Lade Inhalt...

Millionär wider Willen

Gestrandet in Hamburg

von Ben Bertram (Autor:in) Kerry Greine (Autor:in)
196 Seiten

Zusammenfassung

Weit weg von der elitären Hamburger Gesellschaft lebt Sid auf Fuerteventura seit sechs Jahren den Traum seiner eigenen Surfschule. Als er jedoch wegen eines Todesfalls in der Familie zurück nach Deutschland muss, stellt seine große Erbschaft das Leben des Millionärs wider Willen auf den Kopf. Durch einen Aushilfsjob lernt Candela Sid kennen. Doch ihre Erfahrung hat sie vorsichtig werden lassen – schließlich zählt für Reiche nur das Geld und irgendwann wird er an ihr das Interesse verlieren. Nichtsdestotrotz ist Candy auf eine nie gekannte Weise von Sid fasziniert und auch sie lässt ihn nicht kalt. Wie aber sollen die beiden es schaffen, ihre Liebe zu erhalten? Immerhin will Sid bald zurück nach Fuerteventura. Und dann ist da noch Candelas siebenjähriger Sohn. Kann sie Mateo eine solche Veränderung zumuten? Eine Millionärsstory, die so gar nichts mit Aschenputtels Traum zu tun hat, trotzdem glitzert und zu Tränen rührt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ilse

Während ich in der brütenden Mittagssonne in meinem Auto saß und hoffte, dass sich der Stau vor mir schnell auflöste, wanderte mein Blick immer wieder zu der Uhr auf dem Armaturenbrett. 12:53 Uhr. Eigentlich sollte ich in spätestens zwanzig Minuten zurück auf dem Gutshof sein, wo ich arbeitete, aber das konnte ich mir wohl abschminken. Selbst ohne Stau hätte ich mindestens 25 Minuten gebraucht, und ich musste vorher noch die letzte Hofkiste mit Obst und Gemüse ausliefern, die sich hinten im Lieferwagen befand.

Mit Blick auf den Verkehr überlegte ich, was heute los sein könnte. An einem Donnerstag um diese Uhrzeit waren die Straßen hier normalerweise frei. Gab es irgendwo etwas umsonst? Oder wo wollten die Leute alle hin? Hatte ich irgendetwas verpasst, dass die Autos auf diese Strecke umgeleitet wurden? War irgendwo eine Baustelle? Ein Unfall? Oder war womöglich mal wieder eine alte Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden worden, die entschärft werden musste? All das wären Möglichkeiten gewesen. Vielleicht war aber auch einfach nur das Wetter schuld.

Immerhin hatten wir heute knapp 30 Grad und strahlenden Sonnenschein – was in Hamburg Ende April schon mehr als ungewöhnlich war. Wahrscheinlich hatte die halbe Einwohnerschaft beschlossen, das Wetter zu nutzen. Viele hatten sicher früher Feierabend gemacht und waren auf dem Weg an den Elbstrand, der von hier nicht weit entfernt lag. Ich konnte es verstehen. Ich hätte mich auch am liebsten in den Sand gelegt, die Möwen und Schiffe beobachtet und einfach den Tag genossen. Mit dem leisen Plätschern der Wellen im Hintergrund mal nichts tun müssen und die Gedanken schweifen lassen.

Stattdessen musste ich arbeiten, mich in einem Lieferwagen durch Hamburgs überfüllte Straßen quälen und Hofkisten ausliefern. Zum Glück war das nur einmal in der Woche meine Aufgabe und ich hatte ansonsten andere Sachen zu tun bei der Arbeit.

Langsam schob sich die Wagenkolonne vorwärts. Noch ungefähr hundert Meter, dann musste ich von der Hauptstraße abbiegen, um zur Villa der von Globedanz’ zu kommen, meiner letzten Auslieferung für den heutigen Tag. Blankenese, wo diese Villa sich befand, war so gar nicht meine Gegend. Natürlich sahen die Häuser der Reichen und Schönen wirklich schick aus, aber wohnen wollte ich hier nicht. Diesen Teil meines Lebens hatte ich weit hinter mir gelassen, und ich wollte nie wieder dahin zurück. Nein, meine kleine Wohnung war alles, was ich brauchte.

Endlich konnte ich aus der Schlange ausscheren und mich auf die Abbiegespur einordnen. Gleich würde ich da sein. Innerlich überlegte ich bereits, ob es irgendwelche Schleichwege gab, auf denen ich Blankenese wieder verlassen konnte, falls es nachher noch immer so voll wäre. Ich hatte keine Lust, mich erneut in diesen Stau einzureihen.

Seufzend stellte ich den Motor aus, als ich vor dem Lieferanteneingang der Villa stand. Als ich ausstieg, spürte ich die heiße Sonne, die auf meinen nackten Armen brannte. Schnell lud ich die Sackkarre aus dem hinteren Teil des Lieferwagens und hob die schweren Kisten darauf. Die Klimaanlage des Wagens funktionierte nicht, und wenn das Obst und Gemüse noch länger im überhitzten Wagen blieb, würde es Schaden nehmen. Das konnte und wollte ich nicht verantworten. Immerhin war das Gut, für das ich arbeitete, für seine gute Qualität bekannt und hatte einen Ruf zu verlieren.

Einen Ruf, der sich nicht nur auf das Geschäft, sondern wahrscheinlich auch auf unsere sozialen Projekte auswirken würde. Das war der Teil, der mir ganz besonders am Herzen lag. Mein persönliches Steckenpferd und einer der Hauptgründe, warum ich diesen Job vor anderthalb Jahren begonnen hatte.

„Hallo, Candela. Haben Sie alles dabei, was wir bestellt haben?“, begrüßte mich Ilse, die Haushälterin der von Globedanz’, die in diesem Moment aus der Tür trat.

„Ja, es dürfte nichts fehlen. Aber schauen Sie gern noch mal durch. Diese Woche war es ja doch um einiges mehr als sonst.“ Ich brachte die Kisten direkt in die Küche und hievte sie auf die breite Arbeitsfläche.

„Wir haben eine große Feier am Wochenende. Herr von Globedanz feiert seinen Geburtstag.“ Strahlend erzählte Ilse mir, welche Torten sie für ihren Arbeitgeber backen wollte und was es zu essen geben würde. Man sah genau, wie sehr sie ihren Job liebte, sie ging in ihrer Tätigkeit als Haushälterin der Villa völlig auf und war mit Leib und Seele dabei. Ich kannte sie mittlerweile, seit ich auf dem Gut angefangen hatte zu arbeiten, und im Laufe der letzten anderthalb Jahre war sie mir ein wenig ans Herz gewachsen. Wenn ich hier war, bekam ich immer einen Kaffee, und während Ilse meine Lieferung durchschaute, plauschten wir ein bisschen. Ich wusste mittlerweile so einiges über diese alteingesessene Anwaltsfamilie.

