte.“

„Ich habe vor drei Tagen mit dem amtierenden Gouverneur gesprochen“, sagte Behan, „und ihm berichtet, was hier los ist, und dass die Earps den Konflikt zwischen Minenbesitzern und Ranchern verschärfen. Er hält große Stücke auf Virgil Earp. Also stellt euch darauf ein, dass wir es weiter mit den Earps zu tun haben werden.“

„Und wenn die sich auf den Kopf stellen, unser Land kriegen die Minengesellschaften nicht. Wir lassen uns auch die Fleischpreise nicht vorschreiben.“ Ike Clanton ließ seine Faust krachend auf den Schreibtisch Behans fallen.

„Die Earps haben diesen Spieler nach Tombstone geholt“, sagte Frank McLaury. „Holliday. Er nennt sich Doc, soll mal Zahnarzt gewesen sein. Angeblich hat er einen Haufen Männer erschossen.“

„Ich weiß“, sagte Behan. „Er hat einen Tisch im Oriental Saloon gemietet. Ich habe ein paar Leute auf ihn angesetzt – bis jetzt spielt er ehrlich. Ich rate euch, helft mir, wo ihr könnt. Haltet die Augen offen. Die Earps haben auch Dreck am Stecken, so viel ist sicher. Wenn es uns gelingt, nachzuweisen, dass sie krumme Geschäfte betreiben, kann ich den Gouverneur dazu bringen, Virgil Earp zu entlassen. Aber im Augenblick: Gouverneur Fremont ist Republikaner, Bürgermeister Clum ist Republikaner, die Earps sind Republikaner. Nur wenn wir ihnen etwas anhängen können, sind sie raus. Erst dann können wir einen von unseren Leuten auf den Stuhl des City Marshals setzen.“

„Das sind Revolvermänner“, sagte Ike Clanton. „Die sind hergeholt worden, um uns bei passender Gelegenheit umzubringen.“

„Habt ihr keine Freunde, die mit dem Colt umgehen können?“

„Frank Stilwell vielleicht“, sagte Tom McLaury.

„Den werde ich zum Deputy ernennen, wenn ich Sheriff bin“, sagte Behan. „Ist das alles?“

„Ich könnte versuchen, Johnny Ringo herzukriegen“, sagte Ike Clanton.

„Den Revolvermann aus Texas?“ Behan wiegte den Kopf. „Wird der nicht steckbrieflich gesucht?“

„Nicht in Arizona“, erwiderte Clanton. „Curly Bill Brocius würde auch kommen. Billy Claiborne und Pete Spence fallen mir noch ein.“

„Holt sie her“, sagte Behan. „Solange sie den Feuerzauber nicht anfangen, sondern es den Earps überlassen, den großen Krach vom Zaun zu brechen … Ich decke das. Die Earps und die Minenbesitzer sollen sehen, dass ihr nicht aufgebt, sondern euch auf alles vorbereitet. Vielleicht stecken die Earps zurück, oder wir kriegen den Kampf, den wir brauchen, um den Gouverneur dazu zu bringen, einzugreifen.“

„Der Gouverneur steht auch aufseiten der Minenbesitzer“, sagte McLaury. „John Fremont hat doch selbst Minen in Kalifornien besessen.“

„Das ist lange her. Im Übrigen ist er im Moment gar nicht in Arizona. Sein Staatssekretär, Mister John Gosper, leitet die Verwaltung. Auch er ist Republikaner, aber ein vernünftiger Mann. Also macht, was ich sage. Holt eure Freunde her und zeigt, dass Tombstone eure Stadt ist.“ Er erhob sich. „Ich habe jetzt zu tun.“

Seine Besucher verließen das Office.

Johnny Behan löschte das Licht und trat nach draußen. Ein lauer Nachtwind strich durch die Straßen. Von der Allen Street klang Lärm aus den Saloons. Johnny Behan wischte mit dem Ärmel über seinen Deputy-Stern. Bald würde er den Stern des County Sheriffs tragen. Das bedeutete viel Geld. Er würde einen Anteil an den Steuern des Cochise County als Bezahlung erhalten, und solange die Minen in Tombstone gewaltige Erträge erwirtschafteten, würde ein hübsches Sümmchen für ihn übrig bleiben.

