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Lieblingszicke

Wenn Sylt erinnert

von Ben Bertram (Autor:in) Kerry Greine (Autor:in)
328 Seiten

Zusammenfassung

Was würdest du tun, wenn deine große Liebe sich nicht mehr an dich erinnern kann? Aufgeben? Oder kämpfen? Für Jonas ist die Entscheidung klar. Er kann seine Smilla nicht vergessen. Durch einen schweren Unfall vor anderthalb Jahren hat Smilla ihr Erinnerungsvermögen verloren und weiß nichts mehr von der gemeinsamen Vergangenheit. Auf Sylt hat sie ein neues Leben angefangen und hofft, dort wieder zu sich selbst zu finden und zu lernen, mit den Folgen des Unfalls zu leben. Um seine Traumfrau wieder für sich zu gewinnen, reist Jonas ihr nach. Im Gepäck einen eigens für Smilla erstellten Inselführer, der sie an ihn und die gemeinsame Zeit erinnern soll. Immerhin hatten sie sich damals auf Sylt ineinander verliebt, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnert. Warum sollte es also nicht ein zweites Mal funktionieren? Doch reicht seine Liebe aus, um die gemeinsame Vergangenheit zu wecken? Wird er es schaffen, dass Smila sich erneut in ihn verliebt? Dass sie sich vielleicht sogar wieder an ihn erinnert?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zerstört (Smilla)

Weiß … Ich sah nur weiß, als ich die Augen aufschlug. Die Welt um mich herum wirkte verschwommen, als würde sie hinter einem Schleier liegen. Einem weißen Schleier.

Ich weiß auch heute noch nicht, wie lange es dauerte, bis ich meine Umgebung scharf stellen konnte, wie ein Fotograf das Bild durch sein Objektiv. Immer wieder blinzelte ich, versuchte zu begreifen, wo ich war. Langsam drehte ich den Kopf, wollte erfassen, wo ich mich befand. Weiße Wände … Weiße Zimmerdecke … Ich konnte ein Schränkchen erkennen … fühlte kühlen, glatten Stoff unter meinen Händen … Ich lag in einem Bett. War ich im Krankenhaus? Ich wusste es nicht.

Ich sah ein Fenster, das den Blick freigab in einen mit weißen Wolken verhangenen Himmel. Ich war so müde … unendlich müde …

Neben meinem Kopf bemerkte ich eine Bewegung. Noch mehr weiß … Ein Arzt? Oder eine Krankenschwester?

Meine Lider waren so schwer. Ich wollte schlafen.

„Frau Mahler. Wie schön, dass Sie bei uns sind! Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“

Ich schloss die Augen und deutete ein Kopfschütteln an.

„Müde …“ Meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Hauchen, dann sank ich in einen tiefen Schlaf.

Als ich erwachte, fühlte ich mich ein wenig klarer, doch noch immer verstand ich nicht, wie ich hierhergekommen war. Den Blick auf die weißen Wolken gerichtet, versuchte ich, mich zu erinnern.

„Smilla! O Gott, Smilla. Du bist wach, endlich bist du wach!“ Auf einmal schob sich ein tränenüberströmtes Gesicht zwischen mich und das Fenster. Ich hatte nicht mitbekommen, wie jemand das Zimmer betreten hatte. Oder war er schon länger hier gewesen und ich hatte ihn nur nicht bemerkt?

Ich hörte sein Schluchzen, dann griff der Mann nach meinen Händen, hielt sie fest, sank mit dem Gesicht voran auf meine Decke. Ich konnte nur noch den Haarschopf erkennen. Angst überkam mich und schnürte mir den Hals zu.

„Wer …?“ Meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen, kaum zu hören. Ich räusperte mich und versuchte es erneut.

„Wer …?“ Mein Hals fühlte sich wund an und völlig ausgedörrt. Ich schluckte hart, es brannte in meiner Kehle. Kraftlos versuchte ich, meine Hände unter dem Kopf des Mannes hervorzuziehen. Ich wollte ihn wegschieben, er war so nah … viel zu nah! Die Panik breitete sich in meiner Brust aus. Ich nahm all meine Kraft zusammen. Zog meine Arme an.

Geh weg …, dachte ich. Die Anstrengung ließ mich husten und endlich ruckte der Kopf des Mannes hoch. Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben und doch wirkte er traurig, nein, eher besorgt. Noch immer liefen ungehindert seine Tränen.

„Wer sind Sie?“ Endlich schaffte ich es, krächzend die Frage zu stellen, die mir auf der Seele brannte. Erneut wurde ich von einem Hustenanfall geschüttelt. Das Gesicht des Mannes erstarrte. Wie in Zeitlupe richtete er sich auf, ohne seinen Blick von mir zu wenden. Fassungslos schaute er mich an.

„Ich bin es. Jonas. Erkennst du mich etwa nicht?“ Langsam schüttelte ich den Kopf. Nein, ich konnte schwören, ich hatte ihn noch nie in meinem Leben gesehen. Da er keinen weißen Kittel trug, war er vermutlich kein Arzt.

„Ich bin es. Jonas. Dein Verlobter.“

Mein Verlobter … Nein, das konnte nicht sein! Niemals! Er wollte mir hier irgendwelche komischen Geschichten erzählen. Wer auch immer er war, er machte mir Angst. Ich fühlte mich wie in einem Psychothriller gefangen.

„Ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie noch nie gesehen. Gehen Sie weg!“, forderte ich und versuchte, mich im Bett hochzustemmen. Schmerz schoss durch mein Bein, brannte in meinem Knie und ließ mich aufstöhnen. Reflexartig zuckten meine Hände zum Schmerzpunkt und der Blick des Mannes folgte meiner Bewegung.

„Hast du Schmerzen? Warte, ich rufe den Arzt.“ Er griff über meinen Kopf hinweg nach dem Klingelknopf und betätigte ihn.

„Hauen Sie ab! Lassen Sie mich allein!“ Ich wollte, dass meine Stimme fordernd klang und fest, doch sie war kaum mehr als ein ängstliches Flüstern. Was war hier los? Wer war der Mann und warum behauptete er solche Sachen? Was war mit meinem Bein und warum ließ der Schmerz darin nicht nach, obwohl ich mich nicht mehr bewegte?

Ein Pochen machte sich in meinem Kopf breit und ächzend ließ ich mich zurück in die Kissen sinken.

Endlich ging die Tür auf und ein Arzt im weißen Kittel erschien. Sofort wandte der Mann an meinem Bett sich zu ihm um.

„Sie weiß nicht, wer ich bin. Smilla …“ Wieder schaute er auf mich, sein Blick war verzweifelt und neue Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, blieben den Bruchteil einer Sekunde an den Wimpern hängen, bevor sie den Weg über seine Wangen fanden.

Wer war der Mann? Hatte er mir nicht eben noch seinen Namen genannt? Ich wusste es nicht mehr … Ich wollte nur, dass er endlich ging und mich mit dem Arzt allein ließ.

Der Tag (Jonas)

Bis zu diesem heutigen Tag, der mir kurzfristig die Hoffnung gab, wieder glücklich sein zu dürfen, dachte ich, dass ich den schwärzesten Tag meines Lebens bereits erlebt hatte.

Es war der Tag, als Smilla diesen Unfall gehabt hatte, als mir meine Smilla genommen wurde. Sie war von mir gegangen, ohne dass sie von mir gehen wollte. Ich musste sie gehen lassen, ohne dass ich sie gehen lassen wollte. Aus unserem WIR war wieder ein ICH und DU geworden.

Auch wenn es Smilla nach dem Tag des Unfalls noch gab und ich jede freie Minute bei ihr im Krankenhaus verbracht hatte, war sie nicht mehr da. Ich war noch immer bei ihr. Leider war sie nicht mehr bei mir. Ich hielt ihre Hand, ich strich über ihre Wangen, ich kümmerte mich um ihre Haare, wenn sie ihr ins Gesicht gefallen waren. Ja, ich tat viele Dinge, die ich auch früher immer getan hatte.

Und doch war alles anders! Sie lag regungslos in ihrem Bett. Meine kleine Tussi lag einfach nur da. Ganz friedlich lag sie bei mir. Doch während ich ihr ganz nahe war, war sie Galaxien von mir entfernt. In einer anderen Welt – Smilla lag im Koma.

Dann kam dieser heutige Tag.

Ein Tag, der ebenso schrecklich begann, wie alle vorherigen es auch waren. Wie jeden Morgen saß ich bereits vor der Arbeit am Bett meiner Traumfrau und hielt ihre Hand. Ich strich über ihre Wangen, und ich kümmerte mich um ihre Haare, als sie ihr ins Gesicht gefallen waren. Ja, ich sang sogar wieder unser Lied. Time to Wonder von Fury in the Slaughterhouse. Gedankenversunken tat ich es. Gedankenversunken in der Hoffnung, dass Smilla mich hören würde. Dass sie endlich wieder ihre Augen öffnete. Dass es endlich wieder dieses WIR geben würde.

Schwerfällig und müde erhob ich mich irgendwann von Smillas Bettkante, da ich mich auf den Weg ins Büro machen musste.

Keine vier Stunden später verließ ich fluchtartig meinen Arbeitsplatz. Mit wild klopfendem Herzen und einem glücklichen Strahlen im Gesicht machte ich mich im Eiltempo auf den Weg zu meinem Wagen. Ich konnte nicht fassen, was ich gerade gehört hatte. Endlich war der Moment da, nach dem ich mich seit Wochen so sehr gesehnt hatte. Smillas Mutter hatte angerufen. Aber es war nicht irgendein Anruf. Es war DER Anruf. Ich hatte die Worte gehört, auf die ich so unendlich lange gewartet hatte.

Smilla war aufgewacht. Sie hatte das Koma verlassen. Endlich war sie zu mir zurückgekommen. Das Warten, Beten, Hoffen und Wünschen hatte ein Ende. Wir konnten wieder glücklich sein. Das Leben hatte UNS wieder.

„Ich habe meine Smilla wieder!“ Ich lachte, während ich im Auto mit mir selbst sprach. Ja, ich lachte. Wann ich es das letzte Mal getan hatte, wusste ich nicht mehr. Ich war erstaunt darüber, dass es überhaupt funktionierte.

„Tempolimits werden überbewertet.“ Erneut sprach ich mit mir selbst und wieder lachte ich dabei. Ja, ich hatte mein Lachen tatsächlich wiedergefunden und fühlte mich wahnsinnig gut dabei, als ich durch Hamburgs Straßen fuhr. Vor meinem inneren Auge sah ich uns schon wieder gemeinsam durch unsere wunderschöne Heimatstadt laufen.

Erstaunt darüber, dass ich bereits auf dem Parkplatz des Krankenhauses angekommen war, stieg ich aus meinem Wagen und machte mich auf den Weg zum Eingang.

„Frau Mahler. Ich bin der Verlobte von Frau Mahler. Sie ist aufgewacht. Ich wurde angerufen. Jetzt bin ich da und möchte sofort zu ihr. Bitte!“ Ich befand mich in der Tür zum Schwesternzimmer und war nur noch wenige Meter von meiner Smilla entfernt.

„Sie können gerne zu ihr. Allerdings ist sie wieder eingeschlafen.“

„Wieder eingeschlafen?“ Ich erschrak bei diesen Worten.

„Keine Angst. Frau Mahler ist nur vor Erschöpfung eingeschlafen. Es ist ein ganz normaler Schlaf. Der Schlaf, den jeder von uns benötigt.“ Die Worte der Krankenschwester beruhigten mich.

Wieder saß ich neben Smillas Bett. Auch jetzt hatte sie ihre Augen geschlossen und doch war es anders. Sie schlief einfach nur. Ein Schlaf, der ausschließlich ihrer Erschöpfung geschuldet war. Der Erschöpfung und den Medikamenten, wie ich inzwischen erfahren hatte. Ein Arzt war eben bei uns im Zimmer gewesen und hatte es mir erklärt. Es war eine Erklärung, wie ich sie in den letzten Wochen so häufig gehört hatte. Allerdings war es heute endlich auch eine Erklärung, die ich verstehen und nachvollziehen konnte. Es war etwas Logisches. Nichts Medizinisches!

Schon seit einer ganzen Weile waren wir alleine im Zimmer. Nur meine Traumfrau und ich waren hier. Ich sah Smilla an. Genau so, wie ich es auch die letzten Male getan hatte. Auch jetzt waren ihre Augen geschlossen und doch fühlte es sich wie früher an.

Ja, so wie früher, wenn ich morgens vor ihr aufgewacht war und ihr beim Schlafen zugesehen hatte. Ich liebte es, wenn sie neben mir schlief. Wenn ihr ihre Haarsträhnen ins Gesicht fielen und ich diese ganz vorsichtig zur Seite geschoben hatte. Selbst schlafend war meine Smilla wunderschön!

Auch ich war müde. Kaputt und müde vom Warten auf das Wunder. Auf dieses Wunder, das vorhin eingetreten war. Meine viel zu schweren Augenlider zog es nach unten. Ich konnte nicht mehr gegen die Schwere ankämpfen. Vielleicht lag es auch an der Erleichterung, die sich in meinem Körper breitgemacht hatte. Diese Erleichterung, dass Smilla es geschafft hatte. Dass wir es geschafft hatten.

Dann spürte ich ein Zucken. An meiner Hand zuckte es, und ich wusste sofort, dass es nicht meine Finger waren, die sich gerade bewegt hatten. Von einem Augenblick auf den anderen war ich hellwach und sah Smilla an. Ich konnte ihre Augen erkennen. Smillas Augen waren geöffnet. Endlich konnte ich all die Sätze sagen, die ich mir für diesen Augenblick zurechtgelegt hatte. Doch es ging nicht. Meine Freudentränen sorgten dafür, dass ich zunächst kein Wort herausbrauchte. Erst als die ersten Tränen bereits auf das Bettlaken getropft waren, hatte ich mich ein klein wenig gefangen.

Ich beugte mich über Smilla und sagte:

„Smilla! O Gott, Smilla. Du bist wach, endlich bist du wach!“

Stille machte sich breit. Eine Stille, die ich nur ertrug, da ich in diesem Moment der glücklichste Mensch der Welt war. Eine unerträgliche Stille, die ich lediglich aushielt, weil Smilla wieder bei mir war.

Zwei Stunden später saß ich auf der Bank vor dem Krankenhauseingang und wartete auf Smillas Eltern, die gerade bei ihr waren. Als ich vorhin das Krankenhaus verlassen hatte, waren sie mir voller Freude entgegengekommen und hielten es zuerst für einen schlechten Scherz, als ich ihnen erzählte, dass sie mich nicht erkannt hatte.

Smillas Arzt hatte mir erklärt, dass es besser wäre, zu gehen. Dass Smilla jetzt Zeit für sich benötigte. Er hatte mir mit anderen Worten gesagt, dass ich überflüssig war.

Was der Arzt mir noch alles gesagt hatte, wusste ich nicht mehr. In meinem Kopf war kein Platz für seine Worte.

Mein Kopf war mit Smillas Worten gefüllt. Gefüllt und überfordert. Immer wieder liefen Smillas Sätze durch mein Gehirn.

Ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie noch nie gesehen. Gehen Sie weg!

Wer sind Sie?

Hauen Sie ab! Lassen Sie mich allein!

Nur für einen kurzen Augenblick war dieser Tag der schönste meines Lebens.

Jetzt saß ich hier und weinte. Vor dem Gebäude, in dem sich die Frau befand, die ich über alles liebte. Leider saß ich aber auch vor dem Haus, in dem sich die Frau befand, die sich nicht mehr an mich erinnern konnte.


Alles weg (Smilla)

Endlich war dieser unbekannte Mann verschwunden und ließ mich mit dem Arzt allein, der nun anfing, mich zu untersuchen. Mir wurde in die Augen geleuchtet und ich bekam unzählige Fragen gestellt.

„Wissen Sie, wie Sie heißen?“

„Welches Jahr haben wir?“

„Wo wurden Sie geboren?“

Fragen, die ich ihm nicht beantworten konnte. Irgendwann gab er auf und legte mir die Hand auf die Schulter. Sein Gesichtsausdruck war ernst und auch ein wenig mitfühlend.

„Nach einem Unfall wie Ihrem kommt es durchaus vor, dass eine zeitweilige Amnesie eintritt. In der Regel gibt sie sich von allein wieder, aber dennoch möchte ich einige Tests mit Ihnen machen.“

Amnesie? Ich kannte dieses Wort, wusste, was es bedeutete, und doch konnte ich es nicht begreifen. Angst schnürte mir die Kehle zu, und ich schaffte es nur, schweigend zu nicken.

„Machen Sie sich keine Sorgen, es wird sich sicher alles finden.“

Während ich erneut nickte, ging hinter ihm die Zimmertür auf und ein älteres Pärchen betrat den Raum.

„Smilla, mein Schatz. Ich kann es kaum glauben, du bist wach!“ Hilfe suchend schaute ich zu dem Arzt auf. Wer waren die beiden? Ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen, ich war mir ganz sicher. Fragend schaute er zwischen mir und dem Pärchen hin und her, und ich hatte das Gefühl, er beobachtete meine Reaktion ganz genau.

„Wer sind Sie?“, hauchte ich in Richtung des Pärchens.

Die Frau brach in Tränen aus und klammerte sich schluchzend an den Mann.

„Nein, nein! Jonas hatte recht. Thomas … bitte!“ Auch der Mann wirkte sichtlich schockiert, als er langsam näher trat.

„Wir sind deine Eltern, Smilla. Erkennst du uns denn wirklich nicht?“

Fassungslos schüttelte ich den Kopf und wandte mich Hilfe suchend an den Arzt, der noch immer neben meinem Bett stand.

„Nein! Ich kenne diese Leute nicht. Sie lügen! Ich habe sie noch nie gesehen. Ich schwöre es!“ Panische Angst machte sich in mir breit und nahm mir die Luft zum Atmen.

„Ganz ruhig! Versuchen Sie, sich zu entspannen!“ Der Arzt griff nach dem Klingelknopf über meinem Bett. Dann wandte er sich dem Pärchen zu.

„Ich möchte Sie bitten, draußen zu warten. Ich komme gleich raus und erkläre Ihnen die Situation. Haben Sie bitte einen Moment Geduld. Ihre Tochter muss sich jetzt ein wenig ausruhen. Ich gebe ihr etwas zur Beruhigung, dann komme ich vor die Zimmertür.“ Bestimmend schickte er die beiden aus dem Zimmer, während zwei Worte in meinem Kopf widerhallten.

Ihre Tochter …

In den nächsten Wochen änderte sich nichts. Meine Erinnerungen waren und blieben verschwunden. Kein einziger Tag aus der Zeit vor dem Unfall kehrte zurück. Kein Erlebnis, gar nichts. Es war, als wäre mein Kopf leer, als hätte ich erst ab dem Moment des Aufwachens in diesem weißen Zimmer existiert.

Doch nicht nur das. Sehr bald merkte ich, dass mir auch sämtliche Personen, die mein Zimmer im Krankenhaus betraten, fremd waren, auch wenn sie behaupteten, bereits hier gewesen zu sein.

Nach wenigen Tagen wusste ich schon nicht mehr, wie oft ich diesen einen Satz gehört hatte.

„Wissen Sie, wer ich bin? Wir haben gestern bereits miteinander gesprochen. Ich habe Sie untersucht.“

Nein, ich wusste es nicht. Jede einzelne Person, die mein Zimmer betrat, war mir fremd. Auch wenn mir die Ärzte, Schwestern, Psychologen noch so oft sagten, dass sie vor Kurzem bei mir gewesen waren, ihre Gesichter waren wie ausgelöscht.

Erzählten sie mir Sachen, die wir besprochen, die sie mit mir gemacht hatten, erinnerte ich mich daran. So etwas blieb in meinem Gehirn haften, doch nicht ihre Gesichter. Sie waren alle gleich und verschwammen in meinem Kopf zu einer Masse.

Gesichtsblindheit nannten es die Ärzte und schoben auch das auf die schweren Kopfverletzungen, die ich erlitten hatte.

Ich war hin- und hergerissen. Im einen Moment dachte ich, dass mir alle nur etwas vorspielten, dass ich diese Menschen wirklich noch nie gesehen hatte. Ich fühlte mich in einem Albtraum gefangen, aus dem ich nicht schaffte aufzuwachen. Dann wieder übermannte mich die Angst, und ich schrie meine Panik hinaus. Ich wütete und heulte und haderte mit meinem Schicksal.

Und dann kam der Punkt, an dem ich innerlich vollkommen ruhig wurde. Ich zog mich zurück und schottete mich mehr und mehr ab. Tagelang lag ich völlig apathisch in meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Ich fing an, mir zu wünschen, dass ich diesen Unfall nicht überlebt hätte. Dass ich nicht wieder erwacht wäre. Dass es diesen Tag nicht gegeben hätte.

Sechs Monate war der Tag des Erwachens mittlerweile her, und doch fühlte es sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Jede Nacht sah ich dieses weiße Zimmer wieder vor mir, erlebte diesen Moment erneut.

Es war der Tag, an dem ich aus dem Koma erwachte.

Der Tag, an dem mein Leben zusammenbrach wie ein Kartenhaus im Wind.

Der Tag, den ich nie wieder vergessen würde.