„Kommt der jüngere Sohn denn auch? Oder lässt er sich wieder nicht blicken?“, fragte ich und lehnte mich mit meinem Kaffeebecher in der Hand gegen die Arbeitsfläche. Obwohl ich unter Zeitdruck stand, versuchte ich, mich zu entspannen. Ich musste eh warten, bis Ilse fertig war. Warum sollte ich deswegen nervös oder sogar genervt sein? Da sah ich die Zeit, die ich hier herumstand, doch lieber als eine kleine Auszeit an.

„Nein, Siegfried wird bestimmt nicht kommen. Ach, Candela, das ist so schade! Ich meine, ich weiß, sein Vater und er haben sich schon vor Jahren überworfen, aber irgendwie hatte ich immer gehofft, er würde eines Tages zurückkehren und sich mit seinem Vater versöhnen. Doch das wird wohl nicht geschehen. Die beiden sind solche Sturköpfe! Keiner von ihnen ist bereit, den ersten Schritt zu gehen.“

„Meinen Sie denn, Herr von Globedanz würde das überhaupt wollen? Dass sein Sohn zurückkehrt?“, fragte ich nach. Obwohl ich mit dieser Oberschicht nichts mehr zu tun hatte und auch nie wieder etwas zu tun haben wollte, war ich doch neugierig. Es war ein bisschen wie eine wöchentliche Soap im Fernsehen. Man wusste nie, was als Nächstes geschah, und wollte wissen, wie es weiterging. Gerade die Geschichte mit dem verstoßenen Sohn interessierte mich. Zeigte sie mir doch, dass auch wohlhabende Leute ihre Probleme hatten, die mit Geld nicht zu lösen waren. Dass ich damals, als ich selbst noch eine reiche Ehefrau gewesen war, kein Einzelfall war. Dass die menschlichen Abgründe auch vor der Oberklasse nicht haltmachten.

Nachdenklich nahm Ilse einen der großen Blattsalate aus der Kiste und schaute mich an.

„Ich weiß es nicht. Nein, vermutlich würde der alte Herr ihm die Tür vor der Nase zuknallen. Aber trotzdem … Ich meine, sie sind eine Familie. Da sollte man zusammenhalten. Auch wenn Siegfried schon immer anders war als der Rest. Es muss doch eine Möglichkeit geben, dass die zwei sich wieder vertragen.“

Ich spürte, wie sehr dieses Thema Ilse auf der Seele lag. Was auch irgendwie kein Wunder war. Sie war bereits seit Jahrzehnten bei der Familie von Globedanz angestellt und hatte die beiden Söhne des Hauses aufwachsen sehen. Sie hatte mir mal erzählt, dass es ihr beinahe das Herz gebrochen hatte, als Siegfried vor ein paar Jahren ausgewandert war. Für sie war er fast wie ein eigener Sohn, ebenso wie sein Bruder. Allerdings hatte ich den Verdacht, dass Siegfried der Freigeist es ihr noch ein wenig mehr angetan hatte als sein angepasster Bruder.

Ich hingegen war zwiegespalten. Natürlich dürfte ich mir eine eigene Meinung eigentlich nicht erlauben, immerhin kannte ich ihn nicht. Aber allein die Vorstellung, seine Familie zu verlassen und sich trotzdem von deren Geld ein schönes Leben zu machen, war für mich nicht nachvollziehbar. Ich war mit meinen Eltern immer eng verbunden gewesen und hatte sie gern um mich gehabt. Leider lebten sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr, aber sie fehlten mir noch immer jeden Tag.

„So, ich bin fertig. Es ist alles dabei und es sieht mal wieder himmlisch aus. Vielen Dank!“ Ilse hob eine der leeren Kisten von der Arbeitsfläche und stellte sie zurück auf die Sackkarre. „Wegen nächster Woche melde ich mich noch einmal bei Ihnen, wenn ich den Essensplan durchgesprochen habe.“

„Das ist super! Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Kochen und Backen.“ Ich verabschiedete mich von Ilse und verließ die Villa.

Kaum im Wagen wanderte mein Blick wieder zu der Uhr auf dem Armaturenbrett. 13:34 Uhr. Ich war wirklich viel zu spät, die Schule meines Sohnes war längst aus.

Schnell wählte ich die Nummer meiner Arbeitskollegin über die Freisprecheinrichtung, dann fädelte ich mich in den Verkehr auf der Straße vor der Villa ein.

„Hey, Jule. Ist Mateo schon da?“, fragte ich, als meine Kollegin abgenommen hatte.

„Hi! Na, war es so voll? Ja, Mateo isst gerade. Wann, meinst du, bist du hier? Er hat bereits nach dir gefragt.“

Abschätzend warf ich einen Blick auf die Hauptstraße, auf der vorhin noch der Stau gewesen war. Wie auch immer das so schnell sein konnte, er hatte sich anscheinend aufgelöst.

„Ich hab im Stau gestanden. Wie es aussieht, wollen bei diesem Wetter alle an die Elbe. Aber jetzt ist es leerer. Ich dürfte also spätestens in einer halben Stunde da sein.“

„Alles klar, ich sage es ihm.“ Dankbar verabschiedete ich mich von Jule und sah zu, dass ich zurück zum Gut kam.

Tage wie diese

Ich habe alles richtig gemacht!, waren meine Gedanken, als ich an diesem Morgen, am 1. Mai, bereits sehr früh am Strand saß und die kleinen Wellen beobachtete, wie sie zu mir ans Ufer kamen. Es wirkte fast ein wenig, als wollten sie mich begrüßen.

In meiner alten Heimat war heute Feiertag, und die Menschen genossen diesen Tag sicher ebenso, wie ich es tat. Der Unterschied zwischen den Leuten aus dem hektischen Hamburg und mir lag ganz woanders. Während ich jeden meiner Tage auskostete und mich darüber freute, meine Arbeit machen zu dürfen, quälten sich Unmengen andere Menschen mit ihrem sogenannten Alltagstrott herum. Sie beschäftigten sich mit Dingen, die ihnen nicht gefielen. Sie gingen einer Arbeit nach, die sie lediglich des Geldes wegen machten, und sie führten Beziehungen, nur um eine Beziehung zu führen.