Nur dass seine Macht in der Stadt gering war, solange Virgil Earp sowohl Marshal von Tombstone als auch Deputy US-Marshal von Arizona war, behagte ihm nicht. Aber Johnny Behan war erfahren genug, um zu wissen, dass die wenigsten Dinge für die Ewigkeit bestimmt waren. Alles konnte sich ändern.

 

*

 

Behan näherte sich dem Bird Cage Theatre und hörte schon von Weitem die Musik aus den offenen Türen. Zurzeit wurde mit großem Erfolg die Operette Pinafore gegeben, ein seichtes Stück mit viel Gesang und vor allem mit der Tänzerin Josephine Sarah Marcus, deren Auftritt jeden Abend von allen Männern von Tombstone herbeigesehnt wurde.

Sie war eine Augenweide, schlank und geschmeidig wie eine Gazelle. Sie schwang ihre herrlichen Beine auf eine Art, die die Männer im Parkett zum Wahnsinn trieb, und sie trug ein so knapp sitzendes Kostüm, dass seit Tagen Wetten abgeschlossen wurden, wann es endlich platzen und ihre Brüste freigeben würde.

Behan umrundete das Theater mit der schäbigen, von zahllosen Kugeln, die Betrunkene abgefeuert hatten, durchlöcherten Fassade. Er betrat es von hinten und schritt durch einen Gang, in dem es nach Whisky, Zigarettenrauch, Schweiß, Schminke und Parfüm roch. Mehrere leicht geschürzte Tänzerinnen aus dem Ballett hasteten an ihm vorbei. Bühnenarbeiter rannten durcheinander und schleppten Kulissen. Das Orchester spielte, und aus dem Zuschauerraum klang Beifall auf. Behan rückte seine Jacke gerade und klopfte an die Tür von Josephine Marcus‘ Garderobe. Seit Monaten war sie seine Freundin, und an diesem Abend hatte er sich vorgenommen, ihr einen Heiratsantrag …

Er öffnete die Tür. Auf dem Stuhl neben dem Schminkspiegel saß ein hochgewachsener, athletischer Mann in schwarzem Gehrock. Er sog an einem langen, schlanken Zigarillo.

„Guten Abend, Behan“, sagte Wyatt Earp.

Johnny Behan wurde bleich. „Was tun Sie hier?“

„Ich warte auf Josie“, sagte Earp. „Und Sie?“

„Josie ist … ich meine …“ Behan begann zu stottern. Seine Haltung straffte sich. „Josie gehört zu mir, das wissen Sie genau.“

„So?“ Earp lachte. „Für einen künftigen Sheriff wissen Sie verdammt wenig. Die halbe Stadt weiß, dass Josie mit mir geht, Behan. In einer Stunde liegen wir zusammen im Bett und werden uns köstlich über Sie amüsieren.“

Behans Gesichtsfarbe wechselte zwischen grün und grau. Der Zorn, der ihn erfasste, war so stark, dass er fast die Nerven verloren hätte. Er schwankte und lehnte sich für Sekunden gegen den Türrahmen. Vor sich sah er das kantige Gesicht Wyatt Earps, die kieselharten Augen, das siegessichere, überlegene Lächeln, die ruhige, kraftvolle Haltung. Zum Teufel, wie er ihn dafür hasste! Dieser Kerl hatte alles, was ihm, Behan, fehlte. Dazu war er stärker und viel, viel schneller mit dem Colt. Der Colt – er baumelte an der rechten Hüfte. Der Rockaufschlag war zurückgezogen, sodass Wyatt Earp jederzeit den Griff der langläufigen Waffe packen konnte.