Was geschehen war, nachdem endlich alle mein Krankenzimmer verlassen hatten, wusste ich heute nicht mehr. Nein, nicht nur das, ich konnte mich auch an die Gesichter der Leute nicht erinnern. Einzig die Worte und ihr Verhalten waren mir im Gedächtnis geblieben. Ich spürte die Angst, die ich empfunden hatte, hörte ihre Verzweiflung und doch fehlte mir der Zugang. Auch nach sechs Monaten, auch nach unzähligen Sitzungen beim Psychologen konnte ich es noch immer nicht begreifen. Ich wusste, was geschehen war, es wurde mir wieder und wieder in den letzten Monaten berichtet. Doch mir fehlte bis heute jegliche Erinnerung daran.

Ich kannte nur die Fakten.

Ein betrunkener Autofahrer hatte mich an einer Ampel über den Haufen gefahren.

Genau so war das Ereignis in meinem Kopf gespeichert. Nüchtern, sachlich, völlig emotionsfrei. Ich konnte nicht wütend auf ihn sein, keinen Hass empfinden, gar nichts. Er war nur ein Fakt. Die Folgen seiner Tat hingegen ließen mich bis heute nicht schlafen. In jeder Minute, jeder Sekunde spürte ich diese Folgen. Er hatte mein Leben ruiniert. Das Leben, das ich vor diesem Unfall gehabt hatte. Er hatte es ausgelöscht. Einfach so, wie man eine Kerze mit einem Pusten löscht.

ER hatte mich zerstört.

Alle Informationen, die ich über mich selbst hatte, hatte ich in den letzten Monaten auswendig gelernt.

Ich war Smilla Mahler, 28 Jahre alt, und mein Leben hat vor sechs Monaten begonnen, als ich aus dem Koma erwachte und meine komplette Erinnerung ausgelöscht war.


Abschied (Jonas)

Gelacht hatte ich seit dem Tag, an dem mich meine Traumfrau nicht erkannt hatte, nicht wieder.

Selbstverständlich war dieser Tag grausam für mich gewesen. Doch ich konnte und wollte nicht aufgeben. Niemals hatte ich diese Gedanken, auch wenn es in vielen Momenten wahrscheinlich das Beste gewesen wäre. Nein, nicht das Beste für mich. Doch vielleicht das Beste für Smilla.

Manchmal wünschte ich mir, dass sie mich zumindest akzeptieren würde. So, wie sie irgendwann auch Anja und Thomas als ihre Eltern akzeptiert hatte. Dann gab es jedoch die Momente, wo ich es nicht wollte. Smilla sollte mit mir leben, weil sie mit mir leben wollte. Nicht nur aus dem Grund, weil sie es auch in der Vergangenheit getan hatte. Sie sollte mich lieben, weil ihr Herz es ihr sagte. Nicht, weil wir es damals getan hatten.

Nach den Klinikaufenthalten war sie zu ihren Eltern gezogen. In das kleine Dorf achtzig Kilometer von Hamburg entfernt, in dem das Leben beschaulicher war als in der Großstadt.

Selbstverständlich besuchte ich sie dort. Nach Rücksprache mit ihren Ärzten durfte ich es machen. Nicht nur ich, sondern auch die Ärzte versprachen sich von meinen Besuchen, dass sie sich irgendwann wieder an mich erinnerte. Dass sich irgendwann wieder die Schubladen bei ihr öffnen würden, in denen ihre Vergangenheit abgespeichert war.

Sosehr ich Smilla noch immer liebte, so schwierig waren meine Besuche bei ihr. Wenn es nur die fehlende Erinnerung an früher gewesen wäre, hätte ich vielleicht noch etwas besser mit der Situation umgehen können. Leider war es weitaus schlimmer.

Wenn ich voller Hoffnung in meinem Wagen saß und mich auf den Weg zu Smillas Elternhaus machte, wurde diese Hoffnung direkt bei meiner Ankunft brutal vernichtet. Für Smilla war ich bei jedem Besuch aufs Neue ein fremder Mensch. Selbst wenn ich damals bei meinen Fast-Schwiegereltern und meiner Verlobten übernachtete und wir am Abend alle zusammen einen Film angesehen hatten, sah sie mich am nächsten Morgen an, als hätte sie mich noch niemals zuvor gesehen.

Ihre Eltern hatten mir zwar erzählt, dass es Smilla auch bei den Nachbarn und ihren Freunden so erging. Allerdings war es um einiges schrecklicher, es am eigenen Leibe erfahren zu müssen.

Ich war zwar bei der Frau, die ich über alles liebte, diese Frau jedoch kannte mich nicht. Ihr Gehirn wollte mich nicht abspeichern, und was noch sehr viel schlimmer für mich war, auch ihr Herz tat es nicht.

Was sollte ich machen? Wer konnte mir helfen? Gab es noch eine Chance? Nächtelang machte ich mir über diese Fragen Gedanken und lag wach. Ich grübelte, schmiedete Pläne und hatte Ideen. Doch jeder Versuch scheiterte kläglich.

Mein Herz und mein Kopf wollten weiterkämpfen. Leider war es mein Körper, der ausgemergelt von fehlendem Schlaf, viel zu viel Kaffee und kaum Essen zu streiken begann. Ich konnte einfach nicht mehr.

Ja, ich konnte nicht mehr, obwohl ich Smilla noch immer über alles liebte.

Gemeinsam mit Smillas Eltern hatte ich um ein Gespräch bei ihrem Arzt gebeten. Ich brauchte Klarheit, obwohl ich bereits wusste, dass mir auch dieser Termin keine bringen würde. Es gab keine neuen Erkenntnisse. Es würde auch niemand helfen können. Nur Smilla konnte diese Situation ändern. Die Schubladen mussten sich öffnen.

Es musste irgendetwas geschehen, das dafür sorgte.

Doch wie oder was es war, konnte niemand sagen.

Nach einer weiteren Nacht ohne Schlaf, dafür mit Tränen und Wutausbrüchen, hatte ich eine Entscheidung getroffen. Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens und ich hasste mich selbst dafür! Ja, ich musste Smilla aufgeben. Vielleicht nicht für immer. Aber für die nächste Zeit.

„Was meinen Sie, wie lange ich mich von Smilla fernhalten soll?“ Ich kannte meine Frage an den Arzt noch ganz genau. Ebenso, wie sich auch seine Antwort in meinem Gehirn eingebrannt hatte.

„Ich weiß es nicht. Geben Sie ihr einfach die Zeit, die sie braucht. Es kann ein Tag, eine Woche, ein Monat oder auch für immer sein.“ Ich wusste nicht, was ich ihm hätte antworten können. Wie auch? Ich wusste nicht mal, was ich machen wollte.

Wie in Trance war ich aufgestanden und langsam, fast schleichend, zur Tür gegangen. Als ich bereits den Türgriff in der Hand hielt, hörte ich den Arzt noch etwas sagen:

„Aber vielleicht ändert sich im Leben von Frau Mahler etwas. Wenn sie bereit ist, in einen neuen Lebensabschnitt zu starten, dann besteht durchaus die Chance, dass Sie an diesem Lebensabschnitt beteiligt sein könnten.“

Wortlos war ich nach diesem Satz gegangen.

Auch wenn es mir unendlich wehtat, hatte ich von diesem Tag an meine Besuche eingestellt. Allerdings telefonierte ich weiterhin mit Anja und Thomas. Zumindest so konnte ich mit Smilla etwas verbunden bleiben.

Mein Körper war nicht mehr in ihrer Nähe. Mein Herz schon!

Auch jetzt hatte ich den Satz von Smillas Arzt in meinem Kopf.

Aber vielleicht ändert sich im Leben von Frau Mahler etwas. Wenn sie bereit ist, in einen neuen Lebensabschnitt zu starten, dann besteht durchaus die Chance, dass Sie an diesem Lebensabschnitt beteiligt sein können.

„Ja, verdammt! Wenn sich die Chance bietet, dann bin ich da. Smilla, ich liebe dich und werde es immer tun!“

Laut schrie ich diese Worte in den Nachthimmel hinein.


Spießrutenlauf (Smilla)

9 Monate später

Bereits in dem Moment, als ich die Haustür meiner Eltern hinter mir zuzog, begann das Herzklopfen. Meine Brust wurde eng und ich atmete bewusst langsam ein und aus. Jedes Mal war es so, wenn ich die sicheren vier Wände meiner Eltern verließ und der Spießrutenlauf begann.

Seit mittlerweile über einem Jahr musste ich mich zwingen, das Haus zu verlassen. Am liebsten hätte ich mich hier vergraben und wäre nie wieder herausgekommen, doch ich wusste, das wäre keine Lösung.

Ich wollte mich nicht länger verstecken, aber jeder Gang auf die Straße war eine Tortur für mich.

Den Blick auf den Gehweg gesenkt, den Kragen meiner Lederjacke aufgestellt, als könnte ich mich dahinter verstecken, ging ich die Straße entlang. Nur 500 Meter waren es, bis ich den kleinen Tante-Emma-Laden an der Hauptstraße des Dorfes erreichte.

Um mich abzulenken, sagte ich mir in Gedanken immer wieder vor, was ich alles einzukaufen hatte.

Drei Liter Milch, Apfelsaft, Brot und Bananen.

Ich stopfte die Hände in die Taschen meiner Jeans und zog noch zusätzlich die Schultern hoch, als mir eine ältere Dame entgegenkam.

Nein, ich kannte sie nicht. Oder doch? Ich wusste es nicht.

„Smilla! Dich habe ich ja lange nicht gesehen. Na, mein Mädchen, wie geht’s dir denn?“

Ich zuckte zusammen, als mich die mir unbekannte Frau ansprach.

„Mh … Ja, gut“, murmelte ich nur und wollte weitergehen, doch sie nahm mich am Arm und hielt mich zurück.

„Wirklich? Und dein …?“ Sie brach ab, zeigte aber auf ihren Kopf, um mir klarzumachen, was sie meinte. So fragte sie, ohne wirklich zu fragen. Das wäre ja dann doch zu direkt gewesen. Wie ich dieses Verhalten der Leute hasste!

Ihr Gesichtsausdruck zeigte genau das, was ich nicht sehen wollte. Dieses Mitleid gepaart mit der typischen Neugier der Dorfbewohner. Konnten sie sich nicht alle um ihren eigenen Kram kümmern? Ich wollte gar nicht wissen, welche Gerüchte hier in der kleinen Gemeinde über mich in Umlauf waren.

„Ja, ja. Mir geht’s prächtig. Alles gut!“, betonte ich, löste meinen Arm aus ihrem Griff und ging schnellen Schrittes weiter, ohne ihr noch Beachtung zu schenken.

Dort vorne war der Laden. Ein paar Schritte noch, dann schnell die Sachen zusammensuchen und ab nach Hause. Als ich das Geschäft betrat, hatte ich das Gesicht der Dame schon wieder vergessen. So war es seit über einem Jahr. Seit diesem Unfall, der mich fast das Leben gekostet hätte. Heute war einer der Tage, an denen ich mir wünschte, es wäre so gewesen. Ich hätte nicht überlebt. Was hatte ich denn auch noch für ein Leben? Was war übrig von mir? Von Smilla Mahler?

Als ich an der Obstwaage die Bananen abwog, hörte ich sie reden. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass in wenigen Metern Entfernung mindestens zwei weitere Bewohner dieses Örtchens standen und sich gerade das Maul über mich zerrissen.

Bruchstücke drangen an mein Ohr. Anscheinend dachten sie, mein Gehör hätte bei dem Unfall auch Schaden genommen.

„… sich nicht mehr erinnern …“

„Ich hab gehört …“

„Ja, betrunken war er …“

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und Tränen stiegen mir in die Augen. Schnell raffte ich meine Sachen zusammen und eilte zur Kasse. Ich musste hier raus, so schnell es ging. Ich ertrug es keine Sekunde länger.

Seit Monaten war ich das Gesprächsthema Nummer eins hier im Dorf. Die arme Smilla, die von einem betrunkenen Autofahrer umgefahren wurde. Die schwer verletzt im Koma gelegen hatte. Die sich seitdem an nichts mehr erinnern konnte. Die ihr komplettes Gedächtnis verloren hatte. Die alles neu hatte lernen müssen. Die auch nach so langer Zeit noch immer durch die Gegend humpelte.

Kaum hatte sich die Ladentür hinter mir geschlossen, rannte ich los, so schnell es mein schmerzendes Knie zuließ. Der Beutel mit den Einkäufen schlug mir gegen das Bein und mehrfach wäre ich fast gestolpert. Selbst beim normalen Gehen knickte mein kaputtes Knie noch ab und an unter mir weg, jetzt zu laufen war eine ganz blöde Entscheidung, das wusste ich. Aber trotzdem konnte ich nicht anders. So schnell es ging, wollte ich wieder im Haus meiner Eltern ankommen, dem einzigen Ort hier im Dorf, wo ich einfach so akzeptiert wurde, wie ich war. Anja und Thomas ließen mich in Ruhe, wenn ich Ruhe brauchte, und waren für mich da, wenn ich reden wollte, so merkwürdig unser Verhältnis auch war.

Auch an die beiden hatte ich mich nach dem Unfall nicht mehr erinnern können. Es hatte Monate gedauert, bis ich mir ihre Gesichter wieder hatte merken können, bis ich akzeptiert hatte, dass es wohl stimmte, was sie mir erzählten. Dass sie meine Eltern waren.

Endlich erreichte ich die Einfahrt und wurde wieder langsamer. Mein Knie pochte unangenehm von der Anstrengung, und ich wusste, ich würde heute Nacht vor Schmerzen kein Auge zutun. Ich hatte es völlig überlastet. Schnell öffnete ich die Tür und ging durch in die Küche, wo meine Mutter mich bereits erwartete.

„Ah, das ist gut. Hast du alles bekommen?“ Sie nahm mir den Beutel ab und räumte die Einkäufe aus, während ich mich erschöpft auf einen Stuhl am Küchentisch fallen ließ.

„Ach, das Brot fehlt. Na, macht nichts. Ich glaube, ich habe noch Brötchen im Eisschrank. Dann gibt es halt die.“ Meine Mutter lächelte mich an, kein Vorwurf lag in ihrer Stimme und dennoch hatte ich ein schlechtes Gewissen.

„Das tut mir leid!“, sagte ich, doch meine Mutter winkte nur ab. Dann setzte sie sich zu mir.

„War es wieder so schlimm?“, fragte sie und nahm meine Hand in ihre.

„Was war schlimm?“ Mein Vater betrat die Küche. Anscheinend hatte er den letzten Satz noch mitbekommen und schaute uns fragend an. Ich zuckte nur mit den Schultern. Was sollte ich auch sagen? Es war ja doch immer das Gleiche. Jedes Mal, wenn ich nach draußen ging, spielten sich solche Szenen ab wie eben gerade, und ich wusste, das würde sich auch nicht ändern.

Nichts ändert sich, solange du dich nicht änderst. Doch dann ändert sich alles. Ich wusste nicht, wo dieser Gedanke plötzlich herkam, vermutlich hatte ich ihn irgendwo gelesen. Doch es war, als wäre in diesem Moment ein Saatkorn in meinem Kopf aufgegangen. Ohne meinen Eltern zu erzählen, was geschehen war, sagte ich:

„Ich muss hier weg! Ich hab keine Ahnung wohin, aber ich muss irgendwo neu anfangen. Irgendwo, wo mich keiner kennt. Wo niemand von meinem Unfall und der Amnesie weiß. Wo ich nicht immer wieder Gefahr laufe, Leute nicht zu erkennen, die ich eigentlich kennen müsste.“ Ich richtete mich auf und schaute von meinem Vater zu meiner Mutter. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen und in meinem Bauch kribbelte es vor Aufregung. Ja, das war es!

Ich würde noch einmal neu anfangen.


Alles neu (Jonas)

Jetzt saß ich hier im Intercity, hatte meine Kopfhörer auf den Ohren und sah aus dem Fenster. Immer wieder hörte ich unser Lied. Ein Lied von Revolverheld war es, und ich fühlte die Tränen ganz deutlich, wie sie langsam und warm meine Wangen herunterliefen. Ich hatte derzeit leider keine Chance, für Smilla das Licht anzulassen, und doch erinnerte mich dieser Song an unsere tolle Zeit. Besser gesagt an die schönste Zeit meines Lebens, und mein Traum war es, diese Zeit nochmals erleben zu dürfen.

Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, mir für drei Wochen eine Ferienwohnung auf Sylt zu suchen, wusste ich in diesem Moment noch immer nicht. Allerdings hatte ich schon einige Entscheidungen in meinem Leben getroffen, bei denen ich mir vorher ebenfalls nicht sicher gewesen war, das Richtige getan zu haben. Doch zum Glück stellte sich bisher immer heraus, dass es gut für mich gewesen war, auf mein Gefühl gehört zu haben. Auf mein Gefühl, das mir noch immer sagte, dass alles wieder gut werden würde. Auch wenn ich in den letzten Monaten häufig daran gezweifelt hatte, war es jetzt wieder positiv gestimmt.

Die Bahn fuhr mich dorthin, wo vor vielen Jahren alles begonnen hatte und wo ich mich eigentlich nie wieder hatte aufhalten wollen. Doch ich konnte nicht anders. Niemals hätte ich es mir verziehen, wenn ich nicht alles versucht hätte.

Unsere gemeinsame Zeit kreiste während der Zugfahrt durch meine Gedanken. Es war wie eine Dauerschleife, die sich ausschließlich um diesen besonderen Menschen, der damals innerhalb kürzester Zeit zu meinem Lieblingsmenschen geworden war, drehte. Wir hatten uns auf Sylt kennengelernt und dann noch zu einem Zeitpunkt, der alles andere versprach, als in einer Beziehung zu enden.

Beim Surf-Cup Sylt im September war es damals gewesen. Bei einem Event, bei dem es um Party, Spaß, Drinks und das Gefühl von Freiheit ging. Auf einer solchen Veranstaltung war es normalerweise kaum möglich, die große Liebe zu finden. Selbst dann, wenn man das Gefühl hatte, sie gefunden zu haben, war es anschließend der Alltag, der alles zunichtemachte.

Da jedoch nicht nur unser erster Blickkontakt, sondern auch unsere ersten Gespräche und Berührungen ganz besonders waren, begann für uns eine Zeit voller Nähe und Leidenschaft.

Wir waren ein tolles Team und genossen nicht nur gemeinsame Spaziergänge am Strand, sondern auch die Partyabende im Zelt. Unsere gegenseitige Anziehungskraft war so mächtig, dass wir jedem zeigen wollten, wie glücklich wir waren. Tatsächlich waren wir so verliebt, dass unsere Liebe über den Urlaub hinaus standhielt. Auch die Entfernung konnte uns nicht trennen, und obwohl wir über achtzig Kilometer voneinander entfernt lebten, waren wir glücklich.

Keine sechs Monate später zog Smilla aus ihrem Dorf zu mir nach Hamburg, da sie schon immer davon geträumt hatte, in dieser Weltstadt zu leben. Sie tauschte ein fast idyllisches Landleben ein. Ein beschauliches Leben gegen ein Leben in meiner Großstadt, die innerhalb kürzester Zeit zu unserer wurde. Es war ein riesiger Schritt für sie, doch sie tat ihn gerne. Sie machte es für die Liebe, die uns beide voll erwischt hatte.

Auch zwei Jahre später hatten wir noch immer das Gefühl, das Richtige gemacht zu haben. Alles war perfekt, und wenn es Momente gab, in denen wir das Gefühl hatten, dass etwas nicht perfekt war, vertrugen wir uns schnell wieder. Meist lachten wir bereits kurze Zeit später darüber, wie wir so blöd hatten sein können.

Jeder von uns hatte seine Freiheiten und genoss diese, wenn er mit seinen Freunden unterwegs war. Ebenso wie wir uns auf diese kleinen Auszeiten freuten, konnten wir es auch jedes Mal kaum erwarten, uns wieder in die Arme nehmen zu können. Für irgendwelche Eifersüchteleien gab es keinen Grund, und genau deshalb konnte ich mich auch nicht daran erinnern, irgendwann dieses Gefühl gehabt zu haben. Wir hatten etwas, von dem viele andere Menschen träumten, es jedoch nie erreichten.

Wir waren uns damals ganz sicher, dass nichts und niemand in der Lage wäre, uns zu trennen. Wir waren einfach füreinander geschaffen und zum Glück auch schlau genug, dieses erkannt zu haben.

Dann kam der Tag des Unfalls, und es fühlte sich noch immer an, als wäre es erst gestern gewesen. Der Tag, an dem mein Albtraum begann, aus dem ich bis heute nicht wieder aufwachen sollte.

Mit meinem Rucksack über der Schulter betrat ich unsere gemeinsame Wohnung und freute mich darauf, Smilla gleich einen Kuss zu geben. Anschließend wollte ich noch an den Alsterlauf hinunter, der lediglich 100 Meter von unserer Wohnung entfernt lag, um eine Runde zu joggen. Mein lästiger Arbeitstag lag endlich hinter mir, und bereits gestern hatten wir besprochen, heute Abend mit Freunden ins Kino zu gehen.

Es war still in unseren vier Wänden.

Smilla war noch nicht zu Hause. Dafür erkannte ich bereits vom Flur aus, dass auf unserem Küchentisch mein Lieblingsschokoladenriegel lag. Er befand sich direkt auf einem kleinen Zettelchen, was dafür sorgte, dass sich ein Lächeln auf meinen Lippen breitmachte. Wir liebten es, uns die Liebe durch kleine Gesten immer wieder aufs Neue zu zeigen. Als ich den Zettel in der Hand hielt und las, wurde meine Freude noch größer.