Bei mir verhielt es sich anders. Ich liebte nicht nur mein Leben, sondern auch meine Arbeit.

Und Frauen? Ja, Frauen gab es in meinem Leben. Zum Glück bot sich als Inhaber einer kleinen Surfschule häufiger mal die Möglichkeit für einen schönen Abend, der nicht selten zu einer heißen Nacht wurde. Nein, an einer festen Beziehung war ich keinesfalls interessiert.

Warum ich überhaupt auf dem Zettel hatte, dass wir heute den 1. Mai hatten, war ganz einfach. Mein Vater hatte Geburtstag. Es war sein einundsechzigster Geburtstag, was nun wirklich kein besonderer Anlass für eine fette Feier war. Diese Feier hatte es schließlich vor einem Jahr gegeben. Zu seinem runden Geburtstag hatte er eine Party veranstaltet, auf der sogar der Erste Bürgermeister Hamburgs gewesen sein soll. Die komplette Prominenz war vertreten, und ganz sicher war dieser Tag bis ins kleinste Detail perfekt organisiert gewesen, damit die Erste Reihe Hamburgs noch in vielen Jahren von meinem Vater und seinem Sechzigsten reden würde. Sicherlich war mein großes Brüderchen an diesem Tag voll in seinem Element gewesen. Ich sah ihn förmlich vor meinen Augen, wie er die prominenten Gäste mit einem Diener und einem Händeschütteln begrüßte. Karl Friedrich von Globedanz war genau das Gegenteil von mir. Er war der perfekte Nachfolger für die alteingesessene Anwaltskanzlei meines Vaters. Mein Bruder liebte es, gemeinsam mit seiner Frau Ellen auf solche Events zu gehen. Zu gehen? Nein, man ging nicht einfach nur hin. Man präsentierte sich dort!

Ich mochte diese Art von Feiern, Veranstaltungen, Empfängen, oder was gerade anlag, nicht. Allerdings war das nicht der Grund, warum ich letztes Jahr nicht nach Hamburg geflogen, sondern hier in meinem kleinen Örtchen Playa de Sotavento auf Fuerteventura geblieben war. Klar gab es den sechsten runden Geburtstag meines Vaters. Doch ich hatte tatsächlich keine Zeit. Meine Surfschule feierte am selben Tag ihr fünfjähriges Bestehen. Da konnte und durfte ich nicht fehlen. Außerdem war der Kontakt zu meinem Vater seit heute vor sechs Jahren auf das Nötigste beschränkt. Beschränkt? Nein, nicht nur das. Seit genau einem Jahr war er sogar abgebrochen.

Die Eröffnung meiner Surfschule hatte ich damals extra auf den fünfundfünfzigsten Geburtstag meines Vaters gelegt. Es sollte ein Dankeschön für ihn sein, da er trotz allem, was zwischen uns vorgefallen war, noch immer mein Vater war. Außerdem wollte ich ihm beweisen, dass ich durchaus ein Geschäftsmann sein konnte, nur auf meinem eigenen Gebiet und nicht als renommierter Anwalt. Es sollte ein besonderes Geburtstagsgeschenk an meinen Vater sein und vielleicht mein letzter Versuch, etwas zu kitten, was nicht mehr zu kitten war. Wir waren einfach zu verschieden.

Genau aus diesem Grund ging meine Idee vollkommen in die Hose. Obwohl ich am Tag der Feierlichkeiten meinen Vater angerufen hatte, ihm sogar voller Stolz einige Bilder geschickt hatte, wurde ich mal wieder enterbt, und ich konnte mein Flugticket, das ich für drei Tage später gebucht hatte, stornieren. Ich sollte direkt am Geburtstag oder gar nicht erscheinen.

Enterbt wurde ich, obwohl meine Eltern wussten, dass ich sowieso kein Geld von ihnen haben wollte. Dass ich nicht auf diese Kreise stand, zu denen ich dann gehören würde. Diese Hautevolee war nicht mein Ding. Außerdem hätte dieses Erbe natürlich mit einem Job in der Kanzlei meines Vaters in Verbindung gestanden. Ja, es wäre ein Erbe mit Bedingungen. Bedingungen? Nein, ein Erbe mit einem Erpressungsversuch.

Ich wollte keine Verbindung mehr zu der Kanzlei, die ich bereits als Achtklässler gehasst hatte. Damals hatten wir Praktikumswochen in der Schule gehabt und ich Glückspilz hatte einen der begehrten Plätze in Hagenbecks Tierpark ergattert. Ein Traum war für mich in Erfüllung gegangen. Alle Klassenkameraden, nein, alle Schulkameraden waren neidisch auf mich und ich lief stolz wie Bolle durch die Gegend. Als ich am nächsten Tag meinem Vater mit stolzgeschwellter Brust den Brief vom Tierpark präsentierte, zerriss er diesen einfach. Seine Worte hallten noch heute durch meinen Gehörgang.

„So was macht ein von Globedanz nicht. Wir sind zu etwas anderem berufen. Dein Praktikum machst du in unserer Kanzlei.“

Ein Widerspruch wurde nicht akzeptiert. Schon damals war es so und es hatte sich bis heute nicht geändert. Anstatt im Tierpark arbeiten zu dürfen, war ich für Fotokopien und Ablage zuständig gewesen. Ich durfte keine Tiere streicheln, dafür wurde mir aber ständig von irgendwelchen spießigen Angestellten meines Vaters der Kopf getätschelt. Im Zoo hätte ich Spaß gehabt und bestimmt häufig gelacht. In der Kanzlei schien es ein Lachverbot zu geben und gesiezt wurde ich auch. Sogar von meinem Vater! Er meinte, dass es zwischen Freizeit und Beruf einen Unterschied gab. Einen Unterschied, den wir als Familie von Globedanz den anderen Angestellten vorleben mussten. O ja, ich kannte seine Sätze noch ganz genau!

Zum achten Mal wurde ich dann heute vor einem Jahr verbal enterbt. Diesmal sogar angeblich unwiderruflich, wobei ich mir die Frage stellte, wofür die sieben Male davor gewesen waren. Ich hoffte, dass ich von diesem Tage an nichts mehr von diesem Erbe hören würde.

Immerhin waren diese Worte zugleich die letzten Worte, die ich von meinem Vater bis heute gehört hatte.