„Sie verdammter Scheißer!“, schrie Behan. Seine Schläfenadern schwollen an. „Josie gehört mir. Ich kenne sie viel länger. Und Sie … Sie haben doch eine Frau, was …“

„Das geht Sie einen Dreck an“, entgegnete Earp. „Ich tue, was mir passt. Josie hat sich eine Weile mit Ihnen abgegeben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Jedem unterlaufen ab und zu Irrtümer. Sie hat ihren Irrtum schon lange eingesehen. Sie sind hier abgemeldet, Behan. Scheren Sie sich raus, oder ich schmeiße Sie durchs Fenster!“

„Ich verhafte dich, Earp!“, schrie Behan.

„Weshalb?“ Earp lächelte.

„Erregung öffentlichen Ärgernisses. Belästigung einer Lady. Ich werde …“

Wyatt Earp erhob sich, legte das Zigarillo sorgfältig in einen Aschenbecher und ging langsam auf Johnny Behan zu. Er war fast einen Kopf größer als Behan. Behan stellte sich plötzlich vor, wie Josie an seinem Hals hing, an seinen breiten Schultern. Seine Rechte zuckte zum Gürtel.

In der nächsten Sekunde hatte ihn Earp am Kragen gepackt und drehte ihm die Krawatte zu, dass Behan die Luft wegblieb. Gleichzeitig umklammerte Earps Linke seinen rechten Oberarm und drückte ihn so stark wie ein Schraubstock. Behan schrie auf. Er versuchte, nach Earp zu treten. Earp warf ihn gegen den Türrahmen. Der Schlag in den Rücken war so stark, dass Behan wie gelähmt in die Knie ging.

Im nächsten Moment wurde er wieder hochgerissen, auf den Gang gezerrt, zur Tür geschleppt und in den Hof hinausgeworfen. Er torkelte, versuchte krampfhaft, sich auf den Beinen zu halten, und stürzte doch der Länge nach in den Dreck. Überall standen Whiskypfützen, überall lagen zerquetschte Zigarrenstummel. Irgendwann hatten Betrunkene sich im Hinterhof des Theaters erbrochen. Johnny Behan wälzte sich benommen durch den Schmutz. Sein tadelloser Anzug war verschmiert und fleckig, als er sich mühsam wieder aufrichtete.

„Wollen Sie mich jetzt verhaften, Deputy?“ Wyatt Earp stand in der Tür, groß, schmalhüftig, mit breiten Schultern. Die rechte Hand hing in der Nähe des abgegriffenen Revolverkolbens.

„Das bezahlst du mir“, keuchte Behan. Er stand schwankend da und fühlte die Fäuste Wyatt Earps noch immer an seinem Körper. Langsam ging er rückwärts. „Glaub bloß nicht, dass ich das jemals vergesse.“

„Hoffentlich nicht“, sagte Earp. „Hoffentlich erinnerst du dich immer und bleibst vorsichtig, wenn du in meine Nähe gerätst.“

„Du bist der größte Schuft, der in Tombstone herumläuft!“, schrie Behan. „Ich bringe an die Öffentlichkeit, dass du deine Frau betrügst. Dann bist du erledigt. Dich wählt keiner mehr zum Sheriff, wenn bekannt wird, was du für ein Lump bist.“

„Sei vorsichtig, Behan“, sagte Earp. „Hast du inzwischen mit deinem Revolver geübt?“

Johnny Behan antwortete nicht. Er drehte sich um und stolperte auf die Straße hinaus. Wyatt Earp blieb einen Moment in der Tür stehen. Er wusste, dass Behan mit seinem letzten Satz recht hatte. Mochte Tombstone auch ein Nest sein, in dem der Teufel los war – mit der Moral wurde nicht gespaßt. Ein Mann mit zwei Frauen hatte wenige Aussichten, ein öffentliches Amt zu ergattern. Solange das, was er tat, heimlich geschah, war alles in Ordnung, aber wenn jedermann darüber sprach …

Wyatt Earp hörte, dass auf der Bühne die Musik endete. Er wusste, dass Josies Auftritt beendet war. Gleich würde sie da sein, atemlos, verschwitzt, glücklich über ihren Erfolg und darüber, dass er auf sie wartete. Er würde alles vergessen.