Hallo Lieblingszicke,

ich habe etwas früher Feierabend gemacht und bin noch schnell mit dem Fahrrad zum Einkaufen gefahren. Ich freue mich auf heute Abend und ganz besonders auf dich. Viel Spaß beim Durch-die-Gegend-Rennen! ;-)

Deine

kleine Tussi

Meine Joggingsachen hatte ich bereits angezogen. Da die Schuhe von der letzten Einheit noch dreckig waren, hielt ich sie in der Hand, als ich mich auf den Weg zur Wohnungstür machte.

Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, konnte ich in meinen Augenwinkeln noch immer unsere Garderobe und Smillas aufgehängten Fahrradhelm erkennen. Da sie nie ohne diesen Helm mit dem Fahrrad fuhr, vergewisserte ich mich mit einem zweiten Blick, ob ich ihren Helm mit meinem verwechselt hatte. Es war ihrer, und mir war sofort klar, dass sie sich wohl doch zu Fuß auf den Weg zum Einkaufen begeben haben musste.

Es gibt Tage, an denen der Körper mehr hergab, als man von ihm gewohnt war. Heute war ein solcher Tag und so kam ich erst eine Stunde später und mit einem schlechten Gewissen von meiner Joggingrunde zurück. Viel Zeit hatte ich nicht mehr, um unter die Dusche zu springen, da wir bereits in einer Stunde bei Didi und Steffi sein mussten.

Als ich die Wohnung betrat, war alles unverändert. Ihr Helm hing noch immer an der Garderobe, mein Schokoriegel und der Zettel lagen in der Küche und Smilla war nicht da. Zweimal lief ich durch die gesamte Wohnung und rief ihren Namen. Meine Idee, dass sie auf dem Balkon stand, um die Blumen zu pflegen, ging leider auch nicht auf. Smilla war nicht da, was so gar nicht ihrer Art entsprach.

Als ich nach meinem Telefon griff, um sie anzurufen, ertönte der Klingelton, den sie mir zugeordnet hatte, bei uns im Flur. Klar und deutlich konnte ich den Text des Liedes Die schönste Zeit wahrnehmen und erkannte so, dass sich ihr Handy auf dem Regal im Flur befand. Ich konnte Smilla nicht erreichen. Schlagartig wurde mir heiß und kalt. Eine innere Unruhe stieg innerhalb kürzester Zeit in mir auf. Als ich Didi anrief, um ihn zu fragen, ob Smilla eventuell schon bei ihm und Steffi war, hörte ich leider auch nicht, was ich gerne hören wollte.

So wie ein Tiger im Zoo an seinen Gitterstäben entlanglief, tigerte ich durch unsere Wohnung. Orientierungslos, fast hilflos, fühlte ich mich. Ich war mir sicher, dass irgendetwas passiert sein musste. Mit panischen Schritten lief ich durch das Treppenhaus. Unten im Fahrradkeller sah ich, dass ihr himmelblaues Mountainbike dort angeschlossen an seinem Platz stand. Nach einem Blick in den Wäschekeller machte ich mich auf den Weg zurück.

Oben in der Wohnung angekommen, stellte ich mich auf den Balkon und hielt Ausschau nach Smilla. Mein Gehirn arbeitete wie verrückt, spuckte jedoch keine sinnvolle Erklärung aus. Ihre Eltern lebten weit entfernt, genau wie der Rest ihrer Familie. Dort konnte sie auf keinen Fall sein, was bedeutete, dass sie irgendwo eine Freundin getroffen haben musste.

Julia! Nur Julia konnte es sein, die sie beim Einkaufen getroffen hatte. Immer wenn sie ihre Freundin traf, was sehr häufig beim Einkaufen passierte, quatschte Smilla sich mit ihr fest. Da Julias Nummer in unserem Festnetztelefon gespeichert war, ging ich in den Flur, wo sich unser Telefon befand.

Ich hielt es bereits in der Hand und war dabei, den Menüpunkt Kontakte auszuwählen, als ich erschrak. Das Telefon klingelte, und meine Hoffnung darauf, dass Smilla es war, die mich von irgendwoher anrief, zerbrach nach den ersten Worten, die ich mir anhören musste.

Nachdem ich mich mit meinem Nachnamen gemeldet hatte, bekam ich die Frage gestellt, ob ich der Lebenspartner von Frau Smilla Mahler sei. Meine Handynummer und meinen Namen hatte die Person, die sich am anderen Ende der Leitung befand, in Smillas Portemonnaie gefunden. Dazu den Hinweis, dass ich angerufen werden sollte, wenn ihr irgendetwas passiert war.

Wahrscheinlich hatte ich durch meine Aufregung am Anfang des Gespräches nicht mitbekommen, wer mich anrief. Erst jetzt, nachdem ich nachgefragt hatte, erfuhr ich, dass es die Intensivstation der Universitätsklinik Eppendorf war.

Während des Telefonats hatte ich keine Ahnung, wer sich am anderen Ende der Leitung befand. War es ein Chefarzt? Ein Oberarzt? Oder war es vielleicht sogar nur eine Stationsschwester? Als ich aufgelegt hatte, wusste ich nicht mal mehr, ob ich mit einem Mann oder einer Frau gesprochen hatte.

Mein Blick hing während des gesamten Gespräches an den Koffern, die ich bereits gestern vom Dachboden geholt und im Schlafzimmer platziert hatte. In zwei Tagen sollte es losgehen. Übermorgen wollten wir auf unsere Insel. Dort, wo damals alles mit uns begann, wollten wir uns in wenigen Tagen das Eheversprechen geben. Es war Smillas Traum, auf Sylt zu heiraten. Unser Termin beim Standesamt in Hörnum war längst besiegelt. Lange hatten wir darum gekämpft und nach Terminen gesucht, da wir uns vor unserer kleinen Hochzeitsgesellschaft unbedingt im Hörnumer Leuchtturm das Jawort geben wollten.

All diese Dinge gingen mir durch den Kopf, während ich im Zug saß. Mein Blick wanderte zu dem freien Platz neben mir, auf dem ich so gerne Smilla sitzen gesehen hätte.


Pläne (Smilla)

Seit sechs Wochen war ich mittlerweile hier auf der Insel. Auch wenn mein Bauchgefühl noch immer sagte, dass meine Entscheidung richtig gewesen war, war mein Kopf in manchen Momenten anderer Meinung. So wie jetzt gerade, wo ich nicht aufhören konnte, meine Entscheidung immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Tief durchatmend ließ ich mich auf dem Strand einfach fallen, legte mich auf den Rücken und schloss die Augen.

Ich roch das Salz des Meeres und hörte das Rauschen der Wellen, die an den Strand schlugen. Langsam spürte ich, wie Ruhe in mir einkehrte, mein wilder Herzschlag sich verlangsamte. Das war knapp gewesen. Mittlerweile hatte ich gelernt, auf die Anzeichen zu achten, und doch überraschten mich die Panikattacken jedes Mal wieder. Sie kamen aus dem Nichts und drohten, mich zu überwältigen. Meistens bemerkte ich es rechtzeitig, und dank autogenem Training schaffte ich es, das Schlimmste zu verhindern. Doch manchmal war es anders, dann versank ich in der Panik, bekam keine Luft mehr. Die Welt um mich herum verschwand komplett, und es dauerte lange, bis ich mich wieder in die Wirklichkeit kämpfen konnte.

Die Ärzte hatten gesagt, es sei kein Wunder, dass ich diese Panikattacken hatte, nach allem, was ich hatte durchmachen müssen. Sie meinten, die Anfälle würden irgendwann von allein verschwinden, so lange müsste ich einfach damit leben und mit mir selbst Geduld haben. Doch das konnte ich nicht. Ich wollte aktiv dagegen vorgehen, und wie sich herausgestellt hatte, klappte es zumeist auch ganz gut.

Geduld … Was für ein beschissenes Wort! Nein, ich hatte keine Geduld mehr. Nach mittlerweile anderthalb Jahren, die ich diesen Zustand, der sich jetzt mein Leben nannte, ertrug, war jedes Fitzelchen Geduld aufgebraucht. Ich konnte nicht länger in meiner Warteposition verharren, mich entspannt zurücklehnen und hoffen, dass von allein alles wieder ins Lot kommen würde. Ich musste etwas tun und mein Leben wieder aktiv in die Hand nehmen.

Mit diesen Gedanken im Kopf hatte ich vor knapp drei Monaten diesen Entschluss gefasst. Wenn das Schicksal schon der Meinung war, mir alles rauben zu müssen, alles kaputtzumachen, dann wollte ich mir daraus wenigstens ein bisschen Gutes ziehen und noch einmal von vorn anfangen.

Wer hat schon in seinem Leben die Möglichkeit, eine Reset-Taste zu drücken und komplett neu zu starten? Kaum jemand, zumindest nicht auf meine Art und Weise. So ungefähr waren meine damaligen – zugegeben sarkastischen – Gedanken, als ich nach dem vermaledeiten Einkauf im Tante-Emma-Laden des Dorfes in meinem Zimmer saß und über meinen Entschluss nachdachte.

Am nächsten Morgen war ich in das kleine Schreibwarengeschäft um die Ecke gegangen und hatte mir eine große Deutschlandkarte besorgt, die ich in meinem Zimmer über das Bett gepinnt hatte. Den halben Tag saß ich davor, den Rücken an die Wand gelehnt, und ließ meinen Blick über die Namen der Städte gleiten, doch es brachte mich nicht weiter. Ich hatte gehofft, dass mich einer der Namen einfach ansprechen würde, mir gefallen und mich neugierig machen würde. Doch nichts geschah. Es waren einfach nur Namen auf einer Karte, mein Bauchgefühl dazu schwieg. Keiner dieser Orte reizte mich. Irgendwann gab ich frustriert auf und ging in die Küche meiner Eltern hinunter, um mir einen Tee zu kochen. Mein Vater kam gerade aus dem Keller hinauf.

„Na, Smilla. Alles gut bei dir? Was machen deine Pläne?“, fragte er und gab mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Stirn. Natürlich hatten wir am Tag zuvor noch lange über meine Idee, neu anzufangen, gesprochen. Anfänglich waren meine Eltern alles andere als begeistert gewesen. Besonders meine Mutter hatte große Sorge, dass ich mir zu viel zumuten würde, dass es mich überfordern würde – sowohl körperlich als auch psychisch. Doch letztlich konnte ich sie überzeugen, dass es einfach an der Zeit war, dass ich mein Leben wieder selbst in die Hand nahm. Gleich am nächsten Morgen hatte ich mit meinem Arzt telefoniert. Er stand voll hinter mir und fand die Idee großartig. Auch er war meiner Meinung – wenn sich etwas ändern sollte, musste ich selbst etwas ändern. Vielleicht war das meine letzte Chance, mein Leben wiederzubekommen. Oder mir zumindest ein neues aufzubauen …

„Nicht so richtig gut. Ich hab einfach keine Idee. Was könnte mir gefallen? Wo will ich hin?“ Ein wenig verzweifelt warf ich die Hände in die Luft und schaute meinen Vater an. Nachdenklich erwiderte er meinen Blick, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Warte kurz, ich glaube, ich weiß etwas“, sagte er und verschwand in Richtung Wohnzimmer. Der Wasserkocher klickte, als das Wasser kochte, und während ich auf meinen Vater wartete, goss ich den Tee auf.

„Hier. Wie wäre es damit?“

Mein Papa hielt mir seine ausgestreckte Hand entgegen. Auf der Handfläche lagen seine heiß geliebten Dartpfeile. Er spielte hier im Dorf bereits seit Jahren im Verein, doch was er mir damit sagen wollte, verstand ich nicht.

„Was meinst du? Soll ich jetzt mit Darten anfangen, oder was?“ Mein Vater lachte auf, und wie immer, wenn ich sein tiefes Lachen hörte, wurde es warm in meinem Bauch. Ich mochte den Klang, er gab mir das Gefühl von Heimat.

„Nein, mein Schatz. Obwohl du früher gern gedartet hast. Aber jetzt dachte ich eher, du könntest die Pfeile entscheiden lassen.“

Ja, aus Erzählungen wusste ich, dass ich früher ab und an mit meinem Vater los gewesen war, um Pfeile auf die Scheibe zu werfen. Doch im Moment war ich mir nicht einmal sicher, ob ich es schaffen würde, den Pfeil abzuwerfen, ohne meinen eigenen Fuß zu treffen. Wie hielt man das Teil eigentlich richtig?

„Meinst du?“, fragte ich ein wenig unsicher, aber mein Papa nickte nur überzeugt.

„Ja klar. Komm, probiere es aus! Wirf die drei Darts und dann schau dir die Orte im Internet an.“ Damit drückte er mir die Pfeile in die Hand. Na gut, was konnte es schaden. Es war immerhin eine Idee.

Mit meinem Tee und den Dartpfeilen bewaffnet, kehrte ich in mein Zimmer zurück.

Nachdem ich den Becher auf meinen Nachttisch gestellt hatte, sah ich ratlos auf die roten Metallpfeile mit der silbern glänzenden Spitze. Leicht fuhr ich mit dem Finger darüber, dann nahm ich einen in die linke Hand. Wie von selbst legten sich meine Finger in die richtige Haltung darum. Auch wenn mein Kopf sich nicht erinnern konnte, wie man einen Dartpfeil warf, meine Hand wusste es anscheinend. Ich drehte mich zu meiner Deutschlandkarte, schloss die Augen und warf. Dasselbe wiederholte ich noch zwei weitere Male. Erst dann sah ich nach, wo ich getroffen hatte. Auf dem Weg zur Karte amüsierte ich mich darüber, dass einer der Pfeile anscheinend mitten in der Nordsee gelandet war, und ich sah mich schon auf einem Boot auf dem Meer schippern. Doch dann erkannte ich, dass ich tatsächlich dreimal Land getroffen hatte.

Bielefeld, Halle und Sylt.

Drei Orte hatte das Schicksal der Pfeile für mich herausgesucht.

Nacheinander besah ich mir die Orte genauer.

Bielefeld … Ich horchte in mich hinein, doch nichts rührte sich.

Halle … Wieder schwieg mein Bauchgefühl.

Sylt … Mein Herz klopfte schneller und in meinem Bauch breitete sich eine Wärme aus. Eine Wärme, die ich mittlerweile schon ein paarmal in unterschiedlichen Situationen gespürt hatte. Jedes Mal war es ein gutes Zeichen gewesen – diesmal vielleicht auch?

Ich riss meine Zimmertür auf und ging, so schnell ich es schaffte, nach unten.

„Papa? Was hältst du von Westerland auf Sylt?“, fragte ich, als ich in der Tür zum Wohnzimmer stand. Mein Vater sah von der Zeitung auf, in der er gerade gelesen hatte, und starrte mich mit offenem Mund an. Einen Moment lang wirkte er sprachlos, dann räusperte er sich, als müsste er sich erst wieder fangen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, doch er wirkte unsicher.

„Ja …“, antwortete er ein wenig zögerlich. „Sylt ist doch toll.“

Ich verstand nicht, warum seine Stimme nicht so klang, wie seine Worte glauben machen wollten, doch mittlerweile war mein Bauchgefühl klar. Ich wollte nach Sylt. Genauer gesagt nach Westerland, da dies der einzige Ort war, der auf meiner Deutschlandkarte auf Sylt eingezeichnet war.

Euphorisch kehrte ich in mein Zimmer zurück und startete meinen Laptop. Ich wollte so viel es nur ging über diese Insel und den Ort recherchieren und mich auf die Suche nach einer Wohnung dort machen. Endlich hatte ich wieder ein Ziel, eine Chance, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Pläne zu machen, wie mein Leben weitergehen sollte, katapultierte mich in einen Schaffensdrang, wie ich ihn aus den letzten Monaten nicht kannte. Und allein das machte mich so glücklich, dass ich mit einem breiten Grinsen und Herzklopfen vor dem PC saß, voller Vorfreude auf das, was jetzt auf mich zukam.

Ob es eine Art höhere Macht gab, die ein wenig für Gerechtigkeit und Ausgleich für das Erlittene sorgen wollte, wusste ich nicht. Doch ich hatte definitiv mehr Glück als Verstand!

Bereits am nächsten Tag fand ich eine Eigentumswohnung, die schon den Bildern nach absolut meiner Traumwohnung entsprach. Zwei helle Zimmer, Einbauküche, Vollbad, nur zehn Gehminuten vom Strand entfernt, und das Ganze zu einem wirklich guten Preis. Ein wenig misstrauisch, weil ich es nicht fassen konnte, suchte ich im Internet nach dem angegebenen Eigentümer. Diese Wohnung war für Sylter Verhältnisse recht günstig angeboten, wenn ich sie im Vergleich zu anderen Wohnungen sah. Eigentlich hatte ich nach Mietwohnungen gesucht, doch wenn der angegebene Preis für diese Eigentumswohnung stimmte, gab es keinerlei Überlegung mehr.

Bereits nach ein paar Minuten hatte ich herausgefunden, wem die Wohnung gehörte und warum sie derart günstig zu verkaufen war. Der Eigentümer war eine Firma aus Berlin, die vor Kurzem Konkurs angemeldet hatte. Es war also anscheinend ein Notverkauf, die Wohnung musste dringend weg.

Sofort rief ich den Makler an, und als meine Mutter abends nach Hause kam, hatte ich bereits die vorläufige Zusage.

Ein paar Wochen später war alles in trockenen Tüchern. Die Verträge waren unterschrieben und meine Sachen wurden von einem Umzugsunternehmen auf die Insel gebracht.

Mit zwei Koffern, in denen sich meine wichtigsten Sachen befanden, ließ ich das kleine Dorf, in dem meine Eltern wohnten, hinter mir und fuhr in meine neue Heimat.

Meine Ärzte und Therapeuten hatten mir geholfen und diverse Telefonate geführt, damit ich sofort nach meinem Umzug mit den noch immer nötigen Anwendungen starten konnte. Und jetzt, nach sechs Wochen, konnte ich sagen, ich fing langsam an, mich hier einzugewöhnen. Auch wenn mein Kopf mich ab und an noch immer in Panikattacken verfallen ließ, sagte mein Bauch eines ganz klar: Hier war ich zu Hause!

Die Panikattacke, die mich eben beinahe ereilt hatte, war verschwunden, das Engegefühl in meiner Brust hatte nachgelassen. Langsam rappelte ich mich auf und klopfte mir den Sand von den Klamotten. Mein Blick wanderte über die schier unendliche Weite des Meeres. Ja, ich wollte nie wieder woanders wohnen als hier auf dieser kleinen Insel.


Ungewissheit (Jonas)

„Die Fahrkarte, bitte.“

Versunken in meine Gedanken und den Blick noch immer aus dem Fenster gerichtet, hatte ich die Aufforderung des Schaffners überhört. Als er mich anstupste, zuckte ich zusammen und sah ihn verwirrt an. Erst jetzt begriff ich, was er von mir wollte, und kramte die Fahrkarten aus meiner Tasche heraus.

„Sorry. Das tut mir leid.“

„Macht ja nichts. Das passiert mir häufiger. Aus dem Fenster schauen und von dem bevorstehenden Urlaub träumen, ist ja auch eine tolle Sache.“

„Ja.“ Mehr sagte ich nicht. Nach mehr war mir nicht, da meine Gedanken bei Smilla gefangen waren. Ich genoss es, wenn meine Vorstellungskraft so groß und positiv war, dass ich mich mit ihr am Strand spazieren gehen sah. Doch quälten mich ebenso die negativen Bilder. Die Bilder davon, dass unsere Wege auch auf Sylt in unterschiedliche Richtungen verliefen.

Der Kaffee, den ich mir vor der Abfahrt geholt hatte, war inzwischen kalt und schmeckte mir nicht mehr. Tatsächlich hatte ich ihn über meine Erinnerungen vergessen. Ich machte mich auf den Weg in den Speisewagen, um mir einen neuen zu besorgen. Einmal mehr war ich froh, in einem Zug der Deutschen Bahn zu sitzen und nicht mit der Nord-Ostsee-Bahn gefahren zu sein. Im Intercity gab es definitiv mehr Auswahl an Getränken und Speisen. Außerdem gab es hier nicht so viele Erinnerungen, da Smilla und ich oftmals die Nord-Ostsee-Bahn benutzt hatten, um nach Sylt zu fahren.

Als ich am Tresen des Speisewagens stand, erkannte ich das Schild, auf dem die unterschiedlichsten Heißgetränke angeboten wurden. Wie jedes Mal, wenn ich das Wort Cappuccino irgendwo entdeckte, bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Zusammen mit Smilla hatte ich unzählige Cappuccini getrunken. Es gab unendlich viele Dinge, die ich nach wie vor mit Smilla verband.

Bis heute war ich nicht in der Lage, unsere ehemals gemeinsamen Dinge alleine zu machen. Zu groß war noch immer die Liebe, die ich verspürte, wenn ich an meine Tussi dachte.

Auch wenn ich jetzt gerne einen Cappuccino getrunken hätte, bestellte ich mir einen normalen Kaffee. Nachdem ich etwas Milch hineingegossen hatte, ging ich zurück zu meinem Platz und verschwand gedanklich wieder in Smillas und meiner Welt.

