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Tod am Hexenwasser

Ein Fall für Magdalena Sonnbichler

von Alexandra Scherer (Autor:in)
661 Seiten
Reihe: Magdalena Sonnbichler, Band 1

Zusammenfassung

Leni Sonnbichler bereut ihre Rückkehr ins Allgäu schnell. Selbst nach zwanzig Jahren verfolgt sie der Ruf einer kauzigen Esoterik-Spinnerin. Als sie an einem alten Kultplatz auch noch eine Leiche findet, steht für die Einheimischen fest, dass Leni eine Mörderin ist, die mit ihren empathischen Fähigkeiten nur auf Profit abzielt. Sogar die Kriminalbeamten zweifeln ihre Aussagen an. Leni entschließt sich, ihre Unschuld zu beweisen, indem sie eigene Ermittlungen anstellt. Doch dadurch gerät sie ins Visier des wahren Mörders. Und dieser würde erneut töten, um sein Ziel zu erreichen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Tod am Hexenwasser – ein Fall für Magdalena Sonnbichler

Magdalena Sonnbichler ist gerade erst auf den ererbten Hof im Allgäu eingezogen, da stolpert sie schon über eine Leiche.

Ihr Ruf als verschrobene Heilpraktikerin und Esoterik-Tussi macht sie schnell zur Verdächtigen.

Aus reinem Selbsterhaltungstrieb beginnt Leni ihre eigenen Nachforschungen.

Ein Allgäu-Krimi

 

Sommer

Es ist heiß. Nur ab und zu, wenn ein leichter Windhauch seinen Weg vom Flusstal findet, bewegen sich die Äste,. In der Stille ist das Plätschern eines Baches zu hören. Der Warnschrei eines Eichelhähers weckt eine wachende Präsenz im Wald. Die Stille ist greifbar.

Es raschelt. Äste brechen. Lachen.

Ein Mann und eine Frau auf dem Wanderweg. Händchen haltend.

Wie zufällig biegen sie vom Hauptweg ab und folgen einem fast unsichtbaren Pfad. Kurz darauf stehen sie auf einer Lichtung, durch die sich ein kleiner Bach seinen Weg bahnt. Der Bach gurgelt über einen steilen Abhang hinunter in das Flusstal.

Der Anblick der Alpen am Horizont jenseits des Steilhanges verschlägt dem Paar die Sprache. Die junge Frau findet ihre Stimme zuerst wieder. »Wenn ich die Hand ausstrecke, dann kann ich die Berggipfel greifen.«

»Föhn«, erklärt der Mann.

Sie boxt ihn spielerisch in die Schulter. »Alter Spielverderber, sei nicht so nüchtern. Das ist reine Magie. Der Ort hier. Schau mal, der Stein da, schaut der nicht aus wie ein riesiger Altar? Ich bin sicher, hier wurden früher Rituale abgehalten.«

Er nimmt sie in die Arme. »Meine kleine Hexe, wenn du mich so ansiehst, dann glaube ich alles, was du sagst.«

Sie küssen sich. Während sie sich immer inniger küssen, beginnt sie, an seiner Kleidung zu nesteln. »Komm, hilf mir mal. Zeit, dass wir hier unseren eigenen Ritus abhalten.«

»Nicht doch. Wenn jemand vorbeikommt.«

»Wer sollte vorbeikommen? Deine Frau? Komm, da drüben ist es schön moosig. Das ist unser Platz, es ist zu heiß, alle Leute sind in den Schwimmbädern. Sei kein Spießer. Das ist doch ein passendes Geburtstagsgeschenk. Pack mich aus.«

 

Herbst

Sie wartet. Ihr Herz schlägt schnell. Endlich. Heute verlässt er sie. Kein Verstecken mehr. Liebevoll streichelt sie über ihren Bauch. Lächelt. Sie nimmt ihr Handy aus der Tasche und liest noch einmal die SMS.

Liebes. Bald. Komm zu unserem Platz. Ich habe eine Überraschung für dich. Fünfzehn Uhr.

Sie hat zu Hause alles vorbereitet. Zu Hause. »Es ist nur für den Übergang, bald ziehen wir in was Richtiges. Aber da hat alles angefangen, ein guter Platz für uns, erst mal«, verspricht sie ihrem Bauch. »Er weiß noch gar nicht, dass ich auch eine Überraschung für ihn habe.«

Sie setzt sich auf einen Stein am Bach und betrachtet die Berge, als sie den Schrei eines Bussards hört und in den blauen Himmel blickt. Hoch oben kann sie ihn gerade noch erkennen. Plötzlich: Aufruhr am Himmel. Ein Schwarm Krähen stürzt sich auf den Raubvogel.

Der Radau ist ohrenbetäubend. Die Frau spürt, dass sie nicht allein ist und dreht sich erwartungsvoll lächelnd um.

 

 

30. September, Hieronymus

»Von Michael und Hieronymus zieh aufs Weihnachtswetter Schluss.« Bauernregel

 

Kriminalhauptkommissar Johannes Maier nippte an seinem Kaffee. Kaffee ohne Zucker war genauso wenig nach seinem Geschmack, wie diese morgendliche Besprechung.

»Haben wir schon den Namen der Toten?« Dabei schmeckte er bittere Galle, als er an den Tatort vom Vorabend dachte.

Christine Grabherr, Hannes neue Assistentin, schüttelte den Kopf. »Leider nein. Die Fingerabdrücke sind nicht im System. DNA-Auswertung läuft. Dauert aber, wie immer. Es gibt auch keine Vermisstenanzeigen, die passen würden. Die Rechtsmedizin wird noch ein bisschen dauern. Dr. Bayerlein sagt, er meldet sich.«

Hannes Maier nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. »Gut. Schauen wir mal, was wir wissen. Jürgen?«

Jürgen Wagner zückte sein Notepad und dozierte: »Gegen 18:15 Uhr ging gestern Abend ein Notruf über Handy ein. Eine Frau Magdalena Sonnbichler meldete den Fund einer Leiche. Sie gab genaue Anweisungen in Bezug auf Fundort und geografische Besonderheiten. Die Kollegen fanden die Leiche einer jungen Frau vor, wie von dieser Sonnbichler beschrieben. Anschließend verständigten die Kollegen dann die Kripo.«

Der Kommissar nickte. »Damit war mein schöner Feierabend am Arsch. Ein Flurstück, Hexenwald, Gemarkung Wilder Wald, bei Wangen. Ich hab kurz mit Frau Sonnbichler und Schorsch Ansbach gesprochen und sie dann heimgeschickt. Die zwei waren durchgefroren. Schorsch ist ein guter Freund von mir, für den kann ich mich verbürgen, aber diese Sonnbichler, was wissen wir über sie?«

Jürgens Gesicht verzog sich abschätzig. »So 'ne Esoteriktussi. Kommt hier aus der Gegend. Da war mal ein Bruder, aber der ist vor einer Ewigkeit bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Eltern sind auch tot. Sie ist Alleinerbin.

Da ist einiges an Kohle da. Scheint überhaupt ein glückliches Händchen zu haben mit dem Erben.«

Christine schnaubte. »Du hast ja nur Vorurteile, weil deine Ex bei der Scheidung die Hälfte des Vermögens eingestrichen hat. Ich finde es echt nervig, wie du über andere Menschen so abfällig redest.«

Beim Betrachten der Kollegin fiel ihrem Vorgesetzten auf, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Rassepferd hatte, vor allem weil ihr zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar auf und ab wippte. Im Stillen gab er Christine recht. Seit der Scheidung war Jürgen zynisch geworden.

Erwartungsgemäß plusterte sich Jürgen auf und strich sich über seinen Mark-Spitz-Bart.

»Nö. Fakt. Die Sonnbichler war verheiratet. Aus der Ehe gibt es zwei erwachsene Söhne. Jedenfalls hat sie damals einen guten Fang gemacht. Der Mann stammte aus einer sehr reichen Familie. Sein Tod machte sie zu einer wohlhabenden Witwe. Sie musste nie wieder arbeiten.« Jürgens Grinsen wurde anzüglich. »Hat sich dann dem ganzen Esoterikquatsch zugewandt und war lange mit so einem halbseidenen Kerl liiert.«

Hannes blickte in seinen leeren Kaffeebecher, als würde er dort Erleuchtung erwarten. Unwillig schob er den Becher weit von sich und blickte seinem Untergebenen direkt in die Augen. »Sprich deutlich und in ganzen Sätzen. Was willst mir saga?«

»Die Frau, die gestern den Notruf abgesetzt hat, ist in Stuttgart als medial begabte Heilpraktikerin tätig gewesen und hat den Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche gezogen. Ihr Manager …« Jürgen legte seine ganze Abscheu in das Wort: »Theodor Brück, mit dem sie auch ein Verhältnis hatte, ist einschlägig bekannt als Trickbetrüger, der reichen alten Damen den Kopf verdreht und auf ihre Kosten ein gutes Leben führt. Ein totaler Blender.«

»Ich bezweifle, dass du objektiv bist. Esoterik heißt nicht gleich Betrug«, stichelte Christine.

Jürgen setzte ein überlegenes Grinsen auf. »Schätzchen, bist du wirklich so blöd, wie du blond bist? Sag jetzt nur noch, dass du an den Quatsch glaubst.«

Hannes beschloss einzugreifen, bevor Christine, deren Gesicht rot anlief, ihren Sheepworld-Kaffeebecher als Wurfinstrument einsetzte.

»Jürgen. Lass mal deine persönlichen Befindlichkeiten außen vor. Nichts gegen Gesundbeter und Heilpraktiker. Meine Großmutter hat den Brand weg beten können. Irgendwas ist schon dran. Hast du was Konkretes, das gegen die Frau spricht?«

Jürgen schüttelte den Kopf. »Nein. Nur Gerüchte.« Er klang frustriert. »Ich hab gestern noch einen meiner Spezis in Stuttgart angerufen. Er ist jetzt bei der Kriminalinspektion drei: Wirtschaftskriminalität, Amtsdelikte, Korruption, Umweltdelikte. Theodor Brück ist aktenkundig. Diese Magdalena nicht. Aber vor einem Jahr gab es da einen Skandal. Sie hat Knall auf Fall ihre Praxis aufgelöst, war dann einige Monate nicht aufzufinden.« Der jüngere Polizeibeamte verzog hämisch sein Gesicht. »Da kann mir keiner sagen, dass die Tusse hier nicht ihre Finger im Spiel hat. Plötzlich ist sie in Wangen und findet dann auch gleich eine Leiche. Ich fresse 'nen Besen, wenn diese Schabracke die junge Frau nicht selber um die Ecke gebracht hat und nun daraus noch Vorteile ziehen will mit einer groß angelegten Öffentlichkeitskampagne.«

Hannes Maier beendete das Geplänkel, bevor Christine und Jürgen handgreiflich wurden.

Viel fehlte jedenfalls nicht mehr, so wie seine junge Assistentin den Kaffeebecher umklammerte.

»Lasst Eure Berichte da, ich schau sie noch durch und werd dann zum Sonnbichlerhof fahren und mit der Frau reden. Jürgen, du besorgst mir noch ne topografische Karte von der Gegend. Größtmöglicher Maßstab. Ich will genau sehen, wo dieses Hexenwasser liegt, wo der Wanderweg verläuft und wo die einzelnen Gehöfte stehen. Halt …« bremste er seinen Assistenten, der seine Jacke anzog. »Danach will ich, dass du dich hinsetzt und alles rausfindest, was es über Magdalena Sonnbichler und Theo Brück gibt. Aber Fakten, keine wilden Vermutungen. Solange wir den Namen der Toten nicht kennen, ist das unser einziger Ansatzpunkt. Und du, Mädle«, wandte er sich an Christine, die aufbegehren wollte, »recherchierst, wer sonst noch in der Nähe vom Tatort wohnt. Versuche, entlastendes Material zu finden, mit dem du Jürgen überzeugen könntest, dass Frau Sonnbichler wirklich nichts mit der Leich zu tun hat.«

 

3

29. September, Michael und Gabriel.

»Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: alle Welt redet davon, aber nur wenige haben sie gesehen.« Francois de la Rochefoukald

 

Leni hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr blieb, bis Schorsch Ansbach vor der Tür stehen würde. So entschied sie sich für eine Schnellversion des

Räucherns.

Sie packte die Utensilien aus dem Karton und legte sie der Reihe nach auf den Küchentisch: Räucherschale, Kohle, Kerze, diverse Räuchermischungen und -stäbchen.

Leni zündete die Kerze an, brachte die Räucher-

kohle zum Glühen und legte sie in die mit Sand gefüllte Schale. Anschließend gab sie die vorbereitete Krärutemischung auf die Kohle und atmete den würzigen Rauch ein. Still ein Gebet und einen Segen sprechend, schritt sie einmal rund um die Küche und stellte die Schale mit der vor sich hin schwelenden Mischung in die Eingangshalle mitten auf den Boden. Dann verteilte sie glimmende Räucherstäbchen in jedem Zimmer des Hauses. Sie beschloss, Keller und Dachboden auszulassen. Es würde mehrere Durchgänge erfordern, bis sie den ganzen alten Mief vertrieben hätte.

Vor dem Schlafzimmer der Eltern zögerte sie, mit der Hand auf dem Türgriff. Schließlich drückte sie ihn energisch nach unten und stellte glimmende Stäbchen auf die Spiegelkommode ihrer Mutter. Maria Sonnbichler hatte das Schlafzimmer mit in die Ehe gebracht. Dafür hatte sie sich ihre Rentenansprüche auszahlen lassen.

»Das Schlafzimmer war meine Mitgift. Ich wollte nicht, dass meine Schwiegerleut mir nachsagen konnten, ich hätte bettelarm auf den reichen Hof eingeheiratet. Und die Rente? — Ich hab deinen Vater geheiratet. Wieso sollte ich dann eine eigene Rente brauchen? Es heißt: In guten wie in schlechten Zeiten.« Die Geschichte hatte Maria ihrer Tochter oft erzählt, wenn sie gemeinsam die Matratzen ausgeklopft und die Betten frisch bezogen hatten. Dabei strich ihre Mutter mit rauen Händen über das helle glatte Holz der Nachtschränkchen.

Ein Zimmer betrat Leni nicht.

Christians Zimmer, das schaff ich nicht. Da brauch ich mehr Ruhe.

Sie zögerte, holte ein Seelenlicht aus dem Karton, der auch die Räucherwaren enthielt, und stellte es zusammen mit einigen Räucherstäbchen vor die verschlossene Zimmertür ihres Bruders.

Zum Zeichen der Versöhnung brachte sie ein weiteres brennendes ewiges Licht in das Elternschlafzimmer.

Abschließend öffnete sie die Fenster, damit der frische Herbstwind die alte verbrauchte Luft aus dem Haus pusten konnte. Der graue Hochnebel wurde von der strahlenden Herbstsonne vertrieben, ähnlich wie die Rauchschwaden die dunklen Schatten aus dem Haus verscheucht hatten.

Ein Auto bog in den Hof ein.

Schnell wusch sie sich Hände und Gesicht und kämmte mit ihren noch feuchten Fingern ihr zerzaustes Haar. Auf dem Weg zur Haustür band sie sich ihren Pferdeschwanz frisch. Gerade als Schorsch Ansbach die Klingel drücken wollte, öffnete Leni die Tür.

Vor Leni stand ein Mann, circa 1,90 groß, nicht mager, nicht fett. Ein leichter Bauchansatz zeichnete sich unter dem T-Shirt ab. Ergrautes struppiges Haar umrahmte ein von vielen Fältchen durchfurchtes Gesicht.

 —Die letzten dreißig Jahre haben bei ihm ihre Spuren hinterlassen. Aber mei! Die Augen sind immer noch so toll, da könnt ich stundenlang einfach so reinschauen. Ob der noch so super küsst? Es ist lang her, dass du mal so richtig gut durchgeküsst wurdest.— 

Die erwachsene Leni mischte sich sofort ein, ob dieser unkeuschen Gedanken: Hör mit dem Blödsinn auf, benimm dich nicht wie ein verliebter Teenie.

Sie bemühte sich um einen unverbindlich höflichen Gesichtsausdruck.

Schorsch Ansbach grinste. »Hallo Leni, schön, dass du dich fast nicht verändert hast. A bissle mehr bist geworden, des steht dir aber gut. Nur einen geraden Scheitel kannst immer noch nicht ziehen.«

Er hielt Leni einen großen Geschenkkorb entgegen.

Unverschämtheit, mich als dick zu bezeichnen! Ich sollte ihm den Korb an den Kopf schmeißen! Was hat er jetzt vor?

Schorsch Ansbach stellte sich in Positur, zog ein Stück Papier heraus, hielt es auf Armeslänge, kniff die Augen zusammen und las vor: »Liebe Magdalena Sonnbichler, zum Einzug wünsche ich dir Glück und Zufriedenheit und habe hier zwei Gaben bereit. Das Brot:- Es gehe niemals aus«, er zeigte auf die feinen Seelen im Geschenkkorb, »und Salz, das würze jeden Schmaus und halte alles Böse raus! Solang du in diesem Hause weilst und Brot mit deinen Freunden teilst, solang hast Brot und Salz zu Haus und Not und Böses bleiben draus.« Schorsch sah verlegen aus: »Ich freu’ mich sehr, dass du wieder da bist. Ich dachte, dass der Brot-und-Salz Segen dir gefallen könnte. Du hattest früher ein Faible für solche Traditionen.