„Dann habe ich nur noch einen Wunsch. Melde dich niemals wieder bei mir. Du bist enterbt!“ Laut und wütend hatte mein Vater diese Worte ins Telefon geschrien. Ganz deutlich vernahm ich sie, genau wie das anschließende Klicken. Ein Geräusch, das mir klarmachte, dass mein Vater unser Telefonat beendet hatte. Als ich eine Minute danach erneut anrief, wurde ich einfach weggedrückt. Ebenso eine Stunde später und am nächsten Tag.

Okay, das Kapitel Familienzugehörigkeit zur Familie von Globedanz war allem Anschein nach endgültig abgehakt. Von diesem Tag an gab es keine Menschen mehr, die mich mit Siegfried ansprachen. Was selbstverständlich kein großer Verlust war, da mir der Name Sid sowieso um einiges lieber war. Jeder nannte mich so. Jeder bis auf meine Familie.

Innerlich lachte ich auf, als mir auffiel, dass ich meine Mutter gedanklich nicht zur Familie gezählt hatte. Sie war die Einzige, zu der ich immerhin noch sporadisch Kontakt hatte und die mich in unseren heimlichen Telefonaten mittlerweile ebenfalls Sid nannte.

An Tagen wie dem heutigen war es nicht einfach, ohne seine Eltern klarzukommen. Nicht nur, dass ich sie an Geburtstagen, Weihnachten und anderen besonderen Tagen vermisste, ich hätte auch nur zu gern meine Freude über meinen Surfschul-Geburtstag mit ihnen geteilt. Selbstverständlich hätte ich ebenso gerne nach meinem Handy gegriffen und meinem Vater zum Geburtstag gratuliert. Doch wozu? Er würde sowieso einfach auflegen oder nicht rangehen.

Langsam stand ich auf und bereitete das Equipment für den heutigen Tag vor. Viele Urlauber waren auf der Insel, wodurch meine Kurse noch besser belegt waren als sonst. Dank der unzähligen Touristen hier konnte ich mir sogar eine Angestellte leisten. Silly war nun schon im zweiten Jahr bei mir beschäftigt, und obwohl sie eine waschechte Spanierin war, brachte sie die typisch deutschen Tugenden mit. Pünktlich und verlässlich war sie, und so konnte ich durchaus mal ein paar Tage freimachen, um sie an einer anderen Bucht in meinem Jeep zu verbringen und den ganzen Tag zu surfen. Selbstverständlich waren meine Ziele immer die Buchten mit der coolsten Brandung und den höchsten Wellen.

Ja, ich lebte meinen Traum und es fühlte sich wie Freiheit an. Wie eine Freiheit, die ich in Hamburg nicht ausleben durfte. Hier war ich der Mensch, der ich von klein auf hatte sein wollen. Auf Fuerteventura gab es keinen Siegfried. Es gab lediglich Sid, und nichts auf der Welt könnte dafür sorgen, dass ich wieder nach Hamburg zurückkehren würde. Was sollte ich dort? Mich mit meinen Eltern zoffen? Meinem Bruder sagen, was für ein Spießer er war? Oder mich zum neunten Mal enterben lassen?

„Hier bin ich ICH! Hier bin ich frei!“, rief ich laut und fügte in Gedanken hinzu: Und anrufen, um dir zum Geburtstag zu gratulieren, werde ich nicht. Bei mir meldest du dich ja auch nicht. Keiner von euch hält es für nötig, zu fragen, wie es mir geht.

Manchmal war ich tatsächlich etwas enttäuscht von meiner Familie. Ja, manchmal tat es sogar weh. Besonders an Tagen wie diesen.

Aber so war es nun mal. So hatte ich es mir ausgesucht. Nein, so hatte ich es mir gewünscht, da es nicht anders funktionierte.

Kaiserwetter

In Hamburg herrschte noch immer allerschönstes Kaiserwetter. Die Sonne lachte jetzt bereits seit Tagen vom blauen Himmel und kein Wölkchen trübte ihr Strahlen.

Es war viel zu schön, um den ganzen Tag in meiner kleinen 2,5-Zimmer-Wohnung zu hocken, daher schnappte ich meine große Tasche und packte Badesachen ein. Ich wollte den heutigen Feiertag im Freibad oder am Elbstrand verbringen, auch wenn ich befürchtete, dass beides völlig überfüllt sein würde. Als ich noch ein kleines Picknick hergerichtet und zwei Flaschen Wasser eingesteckt hatte, ging ich über den Flur zum Zimmer meines Sohnes. Da ich wusste, dass er auf mein Klopfen eh nicht antworten würde, trat ich einfach ein.

„Mateo, Schatz. Lass uns ein bisschen rausgehen. Das Wetter ist so toll.“ Mein siebenjähriger Sohn schaute von dem Buch auf, in dem er gerade konzentriert gelesen hatte. Es war ein Buch über die alten Römer, wie ich dem Buchcover entnehmen konnte.

Nachdenklich schob er sich die Brille auf der Nase hoch und sah kurz aus dem Fenster. „Nein, ich mag nicht. Ich möchte lieber lesen.“

Innerlich seufzte ich auf. Die ersten Jahre seines Lebens hatten ihn geprägt und zu dem gemacht, der er war. Ein Stubenhocker, der lieber mit der Nase in seinen Büchern hing, als mit anderen Kindern zu spielen. Ein Kind, das immer ein Außenseiter war und es wohl auch bleiben würde. Mateo spielte kein Fußball wie die anderen Jungs aus seiner Klasse. Er hatte Angst vor Tieren und fand es furchtbar, Schmutz an den Händen oder Klamotten zu haben. Selbst anderthalb Jahre nach der Trennung von meinem Mann hatte ich es noch nicht hinbekommen, Mateo zu dem zu machen, was er eigentlich sein sollte. Ein glückliches, lachendes Kind. Ich hatte das Gefühl, mit einem kleinen Erwachsenen zusammenzuleben, und das Einzige, wozu ich es geschafft hatte, ihn zu nötigen, war ein Schwimmkurs im letzten Jahr. Vielen Dank auch, Frank! Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete, als ich an meinen Exmann und Mateos Vater dachte. Ihm war es zu verdanken, dass mein Kind war, wie es jetzt war.