Obwohl ich meine Traumfrau immer vor Augen hatte und ich keine Fotos brauchte, um die Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten, lagen heute welche in meiner Tasche. Sicher verwahrt in einem kleinen Etui hatte ich sie bei mir, da ich nicht wusste, ob ich sie auf Sylt benötigen würde. Es waren Bilder unseres Lebens, auf denen wir gemeinsam verewigt waren. Bilder, die Momente zeigten, in denen wir glücklich waren. Jedes einzelne dieser Bilder hatte ich in meinem Kopf und jede Geschichte, die zu den Bildern gehörte, war tief in meinem Herzen verankert. Genau aus diesem Grund brauchte ich das Etui nicht zu öffnen. Ich sah mir die Bilder an, ohne sie in die Hand zu nehmen oder ansehen zu müssen. Wie in einem Film liefen sie vor mir her, und ich war mir nicht sicher, ob in diesem Moment der Stolz über unsere gemeinsame Zeit oder die Trauer darüber, dass diese Zeit vorüber war, mehr Besitz von mir ergriffen hatte.

Ungefähr eine Stunde später warf ich den zweiten vollen Becher mit kaltem Kaffee in den Abfalleimer. Wieder hatte ich es versäumt, den Kaffee zu trinken. Wieder war ich in meinen Gedanken versunken. Wieder sehnte ich mich nach unserer gemeinsamen Zeit, und wieder einmal wusste ich nicht, ob es richtig war, jetzt in diesem Zug nach Sylt zu sitzen.

Als ich auf die Uhr sah, erkannte ich, dass meine Fahrt noch ziemlich genau eine Stunde dauern würde. Eigentlich Zeit genug für einen Kaffee. Ich freute mich darüber, dass ich mich dabei erwischte, zu lächeln. Das Lächeln war in den letzten eineinhalb Jahren von mir gegangen, und ich war jedes Mal glücklich darüber, wenn ich bemerkte, dass ich es noch konnte und es mir gelang, ein Lächeln auf den Lippen zu haben. Nachdem ich am Tresen im Speisewagen erneut meinen Cappuccino-Kloß heruntergeschluckt hatte, bestellte ich einen normalen Kaffee und setzte mich auf den Barhocker, der zu einem Bistrotisch gehörte. Dieser Kaffee sollte nicht umsonst gekauft worden sein, und so hielt ich es für besser, mich nicht zurück zu meinem Platz zu begeben, sondern im Speisewagen zu bleiben.

Als ich den ersten Schluck zu mir nahm, fuhren wir im selben Moment in den Bahnhof Niebüll ein. An diesem Bahnhof war auch die Autoverladung für die Menschen, die ihr Auto mit auf die Insel nehmen wollten. Dutzende Male hatten Smilla und ich ebenfalls hier gestanden und darauf gewartet, dass die Ampel auf Grün sprang und wir auf den Autozug fahren durften. Wie alle anderen Urlauber auch hofften wir jedes Mal darauf, auf dem zweigeschossigen Autozug oben stehen zu dürfen.

Nur zu gut wusste ich, dass mich in den nächsten drei Wochen auf Sylt jedes Restaurant, jeder Weg, das Meer, der Strand und wahrscheinlich auch jeder einzelne Strandkorb an meine Zeit mit Smilla erinnern würde. Ich musste stark sein. Allerdings wusste ich auch wofür.

Aus meiner Sicht war dies die letzte Chance. Wahrscheinlich sogar meine einzige Chance, Smilla zurückzugewinnen. Ich wollte und konnte dieses besondere UNS nicht aufgeben und wusste, dass ich um sie kämpfen würde, selbst wenn es vielleicht ein schier aussichtsloser Kampf gegen Windmühlen werden sollte. Nicht umsonst hatte der Arzt diese Sätze gesagt, die seit meiner Idee wieder wie ein Echo durch meinen Kopf hallten.

Aber vielleicht ändert sich im Leben von Frau Mahler etwas. Wenn sie bereit ist, in einen neuen Lebensabschnitt zu starten, dann besteht durchaus die Chance, dass Sie an diesem Lebensabschnitt beteiligt sein können.

Als die Fahrt weiterging und wir uns auf dem Hindenburgdamm befanden, sah mich die Sonne durch die Wolken hindurch an. Sie schob die Wolken immer weiter auseinander und strahlte wenige Minuten später in ihrer ganzen Pracht. Wieder huschte ein Lächeln über meine Lippen, da ich es als positives Zeichen, als ein Symbol für die Liebe wertete.

Erst als wir Keitum erreicht hatten, machte ich mich auf den Weg zu meinem Abteil. In wenigen Minuten würde der Zug in Westerland ankommen und mich nach längerer Abwesenheit wieder den Boden meiner Insel berühren lassen. Die Insel, die mir so viel bedeutete und auf der ich versuchen wollte, meinen Lieblingsmenschen zurückzugewinnen.

Mit meinem Koffer stand ich vor der Eingangshalle am Bahnhof. Während mein Blick auf die großen grünen Figuren fiel, die sich auf dem Vorplatz des Bahnhofs befanden, holte ich mein Handy aus der Innentasche meiner Jacke heraus.

Heute brauchte ich keine Mütze zur Seite zu schieben, damit mein Ohr für das anstehende Telefonat frei war. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich mich auf Sylt befand, ohne eine meiner vielen Mützen zu tragen. Direkt bei Smillas und meiner ersten Begegnung taufte sie mich auf den Namen Mützenmann. Auch wenn später noch die Bezeichnung Lieblingszicke hinzukam, war dies der Name, der uns vom ersten Moment an verband.

Eine Mütze hatte ich bestimmt seit anderthalb Jahren nicht mehr getragen. Nur zweimal hatte ich sie aufgehabt, als ich Smilla besucht hatte. Ich hatte gehofft, sie würde mich vielleicht erkennen, wenn ich eine Mütze trug, doch es hatte nicht geklappt. Sie lagen alle in irgendeiner Tasche in meinem Kleiderschrank, und ich war mir sicher, dass ich niemals wieder eine von ihnen tragen würde. Trotzdem hatte ich drei meiner Mützen in meinem großen Koffer verstaut. Ich wollte für alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Ohne Kopfbedeckung stand ich verloren auf diesem riesigen Platz und hielt mein Handy in der Hand. Ich hatte versprochen, mich sofort zu melden, wenn ich auf der Insel angekommen war, und so wählte ich die Nummer von Smillas Eltern, um Anja und Thomas Bescheid zu geben.

„Hallo, Thomas, hier ist Jonas. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich gut auf der Insel gelandet bin.“

„Hast du unsere Tochter schon gesehen?“

„Ich bin gerade erst angekommen und stehe vor dem Bahnhof.“

„Okay. Wenn was ist, meldest du dich aber sofort. Das gilt auch dafür, wenn es dir nicht gut geht und du einfach nur reden möchtest.“

„Das mache ich. Danke.“

Es wurde kein langes Gespräch, da wir alle Punkte bereits vor meiner Abfahrt besprochen hatten. Smillas Eltern standen hinter meiner Entscheidung und waren glücklich darüber, dass ich trotz dieser prekären Situation meine Liebe zu ihrer Tochter nie aufgegeben hatte. Auch für die beiden war es ein langer und schwieriger Weg gewesen. Genau wie ich verfluchten sie diesen schrecklichen Tag von vor eineinhalb Jahren, an dem sich Smillas und somit auch unser Leben mit einem Schlag verändert hatte.

Im Gegensatz zu mir hatten die beiden die ganze Zeit Kontakt zu Smilla gehabt. Es gab Momente, in denen Anja und Thomas tatsächlich an ihre Grenzen stießen und keine Kraft mehr hatten. Dies waren jedoch nur kurze Augenblicke, da sie ihre Tochter liebten und es ihnen egal war, wie schwierig die Situation auch sein mochte.

Smilla hatte begriffen, dass Anja und Thomas ihre Eltern waren. Auch wenn sie unfreiwillig in ein neues Leben starten musste, wusste sie genau, dass diese beiden Personen, die sie mittlerweile sogar ab und zu wieder als Mama und Papa bezeichnete, nur ihr Bestes wollten.

Wie ich auf die Bank gekommen war und warum ich mich dorthin gesetzt hatte, wusste ich nicht mehr. Allerdings schien ich im Unterbewusstsein das Richtige getan zu haben, da es mir, als ich mich zehn Minuten später von der Bank erhob, etwas besser ging. Mit der rechten Hand winkte ich nach einem Taxi. Nachdem wir den Koffer hinten in der Ablage verstaut hatten, machten wir uns auf den Weg. Zunächst hielten wir bei der Ferienvermietung, um meinen Schlüssel abzuholen. Anschließend ging es weiter zu meiner kleinen Ferienwohnung. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich in den vierten Stock, ließ meinen Koffer im Flur stehen und ging auf den Balkon. Über das Schwimmbad Sylter Welle hinweg konnte ich das offene Meer sehen. Wie lange ich dort stand und einfach nur vor mich hinstarrte, wusste ich nicht. Wie und wann ich das Haus verlassen hatte und ob ich dem Kurkarten-Onkel meine Kurkarte gezeigt hatte, war ebenfalls wie ausgelöscht. Erst als mich eine kleine Welle erwischte und meine Jeans bis zu den Knien nass war, landete ich wieder in der Realität. Anscheinend hatte ich wie in Trance meine Wohnung verlassen und war an den Strand gegangen.

Meine nassen Socken hatte ich ausgezogen und in die Turnschuhe gesteckt. Mit diesen in der Hand und meiner bis zu den Knien hochgekrempelten Jeans verließ ich den Strand und bestellte mir bei Gosch auf der Promenade ein kleines Bier.

Mit dem Glas in der Hand ging mein Blick wieder auf das Meer hinaus. Möwen flogen über mich hinweg, und als ich das typische Geschrei von Urlaubern hörte, war mir klar, dass sich eine der Möwen ein Fischbrötchen oder etwas anderes Leckeres geklaut haben musste.

Während ich die fluchenden Urlauber auf der Promenade beobachtete und mich darüber amüsierte, dass sich auch während meiner Abwesenheit nichts an diesem Prozedere geändert hatte, stockte mir plötzlich der Atem.

Keine zwanzig Meter von mir entfernt entdeckte ich Smilla. Sie hatte sich kaum verändert. Smilla war immer noch so wunderschön wie am ersten Tag, als wir uns begegnet waren. Ihre braunen und glatten schulterlangen Haare wehten im leichten Sommerwind und ihre dunklen Rehaugen leuchteten mir entgegen. Während sie näher kam, sah ich sie an. Ganz kurz hatte ich das Gefühl, als würde sie meinen Blick erwidern. Doch sie ging weiter. Während ich mich umdrehte, um ihr hinterherzusehen, setzte sie ihren Weg fort. Ohne mir einen weiteren Blick zu schenken, entfernte sie sich Schritt für Schritt immer weiter von mir.

Ihr hinterherzulaufen, sie anzusprechen oder auf irgendeine andere Weise in diesem Moment Kontakt zu ihr zu suchen, wäre falsch gewesen. Auch wenn ich nichts lieber auf der Welt getan hätte, blieb ich stark und auf meinem Barhocker sitzen.

Der Wiener, der schon seit vielen Jahren bei Gosch arbeitete, erschien an meinem Tisch und fragte mich, ob ich ein neues Bier wollte. Eigentlich hieß er Malte, doch niemand nannte ihn so, und selbst auf seinem Namensschild, das an seiner Brust hing, stand Wiener.

Ich bekam auf seine Frage kein Wort heraus, doch zum Glück genügte ein kurzes Nicken von mir.


Meine Spaziergänge (Smilla)

Egal wie das Wetter auch war. Mir taten meine täglichen Spaziergänge einfach gut. Am liebsten lief ich barfuß am Sylter Strand. Dabei nach schönen Muscheln Ausschau zu halten, war eine Wohltat für meine Seele. Doch nicht nur das. Auch meiner körperlichen Genesung taten diese Spaziergänge gut. Nach dem Unfall hatte ich Monate gebraucht, um mich wieder halbwegs wie ein Mensch zu fühlen. Diverse Knochenbrüche und innere Verletzungen hatten dafür gesorgt, dass ich es nur langsam schaffte, gesund zu werden.

Mein rechtes Knie hatte es besonders schlimm erwischt. Ich hatte mir so ziemlich jedes Band darin gerissen, die Kniescheibe zertrümmert und musste mehrfach operiert werden. Danach folgten mehrere Monate der Quälerei. Zunächst im Rollstuhl, dann auf Krücken und mit einer Orthese. Erst seit ungefähr einem halben Jahr konnte ich wieder halbwegs schmerzfrei laufen, aber die Muskulatur machte noch immer schnell schlapp. Wenn ich mich zu sehr beanspruchte, wurde mein Knie dick und die Schmerzen kehrten zurück.

Meine Physiotherapeutin hier auf der Insel meinte, es würde mir helfen, im Sand zu laufen, da die Muskeln in den Beinen da noch einmal anders beansprucht werden als auf gepflasterten Gehwegen. Sie hatte recht, von Woche zu Woche ging es mir besser, sodass ich meine Spaziergänge immer weiter ausdehnen konnte. Mittlerweile schaffte ich es, sogar am Strand entlang von Westerland bis nach Wenningstedt zu laufen – immerhin ungefähr vier Kilometer. Meistens machte ich dann in Wenningstedt eine Pause, aß eine Kleinigkeit dort bei Gosch und machte mich dann auf den Rückweg. Ich genoss meine Zeit allein am Strand. Immer wieder wanderte mein Blick über das Meer, das jeden Tag anders aussah. War es an allen Meeren dieser Welt so? Ich hatte keine Ahnung. Doch ich war überzeugt, hier an einem ganz besonderen Ort zu sein.

Mittlerweile wusste ich, warum mein Vater so merkwürdig reagiert hatte, als ich ihm erklärte, dass ich nach Sylt gehen würde. Meine Eltern hatten mir erzählt, dass ich die Insel bereits unendlich viele Male besucht hatte, auch wenn ich mich nicht erinnerte. Doch dieser Aufenthalt war ein anderer. Alles war fremd und ungewohnt für mich, fühlte sich aber dennoch genau richtig an. Manchmal war es, als würde ich am Ende eines Tunnels etwas Licht erkennen können, doch leider verschwand dieses Licht immer wieder, bevor ich es erreichte.

Irgendetwas musste dort sein. Irgendwann musste ich das Ende des Tunnels, musste ich dieses Licht, oder besser gesagt meine Vergangenheit, wieder erreichen. Sie einfangen, nicht wieder loslassen und gut festhalten, damit sie wieder ein Teil von mir wurde. Vielleicht schaffte ich es hier auf Sylt, genau das zu erreichen.

Noch bevor ich nach Sylt gefahren war, hatte ich nicht daran geglaubt, obwohl meine Eltern und auch meine Ärzte es mir immer wieder predigten. Ich würde mich selbst zu sehr unter Druck setzen, hatten sie gesagt. Das sei der Grund, warum ich mich auch anderthalb Jahre nach dem Unfall noch an nichts erinnern konnte. Ich sollte an mich glauben und geduldig sein, dass meine Erinnerungen irgendwann von allein zurückkehren würden. Aber Geduld war schon lange nicht mehr meine Stärke. Es gab Momente, ja ganze Tage, an denen ich schier verzweifelte. Dann heulte ich stundenlang und versank in meinem Selbstmitleid.

Immer noch gab es Augenblicke, an denen ich mir wünschte, den Unfall nicht überlebt zu haben. Die Chancen, am Leben zu bleiben, standen schlecht, als ich wochenlang im Koma dahinvegetiert war. Warum hatte mein Körper nicht einfach aufgeben können? Warum musste er unbedingt kämpfen und mich in ein Leben werfen, das eigentlich keines mehr war? Ich hatte keine Vergangenheit, und somit dachte ich, ich hätte auch keine Zukunft.

Manchmal hatte ich das Gefühl, eine Art Flashback zu erleben. Aber meist waren es nur Bruchteile von Sekunden, dann verschwand dieses Gefühl wieder, ohne dass ich es greifen konnte. Es war, als würde ein Fetzen meiner Vergangenheit in diesen Momenten durch meinen Kopf huschen, doch wie ein Blitz am Nachthimmel verschwand dieser Fetzen, bevor ich es wirklich begriff. Dann wieder ärgerte ich mich über mich selbst. Warum konnte ich nicht einfach akzeptieren, was mir über meine Vergangenheit erzählt wurde? Warum konnte ich ihnen nicht einfach glauben? Mit Anja und Thomas hatte es doch auch geklappt. Obwohl ich sie nach dem Unfall nicht mehr gekannt hatte, hatte ich zugelassen, dass sie erneut in mein Leben treten durften. Es war ein langer und harter Weg, bis ich es zuließ. Aber jetzt waren sie da, und es tat mir ausgesprochen gut, zu wissen, dass es sich bei ihnen um meine Eltern handelte.

Sie akzeptierten mich und meine Entscheidung, sogar solche, die ihnen wehtaten. Als ich beschloss, hier auf der Insel in ein neues Leben zu starten, unterstützten sie mich. Ja, sie taten es, obwohl ich mich dadurch wieder von ihnen entfernte. Zwar war es dieses Mal nur räumlich, allerdings musste es für meine Eltern ein erneuter Schock gewesen sein. Wieder mussten sie auf ihre Tochter verzichten. Erneut hatte ich mich von ihnen verabschiedet. Auch wenn es auf eine andere Art und Weise war. Und woher sollten sie wissen, dass ich sie nicht wieder vergaß? Sie trösteten sich damit, dass ich ja nicht aus der Welt war. Außerdem hielten es meine Ärzte für eine gute Entscheidung und somit war sie es für meine Eltern auch.

Als der Dartpfeil diese Insel getroffen hatte, war mir sofort klar gewesen, dass dies hier ein besonderer Ort war. Es war wie Magie. Noch heute wusste ich, wie es sofort in meinem Bauch gekribbelt hatte, wie Sylt mich von der ersten Sekunde an angezogen hatte. Es zog mich hierher, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, jemals hier gewesen zu sein. Warum es so war, wusste ich nicht. Ob es mich tröstete, dass auch meine Ärzte keine Erklärung dafür hatten, konnte ich nicht sagen. Irgendwie war es mir aber auch vollkommen egal. Ich war hier und es tat mir gut.

Ich konnte hier die noch immer notwendigen Anwendungen durchführen. Hatte eine großartige Physiotherapeutin gefunden, mit der ich mich auch privat super verstand und die ich inzwischen zu den wenigen Menschen zählen durfte, die mein verkorkstes Gehirn der Meinung war, sich merken zu müssen. Tinka erkannte ich, selbst wenn ich sie einmal außerhalb der Praxis traf, sofort.

Ansonsten genoss ich den Strand, das Meer und Anonymität, die ich hier auf der Insel erleben durfte.

Ab und zu sprach mich eine Bedienung in den vielen Cafés und Restaurants an. Einige von den hier arbeitenden Menschen glaubten, mich zu kennen, ließen mich allerdings in Ruhe, wenn ich ihnen erklärte, dass es nicht sein konnte.

Alle? Okay, alle bis auf eine Person. Die Bedienung, die hier in Westerland auf der Promenade bei Gosch arbeitete, sah mich immer wieder mit diesem Ich-kenn-dich-doch-Blick an. Der Wiener, oder wie auch immer er in Wirklichkeit heißen mochte, schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.

Genau aus diesem Grund sah ich immer zu, dass ich dieses Stück auf der Promenade zügig hinter mir ließ.

Auch in diesem Augenblick beschleunigte ich meine Schritte, als ich auf der Promenade daran vorbeilief. Ich hatte Angst, dass er mich irgendwann ansprechen würde. Ich wollte keinen Kontakt zu mehr Menschen hier als unbedingt nötig, da ich einfach nicht bereit dazu war, irgendjemanden an meinem Leben teilhaben zu lassen. Zunächst musste ich mir selbst noch viele Fragen beantworten. Ja, ich musste mich finden. Zumindest neu entdecken.

Als ich den Treppenaufgang erreichte, der mich auf die Fußgängerzone führte, blieb ich stehen. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken, als mir etwas klar wurde. Es gab noch eine Person auf dieser Insel, deren Gesicht ich nicht sofort wieder vergaß. Der Wiener. Warum war es mir nicht früher aufgefallen? Nicht nur, dass ich ihn erkannte, ich konnte mir sogar seinen Namen merken, seitdem ich im Vorbeigehen einmal mitbekommen hatte, wie ein Gast ihn so angesprochen hatte. Nachdenklich machte ich mich auf den Rückweg zu meiner Wohnung. Sollte ich es als gutes Zeichen nehmen, dass ich ihn erkannte, obwohl ich noch nicht einmal ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte? Bedeutete das, dass er ein Teil meiner Erinnerung war, der vielleicht zurückkehrte? Oder war er mir einfach nur sympathisch und ich hatte ihn mir aus diesem Grund gemerkt? Ich wusste es nicht.


Promenade (Jonas)

Langsam beruhigte sich mein Atem. Mein wild pochendes Herz fand allmählich wieder einen normalen Rhythmus. Es war wunderschön, meine Smilla gesehen zu haben, und zugleich tat es so unendlich weh, sie nicht einfach ansprechen zu dürfen.