Verstohlen zwinkerte Leni eine Träne aus den Augenwinkeln und bedankte sich mit typisch allgäuerischem Überschwang: »Ich dank recht schee! Des hätt's jetzt nicht gebraucht.« Die beabsichtigte dämpfende Wirkung wurde durch das strahlende Lächeln ihrer

Augen neutralisiert. »Wenn du schon da bist, dann komm halt rein.«

Schorsch folgte ihr in die Wohnküche und blieb im Türrahmen stehen. Leni wiederholte ihre Einladung. »Ich weiß, es ist nicht aufgeräumt, aber ich hab dich gewarnt. Mach die Tür zu, es ist kalt!«

»Ich hab gerade gedacht, es schaut noch genau so aus, wie damals, als ich manchmal bei euch zum Essen eingeladen war. Fast könnt man meinen, der Christian käm' gleich vom Stall her mit deinem Vater.«

»Ja, das ist lang her, dass der Christian seinen Unfall hatte.« Ein schmerzliches Thema, das es zu vermeiden galt. Sie inspizierte die Leckereien im Korb. »Sag einmal, spinnst du?«, rief sie entsetzt. »Das muss ein Vermögen gekostet haben! Die Seelen, der Kaffee, der Käse und das teure Rauchfleisch! Du bist wahnsinnig!«

Schorsch lachte: »Hätte ich einen Strauß rote Rosen mitbringen sollen?«

»Den hätte ich dir um die Ohren gehauen. Des

woisch aber gwies! Zwei Stück Kuchen hätten gereicht.«

Schenk mir nie Rosen, wenn du es nicht ernst meinst, Kerle, des hast schon mal gemacht. Ich glaub, das könnt ich nicht ertragen.

»Eben. Eine Kirchenmaus bin ich nun auch nicht. Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Freundin nach langer Zeit wieder da ist. Da darf man wohl aus dem Vollen schöpfen. Ich verspreche, ich werde es nicht zur Gewohnheit werden lassen.«

Lenis Sinn fürs Praktische mischte sich ein: —Jetzt mach kein Theater: Schau, da ist Kaffee und er hat sogar an Milch gedacht. Wenn es auch nur Kaffeesahne ist.— 

»Ja, dann machen wir jetzt erst einmal zünftig Brotzeit. Hilf mit, den Tisch zu decken, du weißt, wo das Geschirr ist. Musst es kurz abspülen. Ist noch alles staubig.«

Während Schorsch den Tisch deckte, machte Leni sich ans Kaffeekochen.

»Echter Bohnenkaffee. Der Kaffee riecht toll, ich hoffe, du hast keine Probleme, mit Satz in der Tasse. Ich hab keine Filterblätter und brühe den auf die altmodische Art auf.«

»Nein, des passt schon. Woisch no? Deine Mutter hat den immer so gemacht.«

»Ja und dann hat sie gewitzelt wegen dem Kaffeesatz am Boden: Da hont ihr was zum Lesen

Leni saß am Kopfende des Tisches, Schorsch gegenüber, die Ellbogen aufgestützt, den Kaffeebecher mit beiden Händen umschlungen. Sie atmete den Duft des frisch aufgebrühten Bohnenkaffees ein und seufzte zufrieden.

»Ich hatte vergessen, richtigen Kaffee zu kaufen, und musste heute Morgen ein Gebräu aus altem

Pulverkaffee trinken. Das Glas stammt noch aus Mutters Beständen.«

Mit einem kleinen Lächeln bedankte sie sich bei Denen, die ihr zu dem dringend benötigten und leckeren Gebräu verholfen hatten.

Obwohl: Eine Lösung ohne Schorsch Ansbach hätte sie bevorzugt.

»Siehste, ich bin die Antwort auf deine Gebete.«

Leni prustete in ihren Kaffee, sodass die Flüssigkeit heraus spritzte. »Träum weiter. Gib die Butter rüber, ich möchte mir eine Seele schmieren«, verlangte sie,

während sie sich mit einer Serviette trocken tupfte. »Es ist lang her, dass ich eine hatte.«

»Als seelenlos würde ich dich nicht bezeichnen.« Georg Ansbach reichte ihr die Butter.

»Sag Leni. Was hast denn all die Jahre gemacht? Hast geheiratet? Hast Kinder? Wie alt? Wo warst?«

Leni wischte sich umständlich die Lachtränen aus den Augen und beschmierte eines der langen Dinkelbrote mit Butter, dann belegte sie die Seele mit Rauchfleisch. Die Zeit nutzte sie, um eine Antwort zu formulieren.

 —Du willst ihm wohl nicht innerhalb von fünfzehn Minuten deine Lebensgeschichte auftischen?— 

»Ich versuch die Kurzfassung: Ich hab jung geheiratet.«

Wenn ich ehrlich bin, um dir, mir und dem Vater zu zeigen, dass auch andre Männer an mir interessiert waren und um von hier wegzukommen.

»Mein Mann war viel im Ausland tätig. Deshalb sind wir viel gereist. Henry ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, da waren meine Söhne fünf und drei.«

Dass seine schwangere Geliebte mit umkam, geht dich einen Dreck an!

»Ein paar Jahre sah es nicht so rosig aus, finanziell und so …« Leni schluckte und hielt kurz inne. »Ich musste mit den Kindern eine Weile auf dem Hof bei meinen Eltern wohnen. Kannst dir vorstellen, war nicht lustig. Gerade als es anfing, schlimm zu werden, erfuhr ich, dass Henry aus reichem Haus stammte.«

Ich frag mich heute noch, wie blöd ich war, ihm all die Jahre zu glauben, dass er keine Familie mehr hätte.

»Plötzlich war ich finanziell unabhängig und verließ den Sonnbichlerhof zum zweiten Mal.«

»Und dann? Hast du das Leben einer reichen Frau in Luxus und Nichtstun geführt? Erzähl.«

»So in der Art.« Leni wiegelte ab.

Es geht dich eigentlich absolut nichts an, was ich die letzten fünfundzwanzig Jahre so gemacht hab. Theo und das Theater in Stuttgart erst recht nicht.

»Aber das ist nicht weiter interessant. Erzähl lieber, wie ist es dir ergangen? Du hast ja damals relativ überstürzt geheiratet.«

Und mich ohne Erklärung sitzen gelassen.

Leni bemühte sich, ihre Stimme emotionslos klingen zu lassen. »Wie geht's Karin?«

Schorsch blickte auf den Grund seines Kaffeebechers. »Das Letzte was ich gehört hab, gut. Sie lebt in Spanien. Wir sind geschieden. Die Ehe hat nicht lang gehalten.«

 —Da schau an.— 

Schorsch drehte den Becher in seinen Händen hin und her, schien sich einen Ruck zu geben, blickte hoch, direkt in Lenis Augen. »Du, Leni … Weißt …« Sein Handy klingelte.

Er sah sie entschuldigend an. »Der Fluch des ›Immer-erreichbar-Seins‹. Ist es okay, wenn ich ran gehe? Ich kann auch wegdrücken.«

»Passt scho. Wir sind eh fertig mit Essen. Ich räume derweil ab.«

»Griaß di, Kilian. … Ich bin ganz in deiner Nähe. Bei der Leni Sonnbichler. Magst mit ihr reden? … Ah okay. Wart mal … Der Kilian Huber lässt fragen, ob wir nicht zum Kaffee vorbeikommen wollen. Seine Frau würde sich sehr freuen. Was meinst? Hast Lust?«

Sie wollte doch ihre Ruhe. »Eigentlich sollte ich endlich mit dem Aufräumen anfangen.«

»Komm, das läuft dir nicht weg.

Das Wetter ist schön und der Spaziergang zum

Huberhof täte uns beiden gut. Gib deinem Herzen einen Ruck.«

Der Spaziergang wäre eine Möglichkeit, Schorsch hinterher höflich und bestimmt zu verabschieden.

»Also gut. Lass mich schnell mit dem Kilian reden.« Leni nahm Schorschs Handy entgegen. »Servus Kilian. … Ja, ich bin's wirklich. Was muss ich da hören? Dich hat endlich eine geheiratet? Wer ist die Tapfere? … So, Käthe heißt sie? Da bin ich aber gespannt. Sie weiß, dass du mir versprochen warst?«, sagte Leni und lachte.

»Gut. … In circa einer Stunde. Passt das? … Schön. Sag mal, lebt deine Mutter noch? … Toll. Sag ihr liebe Grüße, ich hab oft an sie denken müssen. Sie hat mir damals sehr geholfen. … Ja, klar, ich sehe sie nachher. Gut. Bis dann. Tschüss. Ich geb' dir den Schorsch noch mal. Wart kurz.«

»Ich bin oben, mich umziehen, bis gleich.« Leni gab das Handy zurück und ging nach oben.

 

4

29. September, Michael und Gabriel.

 

»Viele leben zu sehr in der Vergangenheit. Die Vergangenheit soll ein Sprungbrett sein, aber kein Sofa.« Harold McMillan

 

Ich bin gespannt, wer sich den Kilian geschnappt hat. Der schien mir der ewige Junggeselle. Ob die alte Huberin ihre Schwiegertochter mag?

Schnell schlüpfte Leni aus ihrer Kleidung. Sie rümpfte die Nase. Ihre Achseln rochen stark nach Leni.

 —Mädle, du stinkst, so kannst nicht aus dem Haus. Zeit für eine Dusche! Schorsch hin oder her.— 

Das heiße Wasser prasselte über ihre Schultern und entspannte die Muskulatur. Zügig seifte sie sich ein und genoss anschließend den Wasserstrahl auf ihrem Körper.

Ob der Schorsch sie attraktiv finden würde? An ihren Brüsten war jedenfalls nichts auszusetzen. Sie strich sich über ihren nach vorne gewölbten Bauch. »Du könntest ruhig ein bisschen weniger vorwitzig sein, mein Lieber.« Schnell duschte sie kalt nach und trocknete sich vor dem Spiegel ab.

Hübsches weiches Haar mit leichter Naturwelle, schöne Brüste. Damit lässt sich was anfangen. Aber der Bauch und der Arsch … zu fett. Und mein Gesicht. Langweilig, rund und nichtssagend. Die nette Frau von nebenan mit Doppelkinnansatz.

 —Definitiv kein Gesicht oder Körper, der einen Krieg auslösen würde.— 

Leni musste lachen, während sie in frische Klamotten schlüpfte, und merkte laut an: »Mit Helena von Troja will ich mich nicht vergleichen. Auch nicht mit Karin oder Nastja.«

 —Dann sind wir uns ja einig—, murmelte es selbstzufrieden in Lenis Kopf.

Aber Leni war noch nicht überzeugt. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs feuchte Haar.

Verflucht. Was mach ich eigentlich? Da taucht Schorsch Ansbach nach fast dreißig Jahren auf. Ohne ein Wort der Erklärung hat er mich damals sitzen lassen. Und anstatt dass ich ihm sag, er soll sich zum Teufel scheren,

spiel ich die nette Gastgeberin, trink mit ihm Kaffee und überlege mir, ob er mich körperlich attraktiv findet. Ich muss es nötig haben.

»Nein! So geht das nicht! Ich hab auch meinen Stolz.« Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Nach dem Spaziergang würde sie ihn freundlich verabschieden und ihm deutlich machen, dass sie keinen Wert darauf legte, weiterhin seine Bekanntschaft zu pflegen.

»Ganz damenhaft und würdevoll, kein Gezeter, keine Tränen und kein Theater.« Entschlossen ging sie die Treppe hinunter und ignorierte das lapidare  —Na dann ist ja alles in bester Ordnung.— , ihrer inneren Stimme.

Schorsch stand vor dem Beistellherd in der Küche mit einem Stück Holz in der Hand. »Das ging schnell. Die meisten Frauen, die ich kenne, sind für zwei Stunden unauffindbar, wenn sie kurz verschwinden, um sich fein zu machen.«

Wenn man nur Zuckerpüppchen kennt.

Leni trat einen Schritt vor und nahm Schorsch das Holz ab.

»Lass dass. Ich will nicht, dass du den Ofen anmachst. Die Kamine sind seit Jahren nicht gekehrt worden. Bis jetzt ging es noch ohne Heizen.«

Es wird Zeit, dem Herrn ein paar Grenzen zu setzen, sonst endet das so, wie mit Theo.

Schorsch sah überrascht aus. »Entschuldige. Ich werd in Zukunft fragen. Sollen wir jetzt los?«

 —Sei doch nicht so gereizt. Gib dem Kerl ne Chance.— 

Leni schluckte ihren Unmut hinunter.

Aber entschuldigen werd ich mich nicht.

Sie nickte Schorsch zu. »Das passt. Ich nehme noch einen Beutel und ein Messer mit. Die Pilzsaison ist noch nicht ganz vorbei.«

Sie traten vor die Haustür und wandten sich einem Pfad zu, der sie, vorbei an einigen abgemähten Streuobstwiesen, zum Waldrand führte.

Die Herbstsonne strahlte auf die Wiesen. Leni blieb spontan stehen, holte tief Luft und schloss die Augen. Die Wärme und die Ruhe des Herbsttages drangen Schicht für Schicht, einem wohltuenden Vollbad gleich, in ihren Körper ein. Ihre Füße schienen verwurzelt mit dem Boden, der sich weich unter den Sohlen anfühlte. Erdiger Geruch vermischt mit dem Duft von feuchtem Laub drang in ihre Nase. Die Anspannung fiel von ihr ab.

Am Rande ihrer Wahrnehmung hörte sie Krächzen. Leni schrak aus ihrer Trance hoch. Direkt vor ihr saß eine Krähe und sah sie aus dunklen Knopfaugen an.

Leni lächelte. Hallo Schöne.

»Diese Viecher werden von Jahr zu Jahr frecher«, brachte sich Schorsch in Erinnerung.

Leni drehte sich zu Schorsch, immer noch lächelnd. »Findest? Weißt du, dass ich im indianischen Horoskop eine Krähe bin?«

»Bist du nicht Sternzeichen Jungfrau?«

»Es gibt Horoskope in anderen Kulturkreisen, im indianischen bin ich Krähe.«

»Wenn ich dich so angucke, mit dem zerzausten Haar, dann kommst mir wie eine Sturmkrähe vor«, neckte er.

»… oder wie eine Wetterhexe. Kannst du auch Warzen besprechen?«

»Nein kann ich nicht.« Leni ging automatisch in Abwehrstellung.

 

»Aber ich kenne ein oder zwei, die können das Wasser abdrehen. Willst es auf einen Versuch ankommen lassen?«

»Muss ich jetzt Angst kriegen?«

»Woher soll ich das wissen? Gibt es jemanden, dem du untreu bist, der vielleicht auf Rache sinnt und sich an eine Hexe wendet, damit du massive Potenzprobleme kriegst?«

Schorsch lachte. »Ich bin seit Jahren Single, soweit ich weiß, gibt es keine Frau, die mir böse ist.«

Das würde ich so nicht unterschreiben.

 —Warum fragst du nicht einfach:»Schorsch, warum bist du damals ohne ein Wort verschwunden? Ich hab erst ein paar Wochen später aus der Zeitung erfahren, dass du Karin geheiratet hast.« Aber nein, Madame hält lieber den Mund und bruddelt vor sich hin—, tadelte Lenis innere Stimme.

»Du hast Recht, eigentlich sind es tolle Viecher«, lenkte Schorsch das Gespräch in eine andere Richtung.

Leni betrachtete die Krähe. Kurz blitzten die Traumbilder vom frühen Morgen vor ihrem inneren Auge auf. Sie fröstelte. »Wer weiß? Die Mutter mochte sie nicht, die Rabenviecher. Sie meinte, sie würden den Tod ankündigen. Wenn sie eine Krähe oder eine

Elster sah, hat sie immer versucht, sie zu vertreiben.«

»Landwirte sind allgemein nicht gut auf die Vögel zu sprechen. Ich kann es verstehen. Wie oft picken die Viecher die Siloballen an und das Futter verdirbt? Wenn ich ein Landwirt wäre, würde ich auch toben.«

 —Warum muss denn das Fressen auch in so komische Plastikfolien verpackt in der Landschaft rumliegen? Ist doch ne Einladung zur Selbstbedienung.—, brummelte es rebellisch in Lenis Kopf.

Leni ignorierte das innerliche Aufbegehren und meinte: »Ich mag sie. Ich bin froh, dass sie geschützt sind. Schau doch. Ist das nicht großartig, diese Schwärme zu sehen, wie sie über die Wiesen fliegen?«

Wie auf Stichwort flog die Krähe mit lautem Krächzen auf und mischte sich unter ihre Artgenossen, die über den Obstbäumen auf der Wiese Sturzflüge vollzogen.

»Hoffentlich hat deine Mutter nicht recht, mit den Unglücksboten. Sonst müsste ich jetzt Panik schieben.«

Leni nickte geistesabwesend.