 

*

 

Josie war schön. Sie war ihm sofort aufgefallen, als er sie das erste Mal auf der Bühne gesehen hatte. Später war sie ihm auf der Straße begegnet, und er hatte ihr angeboten, den Einkaufskorb zu tragen. Sie war klug und hatte Selbstbewusstsein und Format. Anders hätte sie ihren Beruf nicht ausüben können, ohne früher oder später in einem Bordell zu landen. Josie Marcus würde niemals in einem Bordell enden, da war er ganz sicher. Sie hatte einen festen Charakter. Sie hatte im Grunde alles, was Mattie fehlte. Wenn er mit Josie zusammen war, fragte er sich, wie er Mattie jemals hatte lieben können. Josie war das, was er brauchte. Sie stand mit beiden Beinen fest im Leben und wusste, was ein Mann wie er nötig hatte.

Wyatt Earp hatte sich auf dem Bett ausgestreckt und schaute Josie zu, wie sie sich entkleidete. Sie tat es mit natürlicher Unbefangenheit. Die Petroleumlampe auf dem Tisch strahlte ihren Körper an, ein fester, schlanker, geschmeidiger Körper, langbeinig, mit schmaler Taille, gut geformten Schultern und hoch angesetzten, festen Brüsten. Durch das strenge Tanztraining war ihr Fleisch fest und straff. Ihre Bewegungen strahlten Sicherheit aus, als sie sich dem Bett näherte, sich auf die Kante niederließ und sich über ihn beugte.

Sie küsste ihn sacht auf die Stirn, stützte ihre Hände auf seine breiten Schultern und glitt auf ihn. Er umfasste sie an der Taille und zog sie neben sich. Sie stieß einen hellen Laut aus, als er sie in die Kissen drückte und ihr Gesicht mit Küssen bedeckte. Ihr Körper drängte sich seinem entgegen. Die wilde Erregung, die sie in ihm auslöste, riss ihn mit. Er war über ihr und drang in sie ein, dass sie aufschrie und ihre Beine um seine Hüften schlang. Sie klammerte sich an seinen Armen fest. Ihre Fingernägel gruben sich in seine angespannten, eisern gewölbten Muskeln, dabei rieb sie ihre Brüste an seinem stark behaarten Oberkörper. Sie hatte den Kopf weit zurückgebogen. Zwischen ihren makellosen, weißen Zähnen sah er die kleine, rote Zungenspitze und wurde in wahre Ekstase versetzt. Sie bewegten sich in immer rascherem Rhythmus, immer fordernder, immer härter, bis sie meinten, in einem Feuerball zu explodieren und in einem Farbenrausch zu versinken.

Einander umschlungen, lagen sie auf dem zerwühlten Laken, während der Schweiß auf ihrer Haut trocknete. Die Petroleumlampe brannte mit kleiner Flamme. Von den Straßen von Tombstone drang kaum ein Geräusch herein. Noch waren Betrunkene unterwegs und einige Spielhöllen geöffnet, aber Josies Kammer lag nach hinten hinaus, sodass der Krach der Straße nur gedämpft zu hören war.

„Du hast es aufgegeben, dich um den Posten des Sheriffs zu bewerben“, sagte Josie. „Wegen mir … wird gemunkelt.“

„Es wird viel gesagt“, antwortete er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, nachdem er durch ihr seidig glänzendes Haar gestreichelt und sich ein Zigarillo angesteckt hatte. Sie drehte sich auf die Seite, sodass sie sich auf die Ellenbogen stützen und ihm ins Gesicht sehen konnte. „Ich werde mich von Mattie trennen“, sagte er. „Ich war immer für klare Verhältnisse. Heimlichkeiten lohnen sich nicht.“