Die Begegnung mit Smilla hatte mich mehr aufgewühlt, als ich geahnt hatte. Selbstverständlich wusste ich im Vorwege, dass es nicht einfach werden würde. Mir war ebenfalls klar, dass sie mir bei unserer Begegnung nicht um den Hals fallen würde. Es gar nicht konnte, da wir derzeit in verschiedenen Welten lebten. Aber genau aus diesem Anlass war ich hier. Mein Ziel, besser gesagt mein Traum, war es, unsere Welten wieder zusammenzufügen. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus Smilla und mir wieder dieses unbeschreiblich schöne WIR werden könnte.

Auch die vielen Gespräche mit ihren Eltern hatten mich nicht davon abgebracht. Anja und Thomas wollten mir keine Angst machen, allerdings war ihnen wichtig, dass ich der Wahrheit ins Gesicht sah. Die Chance auf einen Neuanfang zwischen Smilla und mir war sehr gering. Sie war nahezu null, konnte man fast sagen, und trotzdem musste ich einfach alles dafür tun, diese verschwindend geringe Chance zu nutzen. Mein Kopf wusste die Fakten, wusste, wie schwer es sein würde, doch mein Herz wollte es nicht akzeptieren. Ich hatte solche Sehnsucht und wollte meine Smilla nur wieder in die Arme schließen und den Schmerz, der in meiner Brust tobte, lindern.

„Die Plörre schmeckt doch gar nicht mehr.“ Erschrocken drehte ich mich um und sah dem Wiener ins Gesicht.

„Da magst du durchaus recht haben.“

„Früher hast du schneller getrunken. Du warst wohl zu lange von der Insel weg und hast dort nicht richtig trainiert.“ Der Wiener lächelte mich an, und ich war erstaunt darüber, dass er sich noch immer an mich erinnerte. Damals war ich häufig hier gewesen, da Gosch an der Promenade, seit der Eröffnung, einer der Lieblingsplätze von Smilla und mir gewesen war.

„Soll ich dir noch ein Bier bringen?“

„Ich weiß nicht.“ Meine Antwort hatte der Wiener schon gar nicht mehr gehört. Zumindest hatte er sie nicht wahrgenommen, da er sich bereits auf den Weg nach drinnen machte. Wenige Minuten später kam er zurück. Da derzeit nicht viele Gäste hier waren, setzte er sich zu mir.

„Ich weiß, es geht mich nichts an, und ich weiß auch, dass mir eine solche Frage nicht zusteht. Selbstverständlich brauchst du nicht zu antworten. Du kannst mir auch gerne ganz deutlich sagen, dass ich eine neugierige Nervensäge bin. Aber die Frage brennt mir schon seit einiger Zeit auf den Lippen.“ Bevor er sie stellte, sah er mich an. Mein Lächeln verriet ihm, dass er die Frage stellen durfte. Ich ahnte bereits, was nun folgen würde.

„Die Frau, die eben an uns vorbeigegangen ist …“

„… ist Smilla“, beendete ich seinen Satz. „Es ist die Frau, mit der ich früher immer gemeinsam bei dir gewesen bin.“

„Habt ihr euch getrennt? Wie schade, ihr habt perfekt zusammengepasst.“

„Mehr oder weniger.“ Dass der Wiener mit meiner Antwort nichts anfangen konnte, war mir selbstverständlich klar.

Darum gab ich ihm noch eine andere Antwort, obwohl er natürlich recht hatte. Es ging ihn rein gar nichts an, und doch tat es mir in diesem Moment gut, mit jemandem darüber zu sprechen.

„Weißt du, Malte, Smilla und ich sind seit anderthalb Jahren getrennt. Aber wir haben uns nicht getrennt. Wir wurden es.“ Ernst sah ich den Wiener an.

„Ihr wurdet getrennt? Wie soll ich das verstehen. Ist ein anderer Typ gekommen?“ Selbstverständlich konnte er nicht viel mit meinen Sätzen anfangen.

„Smilla wurde von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Besser gesagt brutal umgefahren. Ohne sein Fahrzeug auch nur im Ansatz unter Kontrolle zu haben, kam er über eine Kreuzung gefahren. Rot hatte er auch. Frontal hat er Smilla erwischt. Sie soll im hohen Bogen über die Kühlerhaube geflogen sein und ist anschließend mit dem Kopf auf den Asphalt geknallt. Ich war zu Hause, als mich ein Anruf vom Universitätskrankenhaus Eppendorf erreichte. Es war der schlimmste Augenblick meines Lebens. Ehrlich, es war schrecklich!“ Sprachlos wurde ich angesehen. Der Wiener suchte nach Worten, fand sie jedoch nicht. Dafür sprach ich weiter.

„Einige Wochen lang lag sie im Koma und die Ärzte machten mir und Smillas Eltern keine Hoffnung. Im Gegenteil. Sie meinten sogar, dass es besser für Smilla wäre, wenn sie die Augen nicht wieder öffnen würde. Es würde sie ein Leben erwarten, wie es weder Smilla noch ihre Eltern oder ich verdient hätten. Eine komplette körperliche und geistige Behinderung wartete, der Einschätzung der Ärzte nach, auf sie. Aus einem Menschen voller Lebensfreude wäre, dank eines betrunkenen Autofahrers, ein Pflegefall geworden. Täglich saß ich an Smillas Krankenbett. Innerhalb der Woche, noch vor und direkt nach der Arbeit und am Wochenende bereits vor dem Frühstück. Smillas Eltern, die sich bereits in Rente befinden, hatten sich während dieser Zeit sogar eine kleine Wohnung in Hamburg genommen. Manchmal hatte ich auch Musik dabei. Lieder, die uns verbanden. Lieder von Künstlern, dessen Konzerte wir gemeinsam besucht hatten. Doch nichts half!“ Jetzt brauchte ich eine Pause. Ein Schluck meines Bieres musste meine Kehle schmieren und den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, vertreiben.

„Mensch, Jonas. Das Leben ist echt manchmal ungerecht. Ungerecht? Scheiße, mir fehlen die richtigen Worte.“ Mit einer entschuldigenden Geste sah mich der Wiener an.

„Weißt du, Malte, sie lag einfach da. Es sah so aus, als würde sie sich friedlich ausruhen. Wären nicht diese Tausenden von Kabeln und Schläuchen an ihr befestigt gewesen, hätte man denken können, dass sie einfach einen viel zu langen Mittagsschlaf hielt. Selbst im Krankenhaus, selbst in diesem Zustand, selbst in dieser aussichtslosen Situation war sie so wunderschön wie am ersten Tag, als ich sie hier auf Sylt getroffen hatte.“ Einige Tränen verließen meine Augen. Doch ich fing mich sofort. Ich wollte einfach noch mehr erzählen. Heute und jetzt hier bei Malte tat es mir gut, darüber zu sprechen.

„Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als Smillas Mutter mich in der Firma anrief und mir sagte, dass Smilla wach sei. Nichts hielt mich auf. Ich ließ meine Arbeit fallen, warf mir meine Jacke über. Dann rannte ich aus dem Büro und fuhr direkt ins Krankenhaus. Dort angekommen sah ich in Smillas Augen. Sie war wach, doch ihr Blick war leer. Es schien, als würde sie durch mich hindurch gucken. Als wäre ich gar nicht da. Ich fühlte mich, als ob Smilla überlegte und keine Ahnung hätte, wer ich eigentlich war. Und genau so war es auch. Sie hat mich nicht erkannt.“ Traurig sah ich Malte an.

„Aber du hast ihr doch dann ganz sicher erzählt, wer du bist?“ Irritiert sah mich Malte an.

„Ja. Wieder und wieder habe ich das getan. Auch ihre Eltern und die Ärzte haben es ihr erzählt. Es versucht, ihr zu erklären. Doch mich gab es für sie nicht mehr. Ich war aus ihrem Leben verschwunden.“

„Das kann doch nicht sein.“ Während seiner Worte hielt Malte meinen Arm fest.

„Doch. Leider schon. Sogar wenn sie mich gesehen hat und wir miteinander gesprochen hatten, waren alle Erinnerungen an mich beim nächsten Wiedersehen erloschen. Weißt du, Malte, eigentlich war ein kleines Wunder geschehen. Ihr Körper hatte sich dazu entschieden, wieder zu funktionieren. Allerdings hatte ihr Kopf sich dazu entschieden, mich nicht mehr zu kennen. Nachdem sie drei Monate in einer Rehaklinik an der Ostsee gewesen war, konnte sie wieder nach Hause und zog zu ihren Eltern.“ Wortlos tauschten Malte und ich unsere Blicke.

„Mensch, Jonas. Das muss ja hammermäßig hart gewesen sein. Und dann?“

„Leider war, außer für ihre Eltern, kein weiterer Platz in Smillas Leben vorhanden. Es war schwer genug für Smilla, sich darauf einzulassen, dass zwei Menschen, an die sie keinerlei Erinnerung hatte, sich um sie kümmern mussten. Ich selbst existierte für sie nicht mehr. Obwohl sie sich Bilder und andere Erinnerungsstücke aus unserer gemeinsamen Zeit ansah, konnte sie nicht wieder in unsere Welt eintauchen. Sie konnte sich nicht auf mich einlassen. Selbst wenn ich sie und ihre Eltern besuchen kam, war es so, als hätte sie mich niemals vorher gesehen. Aber das habe ich ja schon gesagt. Oder?“ Irritiert sah ich zum Wiener. Wahrscheinlich hatte ich einige Dinge mehrfach erzählt.

Der Wiener sah mich an, und ich wusste nicht, ob es ein Blick voller Mitleid oder Entsetzen war. Er erklärte mir, dass er jetzt verstand, weshalb Smilla ihn in den letzten Wochen nie gegrüßt hatte. Dass sie so tat, als wäre er ein fremder Mensch für sie.

„Und jetzt?“ Selbstverständlich wusste der Wiener selbst, dass diese Frage ziemlich dämlich war. Ich erkannte es an seinem Gesichtsausdruck, nahm sie ihm jedoch nicht übel. Ganz im Gegenteil, ich freute mich über seine Anteilnahme und darüber, dass er sich eben so viel Zeit für mich genommen hatte.

„Jetzt werde ich versuchen, meine letzte Chance zu nutzen. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ich irgendwann wieder zusammen mit Smilla glücklich sein werde. Wenn es nicht hier auf unserer Insel klappt, wo sollte es dann funktionieren?“ Ich glaubte in diesem Moment an meine Worte. Ja, hier auf Sylt fühlte sich unsere Nähe, die es eigentlich gar nicht mehr gab, wieder intensiver an. Zur Bestätigung meiner Sätze hatte ich mich längst aufrecht hingesetzt und dabei den Wiener voller Hoffnung angesehen.

„Du wirst es schaffen!“ Mit einem Nicken bekräftigte er seinen Satz.

„Wir werden es schaffen!“

„Ja, ihr. Wenn nicht Smilla und du, wer dann?“

Nachdem ich bezahlt hatte, nahm mich der Wiener in den Arm und wünschte mir viel Glück.


Sich erkennen (Smilla)

In meiner Wohnung angekommen, war ich heute ziemlich kaputt. Drei Stunden Standspaziergang waren noch immer eine große Aufgabe für mich. Allerdings eine Aufgabe, die mich nicht nur forderte, sondern die mir auch viel Spaß machte. Obwohl mein Knie schmerzte, fühlte ich mich gut. Mit einem Zitronentee saß ich auf meinem Sofa und freute mich über den heutigen Tag. Sogar der Wiener hatte mir diesmal nicht hinterhergesehen, als ich an ihm und somit an der niedlichen kleinen Kneipe von Gosch, die sich auf der Promenade befand, vorbeiging. Er war beschäftigt, da er sich in diesem Moment um einen seiner wenigen Gäste gekümmert hatte. Darüber, woher er mich kannte und ob ich ihn tatsächlich auch von früher kannte, hatte ich keine Lust mehr, mir Gedanken zu machen. Es machte auch keinen Sinn! Alles aus meiner Vergangenheit war verschwunden, und irgendetwas in mir weigerte sich auch, dieses FRÜHER zuzulassen.

Mein kuscheliges Sofa, das mit unendlich vielen Kissen verziert war, gab mir Halt und war in diesem Moment alles, was ich für einen gemütlichen und zufriedenen Abend benötigte. Da ich mich bereits seit längerer Zeit nicht mehr bei meinen Eltern gemeldet hatte, hielt ich es für eine gute Idee, sie in diesem Augenblick anzurufen.

„Hallo, Mama. Wie geht es euch?“

„Mein Schatz. Schön, dass du dich meldest. Wir hatten auch gerade die Idee, dich anzurufen.“

„Ich bin ganz schön kaputt. Heute Morgen hatte ich Anwendungen, und anschließend war ich drei Stunden am Strand spazieren.“

„Denk daran, dass du nicht übertreiben sollst. Wie hat der Doktor doch so schön gesagt? Wenn du dich körperlich zu sehr anstrengst, benötigt dein Kopf zu viel Kraft in dem Moment. Das ist nicht gut, da du ja weiterhin daran arbeiten sollst, deine Vergangenheit zu dir zurückzuholen.“

„Mensch, Mama, du weißt doch, dass sich die Vergangenheit nicht unbedingt zurückholen lässt. Zumindest habe ich keinen Einfluss darauf, ob meine Erinnerungen jemals zurückkommen. Und eigentlich ist es auch egal. Ich weiß, dass du und Papa zu mir gehören. Mehr muss ich gar nicht wissen. Ich habe ein neues Leben, und ich bin froh darüber, dass ihr an diesem beteiligt seid. Alles andere ist nebensächlich.“

„Ach Smilla, alles andere kann nicht nebensächlich sein. Bist du denn gar nicht neugierig darauf, wie dein früheres Leben einmal abgelaufen ist? Willst du wirklich in der Gegenwart verharren?“

Natürlich war ich neugierig. Ich wünschte mir doch nichts sehnlicher, als mich endlich an irgendetwas zu erinnern, und sei es auch noch so eine Kleinigkeit. Aber was sollte ich denn machen? Ich konnte es nicht erzwingen. Bevor ich meiner Mutter genau das antworten konnte, hörte ich im Hintergrund meinen Vater etwas flüstern. Ganz deutlich, auch wenn er davon ausging, dass ich es nicht hören konnte.

„Lass das Kind in Ruhe damit! Sie macht das schon alles richtig.“ Wie immer war er derjenige, der es nicht mochte, wenn meine Mutter mit diesem Thema begann. Mein Vater war es, der einfach nur froh darüber war, dass wir Kontakt hatten und ich mein Leben einigermaßen gut im Griff hatte. Ihm war es egal, wie meine Vergangenheit ausgesehen hatte. Immer wieder war er es, der meiner Mutter und auch mir erzählte, dass die Gegenwart entscheidend war. Dass ich im Jetzt leben sollte und mein Leben genießen musste. Klar fand er auch, dass ich etwas für meine Zukunft planen sollte. Allerdings musste ich dabei nichts überstürzen. Alles würde so kommen, wie es irgendeine höhere Macht für mich geplant hatte.

Auch wenn sie es sich wahrscheinlich denken konnten, ich hatte meinen Eltern nie erzählt, wie sehr es mich belastete, dass meine Erinnerungen komplett ausgelöscht waren. Zum einen wollte ich nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen um mich machten, als sie es sowieso schon taten. Zum anderen fehlte mir aber auch noch immer ein wenig das Vertrauen. Auch wenn ich Anja und Thomas als meine Eltern akzeptiert hatte, gab es viele Sachen, die ich lieber mit mir selbst ausmachte. Gedanken und Gefühle, die in mir vorgingen, die ich einfach nicht mit ihnen – zwei noch immer irgendwie fremden Menschen – teilen konnte. Auch wenn ich sie nach meiner eigenen Rechnung mittlerweile seit über einem Jahr kannte und als meine Eltern akzeptiert hatte. Wie sollte ich ihnen erklären, wie sehr ich mit mir selbst haderte? Wie oft ich verzweifelte? Und vor allem: Was würde es mir bringen? Sie konnten mir auch nicht helfen, mein Gehirn davon zu überzeugen, alles wieder freizugeben, was darin irgendwann einmal abgespeichert gewesen war. Natürlich konnten sie für mich da sein, mir zuhören und mich aufbauen, aber auch das half nicht, den derzeitigen Status quo zu ändern. Es brachte mir meine Vergangenheit nicht zurück. Doch nicht nur mit meinen Eltern hatte ich nicht darüber gesprochen, auch niemandem sonst hatte ich mich anvertraut, bis ich hierhergezogen war.

„Hat heute die Sonne bei euch durchgeschaut?“ Schnell lenkte meine Mutter von dem Thema ab. Wahrscheinlich hatte sie sich die Worte meines Vaters zu Herzen genommen und wollte nun zusehen, dass sie den Bogen zurück zu einem normalen Gespräch hinbekam. Ich ließ mich auf das Spielchen ein. Nicht dass ich es nicht durchschaut hätte, aber ich hatte definitiv keine Lust, ihre anderen Fragen zu antworten.

„Wir hatten fast den ganzen Tag Sonnenschein, und ich freue mich jeden Tag aufs Neue, dass ich den Schritt gewagt habe, hierherzuziehen. Irgendetwas Gutes musste dieser dämliche Unfall ja schließlich haben. Das Geld von der Unfallversicherung und dazu die derzeitige Rente, die ich monatlich bekomme, sorgen dafür, dass ich hier ein schönes Leben habe. Ein Leben ohne Luxus. Aber immerhin habt ihr mir häufig genug gesagt, dass ich auch früher schon keinen Wert auf irgendwelche materiellen Dinge gelegt habe.“

„Ach, kleine Maus …“

„Kleine Maus? Muss das wirklich sein? Ich finde diese Bezeichnung so blöd.“

„Entschuldige, Smilla. Manchmal ist es von früher einfach noch zu sehr drin. Immerhin hast du es damals gemocht.“

„Das denkst du dir doch aus. Ganz sicher habe ich es niemals gemocht, kleine Maus genannt zu werden.“ Wir lachten beide, da wir uns ab und an einen Spaß daraus machten, was ich früher gemocht hatte und was nicht. Ja, manchmal war es so. Es war eine Oberflächlichkeit, die zumindest in manchen Momenten ein wenig heile Welt durchblicken ließ. Es waren Augenblicke, in denen ich kurzfristig verdrängen konnte, wie die Realität für mich aussah. In denen ich aus vollem Halse lachen konnte und für einen kurzen Moment war alles gut. Allerdings klappte es nicht immer. Ich wusste ganz genau, dass ich mich mit meinem Verhalten manchmal unfair meinen Eltern gegenüber verhielt.

An einigen Tagen machte es mir Spaß, darüber Scherze zu machen, während ich mich an anderen Tagen in mein Schneckenhaus zurückzog. Ein und dieselbe Situation rief bei mir häufig ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Ich selbst hatte das Gefühl, ich hatte keinerlei Einfluss darauf. An guten Tagen war es wie heute, wir lachten und machten Späße. An einem anderen Tag wäre es durchaus vorgekommen, dass ich wortlos aufgelegt hätte. Ja, auch das hatte es bereits mehrfach gegeben. Manchmal wurde mir einfach alles zu viel, dann hatte ich keine Kraft mehr zu kämpfen, fühlte mich von allem überfordert und brauchte nur noch Abstand. Dann legte ich nicht nur wortlos auf, ich zog sogar den Stecker des Telefons und schaltete mein Handy ab. In solchen Momenten wurde ich noch immer häufig von meinen Panikattacken überwältigt. Dann kroch ich zitternd und mit letzter Kraft auf mein Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Die Tränen waren nicht zu stoppen und liefen in Strömen über mein Gesicht. Ich schluchzte, bis mir der Hals wehtat und ich irgendwann vor Erschöpfung einschlief.

Manchmal wünschte ich mir, es wäre jemand da. Ich könnte es zulassen, dass mir jemand nahekommt. Jemand, der mich einfach nur in den Arm nimmt, mich festhält, bis diese Attacken vorbei waren. Doch ich wusste, ich konnte diese Nähe nicht zulassen. Obwohl mir ein diffuses Gefühl sagte, dass ich es früher gekonnt hatte. Wenn ich im Halbschlaf in meinem Bett lag, kam es manchmal vor, dass ich mir einbildete, es wäre noch eine Person anwesend. Würde hinter mir liegen, seine Arme um mich geschlungen und mich fest an seine Brust gezogen.

„Papa möchte dich noch sprechen.“ Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken und wenige Sekunden später hatte mein Vater den Hörer in der Hand und begrüßte mich.

„Na, mein Schatz.“

„Hallo, Papa. Wie geht es dir?“

„Mir geht es gut. Und das, was ich von eurem Telefonat schon mitbekommen habe, sagt mir, dass es dir ebenfalls gut geht. Allerdings würde es mir noch um einiges besser gehen, wenn ich dich bald wiedersehen könnte. Was hältst du davon, wenn Mama und ich dich demnächst auf Sylt besuchen kommen. Wir mieten uns für ein paar Tage eine kleine Wohnung und verbringen mit dir zusammen Zeit auf der Insel.“

„Oh … Ja … Also …“ Mein Vater unterbrach mich.