Wollte die Krähe mich warnen? Hmm … Wenn das ein Hinweis sein sollte, dann war der arg mager. Ginge es etwas deutlicher?

Lenis Einstellung zu ihrer magisch-intuitiven Seite war bodenständig und wenig gezeichnet von der in esoterischen Schriften üblichen Ehrfurcht. Respekt ja. Spirituelle Arschkriecherei? Nein! Eins wusste sie aus Erfahrung: Über kurz oder lang würde das Universum weitere Hinweise liefern.

 —Sei halt nicht so überkandidelt. Nimm es als naheliegenden Ratschlag. Du hast mit Schorsch noch etwas zu klären. Frag halt endlich! Scheiß drauf! Sag's einfach und gut ist.— 

Leni blieb stehen, öffnete ihren Mund, um die Frage, die ihr seit gut dreißig Jahren nachhing, endlich zu stellen. Schorsch schien ähnliche Gedankengänge verfolgt zu haben. Plötzlich knurrte er, berührte sie am Arm und stand vor ihr. »Leni, ich weiß, es ist ewig her. Wahrscheinlich ist es gar nicht wichtig, aber ich möchte reinen Tisch machen. Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig.«

Aha!

In Leni kochte Wut hoch, von der sie gedacht hatte, sie wäre längst erloschen. »Ach komm. Es ist doch klar, was damals ablief. Ich war einfach dumm und naiv. Was willst da noch groß erklären? Als du mit mir gehen wolltest, da habe ich dich gefragt, ob es eine Andre gibt. Ich wusste, dass du zuvor mit Karin zusammen warst. War ja nicht zu übersehen, so wie sie dir immer um den Hals hing. Du hast mir hundert Eide geschworen, dass das mit Karin vorbei sei. Sie hätte Schluss gemacht und einen Andren. Nach sechs Wochen, da hör ich keinen Pieps mehr von dir. Das Nächste, was ich mitkriege, ist eine Heiratsannonce im Tagblatt. Nach dreißig Jahren rufst du so mir nichts dir nichts an, lädst dich bei mir zum Kaffee ein. Mir geht‘s beschissen. Ich will nichts hören!«

Sie riss sich los und stürmte tränenüberströmt Richtung Wald.

Einfach weg.

»Leni, wart!« Schorsch rannte hinter ihr her, bekam sie am Arm zu fassen. Seine Stimme klang brüchig. »Komm, da vorne ist eine Bank. Setzen wir uns. Ich hab die ganze Zeit einen Einstieg gesucht, das zu klären. Ich dachte mir schon, dass ich nicht nach dreißig Jahren einfach auf deiner Türschwelle auftauchen kann, ohne zumindest um Entschuldigung zu bitten. «

 —Und wo ist die Entschuldigung? Bis jetzt hab ich noch nichts davon gehört.— 

Unwillig, doch auf eine Erklärung hoffend, die ihr helfen würde, die alte Verletzung endlich abheilen zu lassen, folgte sie ihm. Ihre Nase lief.

Natürlich. Kein Taschentuch. Ich hasse es, dass ich so nah am Wasser gebaut hab!

Schorsch begann mit seiner Erklärung,verstummte immer wieder, als würde er sich jeden Satz zurechtlegen: »Karin hatte mit mir Schluss gemacht. Das ist wahr. Sie war schneller als ich. Ich hatte ein Auge auf dich geworfen und zwischen ihr und mir, das passte schon eine Weile nicht mehr. Viel später hab ich erfahren, da gab es einen Studenten in Tübingen. Der hat sie wohl abserviert und ein paar Jahre danach eine Krankenschwester geheiratet.«

»Was hat das mit dir zu tun oder mit uns?«

 —Sicher hat die schöne Helena nicht wie ein Elefant mit Knoten im Rüssel geklungen, wenn ihre Nase vom Heulen verstopft war.

Komm, reiß dich zusammen. Was heulst denn? Das Ganze ist ewig her. — 

»Ich bin in die klassische Falle getappt.« Schorsch lächelte. Leni fand, es sah eher wie Zähnefletschen aus.

»Karin kam zu mir und hat gesagt, sie sei von mir schwanger. Abtreiben wollte sie nicht. Also haben wir geheiratet.«

»Und war sie?«

 —Nie im Leben!— 

»Schwanger? Keine Ahnung. Kurz nach der Hochzeit hat sie behauptet, sie habe eine Fehlgeburt erlitten. Zwei Jahre später kam dann unser Kind auf die Welt.«

»Eine Tochter?«

»Ja. Karin hatte schon immer einen etwas schwülstigen Geschmack. Da wir damals in Spanien wohnten, wurde es Esmeralda. Du, ich bin Großvater.« Umständlich zog er seine Brieftasche aus der Jacke, zeigte Leni Bilder seiner Tochter und seiner Enkelin.

Leni betrachtete pflichtschuldig die Fotos. Eine junge Frau mit langem blonden Haar, perfekt geschminkt, mit einem zurechtgemachten kleinem Mädchen im Arm, das wie ein Püppchen wirkte.

»Hübsch.«

 —Kannst du nicht etwas mehr Begeisterung in das Wort legen?— 

Wieso? Ich steh nicht so auf dieses Püppchendings.

»Gell. Gott sei Dank kommt mein Edelstein äußerlich mehr nach ihrer Mutter.«

 —Ich hoffe, sie hat nur das Aussehen von Karin geerbt—, murmelte Lenis innere Stimme.

Leni erinnerte sich gut an Karin Müller:

Zierlich, blond und zickig. Beliebt bei den Jungs. Weniger bei den Mädchen. Karin Müller hatte in der Schule die Jungs um ihren kleinen Finger gewickelt, und mit dieser Methode meist das bekommen, was sie wollte. Auf Kosten anderer.

»Unsere Tochter war so ziemlich das einzige Gute in der Ehe.«

»Woran lag es?«

Er zuckte die Schultern. »Die Grundvoraussetzungen stimmten nicht.«

Das kann ich mir denken. Leni knirschte mit den Zähnen.

»Ich hab Journalistik studiert, war dann für internationale Zeitungen als Auslandskorrespondent tätig und weltweit unterwegs, wenig daheim. Es hat halt nicht gepasst. Sie fühlte sich alleingelassen mit unserer Tochter. Es gab dann noch ein paar andere Probleme. Nach fünf Jahren war der Spuk vorbei. Karin lebt jetzt in Spanien und ist verheiratet. Zum dritten Mal.«

»Und was geschah dann?«, wollte Leni wissen.

»Ich hab Karriere gemacht. Bin viel herum gekommen. War ein interessantes Leben, aber man wird älter und findet es nicht mehr so prickelnd, aus dem Koffer zu leben. Es zieht einen heim nach Wangen, dich, wie’s scheint, auch.« Er stupste sie lächelnd an. »Vor ein paar Jahren bin ich wieder hierher gezogen. Ich arbeite jetzt freiberuflich als Schriftsteller und Journalist. Dass ich keine Gelegenheit hatte, es dir zu erklären, hab ich immer bereut. Als ich dich dann auf dem Markt sah, da wusste ich, ich muss versuchen, mit dir ins Reine zu kommen.«

»Warum hast du es mir damals nicht gesagt?«

»Leni, glaub mir, ich hab es versucht. Ich hab dir Briefe geschrieben, die kamen ungeöffnet zurück. Da musste ich glauben, dass du so wütend auf mich warst, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Wenn ich angerufen hab, sagten deine Eltern, du wolltest mich nicht sprechen. Christian konnte ich nicht mehr bitten, zu helfen, und dann hab ich gehört, du wärst weggezogen.«

Leni setzte sich gerade hin. Ihr Magen krampfte sich zusammen, wie nach einem Faustschlag.

 —Jetzt wird so Einiges klar. So ein Arschloch!— 

»Ich habe nie einen Brief zu Gesicht bekommen.« Die alte Wut und Hilflosigkeit, die sie als Teenager gegenüber manchen Aktionen ihres Vaters empfunden hatte, spülte hoch. Ihr wurde speiübel.

Hätte ich mir denken können, der Vater hat dauernd drüber gesprochen, was der Kilian für 'ne tolle Partie wäre. Aber dass die Mutter ihn unterstützte …

»Ich glaub, mein Vater hat die zurückgehen lassen. Weißt ja, wie mein Vater war.«

»Ein alter Grantler, wenn du mir den Ausdruck verzeihst.«

 —Ich hätte da noch ein paar andere, nicht druckreife—, grummelte es in Lenis Kopf.

»Er hat an nichts und niemandem ein gutes Haar lassen können. Ich hab mich oft gefragt, wie ihr das ausgehalten habt, deine Mutter, du und Christian.«

»Die Mutter hat dem Vater schon Kontra gegeben.« Leni verzog leicht das Gesicht. »Sie hatte ihre eigene Art, ihren Willen durchzusetzen. Früher dachte ich, ich müsste sie in Schutz nehmen, aber sie wusste genau, was sie tat. Der Christian … das weißt ja selber.«

Schorsch nickte, sein Blick verdüsterte sich. Leni lächelte ihn an. Sie fühlte sich trotz verstopfter Nase und verquollener Augen sehr viel besser.

Eine Zeit lang saßen die zwei gemeinsam auf der Bank. Schorsch legte den Arm um Leni, ihr Kopf ruhte leicht an seiner Schulter und sie schwiegen einvernehmlich. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Schließlich räusperte er sich. »Meinst, wir könnten weiter? Der Kilian und die Käthe werden sich noch wundern, wo wir abgeblieben sind. Geht's dir gut?«

»Danke. Es tut noch weh, aber jetzt kann ich abschließen. Also, lass uns weiter gehen. Mir wird kalt.«

 

5

30. September, Hieronymus.

»Was mich erschreckt... ist die Zerstörungskraft, die aus dem Herzen kommt.« A.Einstein

 

Hannes Maier rieb sich die Augen. Der bittere Geschmack in seinem Mund war stärker geworden. In der Zwischenzeit hatte er mit dem Gerichtsmediziner telefoniert und einen vorläufigen Bericht erhalten. Die Tote war eine junge Frau, circa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt. Doktor Bayerlein schätzte, anhand des Verwesungsgrades, dass die Frau schon mehrere Tage im Wald gelegen hatte.

»Ich denke, so circa zwischen fünf oder sieben Tage. Die Aasvögel haben ganze Arbeit geleistet. Wundert mich eigentlich, dass die Füchse und Ratten noch nicht an ihr genagt haben.« Bayerleins Stimme klang fast bewundernd, ob der Gründlichkeit von Mutter Natur.

Hannes war froh, dass der Gerichtsmediziner weit weg in seinem Labor saß und durch das Telefon nicht mitbekam, wie ihm, dem erfahrenen Kriminaler, übel wurde.

»Ich kann noch nicht sagen, welche Verletzungen von der Tatwaffe stammen und welche von den Vögeln«, fuhr der Pathologe fort. »Mindestens fünfzig Stiche. Mein Assistent zählt grad noch mal. Die Stiche sind unterschiedlich tief.

Da hat sich jemand wirklich ausgetobt. Auch im Gesicht.«,

Im Landkreis Ravensburg waren die Leute sicherlich nicht gesetzestreuer als im restlichen Ländle. Es gab jedes Jahr Tötungsdelikte. Aber Hannes konnte sich nicht erinnern, dass er in seiner ganzen Dienstzeit jemals mit einem Fall zu tun gehabt hatte, in der die Leiche so brutal zugerichtet worden war.

»Da war doch eine Stofftasche mit einem Küchenmesser, das die Spurensicherung gefunden hat. Könnte das die Tatwaffe sein?« Hannes konnte sich zwar nicht vorstellen, warum der Täter die Leiche unbekleidet zurücklssen würde, um dann die Tatwaffe in einem Stoffbeutel liegen zu lassen, aber wer verstand schon das Hirn eines Mörders? Er sicherlich nicht. Seine Hilde war ihm vor zehn Jahren genommen worden. Der Schuldige nie gefasst.

»Ich denke nicht. Das Messer ist recht stumpf. Vom Verletzungsmuster her vermute ich eine Art Teppichmesser oder Skalpell. Sehr scharf und kurze Klinge. Wir untersuchen das Messer gerade auf Blutspuren. Sicher ist sicher. Meinen vollständigen Bericht bekommen Sie spätestens heute Nachmittag … zumindest, alles, was ich bis dahin sicher ermitteln kann.«

Hannes bedankte sich für die Vorabinformationen und beendete das Telefonat. Er legte seine Hände auf den Schreibtisch, fühlte die Kühle der splittrigen Resopalplatte, während sein Hirn die bisher erhaltenen Informationen sortierte. Die erhoffte Erleuchtung blieb aus.

»Christine, hast du was Neues?« Die Assistentin war während des Telefonats eingetreten und saß an ihrem Schreibtisch. Er konnte hinter der Barrikade aus Topfpflanzen, die als Grenze zu Jürgens Arbeitsplatz diente, gerade noch ihren Kopf erahnen.

Christine rollte mit ihrem Bürostuhl an den Rand ihres Schreibtisches, damit sie ihren Chef sehen konnte. »Ich war bei der Familie Huber. Kilian Huber hat gestern die Kollegen zum Hexenwasser gebracht. Er besitzt einen großen Bauernhof und ist Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr, wie die meisten von diesen Landbewohnern.« Christine konsultierte ihr Notizbuch, dessen Außenseite mit einem großen gelben Pokémon verziert war. »Er ist fünfundvierzig Jahre alt, seit Mai 2008 verheiratet mit Käthe Huber, geborene Störtebecker. Die ist dreißig. Dann gibt es noch Maria Huber, neunundsechzig, Witwe. Die zwei Huberfrauen vermieten neben der Landwirtschaft noch Ferienwohnungen.«

»Gibt es da zur Zeit Gäste? Wird jemand vermisst?« Hannes Maier setzte sich auf. Mit etwas Glück war der Fall doch schneller gelöst, als gedacht.

Christine schüttelte den Kopf. »Nein. Laut Käthe Huber wohnt ein Ehepaar Schmied in einer der Wohnungen. Ich hab sie nicht angetroffen. Ich hab eine Visitenkarte an die Tür geheftet, dass sie sich bei uns melden sollen.«

»Wie schätzt du die Hubers ein? Könnte es sein, dass er eine Geliebte hatte und entweder er oder seine eifersüchtige Frau was mit der Tat zu tun haben?« Hannes wusste, unter dem harmlosen Rosa-Girlie-Gehabe von Christine verbarg sich ein wacher Verstand.

Die Polizistin zuckte mit den Schultern. »Möglich ist alles. Es würde mich wundern, wenn da ein Eifersuchtsdrama abliefe. Ich war nach den Hubers noch kurz in einem süßen kleinen Café in Wassersried. Das wird von zwei älteren Damen betrieben. Die haben neben superleckerem Kuchen auch den ganzen Tratsch und Klatsch in der Gegend. Was interessant ist: Der Kilian Huber soll früher mal mit der Frau Sonnbichler verlobt gewesen sein.«

Jürgen, der gerade ins Büro gekommen war, unterbrach Christine: »Ich dachte, wir sind hier bei der Polizei und nicht bei Tantchens Kaffeeklatsch. Wen interessiert es, ob irgendein Bauer seine Bäuerin gefunden hat? Früher oder später wird sie ihn betrügen und mit seinem Geld durchbrennen.«

Hannes blickte Jürgen scharf an. Er war sich nicht sicher, inwieweit Jürgens persönliche Probleme sich auf die Professionalität des Polizisten auswirkten. Es war wohl an der Zeit, ein ernstes Wort mit Jürgen zu wechseln. Aber nicht vor Christine.

»Jürgen, ist das die topografische Karte, die ich wollte?« Der Kommissar zeigte auf die Karte in der Hand seines Assistenten. »Dann lass uns mal die lokalen Begebenheiten eintragen.«

Jürgen befestigte die Landkarte an einer der drei großen Pinnwände, die Hannes hatte hereinbringen lassen. Noch waren die mit dunkelblauem Stoff bespannten Wände fast leer. Die hellgrauen Stahlgerüste stachen in der abgewohnten Schäbigkeit des Büros zusammen mit den modernen Computerflachbildschirmen ins Auge.

»Hier ist der Huberhof. All das gehört zu dem Anwesen.« Christine umrandete die Grenzen des Hubergehöfts mit einem dunklen Filzstift. »Der Sonnbichlerhof grenzt an den Huberhof hier im Wald. Der Leichenfundort gehört zu Frau Sonnbichlers Land.« Auch diese Grenzen zeichnete die Polizistin gewissenhaft ein.

Jürgen platzierte drei farbige Stecknadeln. »Magdalena Sonnbichler und ihr Spezi kamen laut Aussage hier entlang und fanden dann die Leiche.

Hannes Maier starrte eine ganze Weile auf die zwei bunten Stecknadeln,

die Georg Ansbach und Magdalena Sonnbichler markierten und auf die einzelne schwarze, die Jürgen für die unbekannte Tote gewählt hatte.

»Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mich mit dieser Frau mal genauer unterhalte. Da stimmt was definitiv nicht. Entweder kann die Frau hellsehen oder sie wusste, was da zu finden war.«

 

6

29. September, Michael und Gabriel.

»Heiliger Erzengel Michael, Prinz und Wächter, treuer Krieger, ich bitte dich, mich mit deinem Schwert zu beschützen und zu verteidigen.« Bittgebet

 

Auf dem Huberhof öffnete ihnen eine junge Frau die Tür. Ihr sommersprossiges Gesicht strahlte in ehrlichem Willkommen.

»Hallo Schorsch, ik freu mi bannig, dass ihr da seid.« Sie streckte die Hand aus und lächelte Leni an. »Tach. Ich bin die Käthe, Kilians Frau. Mien Leevsten hat mir viel von dir erzählt.«

Leni fand Käthe sofort sympathisch.

 —Die ist echt nett. Putzig, wie sie die Rrs rollt.— 

»Wir waren Klassenkameraden. Für mehr hat's nicht gereicht. Obwohl meinem Vater hätte das gut in den Kram gepasst.«

Unvermittelt fühlte Leni Übelkeit aufsteigen. Erstaunt sah sie sich Käthe genauer an. Konnte es sein?

 —Ansehen tut man ihr noch nichts.— 

»Kommt rein, ich hab noch einen Kuchen gebacken. Kaffee steht auf dem Tisch.«

In der guten Stube begrüßte sie Kilian. »Leni, schön, dass du wieder da bist. Hast dich gar nicht verändert. Hallo Schorsch, setzt euch. Ihr habt das gut abgepasst, bin gerade mit dem Tisch decken fertig geworden.«

Zehn Minuten später hielt Leni Käthe ihren Teller hin.

»Verzeih, dass ich so verfressen bin, aber einem guten Kuchen konnte ich noch nie widerstehen. Bei selber gebackenem Kuchen bin ich besonders verfressen. Und der hier ist wirklich super.«

»Danke für das Kompliment. Das Rezept hab ich von meiner Mutter, stammt aus dem Alten Land.«

»Du kommst aus Norddeutschland?«

»Hört man das nicht?«

Leni zwinkerte Käthe zu. »Wenn ich ehrlich bin, ein ganz kleines bisschen hab ich das vermutet.« Die zwei Frauen kicherten. »Sag, wie kommt ein Nordlicht wie du auf einen Allgäuer Biobauernhof?«

»Ich war vor einigen Jahren mit meinen Eltern hier auf Urlaub und hab mich sofort in diesen tollen Typ verguckt.« Käthe strahlte ihren Kilian an, der verlegen dreinschaute. »Nach dem Studium haben wir dann geheiratet.«

»Ich hätte auch gern die Uni besucht. Was hast du studiert?«

»Ursprünglich BWL, als mir klar war, dass ich Kilian heiraten würde, hab ich umgesattelt auf Agrarwissenschaft. Mit der Huberoma zusammen mach ich auch die Ferienwohnungen und wir haben ausgebaut. Über die Jahre hat Kilian drei der kleineren Höfe aufgekauft. Nach und nach renovieren wir die Wohnhäuser und gestalten sie zu Ferienwohnungen um.«

»Hab ich damals einen Fehler gemacht, Kilian? Bist ja ein richtiger Großgrundbesitzer«, neckte Leni ihren ehemaligen Schulkameraden.

Der grinste breit. »Tja Leni. Selber schuld. Aber so hast dir die Scheidung gspart. Denn als i meine Käthe gesehen hab, da war klar: Die und koi andre! Gell Mädle?«

 —Muss Liebe schön sein. Wenn ich groß bin, kauf ich mir auch ein Pfund davon—, spöttelte es in Lenis Kopf.

Nur weil es bei mir schief lief, gibt es keinen Grund, sarkastisch zu werden. Positiv Denken!

»Käthe, bietet ihr auch Mahlzeiten an?«, schaltete sich Schorsch in das Gespräch ein.

»Nein. Obwohl … Ich überlege, einen Hofladen mit einer kleinen Bäckerei zu eröffnen. Von der Landwirtschaft allein ist es schwierig, zu leben. Zurzeit backe ich Kuchen und Torten auf Bestellung. Da fällt mir ein, …: Mien Leevsten, hast du Frau Schmied gesehen? Sie hatte auf Sonntag einen Kuchen bestellt, ihn aber nicht abgeholt.«

Kilian schüttelte den Kopf. »Nein, die Schmieds halten sich eh sehr bedeckt. Du kannst ihr den Kuchen doch einfach ins Haus stellen.«

»Nee. Ich bin gestern und heute Morgen vorbei und hab einen Zettel an die Tür geheftet. Da scheint niemand da zu sein und an ihr Handy geht sie auch nicht.«

»Nicht, dass die die Zeche prellen.«

»Keine Bange. Frau Schmied zahlt immer im Voraus. Komisch ist es schon, ich hab auch seinen Wagen nicht gesehen.« Käthe wandte sich ihren zwei Gästen zu. »Entschuldigt. Das Paar kommt regelmäßig und hat immer die gleiche Ferienwohnung. Da macht man sich schon einen Kopf. Leni, hast du bei dir daheim alles zu deiner Zufriedenheit angetroffen? Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich vorher ein bisschen sauber gemacht.«

»Ich hab für deine Mutter die groben Sachen mitgemacht, nachdem dein Vater gestorben war«, schaltete sich Kilian ein. »Sie hat mir die Schlüssel gegeben. Nach ihrem Tod haben wir weiter nach dem Rechten gesehen, das wurde mit dem Rechtsanwalt so vereinbart. Sie hat drauf gehofft, dass du irgendwann doch heimkommst. Das Haus ist staubig und die Möbel uralt und verwohnt.

Aber die Heizung, Wasser, Strom und Telefon sind alle auf dem neuesten Stand und betriebsbereit, darauf hab ich geachtet. Deine Mutter wollte das so.«

»Deshalb hatte ich heißes Wasser zum Duschen. Ich hab mich schon gewundert.«

»Dein Blick für technische Details ließ schon früher zu wünschen übrig«, scherzte Schorsch.

Leni rollte die Augen.

 —Typisch Mann, muss den Finger auf meine Schwachstelle legen. Absolut daneben.— 

Nach einer vergnüglichen Stunde und sehr viel Kuchen verabschiedeten sich Leni und Schorsch von Kilian, der sie zur Haustür brachte.

Kilians Mutter verließ gerade den Stall und erblickte die Gruppe. »Ja, die Magdalena Sonnbichler!«, rief sie und steuerte auf Leni zu. »So a Freid! Wie gehts dir denn? Gut schaust aus! I wollt dir no mein Beileid aussprechen wegen dem Tod von deiner Mutter. I wois, isch scho lang her, aber mir hont uns seit der Beerdigung vom Christian nimmer gseah. Wann war denn dees?«

Leni ging auf die Altbäuerin zu, während Schorsch und Kilian zurückblieben.

»Der Christian? Mein Bruder ist vor fünfundzwanzig Jahren gestorben, auch um diese Jahreszeit. Da hab ich noch daheim gewohnt.« Leni streckte der Huberin die Hand entgegen. Diese ergriff sie mit ihren beiden, hielt sie fest und sah Leni in die Augen. »Jo, des war a schlimme Zeit. Hast di mit deiner Sach angefreundet?«

Leni erwiderte den Blick und nickte. Meistens.

»Guat. Wenn du magst, kommst mol vorbei«, meinte die Ältere in ihrem breiten Allgäuer Dialekt.

»Die Käthe ist a patentes Mädel und ich freu mich schon sehr auf meinen ersten Enkel. Ha! Gibs zu! Du hast es gefühlt.«

Leni sah sich um: Schorsch war in ein Gespräch mit Kilian vertieft. Trotzdem senkte sie ihre Stimme. »Ja. Das war so, wie damals, als ich morgendliche Übelkeit hatte. Aber ich konnte schlecht fragen, oder?«

Die alte Frau kicherte. »I denk, es wird ein Fisch oder ein Widder, so genau kann ich das noch nicht sagen. Die Käthe glaubt, es sei noch ihr Geheimnis. Pfiat di Gott und meld di wieder.«

Schorsch schloss zu Leni auf und nachdem sie eine Weile schweigen nebeneinander her gegangen waren, stupste er Leni an.

»Sag mal, was hat die Huberoma eigentlich gemeint? Mit deiner Gabe? Kannst du den Brand weg beten?«

 —Hatten wir dieses Gespräch nicht schon? Der ist ganz schön hartnäckig. Besser, du rückst mit der Sprache raus.— 

Gut, das wird helfen, ihn zu verscheuchen. Ich weiß ja, wie die meisten reagieren. 

»So was Ähnliches. Ich kann Hände auflegen. Was dagegen?« Leni ballte die Fäuste.

»Nicht gleich so stachelig. Warum sollte ich? In den Jahren, in denen ich im Ausland war, hab ich Einiges gesehen, was sich wissenschaftlich nicht erklären ließ. Es gibt in der spirituellen Ecke einen Haufen schwarze Schafe. Aber ich kenne dich. Wenn du sagst, du kannst das, dann bin ich mir sicher, dass du das auch glaubst.«

Klartext: Ich spinne, aber ich darf das, weil ich ich bin.

Leni knirschte mit den Zähnen. »Ganz schön herablassend. Ich bilde mir das nicht ein. Ich weiß es.« Leni stürmte an ihm vorbei, diese Art von Diskussionen kannte sie zur Genüge und sie hatte keine Lust darauf.

Je schneller wir zum Hof kommen, desto eher kann ich Schorsch und seine herablassende Art loswerden.

Leni schlug einen Weg ein, der steiler war als der, den sie und Schorsch auf dem Weg zu den Hubers genommen hatten. Aber er war auch kürzer.

Nach einer Weile hatte sie sich ihre Wut abgelaufen. Einerseits, weil sie durch die Steigung außer Puste geriet, andererseits, weil Resignation sich ihrer bemächtigte. Schorsch hatte sich nicht viel anders verhalten, als viele Menschen, die mit dem Übersinnlichen konfrontiert wurden.

Sie hatte gehofft, er würde weniger süffisant reagieren.

Das mit dem Küssen werde ich wohl mal ad acta legen.

 —Schade.— 

Leni verlangsamte ihre Schritte auf dem schmalen Waldweg.

Die alte Huberin war die Einzige, die mich immer akzeptiert hat, da hatte ich nie das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.

Die damals noch jüngere Bäuerin meinte schon vor dreißig Jahren: »Dees ist halt so a bissle was Extras. So wie manche Leit des absolute Gehör hont. So kannst du halt manchmal fühlen, ob und wo die Leute Schmerzen hont oder wie sie drauf sind. Eigentlich it schlecht. Du musch bloß lernen, deine eigene Gefühle von dena abzugrenza, die von außen kommen und dich au a bissle schützen, damit es nicht ungefragt und ohne Vorankündigung passiert.«

Es gab Zeiten, da befürchtete Leni, wahnsinnig zu werden. Im Laufe der Jahre lernte sie, mit ihrer speziellen Begabung zu leben.

Sie seufzte. So ganz scheine ich es immer noch nicht geschafft zu haben, mit dem Akzeptieren und dem Unterscheiden.

Seit der Sache in Stuttgart hatte ihre Empathie Ruhe gegeben. Käthes Schwangerschaft zu spüren … Leni wusste nicht, ob sie Freude empfand, dass dieser Teil von ihr sich wieder rührte. Schorschs süffisante Art hatte sie verletzt. Zu oft war sie dieser Haltung schon begegnet. Sie hasste Arroganz und Herablassung, speziell von Menschen, die sich selbst für aufgeschlossen hielten.

Ich denke dann immer, ich müsste mich rechtfertigen.

Und eigentlich hatte sie gehofft, Schorsch wäre anders.

An der Kreuzung des Pfades zum Hexenwasser flog plötzlich eine Krähe laut krächzend auf. Vom Hexenwasser her hallte das Echo eines ganzen Krähenschwarmes. Danach war es totenstill.

Leni blieb stehen. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Plötzlich liefen ihr Tränen die Wangen entlang und sie schluchzte tieftraurig. Sie fing bitterlich an, zu weinen.

Soviel zum Thema Vorwarnung!

Verzweifelt versuchte sie, die sie überflutenden Emotionen in den Griff zu bekommen. Sie wollte nicht, dass Schorsch sie so sah. Leni ballte die Fäuste so stark, dass sich ihre kurzen Fingernägel in den Handballen prägten.

 —Klar, dass genau jetzt so was kommen musste. Aber du kannst dem Ruf nicht entkommen. Bau einen Schutzwall auf. Schnell!— 

Mühsam gelang es Leni, einen mentalen Schutzwall aus Farben aufzubauen, wie es ihr ein Schamane gezeigt hatte, um sich selbst einen rationalen Teil zu erhalten.

Schorsch holte sie ein. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Leni, was ist los? So schlimm war die Flachserei vorhin doch nicht. Jetzt hab dich nicht so.«

Leni schüttelte den Kopf, weinend wich sie vor ihm zurück. Für Erklärungen war keine Zeit.

»Schorsch, hast du dein Handy dabei? Ruf die Polizei, da vorne ist was passiert. Jemand ist tot.«

 

7

29. September, Michael und Gabriel.

»Herr, ich weiß nicht, wie viel Zeit du mir noch zumessen wirst. Darum will ich dir danken, Gott, für jeden Tag und jede Stunde, die du mich leben lässt.« Gebet.

 

»Leni, du spinnst! Ich kann nicht einfach den Notruf wählen und denen erzählen, dass da vorne am Hexenwasser eine Leiche liegt, nur weil du mir das aufträgst. Schon mal was von Missbrauch vom Notruf gehört?«

Idiot! Wenn man einmal von einem Kerl Hilfe will, dann werden sie rational.

Leni ließ die theatralische Art und Weise, wie Schorsch mit ihrer Gabe konfrontiert wurde, völlig außer Acht. Sie war wütend. Wütend auf alles und jeden: ihre Gabe, ihre Eltern, auf Theo, die Situation, die Seele, die hier ihren Hilferuf hinterlassen hatte und auf Georg Ansbach, der durch sein unkooperatives Verhalten wertvolle Zeit vertat.

»Kannst du nicht einfach tun, was ich dir sage? Komm mit!«

Sie nahm ihn bei der Hand und zog den widerwillig Folgenden hinter sich her auf den Pfad, der zum Hexenwasser führte. Am Rande des Hains blieben sie stehen. Eine kleine Lichtung mit Grasboden, zu zwei Dritteln umgeben von Bäumen, meist Holunder und Haselnuss, an einer Seite ein Steilhang, am Horizont die Alpen, teilweise weiß vom ersten Schnee des Jahres. Mitten auf der Lichtung stand eine alte Eiche, die Blätter zum größten Teil noch welk am Baum, ein großer Ast hing halb abgebrochen herunter. Links versetzt, mit großen Steinen eingerahmt: eine kleine runde Quelle, – das Hexenwasser. Aus der Umfassung des Borns quoll Wasser und bildete ein Bächlein, das über den Steilhang in das tiefer gelegene Argental fiel.

Kurz vor dem Abgrund gabelte sich der Bach um einen großen Findling, der schräg aus der Erde ragte. Auf den Bäumen saßen Krähen und Elstern und veranstalteten einen Heidenlärm. Auf dem flachen Findling stritten sich Aasvögel um ihre Beute.

Als Leni mit dem sich immer noch sträubenden Schorsch auf die Lichtung trat, flogen die Vögel auf.

In dem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf den Altarstein. Von getrocknetem Blut umgeben, lag da etwas, was einmal ein Mensch gewesen war.

»Glaubst du mir jetzt?«, fragte Leni kalt. Ihr mentales Schutzschild begann zu wirken. Schorsch wandte sich mit einem Keuchen ab und übergab sich. »Gib mir dein Handy! … Ja, Grüß Gott, mein Name ist Magdalena Sonnbichler, vom Sonnbichlerhof bei Wangen. Ich bin grade auf einem Spaziergang mit einem Bekannten und wir haben hier eine Leiche gefunden. … Nein das ist kein schlechter Scherz. … Ja. Definitiv tot. … Woher ich das weiß? Da ist überall getrocknetes Blut und die Krähen sind schon am Körper gewesen. … Nein wir sind nicht näher hin. … Ganz so blöd sind wir auch nicht. Wir kennen das von den Krimis aus dem Fernsehen. Wir wollen keine Spuren vernichten. … Wo wir sind? Auf dem Rundwanderweg Nr. 19 direkt am Hexenwasser. … Ja wir warten. … Es wird schwierig. Es gibt hier keinen direkten Zufahrtsweg. Am geschicktesten fahren Sie zum Huberhof, dort kann man Ihnen zeigen, wie weit Sie mit den Fahrzeugen kommen können. … Nein, der Weg ist zu steil und eng für ein Auto. Bringen Sie Licht mit. Es wird bald dunkel.«

Leni beendete das Telefonat, steckte das Handy ein und setzte sich neben Schorsch, der blass an einem Baum gelehnt stand und starr auf die Szene schaute, wie das Plateau langsam in kalten Schatten sank und die Krähen über dem Hain laut krächzend ihre Kreise zogen.

Leni und Schorsch kehrten zurück zur Wegkreuzung, um auf die Polizei zu warten. Schorsch stellte sich neben einem Baum. Leni lief nervös auf dem Weg hin und her. Keiner sprach mit dem anderen.