„Ach komm! Nur für ein paar Stunden“, versuchte ich meinen Sohn zu überreden. Seufzend klappte er das Buch zu, stand auf und kramte in seinem Kleiderschrank nach einer Badehose. Nein, er war kein Kind, dem man klare Ansagen machen musste, und ich glaubte, ich hatte noch nie in seinem Leben ernsthaft mit ihm schimpfen müssen. Mateo war still und angepasst – und damit so ziemlich das Gegenteil von mir. Trotzdem wusste ich, dass mehr in ihm steckte. Dass er nicht so sein wollte. Manchmal beobachtete ich ihn, wenn er anderen Kindern beim Toben zuschaute. Ich konnte an seinem Gesicht sehen, wie gern er einfach mitmachen würde. Wie gern er mit ihnen über die Wiese rennen, „Cowboy und Indianer“ spielen oder Steine im See flitschen lassen würde. Aber er schaffte es leider nicht, über seinen eigenen Schatten zu springen. Stattdessen verschloss er sich. Allmählich wusste ich nicht mehr, was ich noch machen sollte, wie ich ihm helfen konnte.

Still saß Mateo in meinem alten Golf neben mir, als wir zum Elbstrand fuhren und uns dort einen Parkplatz suchten. Er sagte noch immer nichts, als wir den Weg zum Strand hinuntergingen. Erst als ich eine Stelle gefunden hatte, wo wir ein wenig Platz für uns und unsere Decke hatten, blieb ich stehen und schaute zu ihm hinab.

„Hier vielleicht?“, fragte ich und Mateo nickte. Dann half er mir, die Decke auszubreiten. Ich hatte mich noch nicht einmal meiner Shorts und meines Tops entledigt, da saß er schon und hatte bereits wieder das Buch über die alten Römer in der Hand.

„Warum hast du das denn mitgebracht? Du willst doch hier nicht etwa lesen? Ich hab unser Beachballspiel und einen Wasserball eingepackt. Wollen wir nicht spielen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Nein, ich kann kein Ball spielen. Außerdem will ich mich nicht schmutzig machen.“ Es war wirklich zum Verzweifeln! Das war doch kein normales Verhalten eines Siebenjährigen! Am liebsten hätte ich geheult, und während mein Sohn sich in sein Buch vertiefte, schoss mir mein Ex wieder durch den Kopf.

Es war kein Wunder, dass Mateo so war. Schließlich hatte er die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens nichts anderes gekannt. Wut kochte in mir hoch. Nicht genug damit, dass Frank mich während unserer Ehe in einen goldenen Käfig gesperrt hatte, nein, er hatte mir sogar verboten, mit Mateo rauszugehen. Den ganzen Tag über mussten wir im Haus bleiben, durften höchstens in den eigenen Garten. Spielen war im Garten jedoch nicht drin. Seine teuren Rosen hätten ja Schaden nehmen können. Daher gab es für Mateo weder eine Schaukel noch einen Sandkasten oder Ähnliches. Wenn wir draußen spielen wollten, mussten wir heimlich Sachen aus seinem Kinderzimmer mitnehmen. Bekam Frank das allerdings mit, gab es einen Einlauf an uns beide, der sich gewaschen hatte. In den Kindergarten durfte Mateo nicht gehen, da Frank Sorge hatte, dass er dort auf die – seiner Meinung nach – falschen Kinder treffen könnte. Immerhin hätte er einen Ruf zu verlieren. Als Vorstandsmitglied einer Bank hatte er nicht nur ein gewisses Ansehen in Hamburg, er hatte auch mehr als genug Geld.

Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass man Glück nicht kaufen kann. Jahrelang hatte ich mich damit herausgeredet, dass meine Unzufriedenheit ausschließlich an mir liegen würde. Mir fehlte es ja an nichts. Teurer Schmuck, Markenkleidung, mehrere Luxusurlaube im Jahr. Ich hatte doch mehr, als ich brauchte.

Erst als es beinahe zu spät war, wurde mir bewusst, dass Geld noch lange keine Liebe macht. Denn das war es, was Frank komplett gefehlt hatte. Liebe. Auch meine Liebe zu ihm war über die Zeit mehr und mehr abgeklungen.

Da hatte ich den Entschluss gefasst, mich von ihm zu trennen, und egal, was in den letzten anderthalb Jahren geschehen war, ich hatte es keinen Tag bereut.

Mein Blick wanderte zu meinem Sohn. Er hatte das Buch noch immer vor der Nase, doch über den Brillenrand hinweg sah er auf den Strand. Ein sehnsüchtiger Ausdruck lag in seinen Augen und ich folgte seiner Blickrichtung. Ein Geschwisterpärchen spielte an der Wasserlinie. Der Junge war ungefähr in Mateos Alter und seine Schwester vielleicht zwei Jahre älter. Die beiden spritzten sich gegenseitig mit dem kalten Elbwasser nass und ihr Quietschen war bis zu unserem Platz zu hören. Sie hatten sichtlich Spaß. Wieder schaute ich auf meinen Sohn und mein Herz wurde ganz eng. Wie sehr würde ich ihm wünschen, dass er auch so herzhaft lachen könnte. Doch das Einzige, was er schaffte, war ein leichtes Lächeln – weil Frank es immer so verlangt hatte. Mateo durfte nie laut kreischend durchs Haus toben – er hatte sich still zu beschäftigen. Er durfte keine Pommes mit den Fingern essen – es gab bei uns keine Pommes, und mit den Fingern aßen nur Asoziale, so Franks Meinung.

„Mama, können wir bitte gehen?“ Mateos traurige Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Wir sind doch erst eine gute Stunde hier. Wollen wir nicht noch ein bisschen bleiben?“, versuchte ich ihn zu überzeugen.

„Okay.“ Mein Kind widersprach nicht, aber ich erkannte, wie unwohl er sich fühlte. Er rollte sich herum und legte sich auf den Bauch, das Buch vor der Nase und die Brille korrekt ausgerichtet. Mir war klar, er hatte dichtgemacht. Sich abgeschottet gegen den Schmerz, den er empfand, wenn er den anderen Kindern beim Spielen zuschaute.

Eine weitere Stunde später gab ich auf und wir packten unsere Sachen. Es war erst früher Nachmittag, wir hätten also noch stundenlang bleiben können, doch es machte keinen Sinn. So hatte ich mir den heutigen Feiertag nicht vorgestellt. Aber ich wollte mein Kind natürlich nicht quälen.