„Die Leute sagen, die Earps seien hier, um Krieg zu führen.“

Er wurde ernst. „Bevor Tombstone gegründet wurde, war dieser Ort ein Platz für Wüstenflöhe. Am San Pedro haben sich Rustler angesiedelt, die das gestohlene Vieh der nördlich liegenden Ranches nach Mexiko getrieben und verkauft haben. Nachdem hier der Silberboom eingesetzt hat, haben dieselben Strolche geglaubt, dass jetzt ihre größte Zeit angebrochen sei, dass sie mit ihrem gestohlenen Vieh jetzt in Tombstone selbst Bombengeschäfte machen und diese Stadt in ihr Hauptquartier verwandeln könnten. Aber die Zeiten ändern sich, und in Tombstone wollen diejenigen bestimmen, die diese Stadt groß werden ließen, das sind die Minengesellschaften und die Geschäftsleute. Sie bringen Wohlstand für jeden nach Tombstone und denken nicht daran, das, was sie aufgebaut haben, mit einer Horde halbwilder Cowpuncher zu teilen. Diejenigen, die sich Farmer und Viehzüchter nennen, sind in Wahrheit allesamt Viehdiebe und Straßenräuber. Dass jetzt auf ihrem Land eine richtige Stadt steht, soll ihnen helfen, ihre Gaunereien zu decken. Und sie wollen an das große Geld ran, das in Tombstone verdient wird. Weil die Minengesellschaften sie daran hindern, stellen sie die Sache so hin, als seien sie die tapferen Pioniere, die das Feld für die Stadtgründung vorbereitet hätten und jetzt ausgeschlossen und vertrieben werden sollen. In Wahrheit geht es nur darum, die Pestbeulen, die aus der Anfangszeit von Tombstone übrig geblieben sind, herauszuschneiden.“

„Seid ihr deshalb da?“

„Deshalb auch“, erwiderte er. „Ich habe Anteile an einem Saloon gekauft, auch an Silberminen. Wenn du Mistress Earp bist, wirst du eine wohlhabende Frau sein.“

„Vor allem möchte ich die Frau eines lebendigen Mannes sein“, sagte sie. „Es nutzt mir nichts, eine junge Witwe zu werden.“

„Ich bin kugelfest“, sagte er und lachte. „Die Clantons und McLaurys, und wie das Gesindel alles heißen mag, sind feige.“

„Für einen Schuss aus dem Hinterhalt braucht man keinen Mut“, sagte sie. „Übrigens gibt es viele Leute in der Stadt, die wollen, dass die Minengesellschaften ihre Macht verlieren.“

„Diese Leute haben nie erlebt, was es bedeutet, von Viehdieben beherrscht zu werden. Sie haben niemals erlebt, wie Cowboys eine Stadt tyrannisieren können.“ Er machte einen tiefen Zug an seinem Zigarillo. „Aber ich habe es erlebt. In Kansas. Cowboys sind große Kinder. Man muss sie streng anfassen, sonst drehen sie durch. Denn auch wenn sie Kinder sind – sie trinken wie Erwachsene und sie tragen Waffen.“

„Ich hoffe, du bist vorsichtig“, sagte sie.

„So vorsichtig, wie jeder vernünftige Mann sein sollte, und so unvorsichtig, wie die Lage es erfordert“, erwiderte er.

„Ich habe gehört, dass die Rancher Revolvermänner angeworben haben.“

„Was hast du gehört?“, fragte er, nahm das Zigarillo aus dem Mund und blickte sie scharf an.

„Du hast einen Blick wie ein Falke“, sagte sie. „Du durchbohrst mich förmlich.“

„Schon gut.“ Er strich ihr über das Haar. „Was wolltest du sagen?“

„Johnny Ringo soll auf der Clanton-Ranch sein“, sagte sie. „Frank Stilwell, Billy Claiborne.“

„Außer Ringo kenne ich keinen von den Kerlen“, unterbrach er sie. „Von Stilwell habe ich gehört. Er soll ein Freund von Behan sein. Aber Revolvermänner …“ Er schüttelte den Kopf. „Ringo ist der Einzige, der wirklich gefährlich ist. Anscheinend haben die Clantons viel Geld, dass sie sich einen Mann wie Ringo leisten können.“