Mit zunehmender Dämmerung wurde es frisch. Leni fror und ihre Blase drückte.

Ein Eichelhäher rief seine Warnung. Die folgende Stille wurde durch das Schlagen von Autotüren gestört. Kurz darauf näherte sich das schwankende Licht einer großen Taschenlampe. Zwei Polizisten tauchten auf.

Der ältere Polizist nickte Georg Ansbach freundlich zu.

»Hallo Schorsch, was isch denn dees für a Räuberpistole?«

Leni unterbrach das Geplauder. Ihre Stimme kam ihr fremd vor, krächzend. Eine Imitation der Krähen.

»Grüß Gott. Ich hab angerufen. Wir waren auf einem Spaziergang. Nebenher hab ich noch nach Pilzen gesucht und bin dann zufällig in die Lichtung gestolpert und hab die Leiche gefunden.«

 —Leni, du brabbelst.— 

Der jüngere der beiden Polizisten übernahm die Führung. »Ich schau mal nach. Alois, bleib du bei den Leuten hier.«

Kurz darauf kam er zurück, bleich im Gesicht. »Wir müssen Verstärkung anfordern. Sie begleiten uns jetzt zum Auto, dort nehmen wir ihre Personalien auf und warten, bis die Kollegen von der Spurensicherung kommen.«

Schorsch Ansbach sprach den älteren Polizisten an: »Alois komm schon. Wir kennen uns doch ewig. Du weißt, wer ich bin und wo ich wohne. Leni und ich sind beide fertig. Wäre es nicht möglich, dass ihr uns jetzt nach Haus gehen lasst und morgen befragt?«

»Herr Ansbach, Sie werden schon warten müssen, bis die Kripo da ist«, ließ der jüngere Polizist seinen Kollegen nicht zu Wort kommen.

»Die entscheidet, wie weiter verfahren wird. Eine Sonderbehandlung nur aufgrund irgendwelcher Stammtischfreundschaften mit meinem Kollegen, das können Sie sich gleich abschminken!«

Stumm ging die Gruppe im Gänsemarsch zum Polizeiwagen, der auf dem Waldweg stand.

»Setzen Sie sich am besten in den Wagen, da ist es wärmer«, meinte der ältere Polizist und kramte Decken aus dem Kofferraum. Leni zitterte vor Kälte, ihr Magen knurrte und die Blase war übervoll. Sie überlegte, ob sie fragen sollte, entschied sich aber dagegen.

Ich werde den Teufel tun, mir dem jungen schnöseligen Polizisten gegenüber eine Blöße zu geben.

Sie hoffte, dass sie nicht die Beherrschung über ihre Blase verlieren würde. Fragen, ob sie hinter einen Busch dürfte … Nein!

Leni nutzte die von ihr aufgebaute Wut, um Haltung zu bewahren. Schorsch wollte sie kameradschaftlich in den Arm nehmen, aber Leni hielt sich stocksteif.

Sie wusste, wenn sie auch nur ein kleines Bisschen nachgab und zuließe, dass er sie tröstete, dann würde sie das Heulen anfangen.

Leni schloss die Augen.

Sie schreckte aus einem Albtraum auf und merkte, dass sie den Kopf an Schorschs Schulter gelehnt hatte.

Kurz erlaubte sie sich das Gefühl der Vertrautheit und Ruhe, die sie in der körperlichen Nähe zu ihm fühlte. Die Wagentür öffnete sich.

»Guten Tag, ich bin Kriminalhauptkommissar Johannes Maier. Würden Sie bitte herauskommen?«

Schorsch Ansbach stieg vor ihr aus und schüttelte dem Mann die Hand. »Hallo Hannes, bin ich froh, dich zu sehen. Leitest du die Ermittlungen? Leni, darf ich dir meinen alten und besten Freund vorstellen: Johannes Maier. Wir kennen uns seit Urzeiten. Hannes, das ist Leni Sonnbichler, meine alte Jugendliebe, die ins Allgäu heimgekehrt ist.«

Leni schüttelte Johannes Maier die Hand. Er hatte einen kräftigen Händedruck, war ungefähr so groß wie Schorsch, hatte deutlich mehr Bauchansatz als dieser und glich dies mit einer hohen Stirn aus.

Kluge braune Augen blinzelten sie freundlich durch eine Nickelbrille an.

 —Der scheint nett.— 

»Es tut mir leid, dass Sie und Schorsch so lange warten mussten. Ich kann mir vorstellen, dass Sie total fertig sind. Ich werde mich morgen im Laufe des Tages bei Ihnen melden. Sollen wir Ihren Hausarzt verständigen? Nein? … Gut. Die Personalien haben die Kollegen aufgenommen und Sie haben schon kurz zu Protokoll gegeben, wie es dazu kam, dass Sie die Leiche gefunden haben. Ich sehe keinen Grund, Sie momentan weiter hierzubehalten. Die Kollegen fahren Sie heim.«

Eine halbe Stunde später standen Leni und Schorsch an vor der Sonnbichlerschen Haustür, während der Polizeiwagen wendete und wegfuhr.

Leni streckte ihm die Hand entgegen und verabschiedete sich: »Danke Schorsch, es war ein wunderschöner Nachmittag, schade nur, dass der Tag so unglücklich endete. Ich bin sicher, du verstehst, dass ich dich jetzt nicht mehr hereinbitte. Es ist spät. Ich bin hundemüde und will einfach nur ins Bett.«

»Leni, mir ist das gar nicht recht. Ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen. Da draußen ist irgendwo ein Verrückter unterwegs, der Leute abmetzelt. Keine Widerrede.

Ich fahr schnell heim, hol ein paar Sachen und bin dann wieder da. Ich hab dir ja auch versprochen, dass ich dir ein bisschen im Haus helfe.«

Scheiße. Ich will jetzt aufs Klo und dann einfach meine Ruhe!

»Hör auf zu nerven.« Leni stampfte mit dem Fuß auf und schüttelte den Kopf. »Die Leiche ist schon ein paar Tage alt. Also denk ich nicht, dass der Mörder in den nächsten Stunden bei mir durchs Haus stiefelt. Was bildest du dir eigentlich ein? Vor dreißig Jahren hast du mich ohne ein Wort der Erklärung sitzen gelassen. Dann hör ich nie wieder was von dir. Heute spazierst du einfach hier rein, als wäre nie was gewesen. Und jetzt willst auch noch den großen Beschützer spielen. Ich hab's die letzten dreißig Jahre ohne dich geschafft. Mit einem Mörder werde ich auch noch fertig. Verschwind!«

Schorsch sah Leni kopfschüttelnd an, wollte etwas sagen, überlegte es sich anders und ging.

Leni schlug die Tür hinter sich zu und rannte zur Toilette. Während sie sich erleichterte, spürte sie eisige Kälte in allen Knochen. Am Nachmittag hatte sie vergessen, die Fenster zu schließen, die seit dem Ausräuchern offen standen. Leni eilte mit den Zähnen klappernd durch das Haus und verriegelte die Fenster.

Sie schleppte den elektrischen Heizkörper aus der Küche nach oben ins Schlafzimmer.

Scheiß drauf. Morgen sehen wir weiter.

In einem Karton fand sie einen Pyjama und dicke Wollsocken. Sie legte noch eine zusätzliche Wolldecke über ihre Daunendecke und schlüpfte darunter. Gerade als es im Bett anfing, warm zu werden, kam ihr ein beunruhigender Gedanke.

Murrend eilte sie hinunter in die Küche, kramte dort in diversen Schubladen und rannte dann die Treppe wieder nach oben. Das große Schlachtermesser ihrer Mutter fand einen Platz unterm Kopfkissen, Leni kuschelte sich in die Decke ein und war kurz darauf eingeschlafen. Das Licht ließ sie brennen.

 

8

30. September, Hieronymus.

»Unverhofft kommt oft.« Unbekannt

 

In den frühen Morgenstunden, als die Erschöpfung überwunden war, verlangte etwas ihre Aufmerksamkeit. Es fing an, sich am Rande ihres noch müden Bewusstseins bemerkbar zu machen. Etwas war anders. Sie lag behaglich warm im Bett und fühlte sich beschützt und umsorgt. Im Halbschlaf lauschte sie einem leichten Schnarchen. Es klang vertraut und irgendwie gemütlich.

Schnarchen?

Plötzlich war sie hellwach. Abrupt setzte Leni sich auf, drehte sich um und stieß gegen einen Körper. In der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Ihr Herz fing an, rasend zu schlagen. Sie hatte furchtbare Angst und trat wild um sich. Mit einem Schrei sprang sie aus dem Bett. Gleichzeitig erklang von der anderen Seite des Bettes ein lautes Krachen vermischt mit Fluchen.

Die Stimme kenne ich doch?

»Himmelherrgottsakrament! Es wäre zu schön gewesen … Leni, ich bin's. Nicht erschrecken. Ich tu dir nichts.«

Endlich fand Leni den Lichtschalter.

Auf dem Boden saß Schorsch, voll angekleidet in eine Wolldecke verheddert und sah sie mit verquollenen Augen an.

Leni holte tief Luft, um eine Schimpftirade loszulassen. Im selben Moment wurde sie sich der Komik der Situation bewusst und prustete lauthals los. Sie lachte lange und laut und konnte nicht aufhören.

Schorsch Ansbach saß zunächst verdutzt auf dem Boden, schließlich fiel er in das befreiende Lachen ein.

Leni wischte sich die Lachtränen aus den Augen, setzte sich auf ihr Bett und zog die Bettdecke über ihre Beine. »Kannst du mir bitte erklären, was du hier machst?«

Schorsch rappelte sich auf, nahm die Wolldecke und wickelte sich darin ein. Er setzte sich Leni gegenüber an das Fußende des Bettes.

»Ich hab doch gesagt, dass ich wieder komme. Du hast schon geschlafen, aber die Haustür war nicht abgeschlossen. So bin ich reingekommen. Absoluter Leichtsinn. Wenn ich der Typ gewesen wäre, der für die Leiche am Hexenwasser verantwortlich ist? Leni du musst vorsichtiger sein. Es war zu spät, mir noch ein Zimmer auszusuchen, und das ganze Haus ist saukalt. Dein altes Zimmer kenne ich ja noch von früher. Ich dachte, bevor ich mich mit dir streite, mach ich einfach mal das Licht aus und schlafe eine Runde. Hier ist das einzige Zimmer, wo es nicht wie am Nordpol ist. Später darfst du mir dann sagen, welches Zimmer ich nehmen kann.« Als er fortfuhr, klang er süffisant: »Ich lebe allein, es beschwert sich also niemand darüber, dass ich hier bei dir im Haus übernachte. Auch wenn es dir nicht passt, darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich ein kleines bisschen größer und schwerer bin als du. Ich bleibe, bis feststeht, dass dir von dem Hexenwassermörder keine Gefahr droht. Ich weiß nicht, wie es dir geht: ich bin müde und möchte noch etwas schlafen. Gute Nacht.«

Schorsch legte sich auf seine Seite des Bettes, zog sich ein Kissen über den Kopf und schien binnen kurzer Zeit wieder tief und fest eingeduselt zu sein.

Leni war sprachlos.

 —Der hat echt Glück gehabt, dass du nicht an dein Messer unter dem Kopfkissen gedacht hast.— 

Eine Weile überlegte sie, was zu tun sei, dann zuckte sie resigniert die Schultern.

Jetzt bin ich wach. Klar, ich habe deutlich mehr Schlaf gehabt als Schorsch. Wie spät ist es eigentlich? Sie schielte auf den Wecker.

Fünf Uhr dreißig.

Dann kann ich ebenso gut aufstehen, Schorsch noch schlafen lassen und endlich anfangen, Ordnung zu schaffen im Haus, ums Haus und in meinem Leben.

Leise stand sie auf, deckte ihren Jugendfreund mit dem Federbett zu und suchte ihre Kleidung zusammen. Bevor sie das Zimmer verließ, holte sie das Messer unter ihrem Kissen hervor und legte es auf den Nachttisch.

 

9

30. September, Hieronymus.

»Von Michel und Hieronymus mach aufs Weihnachtswetter Schluss.« Bauernregel

 

In ihrem blauen Fiat Panda fuhr Leni zum Huberhof, um dort frische Milch und ein paar Eier zu kaufen. Kilian würde sicherlich schon beim Melken sein. Vielleicht hatte er Neuigkeiten über die Leiche vom Hexenwasser.

Das Auto zockelte die Straße entlang, an deren Ende der Sonnbichlerhof lag. Nach einem Kilometer kam sie durch den kleinen Weiler, der die Verbindung zur Hauptstraße herstellte. Leni kannte die Straße gut. Als Schulkinder waren sie und ihr Bruder jeden Tag zur Bushaltestelle in Unterweiler gelaufen und wieder zurück.

 —Unterweiler, das Tor zur großen weiten Welt.— 

Sie lächelte.

Der Sonnbichlerhof lag gut versteckt. Wer nicht wusste, wie er zu fahren hatte, würde ihn nicht so schnell finden. Andererseits stellten die Bewohner von Unterweiler eine Art Kontrollinstanz dar. Denn sie bekamen genau mit, wer Richtung Sonnbichlerhof fuhr.

Ob die in Unterweiler bemerkt hatten, dass Schorsch spät nachts noch mal zu ihr gefahren war?

Leni grinste grimmig.

Ist meine Tugend nun kompromittiert? Oder spricht der allgemeine Dorfkonsens einer Frau jenseits der siebenundvierzig jegliche Sexualität ab? Sodass die guten Leutchen erst gar nicht auf den Gedanken kommen, dass ich eine Tugend habe, die kompromittiert werden könnte?

Besonders amüsant fand sie den Gedankengang, weil es so schien, als hätte Schorsch keinerlei kompromittierende Absichten, sondern nur ehrlich-platonische.

 —Eigentlich schade.— Lenis innere Stimme klang bedauernd.

Sie bog auf die Hauptstraße ein und folgte ihr einen Kilometer, um dann die Abzweigung zu nehmen, die sie zum Huberhof führen würde. Der Huberhof lag nicht so versteckt wie der Sonnbichlerhof. Die kleine Seitenstraße verband mehrere Höfe miteinander

und mündete fünf Kilometer weiter bei Oberweiler in die größere Hauptstraße, die die Verbindung zur Bundesstraße und somit zur Außenwelt herstellte.

Kurz vor sechs war das Melken auf dem Huberhof im vollen Gang.

Leni stieg aus und ging zum hell erleuchteten Stall. In der Milchkammer fand sie Käthe vor, die sie erfreut begrüßte.

»Moin du Frühaufsteherin. Wie geht es dir? Das war schrecklich, was euch da gestern widerfahren ist.«

Leni nickte zustimmend. »Ja, das war schon schlimm. Es tut mir leid, dass der Kili Umstände gehabt hat mit der Polizei. Aber ich wusste nicht, wer sich sonst auskennt, wie man am besten mit den Fahrzeugen möglichst nah zum Hexenwasser hinkommt.«

Käthe winkte ab »Das ist doch selbstverständlich. Die Polizei war gestern spät am Abend bei uns und hat gefragt, ob wir wüssten, ob hier in der Gegend jemand vermisst wird. Ich hab zurzeit nur die Schmieds hier, von denen sieht man nicht viel. Die sind viel unterwegs. Ich denke, wenn sie ein Foto haben, werden die Beamten noch mal vorbeischauen. Komm rein, du frühstückst mit uns. Ich bin neugierig, was dich so früh hierher verschlagen hat. Nicht, dass ich mich nicht freue, aber auch im Allgäu sind Besuche vor sieben Uhr morgens eher unüblich.«

»Einen Kaffee trink ich gern mit, essen tu ich nichts. Der Schorsch hat spontan beschlossen, einige Tage bei mir zu kampieren, damit ich nicht auch noch ermordet werde.« Leni verzog das Gesicht, um zu zeigen, was sie von dieser Absurdität hielt. »Ich hab nichts Gescheites zum Essen im Haus. Auf Besuch war ich nun wirklich nicht eingerichtet. Deshalb wollt ich bei euch schnell ein paar Eier und Milch kaufen.«

Käthe strahlte. »Das ist super! Ich bin froh, dass du nicht allein bist. Ein bisschen haben Kili und ich uns gestern Abend schon gesorgt, deinetwegen, so allein auf dem Einödhof. Natürlich kriegst du Milch und ich kann dir zwölf Eier mitgeben. Du hast Glück. Wir haben noch ein paar Hennen wegen der Urlauber. Viele Landwirte in der Gegend haben kein Geflügel mehr, nach dem Theater mit der Vogelpest vor ein paar Jahren. Für mich ist es wichtig, einen Hof zu führen, auf dem sich unterschiedliche Tiere tummeln. Neben den Hühnern haben wir ein paar Enten und ich versuche, den Kili grade dazu zu überreden, dass wir uns ein paar Schafe anschaffen.« Die jüngere Frau zwinkerte. »Wenn du also irgendwie in die Gespräche mit meinem Liebsten Schafe einbauen kannst, wäre ich dir sehr verbunden. Eines von den alten Anwesen, die wir gekauft haben, hat steile karge Weiden. Da würde sich eine kleine Schafherde lohnen. Abnehmer für das Fleisch hätte ich. Aber zuerst muss er den alten Schweinestall wieder richten. Ich hab mir von ihm zu Weihnachten ein paar Wollschweine gewünscht.« Käthe gab Leni durch eine Geste zu verstehen, ihr ins Haus zu folgen.