„Okay, wollen wir vielleicht aufs Gut fahren? Jule hat bestimmt ein Stück Kuchen für uns“, sagte ich zu Mateo, als wir im Auto saßen. Über den Rückspiegel konnte ich sehen, wie er mit den Schultern zuckte. „Können wir“, war seine knappe Antwort. Dann schaute er aus dem Fenster und schwieg. Ich nahm es als Ja und machte mich auf den Weg zu meiner Arbeitsstelle. Meine Kollegin Jule wohnte direkt auf dem Gut, da sie dort als Verwalterin angestellt war. Für mich war sie nicht nur eine Kollegin und hatte mir nach der Trennung von Frank mehr als einmal geholfen. Auf Jule konnte ich mich verlassen, sie hatte immer einen Rat oder Ausweg, wenn ich nicht weiterwusste. Außerdem backte sie die besten Kuchen in ganz Hamburg.

Der Anruf

Als ich heute Mittag meine ersten Surfkurse hinter mir hatte und mich mit einer Flasche Wasser gegen den Stamm einer Palme lehnte, hatte ich, neben einem Block und einem Stift, auch mein Handy dabei. Gerade hatte ich einen Kurs gegeben, zu dem ich jetzt planen musste, wie ich mit ihnen weitermachte. Es waren genau die Schüler, denen ich bei den normalen Handhabungen nicht mehr behilflich sein musste, die aber noch nicht gut genug für die nächsthöhere Stufe waren. Nach den nächsten beiden Kurseinheiten dieser Gruppe musste ich eine Aufteilung vornehmen. Einige waren bereit für schwerere Aufgaben, während andere weiter am Halsen und Wenden arbeiten mussten. Wie jedes Mal bereitete es mir Schwierigkeiten, meinen Kursbesuchern zu sagen, dass sie noch nicht so weit waren, um mit den anderen zusammen in die nächste Schwierigkeitsstufe zu gelangen. Irgendwie hatte ich dabei immer das Gefühl, versagt zu haben. Dass es an mir lag, dass einige Teilnehmer nicht so gut wie die anderen waren. Natürlich war es Quatsch. Schließlich lernten einige einfach schneller oder waren ein wenig begabter als andere. Silly sagte es mir jedes Mal wieder und eigentlich wusste ich es selbst. Trotzdem fühlte es sich beschissen an.

Mein Block lag neben mir, während ich auf dem Stift kaute und überlegte, welchen Surfschüler ich in welche Gruppe stecken sollte.

Ach Scheiße! Aber ich habe ja noch etwas Zeit, die Schüler neu einzusortieren.

Ich ließ den Kugelschreiber auf meinen Block fallen und amüsierte mich über mich selbst. Silly hätte für diese Entscheidung höchstens zehn Sekunden benötigt. Selbstverständlich wusste ich auch, wer wohin gehörte. Doch mein Gewissen spielte mal wieder nicht mit.

Kurz saß ich einfach nur da und genoss die Ruhe, die mich in diesem Moment umgab. In einer Stunde würde ich bereits den nächsten Kurs geben. Einen Anfängerkurs, um den sich Silly augenzwinkernd mit den Worten: „Ich glaube, da habe ich schon einen Termin zur Wassergymnastik“, gedrückt hatte. Klar war ich ihr Chef, auch wenn ich dieses Wort nicht mochte. Aber Silly war halt nicht für die Anfängerkurse geschaffen. Ihre Geduld war begrenzt, was noch ziemlich positiv ausgedrückt war. Sie konnte einfach nicht verstehen, weshalb einige Menschen unbedingt einen Surfkurs belegen mussten, obwohl sie sehr viel besser beim Hallenhalma aufgehoben gewesen wären.

Als mich eine Art Schnarren aus meinen Gedanken holte, wusste ich zunächst nicht, wodurch dieses Geräusch kam. Erst als ich zur Seite sah, erkannte ich, dass mein Handy dafür verantwortlich war. Es lag auf meinem Block und war nur auf Vibration geschaltet.

Deutlich konnte ich auf dem Display erkennen, dass es mein Bruder war, der gerade bei mir anrief. Um zu erfahren, was er von mir wollte, musste ich nicht ans Handy gehen, da Karl Friedrich mir ganz bestimmt keinen schönen Maifeiertag wünschen wollte. Ich hatte mich bisher nicht bei meinem alten Herrn gemeldet, um ihn zu seinem Ehrentag zu beglückwünschen. Sicherlich fühlte sich mein Bruder aus diesem Grund dazu berufen, mich an das heutige Datum zu erinnern. Da ich weder meinem Vater gratulieren noch irgendeine unnötige Grundsatzdiskussion mit Karl Friedrich führen wollte, ignorierte ich den Anruf einfach.

Ich konnte es mir sparen, zum tausendsten Mal darüber zu reden, dass ich doch Verständnis für meinen Vater haben musste. Dass ich endlich mein Lotterleben aufgeben und mich in der Familienkanzlei einbringen sollte.

Allein daran, dass mein Bruder dies immer wieder sagte, erkannte ich, dass er von unserem Vater gesteuert wurde. Niemals würde Karl Friedrich auf die Idee kommen, den Wunsch zu haben, dass ich mit ihm zusammen in der Kanzlei arbeiten sollte. Wir hätten einen Dauerstreit, da wir schon im Umgang mit den Mitarbeitern grundverschiedene Philosophien hatten.

Was mach ich mir da jetzt eigentlich einen Kopf drüber? Ich bin sowieso achtfach enterbt und der Familien-Loser. Ich mache mein Ding und die führen ihr Leben. Ihr Leben, in das ich nicht hineinpasse, waren meine Gedanken, während ich aufstand, um mir einen Kaffee zu kochen. Auf dem Weg zu meiner kleinen Hütte, die neben einem Schreibtisch und der eingebauten Küchenzeile noch Platz für Surfbretter und anderes Equipment bot, begleitete mich meine Mutter. Leider nur in meinen Gedanken.

Meine Ma fehlte mir sehr. Ich wusste, dass sie Verständnis für mich hatte, dieses lediglich meinem Vater gegenüber nicht aussprechen oder zeigen durfte. Zu sehr stand sie unter seinem Pantoffel. Seit meine Eltern sich kannten, war meine Mutter seine stille Begleitung. Sie war eine Ehefrau, wie es sie früher viel zu häufig gegeben hatte und von denen es heutzutage zum Glück nur noch sehr wenige gab. Leider war meine Mutter jedoch eine von den wenigen.

Als der Kaffee fertig war, betrat Silly die Hütte.

„Du hast ihn wohl gerochen?“ Lachend drückte ich ihr den Becher in die Hand, der eigentlich für mich gedacht war.