„Ohne Verpflichtung für dich. Wir kommen einfach auf die Insel, nehmen uns eine kleine Wohnung, und wenn du Lust hast, verbringen wir gemeinsam Zeit. Ansonsten gibt es auf Sylt ja genügend Möglichkeiten, dass Mama und ich uns alleine beschäftigen. Deal?“

„Deal“, antwortete ich und freute mich darüber, dass meine Eltern so viel Verständnis für mich hatten. Mein Vater hatte sofort gemerkt, wie sehr mich seine Idee unter Druck setzte, und ließ mir den Freiraum, den ich brauchte. Eine ganze Weile unterhielten wir uns noch über diverse Themen, bevor wir uns verabschiedeten. Anschließend machte ich es mir, ganz alleine mit meinem Becher Tee in der Hand, auf meinem Sofa gemütlich. Eingekuschelt in die unzähligen Kissen war meine Welt in diesem Moment einfach nur schön.


Tränen vor Glück (Jonas)

Wie lange ich an diesem Abend bereits im Strandkorb saß, meine Füße dabei im Sand vergraben hatte und auf das Meer sah, wusste ich nicht. Es war mittlerweile stockdunkel und ich konnte bereits die Sterne am Himmel beobachten.

Wie gerne hätte ich in diesem Moment mit Smilla hier gesessen. So wie wir es früher immer getan hatten. Zu der Zeit, in der wir dachten, dass uns nichts und niemand trennen könnte. Noch immer war ich mir sicher, dass uns tatsächlich nichts auf dem normalen Weg hätte trennen können. Kein anderer Mensch und keine noch so prekäre Situation wäre dazu in der Lage gewesen. Sehr sicher waren wir uns. Vielleicht sogar in manchen Augenblicken zu sicher. Wir liebten uns und waren glücklich über jeden unserer gemeinsamen Momente. Jeder Augenblick war ein Highlight für uns, jede gemeinsame Minute war eine Minute, die wir genossen. Jeder Blick in unsere Augen entfachte ein Feuer und sorgte dafür, dass sich unsere Herzen sofort in unserem Verliebtsein-Modus befanden. Jede noch so kleine Berührung fühlte sich wie ein kleiner Stromstoß an. Es verlief ein Zucken durch den gesamten Körper und das Verlangen nach noch mehr Berührungen stieg in Sekundenschnelle an.

Immer wieder quälte mich der Gedanke daran, dass ein besoffener Kerl, der auch noch die Frechheit besaß, in einem Auto zu fahren, unser Leben zerstört hatte. Natürlich war Smilla die Leidtragende. Sie hatte den Unfall gehabt. Sie musste sich zunächst durch diese Reha quälen und mit den Schmerzen leben. Sie war es auch, die ein neues Leben starten musste. Nein, sie musste sogar lernen, dass sie ein Leben besaß. Dass es eine Zeit vor dem Heute gegeben hatte und ihr Leben nicht gerade erst begonnen hatte. Doch auch mein Leben hatte er zerstört. Er hatte mir das Liebste genommen. Mich dazu verurteilt, auf den Menschen verzichten zu müssen, den ich so sehr liebte. Ja, ich hatte sogar in einigen Augenblicken die Gedanken, diesen Typen aufzuspüren. Ihn zur Rede zu stellen. Meine Fäuste zu benutzen und sie sprechen zu lassen. Ja, manchmal sogar Gedanken daran, ihm etwas anzutun. Doch ich tat nichts davon. Wenn ich ihm gegenübergestanden hätte, wäre alles möglich gewesen. Ja, ALLES!

Doch es gab auch noch die Chance, dass Smilla mich irgendwann wieder brauchte. Dass ich wieder für sie da sein durfte. Dann wollte ich dazu bereit sein und mir nicht ein Gefängnis von innen ansehen müssen.

Ich wiederholte einen meiner Sätze von eben und machte mir Gedanken darüber, ob man wirklich in ein neues Leben starten konnte oder ob es nicht eigentlich nur ein neuer Lebensabschnitt war. Doch auch nachdem ich den Satz diverse Male zerlegt und wieder zusammengesetzt hatte, blieb ich in Smillas Fall bei dieser Meinung. Sie musste tatsächlich ein neues Leben beginnen.

Auch wenn die Ärzte und Smillas Eltern es mir bereits gefühlte 1 000 Mal erklärt hatten, konnte ich es noch immer nicht verstehen. Nein, ich konnte es wirklich nicht verstehen, auch wenn Didi und Steffi mir häufig unterstellten, dass ich es nur nicht wahrhaben wollte.

Warum um Himmels willen konnte sich Smilla nicht mehr an mich erinnern? Diese Frage hatte ich mir in der Zeit nach dem Unfall wieder und wieder gestellt. Sie war wie eingebrannt in meinem Gehirn und ich wurde sie nicht wieder los. Egal, was ich tat, und auch egal, wie ich mich verhielt, konnte ich es nicht begreifen, geschweige denn vernünftig damit umgehen.

Wäre es zumindest so gewesen, dass Smilla mich nur in den ersten Wochen nicht erkannt hätte. Vielleicht hätte ich es dann irgendwann kapiert. Doch so war es nicht.

Daher verschwand ich aus ihrem Leben. Nur so war es möglich, dass sie Platz für Neues in ihrem Leben hatte. Wäre ich dageblieben, hätte sie mich sowieso nicht gekannt. Selbst wenn Smilla sich irgendwann für das UNS entschieden hätte, wäre es nicht aus Überzeugung gewesen. Sie hätte es getan, da es ihr erzählt wurde. Weil sie es aufgrund ihrer Vergangenheit machen musste. Weil ich es war, mit dem sie vor ihrem Unfall eine Beziehung geführt hatte. Nicht, weil sie von dem UNS überzeugt war und mich liebte.

Nur aus diesen Gründen hatte sie auch ihre Eltern wieder als ihre Eltern akzeptiert. Noch immer war das Verhältnis von Anja und Thomas zu ihrer Tochter häufig ein eher kühles Verhältnis. Es bestand auf dem Papier und nicht immer im Herzen. Zumindest nicht in Smillas Herzen.

Den Platz, den ich einmal in Smillas Leben eingenommen hatte, gab es nicht mehr. Sosehr ich mich auch bemühte und um diesen Platz kämpfte, ich bekam ihn nicht zurück. Unsere Zeit war vorbei und somit unsere Beziehung beendet.

Meine letzte Rückfahrt von Smilla und ihren Eltern verbrachte ich heulend im Auto. Über achtzig Kilometer lang hatte ich durchgehend geweint. Ich hatte das Wichtigste in meinem Leben verloren, und mir war klar, dass ich es niemals wieder zurückbekommen würde.

Die ersten Wochen danach hatte ich mich komplett zurückgezogen. Mein Leben bestand aus: aufstehen, zur Arbeit gehen, Feierabend machen, eventuell kurz das Notwendigste einkaufen, ein paar Stunden auf dem Sofa verbringen und wieder ins Bett gehen.

Die Frage nach dem WARUM hing wie ein Damoklesschwert über mir, und ich fand keinen Weg, der mir half, dagegen anzukämpfen. Nach und nach schaffte ich es, wieder in das normale Leben einzutauchen. Was ich allerdings nicht schaffte, war, Smilla und unsere Zeit zu verdrängen. Geschweige denn, unsere Zeit zu vergessen.

Um andere Frauen oder um eine andere Beziehung machte ich mir keinen Kopf. Jede Frau, die ich ansah, verglich ich mit dem wunderschönen Gesicht meiner Smilla. Jedes Gespräch mit einer anderen Frau sezierte ich so lange, bis ich die Worte als unangenehm empfand und daran dachte, dass Smilla so etwas nie gesagt hätte. Jede Bewegung und jedes Handeln von anderen Frauen verglich ich mit meinem Lieblingsmenschen, und so fiel es mir nicht schwer, sofort wieder auf Abstand zu gehen.

Die Zeit heilt alle Wunden. Wer auch immer diesen Satz gesagt hat, kannte meine Smilla nicht! Niemals würde die Wunde, die durch unsere Trennung in meinem Herzen aufgerissen wurde, verheilen können. Kein Medikament, keine Operation und kein Verbandszeug konnte diese schmerzhafte Wunde in mir heilen. In manchen Momenten dachte ich darüber nach, ob ein Leben alleine überhaupt einen Sinn machte. Nein, die Idee an einen Selbstmord hatte ich nicht. Ich verbot sie mir, da ich noch immer auf das Wunder hoffte und in diesem Augenblick für Smilla da sein musste.

Den Gedanken, einen letzten Versuch zu starten und Smilla zu zeigen, wie sehr ich sie liebte, trug ich die ganze Zeit in mir. Da ich jedoch die Worte der Ärzte und die Bitte von Smillas Eltern ebenfalls in mir trug, durfte ich diesen Versuch nicht angehen.

Dass ich es nun doch tat, lag an einem Telefonat mit Anja. Als ich erfuhr, dass ihre Tochter nach Sylt ging, um dort zu leben, um dort einen neuen Lebensabschnitt zu starten, konnte ich nicht anders. Es war unsere Insel. Es war der Ort, wo unsere einzigartige Liebe begonnen hatte, und es war das einzige Fleckchen Erde, das dafür geschaffen war, uns eine zweite Chance für unsere Liebe zu geben.

Nachdem ich mit Anja und Thomas alles besprochen und ihnen versichert hatte, dass ich nichts tun würde, was Smilla schaden würde, willigten sie ein. Selbstverständlich hielten wir vorher Rücksprache mit dem behandelnden Arzt sowie mit einem Spezialisten für Amnesie.

Wieder kullerten Tränen über meine Wangen.

Doch hier im Strandkorb liefen, zum ersten Mal nach langer Zeit, Tränen vor Glück über mein Gesicht. Der Anfang war geschafft. Ich wusste nur zu genau, dass die Aussicht darauf, dass sich mein sehnlichster Wunsch erfüllte, nur sehr gering war. Doch wie klein die Chance auch war, ich musste es versuchen.

Ich war bereit und gleich morgen wollte ich starten.

Vor vielen Jahren hatte ich es schon einmal geschafft. Warum sollte es mir nicht erneut gelingen, dass die Frau, die mich damals geliebt hatte, die mich jetzt aber weder wahrnahm noch kannte, sich abermals in mich verliebte?

Dass aus ihr und mir erneut ein WIR werden würde.

Seit einigen Wochen hatte ich bereits meinen Plan im Kopf, und ich wusste, dass ich alles geben würde, ihn umzusetzen.

Gerade als ich aufstehen wollte, erblickte ich über dem Meer eine Sternschnuppe. Während ich mir etwas wünschte, konnte ich mein Lächeln fühlen und den salzigen Geschmack meiner Freudentränen schmecken.


Tinka (Smilla)

„Guten Morgen, Smilla! Wie geht es dir heute?“, begrüßte Tinka mich, als ich am nächsten Vormittag zur Krankengymnastik kam.

„Gestern Abend tat das Knie ein wenig weh, aber heute ist es schon wieder gut. Ich war vielleicht zu lange am Strand spazieren.“ Tinka verzog ein wenig den Mund und nickte wissend.

„Okay, dann starten wir mal ganz vorsichtig auf dem Laufband heute.“ Sie deutete auf das Gerät und ging hinüber, um es einzustellen. Barfuß betrat ich das Band und Tinka schaltete es auf einer langsamen Gehfrequenz ein. Während ich lief, setzte sie sich neben mich auf einen großen Gymnastikball. Den Blick auf meine Beine gerichtet, unterhielt sie sich weiter mit mir und gab mir zwischendurch Anweisungen.

„Was gibt es denn sonst Neues bei dir? Hast du mal wieder mit deinen Eltern gesprochen?“ Tinka wusste um das etwas merkwürdige Verhältnis zu meinen Eltern. Ich hatte ihr erzählt, wie hin- und hergerissen ich oftmals war. Ich schwankte immer wieder zwischen schlechtem Gewissen, weil ich sie nur bedingt an mich heranließ, und der Akzeptanz, dass sie tatsächlich meine Eltern waren. Dazwischen, ihre Nähe zuzulassen und sie von mir zu stoßen, weil sie im Grunde doch Fremde für mich waren.

„Ja, wir haben gestern telefoniert. Sie wollen mich demnächst besuchen kommen.“

„Und? Wie fühlst du dich damit?“ Tinka schaffte es immer wieder, genau den Kern einer Sache zu treffen. Manchmal wunderte ich mich ein wenig. Sie war Physiotherapeutin, keine Psychologin, und durchschaute mich doch fast immer sofort. Wenn ich bei ihr ankam, spürte sie gleich, wie meine Stimmung war, und wenn es mir schlecht ging, bot sie mir ihre Hilfe, ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Ausheulen an.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich meine, ich bin hergezogen, um mich selbst zu finden. Oder zumindest das, was noch von mir übrig ist … Ich wollte hier zur Ruhe kommen und Abstand von ihnen gewinnen. Ich wollte neu anfangen und ich wollte es allein schaffen. Wieder auf eigenen Beinen stehen und mein Leben in die Hand nehmen. Die zwei sind wirklich lieb, aber manchmal fühle ich mich auch von ihrer Sorge um mich erdrückt. Vor allem von meiner Mutter.“

Tinka nickte wissend.

„Ja, kann ich mir vorstellen. Obwohl … nein, ich kann es mir nicht vorstellen. Das wird wohl niemand, der nicht dasselbe durchgemacht hat wie du. Aber wenn ich versuche, es mit deinen Augen zu sehen … Da sind zwei dir wildfremde Menschen, die vorgeben, deine Eltern zu sein. Natürlich sind sie es, aber du kannst es nicht nachprüfen, weil dir die Erinnerung fehlt, und du kannst es auch nicht fühlen. Zumindest nicht aus dir selbst heraus. Du hast nur Papiere, Urkunden, Fotos, denen du glauben musst. Und diese beiden Fremden glucken dann die ganze Zeit um dich herum und packen dich in Watte. Ich glaube, ich würde durchdrehen. Ich kann verstehen, dass du den Abstand von ihnen brauchst.“

Dankbar lächelte ich Tinka an, ja sie verstand mich wirklich. Auch wenn sie nicht in meiner Haut steckte, konnte sie sich doch sehr gut in mich hineinversetzen.

„Ja, und jetzt habe ich Sorge, was ist, wenn sie hier sind. Ich will nicht, dass sie ständig bei mir auf der Matte stehen. Dann hätte ich ja auch gleich dableiben können.“

Nachdenklich legte Tinka den Kopf schief.

„Meinst du denn, dass sie das machen?“, fragte sie. Einen Augenblick dachte ich über ihre Frage nach, dann schüttelte ich den Kopf.

„Nein. Eigentlich traue ich es ihnen nicht zu, und mein Vater meinte auch, dass mich das zu nichts verpflichten würde. Es gäbe ja genug zu erkunden hier auf Sylt.“

„Siehst du. Dann glaub ihm! Vertrau deinen Eltern, dass sie es auch so meinen. Es wird schon alles gut werden!“, beteuerte sie bestimmt. Dann erhöhte sie die Trittfrequenz, sodass ich in schnelles Gehen verfiel.

„Das sieht doch schon ganz gut aus“, meinte sie, als sie nach fünf Minuten das Gerät ausschaltete. „Jetzt leg dich doch mal bitte hier auf die Matte auf den Rücken.“ Tinka brachte den Gymnastikball mit und hielt ihn ein Stück über dem Boden gegen die Wand. „Die Füße kräftig hier reinstemmen und jetzt den Po hoch vom Boden, dass du nur noch auf den Schulterblättern liegst. Denk dran, der Ball darf nicht herunterfallen und du nicht umkippen. Ja, so ist es gut. Wenn du halbwegs sicher bist, versuch mal, den gesunden Fuß zu lösen. Halt den Ball nur mit dem anderen Bein.“

Ich schwitzte unter der Anstrengung, in dieser Position mein Gleichgewicht zu halten. Langsam nahm ich das linke Bein immer weiter zurück und schob gleichzeitig den rechten Fuß auf dem Ball weiter zur Mitte. Beinahe wäre ich abgerutscht, doch ich konnte mich gerade noch so fangen.

„Super! Das machst du großartig!“, lobte mich Tinka und setzte sich entspannt im Schneidersitz zu mir auf den Boden. „Und jetzt langsam absenken, bis der Po wieder auf dem Boden liegt. Kurze Pause und dann machen wir das Ganze noch einmal. Wenn du Schmerzen hast, sag Bescheid, ja?“

„Nein, alles gut. Es ist nur megaanstrengend.“ Ich drehte den Kopf auf die Seite und schaute zu Tinka auf, die verständnisvoll nickte.

„Na, klar ist das anstrengend. Du darfst nicht vergessen, wie schwer die Verletzungen an deinem Knie waren. Eigentlich kannst du froh sein, dass du schon wieder so relativ problemlos laufen kannst. Du bist echt eine Kämpferin.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Was bleibt mir denn anderes? Ich hab ja keine Alternative.“

Tinka legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht.

„Andere Leute in deiner Situation hätten aufgegeben. Aber du nicht! Du versuchst alles, um schnellstmöglich wieder auf die Beine zu kommen.“

Tränen stiegen mir bei ihren Worten in die Augen und ich schaute weg. So gern ich Tinka mochte und obwohl sie in den letzten Wochen zu einer Freundin für mich geworden war, wollte ich ihr meine Tränen nicht zeigen. Doch anscheinend war sie sensibler, als ich dachte. Ich konnte sie nicht täuschen, denn sie nahm mein Kinn und drehte mein Gesicht wieder zu sich herum.

„Was ist los?“, fragte sie mitfühlend. „Willst du darüber reden?“

Schniefend zuckte ich mit den Schultern.

„Ich weiß auch nicht. Ich meine, du hast ja recht. Ich gebe mein Bestes, um wenigstens meinen Körper wieder unter Kontrolle zu haben. Das Ding ist nur … Ich wünschte, es würde auch eine Art Training für meinen Kopf geben. Warum gibt es keine Möglichkeit, diese Scheißamnesie zu besiegen?“ Meine verzweifelten Tränen versiegten und in meinem Bauch ballte sich Wut zusammen. Wut auf wen auch immer, der der Meinung war, mir dieses Schicksal aufbürden zu müssen, an dem ich in so vielen Momenten fast zerbrach. Wut auf diesen beschissenen Autofahrer, der durch seinen Alkoholgenuss mein Leben zerstört hatte, nur weil er der Meinung war, auch nach diversen Bieren und Schnäpsen noch fahren zu können.

„Ich weiß es nicht …“ Traurig schaute Tinka mich an. „Aber nehmen wir es doch als einen Grund mehr, wenigstens das zu beeinflussen, was wir beeinflussen können. Lass uns gemeinsam zusehen, dass du wieder richtig fit wirst, ja?“

„Ja!“ Nach diesem einen Wort stemmte ich meine Füße wieder in den Ball und startete die nächste Runde meines Physio-Programms.

„Sag mal … Was hältst du davon, wenn wir heute Abend zusammen was trinken gehen?“, fragte Tinka, als meine Anwendung beendet war. In den letzten Wochen waren wir auch außerhalb der Physiotherapie ab und an etwas trinken gegangen und es hatte mir gutgetan. Tinka war eine der wenigen Menschen, die ich momentan in meinem Leben zulassen konnte. Sie war mir hier auf der Insel eine Freundin und eine Stütze geworden. Auch wenn ich noch immer fast alles mit mir selbst ausmachte, gab es doch auch Momente, in denen ich jemanden zum Reden brauchte. Bereits in einer der ersten Anwendungen hatten wir unsere Nummern ausgetauscht, und Tinka hatte mir versichert, dass ich mich jederzeit bei ihr melden konnte.

Schnell hatten wir festgestellt, dass uns noch mehr verband als meine Therapie. Auch Tinka war erst vor Kurzem auf die Insel gezogen und hatte hier noch nicht sonderlich viel Anschluss gefunden, daher freute sie sich, dass wir vom ersten Moment an auf einer Wellenlänge waren.

„Ja, gute Idee. Holst du mich ab? Dann können wir ja schauen, worauf wir Lust haben.“

Wir verabredeten uns für sieben Uhr am Abend, danach verabschiedete sich Tinka von mir, da ihr nächster Patient bereits wartete.


Der Inselführer (Jonas)

Bereits in Hamburg hatte ich alles vorbereitet. André, der nicht nur ein ehemaliger Fußballkollege, sondern auch ein guter Freund von mir war, arbeitete in einer Druckerei. Mit ihm zusammen erstellte ich ein kleines Heftchen, das als besonderer Inselführer gedacht war. Ganz genau zwei dieser Exemplare gab es und beide befanden sich hier auf Sylt. Genauer gesagt in meinem Apartment und um noch genauer zu sein, in dem kleinen Etui zusammen mit den Bildern von Smilla und mir.

Dieses kleine Heftchen sollte mir helfen, dass Smilla wieder den Weg zurück zu mir fand. Es handelte sich um kein wirklich umfangreiches Hilfsmittel und doch besaß es alles, was ich benötigte. Enthalten waren Smillas Lieblingsplätze hier auf Sylt. Zumindest die Plätze, die sie sich vor ihrem Unfall immer und immer wieder angesehen hatte. Gemeinsam waren wir häufig an diesen Orten gewesen, und so waren es nicht nur ihre, sondern inzwischen auch meine Lieblingsecken geworden.

Die Reihenfolge der zu besuchenden Plätze war nicht zufällig. Mein Plan war es, dass Smilla die Orte genau in der Reihenfolge aufsuchen würde, nach der das Heftchen aufgebaut war. Eine kleine Inhaltsangabe machte darauf aufmerksam, auf welcher Seite etwas über welchen Ort zu lesen war, und es gab kurze Beschreibungen dazu. Außerdem hatte ich noch andere Vorbereitungen getroffen. Dinge, die uns verbanden, sollten an einigen dieser Orte platziert sein. Auf die unterschiedlichsten Arten hatte ich bereits einige Ideen in meinem Kopf und wusste schon ganz genau, welche ich wo hinterlegen wollte. Ich hoffte von ganzem Herzen, dass sich aus der Verbindung zwischen den Orten und den Dingen aus unserer gemeinsamen Vergangenheit eine Erinnerung bei Smilla entwickeln würde.