Während Leni hinter Käthe durch den Flur in die Wohnküche folgte, meinte sie: »Lass mich raten, falls es sich ergibt, soll ich auch über die Vorzüge von Wollschweinen reden.« Käthe lachte, während sie den Geschirrschrank öffnete. »Du hast es erfasst.«

Die zwei Frauen deckten zusammen den Tisch und es dauerte nicht lange, bis der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees Kilian anlockte.

»Jo griaß di Leni, hast du der Käthe beim Kaffeekochen geholfen? Des duftet gut.«

Während Kilian und Käthe frühstückten und Leni ihnen mit einer Tasse Kaffee Gesellschaft leistete, berichtete Kilian das Wenige, was er zu erzählen hatte. »Viel hab ich auch nicht mitgekriegt. Ist ja logisch, dass die Polizei nichts raus lässt. Aber der eine Streifenpolizist kennt mich von der Freiwilligen Feuerwehr und der hat mir zumindest erzählt, dass die Leich a eine junge Frau isch. Name und Herkunft waren noch nicht bekannt. Aber was ganz anderes: Ich werde heute im Laufe des Nachmittags vorbeikommen und das versprochene Feuerholz vorbeibringen. Hast du jemanden, der es dir aufschichtet? Nein? Wennst magst, bring ich den alten Sepp mit, erinnerst dich? Der Josef Weber. Der wohnt in Unterweiler und ist froh, wenn er sich ein paar Euro dazu verdienen kann zu seiner Rente. Für Aufräumarbeiten rund ums Haus ist der gut zu gebrauchen. Schwätz halt mol mit dem. Der ist eh grad draußen im Stall.«

»Gute Idee. Mach ich gleich, bevor ich heimfahre. Ihr seid super Nachbarn. Ich hab noch nicht mal richtig Danke gesagt dafür, dass ihr euch ums Haus gekümmert habt.« Leni schüttelte den Kopf.

»Ich versteh nur nicht, wieso die Mutter das so arrangiert hat.«

»Passt scho«, brummelte Kilian. »Deine Mutter war fest überzeugt, dass du irgendwann heimkommen würdest. Nach dem Tod deines Vaters ließ sie das Haus modernisieren. Du hast sogar Internetanschluss. Das wurde zusammen mit unserem gemacht. Deine Mutter bat mich, die Zugangsdaten aufzubewahren. Ich suche sie dir raus.«

Leni fühlte, wie ihre Schultern sich straften. »Ich hatte mich schon gegraust vor dem ganzen Theater mit der Telefongesellschaft. Da hat mich das alte Telefon total in die Irre geführt. Ich würde mich gerne revanchieren. Hättet ihr zwei Lust, am Sonntag zu Kaffee und Kuchen vorbeizukommen? Zugegeben, ich bin nicht so gut im Backen, wie du Käthe.« Leni lächelte die jüngere Frau freundlich an, die zurückgrinste. »Überlegt es Euch. Bis dahin hab ich ein bisschen Ordnung geschaffen und sicherlich noch ein paar Punkte, bei denen ihr mir helfen könnt.« Leni kniff ein Auge übertrieben zu. »Ihr seht, alles ganz und gar uneigennützig.« Sie stand auf. »Aber jetzt muss ich los. Vielen Dank für den Kaffee.«

Kilian und Käthe folgten ihrem Beispiel und standen ebenfalls auf.

»Wolltest du nicht noch den Sepp fragen?«, erinnerte Kilian sie, während die drei nach draußen gingen.

Leni sah sich um, konnte aber niemanden entdecken.

»Weißt was, das mach ich heut Nachmittag. Ich sollte jetzt heim, nicht, dass der Schorsch noch ne Vermisstenanzeige aufgibt. Also passt euch das morgen gegen zwei?«

Sie stieg in ihren Fiat und startete mit der Milch und den Eiern nach Hause.

10

30. September, Hieronymus.

»An Fruchtbäumen soll man nach unserem Willen verschiedene Sorten Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume halten.« Capipulare de Villis et curtis imperialibus, Carolus Magnus

 

Leni nutzte die Rückfahrt für die Planung ihrer nächsten Schritte.

Falls ich auf Dauer auf dem Hof bleibe, fällt einiges an Arbeit an.

Sie parkte vor dem Haus. Drinnen war noch alles ruhig.

Die Sonne schien. Trotzdem war es kühl, denn es pfiff ein kräftiger Wind über die Wiesen. Leni beschloss, die Nebengebäude und den Garten zu inspizieren. Sie begann mit dem Holzschuppen. Dort öffnete sie die Tür, damit Kilian später direkt mit dem Traktor und dem Anhänger drinnen abladen konnte.

Sie stand im Schuppentor und nahm die Gebäude in Augenschein.

Die Außengebäude sind schäbig. Der Vater hat nichts mehr richten lassen, als ich mich nach Christians Tod geweigert hab, den Hof zu übernehmen.

Ihr Vater war vor zehn Jahren gestorben, die Mutter vor fünf. Bei beiden Gelegenheiten war Leni kurz zur Beerdigung nach Wangen gekommen.

Wenn es stimmt, was der Kilian sagt, dann hat die Mutter, nachdem der Vater starb, noch viel am Haupthaus richten lassen. Hätte ich mir denken können, damals, als ich beim Rechtsanwalt war.

◊◊◊

»Mein Beileid zum Tod ihrer Mutter. Gut, dass Sie Zeit finden konnten. Es gibt Einiges zu regeln.« Der Rechtsanwalt schüttelt ihr die Hand. Seine Hand ist warm und trocken, der Händedruck fest. Leni sitzt ihm gegenüber, die Hände auf die Beine gelegt. Die fast weißen Finger auf der schwarzen Hose bilden eine Art Schachbrettmuster. Klare Linien. Sie blickt auf. Von den Erläuterungen des Rechtsanwaltes hat sie nichts aufgenommen. »Ich habe wenig Zeit und werde nicht oft hier sein. Könnten Sie die Verwaltung übernehmen? Einmal im Jahr einen Bericht schicken? Die finanziellen Dinge an meinen Steuerberater.«

»Wie Sie wünschen. Ich würde dann eine Vollmacht benötigen.«

»Wo soll ich unterschreiben?«

◊◊◊

Ich konnte damals nicht schnell genug zurück zu Theo und dem schönen neuen aufregenden Leben in Stuttgart. Leni lächelte säuerlich. Wie begriffsstutzig man sein kann, und das, wo mein beuflicher Erfolg zumindest teilweise auf meiner Intuition beruht.

 —Blinde Seher.— 

Was ich jetzt beginne, es sollte von Dauer sein. Nicht abhängig von einem Mann und seinen Wünschen. Es muss für mich passen. Egal ob hier im Allgäu auf dem Hof oder woanders. Ein Neuanfang. Kein Wegrennen mehr!

Leni war sich sicher, dass nun ein Lebensabschnitt beginnen würde, der ihr für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre eine stabile Basis und Sicherheit geben sollte. Sie sah sich um.

 —Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und aktiv zu werden. Hast dich lange genug treiben lassen.— 

Leni ging um das Wohnhaus herum zum Hintereingang. Dort befand sich eine Streuobstwiese. Frühere Generationen von Sonnbichlers hatten besonders leckere Obstbaumsorten angepflanzt. Früher spannte sich zwischen den Bäumen eine Wäscheleine.

»Wirf die Waschmaschine an«, forderte Leni sich laut auf. Es half ihr, sich einen Plan zurechtzulegen.

In der Waschküche fand sie eine Leine. Leni suchte geeignete Bäume, um sie zu befestigen.

 —Es hängen noch viele Äpfel und Birnen an den Bäumen. Wäre schade, wenn das ganze Obst verkommt.— 

Waren da nicht Holzsteigen im Schuppen? Und eine Leiter?

Wo hatten die Eltern das Erntezubehör verstaut? Als Kind war sie für das Aufsammeln der Falläpfel zuständig gewesen. Die wurden zur WLZ, der lokalen Bauerngenossenschaft, gebracht und vermostet.

So haben wir unser Taschengeld verdient. Der Erlös wurde zwischen Christian und mir aufgeteilt.

Die Wäscheleine lag vergessen am Boden, Leni hantierte mit dem Apfelpflücker.

Wenn die Mutter zum Sonntag einen Apfelkuchen backen wollte, ging sie im Herbst mit dem Apfelpflücker auf Jagd nach reifen Äpfeln.

Mehrere Äpfel lösten sich und drohten ihr auf den Kopf zu fallen.

»Na warte. Ich krieg Euch alle!«, drohte sie lachend.

Ich steig jetzt auf den blöden Baum. Bevor ich mir noch 'ne Gehirnerschütterung hole.

Leni zog Schuhe und Strümpfe aus, um besseren Halt zu finden.

Apfelpflücken war nicht ganz ungefährlich. Es gab genug Geschichten über Leute, die von den Bäumen gefallen und gestorben waren.

Leni hielt sich wackelig auf dem Baum und langte vorsichtig nach den Zweigen, um Äpfel in ihren Stoffbeutel zu packen. Ihr Herz schlug schneller.

Der Tod im Birnbaum fiel ihr ein. Ein altes Theaterstück. War dort nicht der Tod auf einen Birnenbaum gebannt worden? Die junge Frau auf dem Altarstein am Hexenwasser wäre froh gewesen, wenn der Tod in irgendeiner Form gebannt worden wäre.

Leni runzelte die Stirn, als sie an die Angst dachte und die Verzweiflung, die sie gestern gespürt hatte, aber da war noch etwas gewesen … eine andere unterschwellige Emotion.

Ein bisschen … wie … gerechte Strafe - nein, das konnte nicht sein.

 —Genugtuung? Wut? … Zorn?— 

Wer hatte den Altarstein am Hexenwasser entweiht?

Leni wusste, es war ein alter Ritualort, aber er war nie oder zumindest in den letzten tausend Jahren nicht für blutige Opferrituale benutzt worden. Das hätte sie gespürt. Warum hatten die Krähen sie gerufen?

»Wie ist das Wetter da oben?«

Leni erschrak und wäre beinahe abgestürzt, konnte sich gerade noch an einem Ast festhalten.

»Jessas, Schorsch! Hast du mich erschreckt.«

Schorsch legte die Hand über seine Augen, während er zu ihr hochblickte. »Ich hab dich vom Küchenfenster aus beobachtet, mir ist ganz anders geworden. Mein Bedarf an Blut und Verletzungen ist für die nächste Zeit gedeckt. Kommst du bitte runter, mir wird schwindelig, wenn ich dich da oben sehe, wie so einen Laubfrosch im Baum. Magst frühstücken? Ich hab den Tisch gedeckt.«

 —Essen klingt gut.— 

Leni lächelte Schorsch an. Sie hatte vergessen, dass sie ihm die Leviten lesen wollte.

»Gern. Ich hab einen Riesenhunger. Schau mal, was ich alles geleistet habe!« Dabei deutete sie auf die fünf gut gefüllten Steigen. »Nicht schlecht für eine Stunde Arbeit! Als Erntehelfer würde ich mich nicht verdingen wollen. Das ist Knochenarbeit, eigentlich wollte ich nur die Wäscheleine festmachen.«

»Lass uns erst frühstücken, dann helfe ich dir mit der Leine.«

Leni nickte zustimmend, legte ihre Hand kurz an den Baum, von dem sie gerade geklettert war. Danke mein Freund für deine freundlichen Gaben.

Als die zwei zurück zum Haus schlenderten, bückte Leni sich und pflückte eine Handvoll Kräuter. Auf Schorschs unausgesprochene Frage antwortete sie: »Gundelkraut, weiß ich noch von der Mama, macht leckere Eierspeise.«

11

30. September, Hieronymus.

»Fünf sind geladen, zehn sind gekommen. Gieß Wasser zur Suppe, heiß alle Willkommen.« Unbekannt

 

Durch die Hintertür gelangten sie in die Küche. Leni schnupperte: Kaffee, aufgebackene Brötchen, Rauch.

Ihr Magen begann, hörbar zu knurren. Sie war es nicht gewohnt, sich an den gemachten Tisch setzen zu können.

 —Mal was anderes, verwöhnt zu werden. Dein Verflossener wäre da nie drauf gekommen. — 

Nach der herbstlichen Frische draußen war es, hier in der Wohnküche, angenehm warm. Schorsch hatte den Holzherd befeuert.

»Mir steckt immer noch die Kälte in den Knochen von gestern.« Schorsch sah schuldbewusst aus.

 —Weil du ihm gestern fast den Kopf abgerissen hast, als er den Ofen anmachen wollte, entschuldigt

12

30. September, Hieronymus.

»Man muss immer wieder mit Leuten rechnen, auf die man nicht zählen kann.« Unbekannt

Hannes hatte sein Ziel erreicht. Der Sonnbichlerhof lag gut versteckt am Ende einer schmalen gewundenen Landstraße. Der Kies knirschte unter den Reifen, als er anhielt. Sein Rücken schmerzte, die Fahrt hatte doch etwas länger gedauert. Kriminalhauptkommissar Maier stemmte die Hände ins Kreuz und streckte sich, dabei nahm er die Gebäude in Augenschein.

Nicht das typische Allgäuer Bauernhaus. Mehr wie eine Trutzburg. Fehlten nur noch der Burggraben und die Verteidigungsmauer.

Christine, mit ihrem Faible für Lokalhistorie, hatte gründlich recherchiert und ihren Vorgesetzten genauestens informiert. »Der Sonnbichlerhof war ursprünglich ein Gutshof. Deshalb ist er untypisch für die Gegend. Das Wohngebäude steht einzeln, die Stallungen und Lagerschuppen sind um das Wohngebäude angeordnet. Man vermutet, dass da ursprünglich ein Landvogt gewohnt hat. Schau dich mal um, vielleicht findest du ja irgendwo ein eingemeißeltes Wappen. Nach den Bauernkriegen kam der Hof und die Ländereien zum Truchsessen von Waldburg. Auf alle Fälle, Chef, bring mir bitte ein paar Fotos mit. Ich glaube, das ist ein wirkliches Kleinod aus dem Mittelalter.«

Hannes schnaubte durch die Nase.

Schäbig genug sah das Ganze ja aus. Die Außengebäude schienen seit dem Mittelalter nicht mehr renoviert worden zu sein.

Vor dem Wohnhaus stand eine Holzbank mit abblätternder weißer Farbe, unter dem Lack wurde das

silber glänzende Holz sichtbar. Die blinden Fensterscheiben wirkten abweisend. Lediglich der Hauseingang widersprach dem Gesamteindruck von heruntergekommener Wohnruine. Die Tür war aus solidem Holz gefertigt, das in einem komplizierten Rautenmuster gelegt war. Der Kriminaler vermutete Eiche. Jemand hatte die Tür vor Kurzem geschrubbt und das Holz in Öl getränkt. Die Türklinke aus handgeschmiedetem Metall zeigte keine Rostspuren. Neben der Fußmatte, auf der ein »Willkommen« zu lesen war, stand eine Schale mit orangen Dahlien.

Die Haustür öffnete sich. »Griaß di Hannes. Die Leni meinte, du sollst reinkommen, wir wollten gerade essen. Hast Hunger? Es reicht gerade noch für einen armen verhungernden Kriminaler.«

Hannes blinzelte. »Hallo Schorsch. Mit dir hab ich jetzt hier gar nicht gerechnet. Ich dachte, du bist in Wangen.«

»Ich wollt die Leni, also die Frau Sonnbichler, nicht allein hier draußen in der Einöde lassen, wenn da ein Mörder in der Gegend sein Unwesen treibt. Also hab ich mich kurzerhand bei ihr einquartiert.«

Täuschte sich der Kommissar oder lief sein Gegenüber tatsächlich rot an?

»Eigentlich passt mir das ganz gut. Ich wollte dich ja auch noch befragen zu dem Fund. Erzähl mal, wieso wart ihr denn um diese Uhrzeit im Wald unterwegs? Soweit ich mich erinnere, bist du nicht unbedingt der große Waldläufer.« Hannes Maier hatte früh in seiner Laufbahn gelernt, flexibel zu reagieren. »Also: warum Waldspaziergänge?«

»Der Kilian Huber hat mich auf dem Handy angerufen und ich hab die Gelegenheit am Schopf gepackt und uns zu ihnen eingeladen. Wir sind gemütlich zum Huberhof spaziert und auf dem Rückweg haben wir den kürzeren Weg genommen, eben weil es ja bald dunkel werden sollte.«

Irgendwas stimmte nicht. Hannes beobachtete sein Gegenüber genau. »Gut, aber wieso das Hexenwasser? Wenn ich das richtig im Kopf hab, dann liegt diese Waldlichtung etwas abseits von dem Wanderweg zum Sonnbichlerhof. Wenn ihr einfach normal zurück gelaufen wäret, dann hättet ihr nie auf die Leiche stoßen können.«

Wich Schorsch seinem Blick aus?