„Jep. Habe ich. Gibst du mir die Milch?“

„Soll ich vielleicht noch für dich umrühren?“ Mit einem leicht ironischen Grinsen sah ich Silly an.

„Ach nö. Das geht schon.“ Augenzwinkernd antwortete sie und wollte gerade irgendetwas sagen, als mein Handy erneut zu vibrieren begann. Schnell legte ich es auf ein Handtuch, damit die Geräuschkulisse etwas leiser wurde.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf das Telefon.

„Lieber nicht.“

„Warum nicht? Störe ich? Soll ich nach draußen gehen?“ Silly wollte sich direkt auf den Weg machen.

„Nein. Bleib hier. Es ist mein Bruder.“ Leise seufzte ich auf.

„Dein Bruder? Was will der denn? Bestimmt nicht zum sechsten Jahrestag deiner Surfschule gratulieren.“ Silly kannte meine Familiengeschichte und war daher erstaunt darüber, dass ausgerechnet Karl Friedrich heute anrief.

„Nein. Es ist ja noch ein besonderer Tag.“

„Sorry! Daran hab ich eben nicht gedacht. Dein Vater hat B-Day. Stimmt’s?“ Zerknirscht, weil sie es nicht auf dem Zettel hatte, schaute Silly zu mir auf.

„Jep.“

„Willst du nicht …“ Weiter kam Silly nicht, da ich sie unterbrach:

„Nein. Unsere Zeit ist vorbei. Es macht einfach keinen Sinn.“

„Aber …“ Silly stoppte und sah mich an.

„Aber was?“

„Egal.“ Silly zuckte mit den Schultern und schaute zu den Surfbrettern hinüber, die ordentlich an der Wand aufgereiht waren.

„Sag schon.“ Fordernd sah ich sie an.

„Irgendwann wirst du deinen Paps nicht mehr anrufen können. Vielleicht ärgerst du dich dann darüber, dass du es heute versäumt hast“, sagte sie leise, trotzdem verstand ich genau, was sie damit meinte.

„Mein Vater wird mindestens hundert Jahre alt. Da wird es noch genügend Möglichkeiten geben. Zumindest, wenn ich es wollte. Allerdings will ich es nicht. Glaub mir, es ist das Beste für die ganze Familie.“ Mein Blick war in meinen Kaffeebecher gerichtet. Klar tat es mir manchmal weh, den Kontakt mit meiner Familie fast komplett abgebrochen zu haben. Leider ging es jedoch nicht anders.

Langsam stellte ich meinen Becher auf die Tischplatte und verließ das Haus. In wenigen Minuten würde der nächste Kurs starten, und ich hatte noch einiges vorzubereiten.

Nachdem ich diesen Surfkurs hinter mich gebracht und mit den Mädels und Jungs viel gelacht hatte, stand ich am Strand und blickte auf das Meer. Ganz allein war ich und so konnte ich meine Gedanken einfach treiben lassen. Natürlich war ich erneut beim Geburtstag meines Vaters. Sollte ich doch anrufen? Musste ich es nicht sogar, da er immerhin mein Vater war? Selbst wenn ich es nicht für ihn tun wollte, hatte ich nicht die Pflicht, es für meine Mutter zu machen? Vielleicht auch ein klein wenig für – besser gesagt gegen – mein schlechtes Gewissen?

Hatte Silly mit ihren Worten womöglich recht?

Irgendwann wirst du deinen Paps nicht mehr anrufen können. Vielleicht ärgerst du dich dann darüber, dass du es heute versäumt hast.

Sehr deutlich und wie eine Art Echo hallten sie durch meinen Gehörgang. Womöglich hatte ich ja sogar Glück und niemand ging an das Telefon. Dann hätte ich auf den Anrufbeantworter sprechen können und wäre so um das direkte Aufeinanderprallen mit meinem Vater herumgekommen.

Was bin ich nur für ein Feigling! Oder ist es die Vernunft?

Ich amüsierte mich über meine eigenen Gedanken. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, ob es meine Feigheit oder meine Vernunft war, die mich zu diesen Überlegungen trieb.

„Was soll’s!“, sagte ich zu mir selbst und machte mich auf den Weg zu meiner Hütte, in der noch immer mein Handy auf dem Handtuch lag. Nachdem ich es in die Hand genommen und den Bildschirmschoner weggedrückt hatte, staunte ich nicht schlecht. Sieben Anrufe in Abwesenheit und alle von meinem Bruder. Da meine Mailbox nie eingeschaltet war, konnte Karl Friedrich keine Nachricht für mich hinterlassen. Stattdessen erkannte ich, dass eine WhatsApp von ihm eingegangen war.

Guten Tag Siegfried, bitte melde dich. Es ist ausgesprochen wichtig. Viele Grüße Karl Friedrich

Ein Grinsen bildete sich auf meinen Lippen. Mein Bruder hatte mir eine Nachricht geschickt, und niemand, der sie las, würde auf die Idee kommen, dass dies eine Nachricht zwischen Brüdern sein könnte.

Auch Silly schmunzelte, nachdem ich ihr die WhatsApp vorgelesen hatte.

„Das ist echt witzig.“ Erschrocken über ihre Worte sah sie mich an und sagte anschließend: „Also nein. Eher traurig! Ich kann gar nicht glauben, dass ein Verhältnis unter Geschwistern so neutral sein kann.“

„Leider … Weißt du was? Ich rufe jetzt meinen Vater an und gratuliere ihm zum Geburtstag.“ Ja, ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich musste es einfach versuchen.

„Das finde ich gut. Aber du machst es nicht meinetwegen, oder?“

„Nein.“ Vehement schüttelte ich den Kopf.

„Wegen deines Bruders?“, hakte Silly nach.

„Auch nicht. Ich mache es, um ganz ehrlich zu sein, ausschließlich für meine Mutter. Obwohl sie es niemals sagen würde, weiß ich, dass sie es sich wünschen würde.“ Mit dem Handy in der Hand wollte ich die Hütte verlassen, um allein zu sein, während ich mit meinem Vater sprach. Aber bereits nach zwei Schritten blieb ich stehen und sah auf das Display.

„Was ist, Sid? Willst du es doch nicht machen? Bitte, tu es.“

„Karl Friedrich ruft schon wieder an.“ Hilflos sah ich Silly an. Mit meinem Bruder zu reden, hatte ich keine Muße. Warum sollte ich mir jetzt irgendwelche Vorträge anhören? Vor allem, da ich unseren alten Herrn in diesem Moment anrufen wollte.