Vielleicht gab es tatsächlich die Chance, dass sich meine große Liebe wieder an mich erinnern würde.

Ich wollte versuchen, immer kurz vor Smilla an den Plätzen zu erscheinen, um alles vorbereiten zu können. Bei einigen hoffte ich darauf, dass ich es schaffen würde, gleichzeitig mit ihr dort einzutreffen. Dass dies nicht einfach zu organisieren war, war mir klar. Doch ich hatte Zeit, und ich hatte mir vorgenommen, alles Menschenmögliche zu versuchen, damit es mir gelang.

Falls sich nicht alles in Smillas Leben verändert hatte, war meine Chance darauf, sie an den Orten anzutreffen, nicht wirklich schlecht. Wenn Smilla früher einen Reiseführer oder etwas Ähnliches in ihrer Hand gehabt hatte, arbeitete sie sich immer von vorne nach hinten durch. Ich wünschte mir sehr, dass sie dies auch mit meinem Inselführer machen würde, und hatte nun lediglich noch ein Problem.

Lediglich war eine lustige Umschreibung für das, was ich erreichen musste. Wie auch immer ich es arrangieren konnte, ich musste dafür sorgen, dass Smilla in den Besitz des kleinen Heftchens kam. Unzählige Ideen hatte ich bereits gehabt, die ich allerdings ebenso schnell wieder verworfen hatte, wie sie mir gekommen waren. Ich war mir sicher, dass mir irgendwann der Masterplan einfallen würde. Spätestens hier auf Sylt würde mich eine Idee anspringen. Zumindest hatte ich bis zu diesem Moment so gedacht. Vielleicht auch nur gehofft. Auf Sylt befand ich mich nunmehr seit gestern, und ich musste mir eingestehen, dass ich noch nicht annähernd eine Idee hatte, wie es mir gelingen sollte.

Als ich bereits im Fahrstuhl stand und die Türen dabei waren, sich zu schließen, zuckte meine Hand und ich hielt sie vor die Lichtschranke der Türschließanlagen. Mit schnellen Schritten ging ich zurück in meine Wohnung, öffnete das kleine Fach neben dem Bett und nahm die beiden Heftchen aus dem Etui. Sollte sich durch Zufall eine Möglichkeit ergeben, wollte ich mich nicht darüber ärgern, dass ich nicht vorbereitet war.

Mir war klar, dass ich weder heute noch an anderen Tagen erwarten konnte, Smilla zu treffen. Ich wusste nicht, was sie vorhatte. Außerdem hatten wir Sommer und die Insel war voller Touristen. Doch ich durfte darauf hoffen. Ja, zu hoffen war definitiv erlaubt!

Barfuß am Strand und mit den Füßen im flachen Wasser lief ich Wenningstedt entgegen. Dort angekommen ging ich den langen Holzsteg hinauf und setzte mich in den Außenbereich des Restaurants Gosch. Mit einem dampfenden Pott Kaffee vor mir ging mein Blick aufs Meer hinaus, während meine Gedanken unaufhörlich dabei waren, die richtige Idee zu suchen. Irgendetwas musste mir einfallen, und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich so unkreativ war. Es konnte doch, verdammt noch mal, nicht so schwierig sein, einer Frau, die Sylt liebte, ein Heftchen über diese Insel zu überreichen. Es ihr zumindest zukommen zu lassen. Wenn ihre Eltern hier gewesen wären, hätte es eine einfache Lösung gegeben. Leider war das Leben zuletzt aber nur selten einfach und leicht für mich.

Ohne eine Idee, dafür aber voller Tatendrang, machte ich mich auf den Weg zurück nach Westerland. Ich genoss das Gefühl, den Sand zwischen meinen Zehen zu spüren, und mit jeder Welle, die meine Füße umspülte, freute ich mich noch mehr darauf, Smilla wiederzusehen. Nur der Gedanke daran, in ihr wunderschönes Gesicht zu schauen und vielleicht einen Blick ihrer braunen Rehaugen einzufangen, machte mich glücklich. Wie gerne würde ich wieder ihre vollen weichen Lippen küssen, sie halten und beschützen dürfen.

Tatsächlich amüsierte ich mich ein wenig über mich selbst, dass ich mir solche Gedanken machte. Zunächst musste ich Smilla schließlich finden und versuchen, die eigens für sie erstellte Liebeserklärung in Heftchenform an sie zu übergeben.

Nachdem ich mich auf den Rückweg gemacht und Westerland erreicht hatte, setzte ich mich auf der Promenade auf eine der weißen Bänke. Ich rubbelte mir den Sand von meinen Füßen und genoss das Gefühl. Anschließend wollte ich meine Chucks anziehen und mich auf den Weg in ein Restaurant machen. Plötzlich ging Smilla an mir vorbei.

Ob es mir gelang, sie nicht staunend anzusehen, weiß ich nicht. Ich bemühte mich allerdings darum, da ich ihr nicht das Gefühl geben wollte, angestarrt zu werden. Nach vorne gebeugt und immer noch damit beschäftigt, meine Schuhe anzuziehen, versuchte ich mit meinen Augen, heimlich ihrem Weg zu folgen. Ich glaube, dass ich noch nie so lange zum Schuhanziehen benötigt hatte wie heute. Smilla war bestimmt schon zwanzig Meter von mir entfernt, als sie einen Blick über ihre linke Schulter warf. Mein Herz klopfte laut, als unsere Blicke sich trafen.

Als sie ihren Weg fortsetzte, holten mich sofort die Gedanken ein, dass dieser Blick bestimmt nicht für mich gedacht war. Ganz sicher war es nur Zufall, und ich bildete mir lediglich ein, dass sich unsere Blicke getroffen hatten.

Ich stand auf und folgte Smilla mit einem großen und sicheren Abstand. Sie sollte nicht merken, dass ein für sie fremder Mann hinter ihr herging. Gut fühlte ich mich nicht dabei, und doch sah ich keine andere Möglichkeit, da ich ihr Leben zunächst kennenlernen musste, bevor ich wieder ein Teil von ihm werden konnte. Ein Teil? Selbstverständlich war dies mein größter Wunsch. Allerdings ging es jetzt darum, eine Möglichkeit zu finden, Kontakt aufzunehmen. Kontakt, damit Smilla das von mir und André erstellte Heftchen in ihren Händen halten konnte. Ohne dass sie dieses Heftchen hatte, würde ich meinen ganzen Plan von vornherein knicken können.

Von der Promenade aus ging Smilla direkt in die Strandstraße. Ohne an irgendwelchen Schaufenstern innezuhalten marschierte sie schnurstracks bis zum Ende und bog auf der Höhe vom Hotel Stadt Hamburg rechts ab. Nach wenigen Metern erreichte sie die Sparkasse und ging hinein. Nachdem ich die Straßenseite gewechselt und mich auf eine Bank in der kleinen Parkanlage gesetzt hatte, konnte ich die gläsernen Eingangstüren der Sparkasse gut beobachten. Wenige Minuten später sah ich, wie Smilla wieder herauskam und rechtsherum in die Paulstraße abbog.

Dass genau in diesem Moment viele Autos an mir vorbeifuhren, war irgendwie klar. Endlich konnte ich die Straße überqueren und lief mit schnellen Schritten hinter Smilla her. An der Ecke zur Paulstraße blieb ich stehen und sah zunächst in sie hinein. Smilla hatte bereits einige Meter Vorsprung, daher konnte ich jetzt ebenfalls dort einbiegen und langsam hinter ihr hergehen. Am Ende der Straße bog Smilla nach rechts ab, und ich musste mich beeilen, damit ich sehen konnte, wohin sie ihr weiterer Weg führte.

Als ich ebenfalls das Ende der Straße erreicht hatte und nach ihr Ausschau hielt, war Smilla nicht zu sehen. Sie musste in irgendeinem der Shoppingläden oder Restaurants verschwunden sein. Ich bemühte mich, dass meine Suche wie das Schlendern eines Touristen aussah, und versuchte alles, um Smilla zu finden. Als ich in einem Klamottenladen ins Schaufenster sah und mich anschließend frustriert umdrehte, da ich sie noch immer nicht entdeckt hatte, zauberte sich mir ein Lächeln auf die Lippen. Auf der anderen Straßenseite der Fußgängerzone entdeckte ich ihr hübsches Gesicht im Fischrestaurant Blum.

Sie stand am Bestelltresen und sprach mit der Bedienung. Ich ging ebenfalls in das Restaurant hinein und bediente mich am Salatbuffet. Dies ging schneller, als ebenfalls eine warme Mahlzeit zu bestellen, und so stand ich kurze Zeit später mit einer Apfelsaftschorle in der linken und einem Salatteller in der rechten Hand da und sah mich um. Zwei Tische hinter dem Tisch, an dem Smilla jetzt saß, gab es einen freien Platz. Schnell ging ich hinüber, setzte mich hin und beobachtete die Frau, die alles für mich bedeutete. Als ich an ihr vorbeiging, pochte mein Herz so sehr. Es schlug so stark, dass ich glaubte, jeder hier im Restaurant würde es hören. Das Glas mit der Apfelsaftschorle war nicht mehr ganz voll, als ich endlich den freien Tisch erreicht hatte. Dafür war meine Hand nass und klebrig, da ich vor Aufregung wie wild zitterte. Endlich saß ich auf meinem Stuhl. Endlich war ich Smilla sehr nahe. Und doch war ich froh, dass ich in diesem Augenblick nicht mit ihr reden musste. Ganz bestimmt hätte ich kein einziges Wort herausgebracht. Ich war dermaßen aufgeregt, dass ich keinen vernünftigen Satz hätte sprechen können. Wie auch, ich konnte ja nicht mal einen normalen Satz denken.

Ganz langsam wurde ich ruhiger. Ich schaffte es sogar, ohne zu zittern, einen Schluck Schorle zu trinken. Während ich trank, waren meine Augen auf Smilla gerichtet.

Smilla saß mit dem Rücken zu mir. Wie damals immer aß sie auch heute ein Schollenfilet mit Bratkartoffeln. Neben ihr lag ein Buch mit den Sehenswürdigkeiten von Sylt. Außerdem hatte sie eine Landkarte von Sylt auf der Tischkante liegen. Während sie den Fisch zu sich nahm, warf sie parallel immer wieder Blicke in das Buch der Sehenswürdigkeiten. Als sie auf eine andere Seite umblätterte, stieß sie gegen die Landkarte und warf diese zu Boden.

Ein Geistesblitz übermannte mich. Mit einem schnellen Griff hatte ich eines der Heftchen aus der Innentasche meiner Jacke, die neben mir auf dem Stuhl lag, genommen und war aufgesprungen. Kniend neben Smillas Tisch faltete ich die auseinandergeklappte Landkarte zusammen und hob sie auf. Während ich Smilla in die Augen sah, gab ich ihr die Karte zurück und legte mein kleines Heftchen mit dazu.

„Danke schön. Das ist aber sehr lieb von dir.“

„Gern geschehen. Ich wünsch dir noch einen guten Appetit und viel Spaß auf Sylt.“

Als ich bereits wieder an meinem Tisch angekommen war und mit der Gabel in den Salat stechen wollte, drehte Smilla sich um.

„Das Heftchen hier gehört mir nicht.“

„Komisch. Ich dachte, es lag mit deiner Karte zusammen auf dem Boden. Vielleicht ist es ja etwas Interessantes. Dann behalte es doch einfach, es scheint ja niemand zu vermissen. Vielleicht ist es aus deiner Karte gefallen?“

„Sieht fast so aus. Ja, ich nehme es. Vielleicht gibt es ja ein paar interessante Tipps in dem Heftchen.“

„Das mach mal. Es scheint ja ganz spannend zu sein. Außerdem, wenn man schon auf Sylt ist, muss man auch ein wenig auf Kultur machen.“ Ich hoffte, sie mit meinen Worten neugierig zu machen.

„Ich lerne die Insel gerade neu kennen. Da wird mir dieses Büchlein vielleicht helfen. Also, danke noch mal und dir auch einen guten Appetit.“

Meinen Salat hatte ich schon lange aufgegessen. Trotzdem saß ich noch immer auf meinem Platz, da ich die Nähe zu Smilla genoss. Erst als Smilla ihre Syltutensilien zusammenschob und diese in ihrer Tasche verstaut hatte, stand ich auf und machte mich auf den Weg. Ich ging nicht den kürzesten Weg zum Ausgang, sondern steuerte in Richtung des Tisches, an dem meine Tussi, die leider nicht mehr wusste, dass sie einmal meine Tussi gewesen war, saß. Nachdem ich mich mit einem kurzen Tschüss verabschiedet hatte, blieb ich stehen, und mein Herz pochte, als sich unsere Blicke trafen. Smilla sagte nichts, schenkte mir aber ein vorsichtiges Lächeln, das dafür sorgte, dass ich wohlige Wärme in meinem Herzen spürte.

„Denk daran, dass es sehr viel mehr Freude macht, Sylt am frühen Morgen zu erforschen. Dann sind die meisten Touristen noch im Bett und man hat diese schönen Orte für sich alleine.“

Es war nur ein Nicken von ihr, das mir zeigte, sie hatte meine Worte gehört. Auch damals, als wir noch gemeinsam unsere Zeit auf Sylt verbracht hatten, waren wir immer frühmorgens auf Tour gewesen. Erfreut und aufgewühlt zugleich verließ ich das Restaurant und machte mich auf zum Strand. Auf dem Weg dorthin stöberte ich in einigen Krimskramsläden und besorgte mir die Dinge, die ich morgen früh brauchte. Es war nicht viel. Zwei Kleinigkeiten genügten und nach einer Dreiviertelstunde hatte ich sie auch bereits gefunden.

Komischerweise war ich mir sicher, dass Smilla gleich morgen damit beginnen würde, die Orte, die ich in dem Inselführer aufgeführt hatte, zu besuchen. Ebenso sicher war ich mir, dass sie genau die vorgegebene Reihenfolge einhalten würde. So war sie einfach, und ich wusste von ihren Eltern, dass Smilla nicht nur noch immer dieser herzensgute Mensch war wie vor ihrem Unfall, sondern auch, dass sie noch immer gerne nach festen Abläufen strebte. Auch wenn sich viel bei ihr verändert hatte, ihr Wesen war unangetastet geblieben.

Nach langer Zeit lag ich heute Abend mit einem kleinen Glücksgefühl in mir auf meinem Bett. Hier in dieser Ferienwohnung, in der auch Smilla und ich schon viele gemeinsame Wochen verbracht hatten und die glücklicherweise gerade frei gewesen war, schenkte mir das Leben einen kleinen Moment des Glücklichseins. Smilla hatte mir heute ein Lächeln geschenkt, wir hatten ein paar Worte gewechselt und sogar fast zusammen gegessen. Mein Vorhaben, ihr diesen kleinen Inselführer unterzujubeln, war mir ebenfalls gelungen.

Selbst wenn nicht mehr geschehen würde. Wenn es nur diese Momente waren, die wir gemeinsam erlebten, hätte sich meine Reise nach Sylt gelohnt. Alles, was jetzt kam, war eine Zugabe. Allerdings wusste ich, dass ich um diese Zugabe kämpfen musste. Ebenso wusste ich, dass es ein schwieriges Unterfangen werden würde. Doch ich war bereit und voller Tatendrang, diesen fast ausweglosen Weg zu gehen.

Ich freute mich sogar darauf!

Wann es das letzte Mal so gewesen war? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Doch es war ein schönes Gefühl, nach langer Zeit wieder einmal mit einem Lächeln auf den Lippen einzuschlafen.


Mein Heftchen (Smilla)

Nachdenklich verließ ich das Fischrestaurant und machte mich auf den Heimweg. Dieser Mann von eben ließ mich nicht los. Auch wenn ich sein Gesicht bereits wieder vergessen hatte, nicht einmal sagen konnte, welche Haarfarbe er gehabt hatte, war mir sein Verhalten doch in Erinnerung geblieben. Irgendetwas an ihm sprach mich an. Ich konnte mir selbst nicht erklären, was es war, doch als ich das erste Mal in seine Augen geschaut hatte, fühlte es sich an, als würde der Himmel sich erhellen. Es war wie an einem trüben grauen Tag, wenn sich plötzlich die Sonne durch ein Loch in den Wolken schob und ihre warmen Strahlen auf die Erde schickte.

Es war lieb von ihm gewesen, mir beim Einsammeln meiner Sachen zu helfen, die ich versehentlich vom Tisch gefegt hatte.

Es gibt ja direkt noch hilfsbereite Männer, dachte ich lächelnd, als ich in meiner Wohnung ankam und das kleine Heftchen zusammen mit meinen Schlüsseln auf die Kommode im Flur legte. In den letzten Wochen hatte ich mir einige Inselführer angesehen und hatte mir auch den einen oder anderen zugelegt. Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, dieses Heftchen in irgendeinem Laden gesehen zu haben.

Ich hatte bisher noch gar nicht weiter hineingeschaut, doch jetzt war ich neugierig, daher nahm ich es mit ins Wohnzimmer und legte mich damit auf meine Couch. Langsam blätterte ich das Heftchen durch.

Es war niedlich aufgemacht und animierte mich dazu, Seite für Seite zu studieren. Irgendwie fand ich es viel angenehmer als diese ganzen aufgeblähten und pompösen Inselführer, die sich bereits in meiner Wohnung befanden. Die anderen überforderten mich. Um diese durchzuarbeiten, würde ich eine Ewigkeit benötigen. Es waren einfach viel zu viele Orte dabei, die mich nicht wirklich interessierten. Hier war es anders!

Dieser kleine Inselführer war, so schien es mir zumindest auf den ersten Blick, wie für mich gemacht. Es gab keine Unmengen von Texten, die ich lesen musste. Die Bilder der Orte, die zu besuchen waren, erinnerten mich an wunderschöne Urlaubsfotos und nicht an diese typischen Prospektbilder, die mit Photoshop bearbeitet wurden, bis sie perfekt waren. Er war einfach und schlicht. Was allerdings nicht bedeutete, dass er billig wirkte. Allein am Papier war schon zu erkennen, dass es eine gute Qualität hatte. Als ich mich bis zum Ende vorgearbeitet hatte, ließ ich das Heftchen sinken und schaute aus dem Fenster auf meinen Balkon.

Bereits seit ich angekommen war, hatte ich mir vorgenommen, die Insel näher kennenzulernen. Ich wollte wissen, was es hier für Sehenswürdigkeiten gab, und mich mit den Gegebenheiten hier vertraut machen. Bisher hatte ich mich nicht getraut, alleine loszufahren und die Insel zu erkunden, mir fehlte die Selbstsicherheit dafür. Das musste ich jetzt endlich ändern! Da ich laut meinen Eltern früher oft hier auf Sylt gewesen war, hoffte ich ein kleines bisschen, dass es irgendeinen Ort hier auf der Insel gab, der vielleicht eine klitzekleine Erinnerung in mir auslöste. Ich wollte diese Flashbacks provozieren, die sofort wieder verschwanden, ohne dass ich das Bild in meinem Kopf dazu erfassen konnte. Vielleicht würde es irgendwann dazu führen, dass einer dieser Flashbacks einen Moment länger blieb, dass ich etwas erkannte oder ein Fitzelchen der Erinnerung blieb. Selbst wenn es nur dieses Gefühl eines Déjà-vus sein sollte, das ich dadurch hervorrief, wäre es immer noch ein kleiner Erfolg. Auf jeden Fall besser als diese Schwärze, die seit Monaten in meinem Kopf herrschte.

Pünktlich um sieben klingelte Tinka an meiner Tür, und ich drückte den Türsummer, um sie einzulassen. Ich ließ die Wohnungstür angelehnt und kehrte in mein Wohnzimmer zurück, um meine Handtasche zu holen.

„Hey du. Fertig?“, fragte Tinka, als sie in der Tür auftauchte.

„Ja, ich komme schon“, antwortete ich. Im Vorbeigehen sah ich auf dem Couchtisch das kleine Heftchen liegen. Einem spontanen Impuls folgend, steckte ich es ein. Ich wusste, ich würde es heute Abend nicht brauchen, immerhin wollten wir nur etwas trinken gehen, doch trotzdem hatte ich das Bedürfnis, es mitzunehmen.

Als ich eine halbe Stunde später mit Tinka im Diavolo bei einem Bier saß, war ich in Gedanken noch immer bei diesem Heftchen. Was war es nur, was mich daran so ansprach? Oder war es vielleicht gar nicht so sehr das Heftchen, sondern vielmehr der Mann aus dem Fischrestaurant? Irgendwie verband ich den kleinen Inselführer mit ihm. Wahrscheinlich, weil er mir indirekt geholfen hatte, das Heft zu entdecken. Nachdem ich noch einmal darüber nachgedacht hatte, wie es zwischen meine Unterlagen kommen konnte, war ich zu der Überzeugung gelangt, dass es wirklich aus der Inselkarte gefallen sein musste. Ich hatte mir diese Karte erst am Vortag besorgt, wahrscheinlich war der Prospekt eine Beigabe zu der Karte. Im Restaurant hatte ich die Landkarte das erste Mal ausgepackt, daher konnte ich das Heftchen darin vorher nicht gesehen haben. Ja, das schien mir die plausibelste Erklärung zu sein.