»Weiß ich auch nicht so genau. Leni lief ein bisschen voraus und dann blieb sie plötzlich stehen und bat mich, den Notruf abzusetzen.«

13

30. September, Hieronymus.

»Der heute übliche deutsche Trivialname Gundermann oder Gundelrebe leitet sich möglicherweise vom althochdeutschen/gotischen gund Eiter oder Geschwür ab, was auf die früher gebräuchliche Verwendung als Heilpflanze hinweisen würde.« Wikipedia

 

Leni verquirlte die Eier, würzte sie und fügte die zerkleinerte Gundelrebe in die Eimasse. Die Eierspeise würde sie erst fertig braten, wenn die zwei Männer so weit waren, sich zum Essen hinzusetzen. Ihr Magen knurrte wild.

 —Wo bleiben die denn? Der Kommissar Maier hat wohl nicht damit gerechnet, Schorsch hier zu treffen. Was Schorsch ihm wohl erzählt? Mist. Wenn der jetzt rauslässt, dass du das mit der Toten wusstest, bevor ihr überhaupt was sehen konntet.— 

Leni spülte automatisch Holzbrett und Küchenmesser ab, tat Zwiebel- und Eierschalen in den kleinen Plastikcontainer, den sie als Komposteimer nutzte.

Das übrig gebliebene Gundelkraut wollte sie zuerst in den Kompost befördern, zögerte dann.

Gundermann ist ein Schutzkraut. Hat die Huberin mal gesagt. Schutz kann ich grad gut gebrauchen.

Ungeschickt flocht Leni aus den übrig gebliebenen Reben des Gundelkrauts einen kleinen Kranz.

Und wo pack ich den jetzt hin?

Sie trat in den Eingangsbereich des Hauses. Wie bei vielen alten Häusern schloss an die Haustür ein kleiner Vorraum an, der als Windschutz diente. Dann folgte eine zweite Tür, die Zugang zum Hausflur, oder im Fall des Sonnbichlerhauses, zur Eingangshalle bot.

Die Erbauer des Sonnbichlerhauses hatten großzügig gedacht. Die Eingangshalle selbst war groß genug, um zwei Zimmer abzugeben. Leni steuerte den Windschutz an.

Ich glaube, da bau ich einen kleinen Schrein auf. - Die Tage. - Platz genug ist ja.

Leni öffnete die innere Tür und sah sich um. Wie krieg ich den Kranz jetzt da hoch über den Türrahmen? Warum die zwei Männer wohl so lange brauchen?

Das Gespräch der zwei Männer, die vor der offenen Haustüre standen, verstummte.

 —Die haben verdächtig schnell aufgehört zu reden. — 

Johannes Maier wandte sich Leni zu. »Grüß Gott Frau Sonnbichler, ich hatte nicht erwartet, den Schorsch hier vorzufinden. Da er schon mal da ist, hab ich ihn gleich vernommen. Er hat mir erzählt, wie es zum Fund der Leiche gestern gekommen ist. Sie verstehen sicherlich, dass ich mir in dieser Angelegenheit von jedem von ihnen die Geschichte separat erzählen lassen möchte. So bekomme ich eine bessere Vorstellung, wie das alles gestern passiert ist. Reine Routine.«

 —Das sagen sie immer. Und dann verhaften sie einen. Ganz ruhig Leni. Der kann deine Angst riechen. —

Leni schüttelte die Hand des Kriminalisten und gab sich besondere Mühe, einen festen Händedruck hinzubekommen. Sie hatte irgendwann einmal gelesen, dass ein fester Händedruck Seriosität suggerierte. »Natürlich verstehe ich das, kommen Sie erst einmal herein, wir wollten gerade frühstücken. Essen Sie doch mit, es reicht gut für drei. Nachher können Sie mich alles fragen, was Sie möchten.«

 —Henkersmahlzeit. Du brabbelst, der merkt doch gleich, dass du unsicher bist.— 

Leni ignorierte ihre innere Stimme. »Bevor wir reingehen: Schorsch, wärst du so freundlich, diesen Kranz da oben hinzuhängen. Du bist größer als ich. Wenn ich mich recht erinnere, sollte dort in der Mitte vom Türstock ein kleiner Nagel hängen. Danke.«

Leni entging der Blickwechsel nicht, den die zwei Herren austauschten. Sie wurde zusehends nervöser. Was sag ich dem bloß? Die Wahrheit klingt zu unwahrscheinlich.

Schorsch befestigte wie gewünscht den Kräuterkranz am Türrahmen.

In der Küche schenkte Schorsch jedem Kaffee ein, während der Kommissar auf die Eckbank rutschte. Leni machte die Eierspeise fertig und war froh, dass sie noch ein paar Momente hatte, sich zu sammeln. Sie stellte die Pfanne auf den Untersetzter, der mitten auf den Tisch stand, und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Hannes Maier. »An Guata.«, wünschte sie und bestrich sich ein Butterbrot.

»Das schmeckt echt lecker«, lobte Schorsch und Hannes nickte bestätigend. »Das Kraut ist würzig.«

Leni hatte Schwierigkeiten, ihr Essen   hinunter  zu schlucken. Sie versuchte, ihre Unsicherheit mit Small Talk zu überdecken. »Meine Mutter hat das öfters mal gemacht. Gundelrebe wächst fast überall hier auf den Wiesen oder in der Nähe vom Kompost, die Wenigsten wissen noch, dass es ein Heilkraut ist. Jemand hat mir erzählt, dass es ein Schutzkraut gegen böse Hexen ist.«

 —Ups, das war jetzt eventuell ein wenig zuviel Gebrabbel.— 

Leni biss sich auf die Zunge, während Kriminalhauptkommissar Maier sich räusperte und seinen Teller beiseiteschob, als Zeichen, dass der gemütliche Teil vorbei war.

Er ließ sich von Schorsch eine zweite Tasse Kaffee einschenken und zog dann ein altertümlich anmutendes Diktafon heraus.

»Frau Sonnbichler, Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne. Das hab ich vorhin auch mit Schorschens Aussage gemacht. Auf die Art und Weise brauche ich nicht immer einen zweiten Beamten, der mich begleitet.

Eine Aufnahme von einer Aussage ist genauer als irgendwelche Notizen.«

Leni nickte zögernd.

»Gut, dann müssten Sie noch hier unterschreiben.« Der Kommissar zog ein vorgedrucktes Blatt Papier aus einer seiner Jackentaschen und legte es Leni mit einem Kugelschreiber vor. »Alles reine Formsache. Aber Sie wissen ja, der Papierkrieg wird nicht weniger.«

Ich komm mir schon wie ein Verbrecher vor. Leni merkte, wie Wut in ihr aufstieg, aber sie unterschrieb das Formular.

Maier schaltete das Gerät ein und sprach darauf: »Erste Befragung von Frau Magdalena Sonnbichler, wohnhaft auf dem Sonnbichlerhof bei Wangen im Allgäu. Zeitpunkt: Freitag, zwölf Uhr dreißig. Ort: Sonnbichlerhof. Anwesend: Herr Georg Ansbach, wohnhaft: Schmiedstraße 44, Wangen im Allgäu, zur Zeit auf Besuch bei Frau Sonnbichler.

Vernehmender Beamter: Kriminalhauptkommissar Johannes Maier.«

Leni zwang sich, ruhig zu atmen.

 —Nur keine Angst zeigen. Schau brav und harmlos. Du hast nichts zu befürchten.— 

»Frau Sonnbichler, bitte berichten Sie, wie es zu dem Fund der Leiche gestern gekommen ist.«

»Wir sind auf dem Heimweg am Hexenwasser vorbeigekommen und da haben wir dann die Leiche gefunden.«

»Frau Sonnbichler, das Hexenwasser liegt abseits vom direkten Wanderweg, auf dem Sie und Herr Ansbach sich befanden. Wie kam es, dass Sie auf die Lichtung gingen?«

 —Scheiße. Denk nach! Sag jetzt bloß nichts Falsches.— 

Leni drehte ihren Kaffeebecher in den Händen und ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Die Krähen waren so unruhig, das wollte ich nachschauen und dann fanden wir die Leiche der jungen Frau.«

Schorsch Ansbach und Hannes Maier sahen sie an.

Hab ich was Falsches gesagt? Lenis Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als Hannes Maier sprach.

»Woher wissen Sie, dass es eine junge Frau war?«

14

30. September, Hieronymus.

»Sei besorgt um deinen Namen, denn er begleitet dich treuer als tausend goldene Schätze.« Bibelspruch

 

»Frau Sonnbichler, woher wissen Sie, dass es sich bei der Person, die da auf dem Hexenaltar lag, um eine junge Frau handelt? Als Sie den Notruf absetzten gestern Abend, haben Sie sich der Leiche nicht genähert, sind nur bis zum Rand der Lichtung und bis jetzt hatten wir großes Glück, dass die Presse noch nichts veröffentlicht hat.«

Kommissar Maier blickte kurz zu Schorsch.

»Also können Sie es nicht aus der Zeitung erfahren haben.«

 —Mist! Erwischt.— 

Wie kam sie aus dieser Bredouille raus? Leni fing an, zu plappern, um Zeit zu gewinnen.

»Ich war heute Morgen auf dem Huberhof und hab dort Eier gekauft und Milch für den Kaffee. Der Kilian Huber hat mir das erzählt. Die Hubers wurden gestern Abend noch befragt.«

 —Der Kommissar schaut nicht glücklich aus, bei dem Gedanken, einer seiner Leute könnte zu viel Information ausgeplaudert haben— , schob Lenis innere Stimme hämisch nach.

Haben sie doch nicht, der Kili hat es von der Feuerwehr.

 —Weiß er das? So wie du es ausgedrückt hast, könnte es auch ein Polizist gewesen sein, der geplappert hat. Lass ihn das ruhig vermuten, und dass du das schon wusstest, bevor der Kilian es dir erzählt hat, brauchst ihm ja auch nicht auf die Nase zu binden.— 

»Wissen Sie inzwischen, wie die junge Frau hieß?« Leni unterdrückte den Wunsch, mit den Wimpern zu klimpern.

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nein. Wir wissen nur, dass die Frau aufs Brutalste ermordet wurde. Mehr noch nicht. In der Nähe des Tatorts haben wir eine Stofftasche gefunden mit einem Messer. Das Messer wird gerade auf Spuren untersucht.«

Das Messer hatte sie ganz vergessen. Vielleicht sollte sie zugeben, dass es ihres war.

»Das wird meins sein.«

Aus dem Blick des Kommissars konnte Leni nichts ablesen.

»Wir hatten gestern eine Tasche dabei. Ich wollte auf dem Rückweg nach Pilzen suchen.«

»Frau Sonnbichler, wären Sie bereit, mir Ihre Fingerabdrücke zu geben, damit wir das abgleichen können?«

Leni überlegte kurz und stimmte dann zu. Was könnte es schaden?

Hannes schien nichts anderes erwartet zu haben. »Gut, ich habe das Nötige im Auto. Wir können das nachher gleich erledigen. Etwas anderes: Wir haben Erkundigungen eingezogen. Ihre bisherige Wohnadresse und welchen Beruf Sie ausüben. Sie sind in Wangen noch gar nicht gemeldet.«

»Das hat der Streifenpolizist gestern doch gesehen, auf meinem Personalausweis.«,

Der Kommissar nickte und fuhr fort: »Ihren Hausstand in Filderstadt haben Sie Anfang August aufgelöst. Wären Sie so freundlich, zu erklären, wo Sie in der Zwischenzeit waren?«

 —Pass auf, Leni, der mag dich nicht. So wie der nachhakt, sucht der eine Schuldige. Ehe du dich versiehst, wirst du wegen Mordes verhaftet.— Vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder eines Kerkers auf.

Leni schluckte und sah dem Kommissar direkt in die Augen. Sie musste genau überlegen, was sie von sich preisgeben wollte. »Ich weiß zwar nicht, was das mit der Leiche vom Hexenwasser zu tun hat, aber ich habe nichts zu verbergen. Ich war in Filderstadt als Heilpraktikerin tätig. Im Juli habe ich meine Praxis aufgelöst, beziehungsweise, sie verkauft. Dann habe ich meine Wohnung in Filderstadt aufgelöst und die nächsten paar Monate bin ich gereist und habe diverse Fortbildungen gemacht. Ich hoffe, Sie erwarten jetzt nicht von mir, dass ich Ihnen detailliert aus dem Stand heraus sage, wo ich wann war.«

»Frau Sonnbichler, Sie sind, wie aus den Berichten der Kollegen aus Stuttgart hervorgeht, bewandert in«, hier räusperte sich Johannes Maier, »okkulten Techniken.«

Schorsch schaute verdutzt und saß plötzlich ganz still. Leni runzelte die Stirn.

 —Ha! Jetzt kommt's … Theo und seine Clique, verdammt!— 

◊◊◊

»Magda, Süße. Es ist doch nur ein Spaß. Zu deiner Arbeit gehört eben ein bisschen Ambiente. Was schadet es dir, wenn du ein kleines bisschen das mit der Schamanin und Hexe betonst?« Theo Brück sieht seine Lebensgefährtin mit dem ihm eigenen Hundeblick an.

»Ich will nur dein Bestes und gelogen ist es auch nicht. Du hast doch diese Fähigkeiten. Also warum so schüchtern? … Süße, komm schon. Ich hab das Schmuckstück extra für dich ausgesucht. Ganz dezent. Und der lange Rock steht dir echt gut. Und wenn du da drunter noch das scharfe Outfit anziehst, machst du mich ganz heiß.«

Leni fühlt sich unwohl. Zum Universum reden und ihre Intuition einsetzen, wenn Klienten zu ihr in die Praxis kommen, ist eine Sache. Aber daraus eine Show zu machen …

»Süße, vertrau mir. Die wollen nur einen kleinen Einblick, wie das mit dem energetischen Heilen funktioniert.«

Leni schüttelt den Kopf. »Die Leute halten Heilpraktiker für Scharlatane. Und nun soll ich dieses Pentagramm um meinen Hals hängen, mich in schwarze Kleidung hüllen und bunte Schals tragen? Ich glaub, du spinnst.«

»Aber denk doch an die alte Frau von Herrenberg. Wenn du nicht gewesen wärst, würde man sie immer noch als Hypochonderin abtun. Du hast ein Talent, stell dein Licht nicht unter den Scheffel.«

»Quatsch. Das lag doch nur daran, dass die Frau sich nicht getraut hat, ihrem Arzt von ihren Frauenproblemen zu erzählen. Das hat nichts mit Talent zu tun, nur mit Zuhören können und mit dem richtigen Geschlecht.« Leni winkt ab, sie will nicht in die Ecke der Wunderheiler gestellt werden.

»Magda. Komm schon, denk doch dran, was wir für einen Spaß haben werden. Eine Einladng in diese Gesellschaft. Eine Gräfin, zwei Landräte und sogar ein Bundestagsabgeordneter. Vertrau mir. Ich weiß, was ich tu.«

◊◊◊

»Hallo, Frau Sonnbichler. Ich warte auf eine Antwort.«

Leni fuhr erschrocken hoch.

»Ich konnte mich vorhin gerade selber davon überzeugen, als Sie diesen Kranz von magischen Kräutern an Ihrer Eingangstür befestigten. Die junge Frau, die Sie gestern Abend gefunden haben, wurde nicht zufällig am Hexenwasser ermordet. Vieles deutet auf einen Ritualmord hin.«

»Gleich unterstellen Sie mir, dass ich kleine Kinder im Backofen brate.«

Verdammt seist du, Theo!

Leni hatte begonnen, Hochdeutsch zu reden. Ein klares Warnzeichen, für alle, die sie näher kannten, dass sie kurz davor stand, zu explodieren. Schorsch, der ihre Reaktionen noch von früher kannte, begann unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er versuchte, sich in die Vernehmung einzuschalten.

»Jetzt hört aber alles auf! Hannes? Was soll denn das?«

Leni funkelte Georg Ansbach und Johannes Maier wütend an. Der Kommissar ignorierte das und gab Schorsch ein Zeichen, sich nicht einzumischen. »… in Anbetracht dieser Dinge und der zusätzlich erschwerenden Tatsache, dass ausgerechnet Sie die Leiche entdeckt haben, möchte ich Sie bitten, Frau Sonnbichler, mir zu sagen, wo Sie die letzten acht Tage waren. Sie verstehen sicher, dass wir in jede erdenkliche Richtung ermitteln müssen.«

Schorsch schnaubte unwillig. Johannes Maier brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

In Lenis Innerem gab es ein Auge des Hurrikans. - Ihr Zentrum der Ruhe. - Wenn ihre Unsicherheiten und Ängste zu sehr geschürt wurden, kam sie früher oder später an einen Punkt, an dem sie ganz ruhig wurde. Und grimmig.