„Du bist nicht beunruhigt?“

„Warum sollte ich? Zerbrich dir nicht den Kopf, Josie. Wir sind hier, um für Ordnung zu sorgen. Das ist unser Job. Wir tun das nicht zum ersten Mal. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht. Meistens hat man es mit Ratten zu tun. Wenn man fest auftritt, verschwinden sie in ihren Löchern. Das Problem hier ist nur, dass Johnny Behan auf der Seite der Rancher und Viehdiebe ist. Sonst wären wir längst mit ihnen fertig.“

„Nimm dich vor ihm in Acht, Wyatt. Er ist rachsüchtig.“

„Er ist feige“, sagte Wyatt Earp. „Aber auch clever, das gebe ich zu. Er weiß, wie er sich beim Gouverneur ins richtige Licht setzt, und er kann sich in der Öffentlichkeit gut darstellen. Er ist Politiker, kein Polizist in einer wilden Stadt. Er war Parlamentsabgeordneter, und das passt besser zu ihm. Ein Mann für den Schreibtisch, dazu korrupt und verlogen. Wenn Tombstone ihm überlassen bliebe, hätten wir in einer Woche das pure Chaos.“

Auf der Treppe waren harte Schritte zu vernehmen. Wyatt Earp legte das Zigarillo weg, schob Josie sanft zur Seite und griff nach dem büffelledernen Revolvergurt, der an der Stuhllehne neben dem Bett hing.

Es klopfte an der Tür. Earp erhob sich. Er schlüpfte rasch in seine Hosen, zog den Revolver aus dem Holster und ging barfuß und mit bloßem Oberkörper zur Tür. Josie blickte ihm nach. Man erkannte Earp kaum wieder. Mit ihm war eine Verwandlung vorgegangen. Er wirkte wie ein Raubtier. Seine Kraft, seine Energie, seine Geschmeidigkeit – alles, was sie erregte, wenn er bei ihr war, war jetzt auf Kampf eingestellt.

„Wer da?“, fragte er.

„Morgan“, sagte eine raue Stimme. „Virgil schickt mich. Er hat vermutet, dass du hier bist.“

Wyatt Earp löste den Riegel und öffnete die Tür. Ein junger, breitschultriger Mann mit struppigem Schnurrbart stand auf der Schwelle und nahm den Hut ab, als er Josie sah. Sie zog rasch die Decke bis zum Hals hoch. Wyatt Earp ging zum Bett zurück und kleidete sich an.

„Es gibt Arbeit“, sagte Morgan. „Virgil sagt, die McLaurys haben ein Maultiergespann gestohlen.“

„Seit wann kümmert er sich um Mulis? Das ist County-Sache, also Behans Angelegenheit.“

„Die Mulis stammen aus Camp Rucker“, sagte Morgan.

Wyatt Earp pfiff leise durch die Zähne. „Eigentum der Armee. Also ist das Bundesgesetz zuständig.“ Er lächelte. „Diesmal ist ihnen ein Fehler unterlaufen.“ Er beugte sich über das Bett und küsste Josie.

„Bitte“, sagte sie, „sei vorsichtig.“

„Ich halte das, was ich dir versprochen habe“, sagte er und ging mit seinem Bruder hinaus. Sie schritten nebeneinander die Straße hinunter.

„First Lieutenant Joseph Hurst ist mit vier Troopern hier“, sagte Morgan. „Er hat Virgils Hilfe als US-Marshal angefordert. Virgil wird uns als Deputies vereidigen.“

„Ich freue mich schon darauf, Tom und Frank McLaurys Galgenvogelgesichter hinter Gittern zu sehen“, sagte Wyatt.

 

*

 

Auf der Farm brannte noch Licht. Es war ein schäbiges Anwesen. Die windschiefen Hütten bestanden aus schlechten, verzogenen Balken und Brettern. In den Corrals weideten einige Pferde. Der Hufschlag des Aufgebots hallte durch die Nacht. Virgil Earp ritt mit seinen Brüdern an der Spitze. Lieutenant Hurst folgte mit seinen vier Soldaten.