„Was ist los mit dir? Du bist ja total abwesend. Immer noch wegen deiner Eltern?“ Tinka riss mich mit ihrer Frage aus meinen Überlegungen.

„Äh … nein. Nicht so richtig. Ich hab gerade an etwas anderes gedacht.“ Ich griff nach meinem Bier und nahm einen Schluck, während Tinka sich neugierig vorbeugte, die Unterarme auf den Tisch gestützt.

„Und an was, wenn ich fragen darf?“, hakte sie nach.

Nachdenklich drehte ich das Bierglas auf dem Tisch hin und her und schaute zu, wie sich die helle Flüssigkeit darin bewegte.

„Ach, ich hatte vorhin eine etwas merkwürdige Begegnung. Aber das ist im Moment ja nichts Besonderes. Mein ganzes Leben ist merkwürdig.“ Ich verzog den Mund zu einem ironischen Grinsen und zwinkerte meiner Freundin zu.

„Kann sein, aber trotzdem hab ich das Gefühl, dass diese Begegnung irgendwie Eindruck bei dir hinterlassen hat. Also erzähl, was ist los?“

Nachdem ich noch einen Schluck von meinem Bier genommen hatte, lehnte ich mich zurück.

„Nachdem ich von dir kam, war ich noch beim Fischladen mittagessen. Da war so ein Typ …“ Ich brach ab, weil ich nicht so recht wusste, was ich über ihn sagen sollte.

„Oh, jetzt wird es interessant. Ein Typ also?“ Tinka strahlte mich an, und ich wusste genau, was in diesem Moment in ihrem Kopf vorging. Ja, wäre ich eine normale Frau, wäre das wahrscheinlich auch das Naheliegendste, so wie ich meine Erzählung angefangen hatte. Aber ich war nicht normal …

„Nicht das, was du denkst.“ Ich lachte auf und erzählte weiter.

„Ich hab während des Essens in meinen Reiseführern geblättert, weil ich in den nächsten Tagen endlich anfangen will, die Insel zu erkunden. Dann hab ich Schussel meine Sachen vom Tisch gefegt. Ich bin aber auch manchmal noch so ungeschickt!“ Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Ich wusste, dass auch diese motorischen Aussetzer, die ich als Ungeschicklichkeit bezeichnete, eine Folge meiner Verletzungen war.

„Na ja, jedenfalls war er auf einmal neben mir. Bevor ich mich bücken konnte, hockte er auf dem Boden und sammelte meinen Kram auf.“

Tinka hatte den Kopf in die Hand gestützt und strahlte mich an.

„Das ist aber lieb von ihm. Vielleicht wollte er dich ja ansprechen und das war seine Gelegenheit.“ Kopfschüttelnd lachte ich auf.

„Nein, ganz sicher nicht! Er hat mir meine Sachen auf den Tisch gepackt und hat sich wieder an seinen Platz gesetzt. Wenn er auf eine Gelegenheit gewartet hätte, hätte er doch gefragt, ob er sich zu mir setzen darf.“

„Hm … stimmt. Auch wieder wahr“, warf Tinka ein und klang ein wenig enttäuscht. Ich wusste, Tinka hatte eine ziemlich schlimme Zeit hinter sich. Einer der Gründe, warum sie nach Sylt gezogen war und noch etwas, was uns verband. Wir beide trugen Wunden in uns, die wir hofften, hier heilen zu können. Trotz ihrer Vorgeschichte glaubte Tinka, im Gegensatz zu mir, noch immer an die eine große Liebe. Ich hoffte sehr, dass sie sie irgendwann finden würde. Für mich war das Thema Liebe nicht existent, ich hatte ganz andere Sorgen, als mich auf einen Mann einlassen zu können oder wollen. Trotzdem löste allein der Gedanke an ihn ein warmes Gefühl in meinem Bauch aus. Immer wieder musste ich an ihn denken und daran, wie lieb es von ihm gewesen war, mir zu Hilfe zu eilen. Ich konnte nicht damit umgehen, so etwas kannte ich nicht, daher schob ich den Gedanken an ihn vehement beiseite.

„Schau mal, was ich heute gefunden hab. Ist das nicht süß?“ Um abzulenken, zog ich das kleine Heftchen aus der Tasche und schob es über den Tisch zu Tinka.

„Das hab ich ja noch nie gesehen. Oh, die Bilder sind ja toll! Da will man ja am liebsten sofort losfahren.“ Begeistert blätterte Tinka durch die Seiten. „Wo hast du das denn her?“

„Es muss bei der Karte von Sylt dabei gewesen sein. Ich hab es selbst erst entdeckt, als der Typ im Restaurant meine Sachen wieder aufgehoben hatte. Die Karte hatte sich beim Sturz vom Tisch komplett auseinandergefaltet – ich schätze, dabei ist es rausgefallen.“

„Das ich ja echt cool! Wo willst du anfangen?“ Nachdem Tinka sich alles angesehen hatte, schob sie mir das Heftchen zurück.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich mich überhaupt danach richten sollte. Ich meine, ja, die Bilder sind toll, aber irgendwie … Ich kann es gar nicht so recht beschreiben. Ach, ich bin einfach unsicher.“ Wie sollte ich meiner Freundin erklären, dass dieses Heftchen mich an den Typen erinnerte? Wie sollte ich ihr begreiflich machen, wie es sich für mich anfühlte? Ich erinnerte mich an den Mann aus dem Restaurant und tat es doch nicht. Meine Sorge war, wenn ich mich nach diesem Heftchen richtete, würde ich ihn nicht wieder aus dem Kopf bekommen. Einen Mann, den ich nicht wiedersehen würde. Und selbst wenn doch – ich würde ihn nicht erkennen. Er konnte hier am Nebentisch sitzen, ohne dass ich es bemerkte. War er vielleicht sogar hier? War es der Typ mit dem grauen Schnäuzer drei Tische weiter? Oder der junge Blonde, der aussah, als hätte er gerade erst Abi gemacht? Ich schob die Gedanken beiseite und widmete mich wieder meiner Freundin. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, was die Entdeckung des Heftes und dieser Mann, der für mich kein Gesicht hatte, in mir ausgelöst hatten.

Als ich abends in meinem Bett lag und kurz vor dem Einschlafen war, dachte ich an Tinkas Worte zurück. Beim Abschied war sie noch einmal auf diesen Inselführer gekommen.

„Fang einfach mit dem ersten Punkt an. Wenn es dir nicht gut geht dabei, dann kannst du jederzeit abbrechen und nach Hause fahren. Hör auf deinen Bauch, er wird dir schon das Richtige sagen.“

Ja, vermutlich hatte sie recht. Ich konnte mir noch so sehr den Kopf zerbrechen, was passierte, wenn ich mit diesem Heftchen loszog. Ich würde es nicht herausfinden, wenn ich es nicht versuchte. Ich beschloss, gleich am nächsten Morgen mit dem ersten Ziel des Heftchens anzufangen und mich von vorne nach hinten durchzuarbeiten.


Die dicke Wilhelmine (Jonas)

Mit einem Becher Kaffee in der Hand stand ich an diesem Morgen auf meinem Balkon und schaute auf die Wellen. Selbstverständlich hatte ich mir vorsichtshalber einen Wecker gestellt. Obwohl mir klar war, dass ich ganz sicher automatisch wach werden würde, wollte ich auf Nummer sicher gehen, denn ich wollte auf keinen Fall mein Vorhaben gefährden. Natürlich war ich bereits weit vor dem Weckerklingeln wach und musste daher jetzt vom Balkon zu meinem Bett laufen, um den Wecker auszustellen. Es war 7:30 Uhr und der Tag konnte, da ich meinen ersten Kaffee bereits getrunken hatte, starten. Während ich unter der Dusche stand, hatte ich ein Gefühl von Vorfreude, das ab und an durch Nervosität abgelöst wurde. Eine Stunde später verließ ich meine Ferienwohnung, natürlich nicht, ohne mich zu vergewissern, ob ich alles dabeihatte, und machte mich auf den Weg. In der Friedrichstraße war noch nicht viel los, als ich sie hinauf in Richtung Bahnhof ging. Als ich die erste Querstraße überquert hatte, war ich an meinem Ziel angelangt. Doch nicht nur das. Auch meine Nervosität war gewichen. Leider der Angst, ob ich auch an alles gedacht hatte. War ich wirklich gut genug vorbereitet? Und überhaupt, war mein Heftchen wirklich so gut, dass es Smilla neugierig gemacht hatte?

Vor mir befand sich ein Brunnen und in diesem Brunnen wiederum befand sich die erste Station meines kleinen selbst erstellten Reiseführers.

Die dicke Wilhelmine saß als Bronzefigur in diesem Brunnen und war, wie sie es immer tat, dabei, sich zu waschen. Eine kleine dicke Frau, splitterfasernackt und mit einem Schwamm in der Hand, war einer jener Orte, an denen Smilla und ich immer wieder einen Heidenspaß gehabt hatten. Eigentlich war die Wilhelmine nichts Besonderes. Für mich als Kunstbanausen sowieso nicht und auch für Smilla hatte die Figur an sich keine große Bedeutung. Die Bedeutung für diese Figur haben wir selbst aus ihr gemacht. Als wir an einem Abend Hand in Hand einen Spaziergang gemacht hatten und vor der dicken Wilhelmine stehen geblieben waren, war es Smilla, die damit anfing, mich zu ärgern.

Genau wie ich trug die Wilhelmine ständig eine Mütze. Wir alberten herum, bis ich schlussendlich zu ihr ins Wasser stieg und Smilla ein Foto von uns beiden machte. Selbstverständlich kam Smilla ebenfalls nicht an dem Kelch vorbei, einige Minuten später selbst barfuß und mit hochgekrempelter Hose, neben der Wilhelmine im Wasser zu stehen. Ich fand, dass die dicke Bronzefigur ebenfalls eine Tussi war, genau wie die Frau neben mir. Wäre sie keine, würde sie sich ganz sicher nicht den ganzen Tag lang mit einem Schwamm waschen. Die Bilder von uns beiden, auf denen wir jeweils mit der dicken Wilhelmine abgebildet waren, verewigten wir bei uns zu Hause im Badezimmer.

Heute stand ich wieder hier.

Smilla war nicht zu sehen, und ich hoffte und ging davon aus, dass sie auch noch nicht hier gewesen war. Ein paarmal warf ich Blicke nach links und rechts, dann zog ich meine Flip-Flops aus und stieg in den Brunnen, um zu der Bronzefigur zu gelangen. Neben dem großen Zeh ihres rechten Fußes war eine Lücke. In dieser Lücke befestigte ich einen Lippenstift und einen Nagellack, weil Smilla zu besonderen Anlässen immer beides benutzt hatte. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ich sie deshalb als kleine Tussi aufgezogen hatte. Sie ärgerte sich manchmal sogar darüber. Doch da musste sie durch. Ganz sicher war sie eher eine Anti-Tussi, doch ihr Spitzname blieb. Ja, er blieb damals ebenso wie unsere Liebe. Ich hatte es zu Hause schon vorbereitet und die beiden Utensilien so miteinander befestigt, dass ich sie jetzt lediglich über den großen Zeh der dicken Wilhelmine hängen musste. Direkt darüber, gegen Wilhelmines linke Hand gelehnt, steckte ich eine Postkarte. Auf der Postkarte war nichts außer einer großen Zicke zu erkennen. Einen Text hinterließ ich auf der Rückseite der Karte nicht. Zum einen wollte ich Smilla nicht überfordern, und zum anderen glaubte ich nicht daran, dass sie in den Brunnen steigen würde, um ihre Neugierde, falls sie denn überhaupt neugierig werden würde, zu befriedigen.

Als ich fertig war, nahm ich an einem Tisch Platz, der zu dem kleinen Bäcker nebenan gehörte. Vor mir lag ein Marzipanhörnchen auf einem Teller und daneben dampfte ein Pott mit heißem Tee. Immer wieder ging mein Blick über den Platz bis hin zu der kleinen Querstraße, über die ich selbst eben hierhergekommen war. Nach und nach wurde es voller, da immer mehr Urlauber ihre Betten verlassen und ihren Tag gestartet hatten. Einige von ihnen blieben stehen und sahen sich die verzierte Wilhelmine an. Ich hoffte, dass niemand auf die Idee kam, in den Brunnen zu steigen und meine symbolischen Verzierungen zu entfernen. Um einiges mehr hoffte ich allerdings darauf, dass ich endlich die Frau entdecken würde, für die ich diesen Unfug angestellt hatte.

Über eine halbe Stunde saß ich inzwischen auf meinem Platz und beobachtete das Treiben. Kurz bevor ich aufgeben wollte, hörte ich eine Stimme.

„Das Mandelhörnchen solltest du lieber aus der Sonne nehmen.“ Erschreckt drehte ich mich um und sah direkt in die wunderschönsten braunen Augen der Welt. Smilla lächelte und deutete auf meinen Teller, auf dem die Schokoenden meines Hörnchens bereits geschmolzen waren. Eine braune Soße hatte sich über den Teller verteilt, und ich musste zugeben, dass es nicht wirklich appetitlich aussah. Ganz sicher war ich mir außerdem, dass mein Tee inzwischen ungenießbar war. Immerhin befand sich der Teebeutel bereits fast 40 Minuten im Becher.

Beides war mir in diesem Moment scheißegal. Smilla war da, und was noch viel schöner war, sie hatte mich tatsächlich von sich aus angesprochen. Sie hatte unser gestriges Treffen nicht vergessen. Warum es so war, konnte ich mir nicht erklären. Ich wollte es mir aber auch gar nicht erklären, da ich in diesem Moment ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir trug. Meine Handinnenflächen waren feucht. Fast so, als hätte ich mir gerade die Hände gewaschen und vergessen, sie mit Handtuchpapier abzutrocknen. Nachdem ich sie mir in meiner Hose abgewischt hatte, zitterten sie nur noch. Ein angenehmes Zittern, das mir abermals deutlich meine intensiven Gefühle für Smilla zeigte. Es war ein Zeichen, das ich nicht gebraucht hätte. Selbstverständlich war ich mir dieser Gefühle schon vorher bewusst gewesen. Trotzdem war dieses Zittern, gepaart mit meinem Herzklopfen, ein wundervolles Gefühl.

„Entschuldige bitte, dass ich dich so einfach angesprochen habe. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass wir uns schon mal gesehen haben.“

„Ja, das haben wir. Ich war der Typ, der gestern im Restaurant Blum die Karte aufgehoben hat.“

„Bei Blum?“

„Ja. Du hattest deine Reiseführer vom Tisch gefegt. Erinnerst du dich nicht?“ Sekunden später ärgerte ich mich bereits über meine Sätze. Wie ein Elefant im Porzellanladen hatte ich mich benommen. Ich Vollpfosten hatte sie direkt auf ihren wunden Punkt angesprochen. Tatsächlich hatte ich es vor lauter Aufregung hinbekommen, unsere Begegnung direkt mit einem völlig blödsinnigen Satz zunichtezumachen. Oder gab es noch eine Chance für mich? Schnell musste ich das Thema wechseln.

„Magst du auch einen Tee? Oder lieber einen Kaffee?“

„Ein Tee wäre toll.“ Eine Reaktion auf meinen überflüssigen Satz zu gestern kam nicht. Anhand ihres Gesichtsausdrucks konnte ich leider auch nicht erkennen, ob sie sich an unser gestriges Treffen erinnern konnte. Meine Einladung, neben mir Platz zu nehmen, nahm Smilla aber glücklicherweise an, und so machte ich mich auf den Weg in den Laden, um zwei Becher Tee zu bestellen.

Als ich mit zwei Teebechern aus der kleinen Bäckerei zurückkam, war Smilla verschwunden. Erst mit meinem zweiten oder dritten hektischen Blick erkannte ich, dass Smilla vor dem Brunnen stand und sich die dicke Wilhelmine ansah.

Einige Minuten stand sie dort, und ihr Blick wich ebenso wenig von der Bronzestatue wie der meinige von ihr. Regungslos, fast ebenfalls wie eine Statue, stand Smilla vor dem Brunnen und nur zu gerne hätte ich in diesem Moment ihre Gedanken gelesen. Selbst auf diese Entfernung konnte ich erkennen, wie angespannt sie war, und überlegte, ob ich zu ihr hinübergehen sollte.

Doch dann lockerte sich ihr Körper wieder etwas und sie ging los. Selbst über diese Entfernung konnte ich ihr leichtes Humpeln erkennen. Ihr Weg führte sie zunächst über den Platz, dann über die Querstraße und schließlich die Friedrichstraße hinauf in Richtung Strand. Ohne sich umzudrehen und ohne einen Ton zu mir zu sagen, verschwand sie. Als Smilla außer Sichtweite für mich war, stellte ich die beiden Becher auf den Tisch und verließ die Szenerie ebenfalls. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich traurig oder mehr enttäuscht war. Vielleicht war ich aber auch einfach wütend auf mich selbst.

War es ein Fehler von mir gewesen, dass ich Stücke aus unserer Vergangenheit auf der Wilhelmine platziert hatte? Oder waren es meine Worte zu gestern? Hatte ich alles, was ich mir gestern aufgebaut hatte, wieder zunichtegemacht?

Vielleicht konnte Smilla aber auch gar nichts mit meinen Zeichen anfangen? Lebte sie einfach in ihrer eigenen Welt und hatte völlig vergessen, dass ich mit zwei Bechern Tee auf sie wartete?

Fragen über Fragen schwirrten durch meinen Kopf, und ich war froh, als ich wenige Minuten später in meinem Zimmer auf dem Bett lag.

Ich weinte bittere Tränen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ob es überhaupt weitergehen konnte?


Feuerwerk (Smilla)

In den letzten Wochen musste ich schon häufiger an diesem Brunnen vorbeigekommen sein, er lag in der Westerländer Innenstadt, doch ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich musste blindlings daran vorbeigelaufen sein. Das wollte ich heute ändern. Bereits von Weitem konnte ich das rechteckige Brunnenbecken mit der darin sitzenden Frau erkennen, die sich gerade einen Fuß wusch. Sie sah lustig aus und ihr Anblick zauberte mir ein Lächeln auf das Gesicht.

Als ich näher kam, stockte ich. Im Außenbereich einer Bäckerei saß ein Mann und starrte völlig fasziniert auf die dicke Wilhelmine. Okay, vermutlich ein Tourist, der genau wie ich die Sehenswürdigkeit betrachtete. Nichts Ungewöhnliches, es war Sommer und die Insel von Touristen bevölkert. Und doch ließ mich sein Anblick nicht los. Langsam näherte ich mich seinem Tisch und mit jedem Schritt wurde ich mir sicherer. Mein Herz klopfte laut und schnell, als mir etwas klar wurde. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Ich wusste nicht, wann und wo es gewesen war, doch ich wusste auf einmal, dieses Gesicht kannte ich.

Noch immer ließ er den Brunnen nicht aus den Augen und schien völlig vertieft in seine Betrachtungen. Ich atmete tief durch und nahm all meinen Mut zusammen, um ihn anzusprechen. Wenn mein Kopf sich an ihn erinnerte, wollte ich diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Vielleicht würde sich so auch gleich erklären, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte.

„Das Mandelhörnchen solltest du lieber aus der Sonne nehmen.“ Ich sagte das Erstbeste, was mir durch den Kopf schoss. Erschrocken schaute er mich an, anscheinend hatte er nicht mitbekommen, wie ich mich genähert hatte.

Schnell erklärte ich ihm, warum ich ihn einfach so angesprochen hatte, und nur ein paar Sekunden später hatte sich geklärt, woher ich ihn kannte.

Er war der Mann aus dem Fischrestaurant. Der Mann, dessen Gesicht ich nicht in der Lage gewesen war, mir wieder vor Augen zu rufen, und der mich doch seit gestern in meinen Gedanken begleitete.

Ich freute mich sehr über diesen Zufall, ihn wiederzutreffen. Doch noch viel mehr freute ich mich über mich selbst. Es gab eine weitere Person, die mein kaputtes Hirn der Meinung war, sich merken zu müssen! Diese Erkenntnis stimmte mich unglaublich zuversichtlich, ja, fast schon euphorisch. Bedeutete es womöglich, dass zumindest diese Gesichtsblindheit nachließ? Dass mein Gehirn eine weitere Funktion wieder aufgenommen hatte? Ich hoffte es so sehr! Und ich war überzeugt, dass ich den Mann vor mir auch nicht wieder vergessen würde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752122466
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Mann Frau Leidenschaft Drama Freundschaft Nordsee Sylt Syltliebe Liebe Insel Humor

Autoren

  • Ben Bertram (Autor:in)

  • Kerry Greine (Autor:in)

Ben Bertram ist ein Hamburger Jung. Er erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er pflegt. Er verbringt viel Zeit auf der Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Kerry Greine ist Autorin aus Leidenschaft. Sie ist eine Träumerin, Bloggerin, Tänzerin und emotionale Chaotin. Ein Dorfkind mit großer Liebe zu Hamburg. So viel Zeit wie möglich verbringt sie mit ihrer "Wauz" auf Sylt, denn im Herzen ist sie ein Inselkind.
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Titel: Lieblingszicke