 —Der denkt doch allen Ernstes, du hättest die Frau da umgebracht. Nur weil Theo dir dieses Magie-Image angehängt hat. Jetzt ist Krieg!— 

Mit sardonischem Lächeln und Frost in der Stimme antwortete sie: »Also, letzten Freitag war ich in Augsburg und habe dort eine Fortbildung besucht. Die ging bis Sonntagnachmittag gegen achtzehn Uhr. Ich kann Ihnen Hotel und Veranstalter nennen. Ich bin dann noch in Augsburg geblieben, ich wollte endlich mal die Stadt anschauen. Ich war im Tierpark, habe die Museen besucht und ausgiebig Sightseeing betrieben. Ich denke, ein oder zwei Eintrittskarten von den Museen sollte ich vielleicht noch in meiner Handtasche haben. Dafür habe ich keine Zeugen. In Wangen, beziehungsweise hier auf dem Hof, bin ich am Dienstag spät nachmittags angekommen. Wann genau kann ich nicht sagen. Allerdings …« Leni kniff die Augen zusammen. »Ich hatte mit einem Spediteur ausgemacht, meine eingelagerten Umzugskartons anzuliefern. Die mussten auf mich warten. Seine Mitarbeiter   haben mir dann geholfen und die Sachen ins Haus getragen.«

Der Kommissar nickte. »Das lässt sich nachprüfen.«

Leni ignorierte ihn »… dann hab ich irgendwas gegessen und bin schlafen gegangen. Am Mittwoch hat mich Herr Ansbach auf dem Wochenmarkt erspäht, wie er mir gestern am Telefon erzählt hat. Ich hab ein paar Lebensmittel eingekauft, bin dann nachmittags wieder auf den Hof, habe einen Teil des Tages mit Putzarbeiten und den Rest des Tages mit einem Krimi im Bett verbracht. Den Krimi habe ich übrigens in einem der hiesigen Buchläden gekauft. Die Quittung habe ich noch. Ab Donnerstagvormittag elf Uhr war dann Herr Georg Ansbach hier im Haus. Ich hoffe, das hilft Ihnen weiter.« Leni hatte sich inzwischen in Rage geredet, war aufgestanden und hatte die Hände auf dem Tisch aufgestützt: »Darf ich Ihnen an dieser Stelle versichern, Herr Kriminalhauptkommissar Maier, ich habe die Frau nicht ermordet. Weder rituell noch in sonst einer Art und Weise. Wenn ich so etwas vorhätte, und ich so okkult bewandert wäre, wie Sie mir vorhin schmeichelhaft unterstellt haben, dann hätte ich zu anderen Methoden gegriffen, die für die Polizei weniger offensichtlich wären. Ich möchte in diesem Zusammenhang an Wachspuppen und Nadeln erinnern.« Lenis Stimme war mit jedem Satz kühler und distanzierter geworden, ihre Aussprache glich zum Schluss der eines Münsteraner Germanistikprofessors.

Kommissar Maier schien zu ahnen, dass Leni kurz davor war, ihm das Frühstücksgeschirr an den Kopf zu werfen. Er stand auf, nickte Schorsch zu und sagte: »Ich möchte Sie bitten, die Stadt nicht zu verlassen, ohne eine Adresse zu hinterlassen, bis wir Ihr Alibi überprüft haben und beweisen können, dass zu der Toten keinerlei Verbindung besteht.

Wären Sie nun so freundlich, mich kurz zum Wagen zu begleiten, damit ich Ihre Fingerabdrücke nehmen kann?« Er schaltete das Diktafon aus. Leni stampfte hinter ihm her.

15

30. September, Hieronymus.

»Bei einer Frau muss man sich auf alles gefasst machen, außer auf das Wahrscheinliche.« Hans Söhnker

 

Schorsch stand am Küchenfenster und beobachte Kommissar Maier, wie er Leni die Fingerabdrücke abnahm.

Warum log Leni? Gestern am Hexenwasser hatte sie plötzlich aus heiterem Himmel behauptet, dass dort ein Toter sei. Woher wusste Leni eigentlich, dass da jemand war? Vom Pfad im Wald konnte man das jedenfalls nicht sehen. Es sei denn … Durchs Fenster konnte er Leni beobachten, wie sie dem davonfahrenden Wagen von Hannes Maier hinterher sah. Wenn Blicke töten könnten.

War es möglich, dass Leni sich in eine eiskalt manipulierende Mörderin verwandelt hatte?

Nein, nicht seine Leni.

Und wenn doch?

 

Wozu war er Journalist? Morgen würde er ein paar Kontakte in Stuttgart aktivieren und Nachforschungen anstellen.

Komisch, dass ihm jetzt erst klar wurde, wie wenig er Leni kannte. In dreißig Jahren verändern sich Menschen. Was sprach objektiv dagegen, dass Leni ihn nicht manipuliert hatte und die Szene gestern geschickt eingefädelt war?

Die Heulerei gestern im Wald war schließlich bühnenreif.

Er hatte sich so gefreut, als er sie auf dem Markt erkannte.

Der Tag war perfekt gewesen, dass er sich schon überlegte, ob er sie küssen könnte, ohne gleich erschlagen zu werden. Dann war das Hexenwasser gekommen.

Leni hatte Hannes Maier ein recht ausführliches Alibi für alle möglichen Zeiten gegeben, aber woher sie wusste, dass dort eine Tote lag? Dieser Frage war sie ausgewichen.

Rein objektiv gab es nur wenige Möglichkeiten, warum Leni wusste, was sie wusste, wenn sie nicht ein Medium war und tatsächlich direkt vom Geist der Ermordeten kontaktiert worden war.

Unwillkürlich musste Schorsch grinsen. Das Bild von Leni, die tischerückenderweise Kontakt mit Verstorbenen aufnahm, war einfach zu absurd.

Logischer war, dass sie entweder selbst die Leiche dort deponiert oder jemandem dabei geholfen hatte. Oder sie hatte jemanden dabei beobachtet und dies aus noch nicht geklärten Gründen versäumt, der Polizei zu melden.

»Jetzt fang ich aber an, Gespenster zu sehen!«

Tat er das?

Schuldbewusst zuckte er zusammen, als Leni die Küche betrat.

Er hörte, wie Lenis Schritte zögerlicher wurden, anhielten. Fast körperlich nahm er wahr, wie ihr enttäuschter Blick sich zwischen seinen Schulterblättern hindurch in sein Herz bohrte. Er spürte ihre Verletztheit und Enttäuschung. Die Schritte änderten die Richtung und er war allein. Wo war sie hin? Er fühlte sich gerade sehr unwohl, wenn er nicht wusste, wo sie war.

Er fand sie vor dem Haus auf einer kleinen Holzbank sitzen, ihr Gesicht hielt sie der warmen Oktobersonne entgegen, die Hände nach oben geöffnet auf ihren Oberschenkeln ruhend.

Sie wirkte verletzlich mit den geschlossenen Augen. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen.

Und was, wenn sie tatsächlich mit dem Mord zu tun hatte?

Schorsch nahm neben ihr Platz. Es dauerte eine Weile, dann öffnete Leni ihre Augen und sah ihn stumm an.

Er räusperte sich ein paar Mal und setzte mehrmals an, um etwas zu sagen. Leni wartete schweigend.

»Leni, es ist nicht so einfach, die richtigen Worte zu finden.«

Ihr Gesichtsausdruck wirkte nicht freundlicher.

»Du musst zugeben, es war komisch, wie wir die Leiche gefunden haben.«

Leni seufzte. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Schorsch, du warst es, der vorgeschlagen hat, dass wir den Kilian besuchen und du warst es, der am Hexenwasser vorbeiwandern wollte. Wir hätten mit dem Auto fahren oder den anderen Weg heimgehen können.«

Schorsch richtete sich auf und streckte sein Kinn vor. »Du drehst mir das Wort im Mund um. Als Nächstes behauptest noch, ich hätte die Leiche da deponiert.

Ich will doch nur wissen, wieso du so einen Anfall bekommen hast?«

»Anfall« Lenis Lachen klang stark gekünstelt. »Willst mich jetzt noch für verrückt erklären? Erst drängelst du dich rein und dann blöde Fragen stellen. Ich hatte dich nicht eingeladen.« Sie machte eine wegwischende Bewegung mit der Hand. »Lass es gut sein, ich wusste es einfach. Du würdest eh nicht verstehen warum.«

Versuchte sie gerade, ihm die Schuld zuzuschieben? Wofür denn?

Diese Art von Diskussion kannte er zur Genüge aus seiner Ehe. Karin hatte diese Methode meisterlich beherrscht.

Seine wütende Erwiderung blieb ungesagt, denn das Rattern eines Treckers unterbrach seinen Gedankengang. Kilian Huber bog mit einer Ladung Feuerholz auf den Hof ein.

Man könnt grad meinen, sie hätte sich mit dem Kilian abgesprochen, dass er auftaucht, wenn's für sie unangenehm wird.

Schorsch winkte Kilian und dem neben ihm sitzenden kleinen Mann im Blaumann trotzdem freundlich zu.

Leni stand hastig auf. »Schorsch, fahr bitte dein Auto n den Schuppen dort drüben. Neben meinem ist noch Platz. Dann kann der Kili mit dem Trecker gleich in den Holzschopf fahren und abladen. Ich sag ihm, wo er hin soll.«

Schorsch war aufgestanden und sah seiner Jugendliebe nach.

»Wenn du denkst, dass ich die Sache auf sich beruhen lasse, dann kennst mich schlecht, mein Mädel.«

16

30. September, Hieronymus.

»Wenn in schönen Erinnerungen die Vergangenheit dir zulächelt, was tut sie dann bei unangenehmen?« Unbekannt

 

Leni ließ Schorsch stehen und eilte zu Kilian und seinem Begleiter. Da war sie gerade noch entkommen.

 —Dir ist schon klar, dass die Strategie, unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen, auf Dauer nicht wirklich erfolgreich ist.— 

Ich habe die Nase voll von diesen dauernden Vorwürfen und   versteckten Anspielungen. Er ist von selber aufgetaucht. Ein wenig Vertrauen könnte er mir schon entgegenbringen.

Kilian winkte Leni zu: »Griaß di Leni. Erinnerst dich noch an den Weber Sepp? Ich hab ihm schon erzählt, dass du seine Hilfe brauchen könntest. Ich denke, ihr werdet euch schon einig. Gell Sepp.«

Der Angesprochene zeigte ein breites zahnluckiges Grinsen und nickte zustimmend.

 —Gott, der muss steinalt sein. So klein und verhutzelt, wie der aussieht. Darf der überhaupt noch arbeiten?— 

Leni ergriff die Hand des Knechtes vorsichtig, aus Angst, ihn zu verletzten. Der Händedruck des alten Mannes hingegen war erstaunlich kräftig, sie unterdrückte einen Schmerzenslaut. »Hallo Sepp, ist schon ewig her.«

»Do warsch no kloiner, als i jetzt bin. Bisch a fesches Mädel worda.«

 —Alter Charmeur—, kicherte Lenis innere Stimme.

Leni grinste den alten Mann an. »So was hört ma gern, au wenn's nicht wahr ist.« Dann drehte sie sich zum Huberbauern hin. »Kilian, kann man immer noch sein Obst bei der WLZ Entsaften lassen?«

Der schüttelte den Kopf. »WLZ gibt es nicht mehr. Die haben mit der BayWa fusioniert. Da müsstest du jetzt bis nach Hergatz fahren.«

Lenis Gesicht verzog sich zu einem »Och nö!«-Ausdruck,

Schorsch hatte sich in zwischen hinzugesellt, und Kilian und Josef Weber mit einem Kopfnicken begrüßt. Aus den Augenwinkeln bemerkte Leni, wie er sein Gesicht verzog.

Was passt ihm jetzt schon wieder nicht?

 —Wahrscheinlich eifersüchtig, der denkt, du flirtest mit dem Kili.— 

Blödsinn. Dem kann ich einfach nichts recht machen.

Kilian, der von Lenis innerer Unterhaltung nichts mitbekam, erklärte inzwischen:

»Ich kenne jemand anderen, der mostet auch. Der kauft die Äpfel, aber viel wirst du nicht kriegen. Oder der presst dir deine eigenen gegen ein Entgelt.«

Leni strahlte Kilian an und stellte mit Genugtuung fest, dass Schorschs Gesicht aussah, als hätte er in eine besonders saure Zitrone gebissen. Sie klimperte übertrieben mit den Wimpern. »Kannst du mir den Lader dalassen, wenn du das Holz abgeladen hast? Wenn der Sepp einverstanden ist, würde ich ihn bitten, wenn er mit dem Holzschichten am Montag fertig ist, dass er mir hinten am Haus die Äpfel aufliest, soweit er mag, auch noch erntet. Ich fände es ewig schad, wenn die Äpfel verkommen würden. Sepp, wenn du noch ein paar Leut' kennst, die helfen würden beim Äpfelklauben, denk ich, wir würden uns schon handelseinig. Meine Eltern hatten drüben im

Gesindehaus einen Apfelkeller. Wenn der noch so weit im Schuss ist, könnten wir die guten Äpfel da einlagern.«

 —Fehlt nur noch, dass du in die Hände klatscht. Der Schorsch schaut schon richtig giftig aus.— 

Gut so!

Sepp antwortete Leni im breitesten Dialekt. »Des kenna ma scho macha. Am gscheitesta wärs, wenn mir uns den Apfelkeller glei aguckat. Wenn i dann no was richta muss, kennt i glei mit dem Reparira afanga, wenn der Kili und i des Holz abglada hont.«

Die vier gingen zum alten Gesindehaus. Leni fühlte Genugtuung, wie Schorsch mit düsterem Blick hinter den anderen herschlurfte, während sie sich angeregt mit Kili und Sepp unterhielt.

»Da hab ich eine Weile mit meinen Söhnen gewohnt. Als ich nach dem Tod meines Mannes nicht wusste wohin. Es war damals schon ziemlich heruntergekommen.« Kurz presste sie den Mund zusammen, als sie an die Zeit zurückdachte.

◊◊◊

»Jetzt kommsch akrocha, mittellos und mit zwoi kloine Kinder. Und dann au no solche.« Ihr Vater wedelt mit erhobenen Zeigefinger und verzieht das Gesicht zu einer selbstgefälligen Miene. »Hättesch auf mi ghört, wärsch heit Großbäuerin, anstatt Bittstellerin.«

◊◊◊

 

Sie schüttelte den Kopf.

 —Alte Kamellen. Lass gut sein. Letztendlich hat der alte Grantler seine Enkel schon gemocht. Aber er hat es halt nicht so zeigen können.— 

Der Apfelkeller war von außen zugänglich und alt. In dem geräumigen Natursteinkeller mit gestampften Lehmfußboden hatten die Sonnbichlerbauern über viele Generationen hinweg ihre Äpfel und Birnen gelagert.

»Der schaut noch genau so aus, wie damals, als ich euch im Herbst beim Einlagern geholfen hab«, meinte Schorsch.

 —Guck, der versucht, sein bärbeißiges Verhalten abzulegen.— 

Sepp begutachtete die Bausubstanz und schien zufrieden: »Do muss it viel g'richtet werda. Die kaputte Fenster, dann a Gitter gega Ungeziefer und auskehra. Die Regal a bissle putza und du kannsch Äpfel und Birra lagra. Leni, i bin froh, dass du jetzt doch it verkaufa wirsch.«

Leni wurde hellhörig, es war nicht einfach, den alten Mann mit seinem breiten Allgäuerisch zu verstehen.

»Wie kommst du da drauf? Ich wollte nie verkaufen. Aber ob ich da bleibe, weiß ich noch nicht.«

Ich tu jetzt halt mal so, als ob.

Der Sepp fuhr unbeirrt fort: »Vor a paar Wocha war i hier am Mähen und do is so a Schnepfa aus Ravasburg mit ihrem dicka Bonzaauto agfahra komma. Sie hot gemeint, sie hätt' g'hört, des Anwesen sei zum verkaufa. Sie und ihr Ma tätat was auf 'm Land sucha.«

Leni legte den Kopf schief. »Wie sah sie aus?«

Das runzelige Gesicht des Knechtes verzog sich abschätzig, er spuckte aus. »Richtig daschleckt. Kostüm, Stöckelschuh und a lange Perlaketta. Sie hot no gemeint, ihr Ma sei scho do aufm Hof gwesa. Sie tätat sucha und wenns net zum kaufa sei, ob i was wüsst in der Gegend, wo ma mieta kennt. Am Anfang täte es auch eine Ferienwohnung«, unbewusst imitierte der knorrige Allgäuer die gewählte Aussprache der Fremden aus Ravensburg. »I hon ihr dann dei Telefonnummer geba«, wandte Sepp sich an Kilian, »Hot die sich bei dir gmeldat?«

Kilian schüttelte den Kopf. »Käthe hat nichts erzählt.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752111385
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Detektivgeschichten Wangen im Allgäu Allgäu Krimi Hexenwasser Esoterik Magdalena Sonnbichler Wangen Frauenkrimi Heimatkrimi Cosy Crime Whodunnit Thriller Spannung Ermittler

Autor

  • Alexandra Scherer (Autor:in)

Alexandra Scherer ist Wangen im Allgäu geboren, wo sie auch aufwuchs. Von 1985 bis 1997 lebte sie im Ausland. Danach wieder in Wangen. Seit 2019 lebt sie am Rande des Allgäus. Nähere Informationen sind regelmäßig auf ihrer Website und ihrem Blog zu finden.