Von Süden strich ein lauer Wind durch die Nacht, der die Reiter umfächelte. Als sie die Farm erreichten, flog die Tür auf. Tom McLaury stand im schmutzigen Unterhemd auf der Schwelle. Er hielt eine Schrotflinte in den Fäusten. Sein bärtiges Gesicht hatte einen verschlagenen Ausdruck.

„Hoher Besuch“, sagte er spöttisch. „So spät in der Nacht? Ich dachte immer, die Nachtruhe des Amerikaners sei durch die Verfassung der Vereinigten Staaten geschützt.“

„Vor allem ist das Eigentum geschützt“, sagte Virgil Earp. „Auch das Eigentum des Staates.“

„Interessant, Marshal. Sind Sie deshalb so spät ins San Pedro Valley geritten, um uns eine Belehrung über die Gesetze der Vereinigten Staaten zu erteilen?“

„Die Belehrung fällt anders aus“, sagte Virgil. „Lass das Gewehr fallen, McLaury. Heb die Hände hoch, dreh dich langsam um und geh bis zur Hauswand. Dort stützt du dich mit den ausgestreckten Armen ab und rührst dich nicht vom Fleck!“

„Sie sind wohl größenwahnsinnig geworden, Earp, wie?“

Hinter Tom McLaury war jetzt sein Bruder Frank zu sehen. Sein sehniger Oberkörper war nackt. Er trug breite Hosenträger, die sich tief in seine Schultern gepresst hatten. Er sagte: „Wer hat euch Earps erlaubt, unser Land zu betreten?“

„Das Gesetz, McLaury“, antwortete Virgil. „Ich bin Deputy US-Marshal des Territoriums Arizona und vertrete das Bundesgesetz. Diese beiden Männer sind meine Deputies.“

Tom McLaury lachte hell auf. „Das Gesetz ist in Arizona offenbar ein Familienbetrieb.“

„Hinter mir steht Lieutenant Joseph Hurst aus Camp Rucker“, fuhr Virgil Earp unbeirrt fort. „Der Armee sind sechs Maultiere gestohlen worden. Lieutenant Hurst hat die Spur der Tiere bis zur Grenze eures Landes verfolgt. Ich fordere euch auf, die sechs Mulis auf der Stelle herauszugeben.“

„Du kannst uns mal kreuzweise“, sagte Frank McLaury. „Einen nach dem anderen.“

Tom McLaury schwenkte die Schrotflinte herum. Gleichzeitig tauchte hinter dem Haus eine dritte Gestalt auf, die zu einem der Corrals eilte und über die Gatterstangen sprang.

„Stehen bleiben!“ Virgil Earp riss sein Pferd herum und zog seinen Revolver.

Wyatt Earp warf sich mit einem Satz aus dem Sattel. Er prallte mit seinem ganzen Gewicht gegen Tom McLaury. Aus der Schrotflinte löste sich ein Schuss. Die Ladung fuhr zwischen Wyatt Earp und Tom McLaury in den Boden. Dann hielt Wyatt Earp das Gewehr in den Fäusten und drehte es mit einer kurzen, kraftvollen Bewegung herum. Der Kolben erwischte Tom McLaury an der Brust. Der Rancher stieß einen gurgelnden Laut aus und wurde nach hinten geschleudert.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957194053
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Western Abenteuer Indianer Wilder Westen Roman

Autor

  • Dietmar Kuegler (Autor:in)

Dietmar Kuegler, geb. 1951. Nordamerikanist, Publizist. Nach Schule und journalistischem Volontariat, freier Redakteur und Autor. 1968 erster Western-Roman. Ab 1972 Konzeptredakteur der Serie RONCO-DER GEÄCHTETE. 1974 erstes Sachbuch. Als Romanautor beteiligt an Serien wie SUNDANCE, FARGO, 320-PS-JIM, UNON PACIFIC, u. a. Konzept der Serie TRUCKER KING. Von 1984-86 eigene Autorenreihe: JOHN-GRAY-WESTERN.
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Titel: Western Legenden 05: Tombstone