„Geh ran, Sid“, sagte Silly energisch, und ich folgte ihrem Rat, der fast wie ein Befehl war.

Mit einem „Moin nach Hamburg“ begrüßte ich meinen Bruder.

Gut Witthöft

Wie ich es mir gedacht hatte, freute Jule sich wahnsinnig, dass wir spontan bei ihr vorbeikamen. Obwohl sie mit Ende dreißig mehr als zehn Jahre älter war als ich, war Jule in den letzten anderthalb Jahren zu meiner besten Freundin geworden.

Als ich mich damals von meinem Mann getrennt hatte, wusste ich nicht, wo ich hinsollte. Ich hatte keinen Job und keine vernünftige Wohnung für mich und mein Kind. Mateo und ich haben in einer Einzimmerwohnung gewohnt, was natürlich auf Dauer kein Zustand war. Ich hatte zwar nach meinem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht, war jedoch schon damals mit Frank zusammen gewesen. Kaum hatte ich meinen Abschluss in der Tasche, hatten wir geheiratet, und kurz darauf war ich mit Mateo schwanger. Seitdem war ich nur noch Hausfrau und Mutter gewesen. Vorzeigeehefrau und Franks Statussymbol in der Hamburger Gesellschaft.

Der Zufall war mir damals zu Hilfe gekommen. Mateo war auf eisglatter Straße ausgerutscht und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Jule war es, die sich um uns gekümmert hatte. Nachdem Mateo versorgt war, bedankte ich mich bei ihr mit einem Kaffee in einer nahe gelegenen Bäckerei. Dort kamen wir ins Gespräch, und sehr bald merkten wir, wie gut wir uns verstanden. Sie hatte damals schon auf diesem Gut als Verwalterin gearbeitet und brauchte dringend Unterstützung. So kam ich zu diesem Job, den ich wirklich liebte. Ich verdiente hier nicht viel, aber ich war glücklich. Außerdem hoffte ich, dass auch Mateo von meinem Job profitierte und es irgendwann schaffte, aufzutauen.

„Hilfst du mir beim Kaffeekochen und den Kuchen zu holen?“, fragte Jule meinen Sohn, nachdem sie uns begrüßt hatte. „Ich glaube, ich hab noch Schokomuffins da.“

„Okay“, antwortete Mateo nur und folgte Jule ins Haus, aber an seinem zarten Lächeln konnte ich erkennen, wie sehr er sich freute. In diesem Punkt war er wie jedes andere Kind. Er liebte Kuchen, und ganz besonders Jules Schokomuffins hatten es ihm angetan. Während Jule mit Mateo in die Küche ging, setzte ich mich auf die große Holzterrasse und ließ meinen Blick über das Anwesen schweifen.

Es war so wunderschön und idyllisch. Auch wenn ich hier arbeitete, war es immer ein wenig Urlaub, auf Gut Witthöft zu sein. Das Gut bestand aus einem Haupthaus, in dem sich die Büros der Verwaltung und die Aufenthaltsräume befanden und mehrere kleinere verteilt liegende Gebäude und Stallungen. Die Landwirtschaft war der Hauptteil, auf dem das Ganze hier aufgebaut war und zum Teil finanziert wurde. Im Hauptgebäude wurde für die Arbeiter jeden Tag frisch gekocht und gemeinsam gegessen. Auf den Ländereien, die zum Gut gehörten, wurde saisonales Gemüse in allerbester Bio-Qualität angebaut und in Hofkisten verkauft und ausgeliefert.

Doch es gab noch mehr. Mein eigentliches Steckenpferd war nicht die Landwirtschaft. Sie war nicht der Grund, warum ich meinen Job so liebte. Der Träger des Guts Witthöft war ein reicher Hamburger Kaufmann. Er hatte dieses Idyll hier vor vielen Jahren gekauft, um sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche einzusetzen. Das war es, wofür mein Herz schlug, der soziale Bereich des Guts. Jeden Nachmittag kamen nach der Schule Gruppen von Kindern, die in irgendeiner Form Probleme hatten. Manche lebten bei Eltern, die Alkoholiker waren, einige waren vernachlässigt, andere wiederum litten an Essstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen, die auch schon Kinder betrafen. Wir arbeiteten eng mit dem Jugendamt zusammen, um Kindern hier das zu bieten, was sie zu Hause oftmals nicht hatten. Sie sollten Erholung bekommen und Kind sein dürfen.

Dafür hatten wir vor einiger Zeit ein paar Ponys angeschafft, auf denen die Kinder reiten konnten. Der Umgang mit den Tieren half ihnen so sehr, dass wir das Programm erweiterten und einen kleinen Streichelzoo mit Ziegen, Meerschweinchen und Kaninchen anlegten. Der See, der sich auf dem Gut befand, wurde im Sommer zur Badeanstalt. Hier wurden Flöße gebaut, und im Herbst bastelten wir mit ihnen Drachen, die wir auf den abgeernteten Feldern steigen ließen.

Jule war die gute Seele des Projekts. Obwohl sie keine eigenen Kinder besaß, lag ihr der soziale Bereich des Guts am Herzen. Sie behauptete immer, sie brauche keine eigenen Kinder, alle, die hierherkamen, seien ein wenig ihre. Ja, und genau das lebte sie auch. Sie war jederzeit da, egal, was jemand brauchte. Jule schaffte, fast alles zu organisieren, hatte stets ein offenes Ohr, eine Schulter zum Anlehnen oder ein Pflaster für verschiedenste kleinere und größere Verletzungen. Die Vormittage verbrachte sie meist mit mir im Büro, doch die Nachmittage gehörten ganz den Kindern.

Ich liebte und bewunderte sie sehr für das, was sie hier erschaffen hatte.

„So, Mateo. Jetzt trinken wir Kaffee, und danach kannst du ja mal schauen, was die Kaninchen machen. Ich habe noch reichlich Salat und Möhrchen. Bringst du sie ihnen?“, fragte Jule, als sie mit meinem Sohn zurückkehrte und den Kaffeetisch deckte.

„Kann ich machen.“ Mateo stellte die Platte mit den Muffins auf den Tisch und setzte sich zu mir.

Während wir unseren Kuchen aßen, unterhielten wir uns entspannt, und ich erzählte Jule von unserem Besuch am Elbstrand. Als Mateo aufgegessen hatte, gab Jule ihm einen großen Korb mit Gemüse für die Kaninchen und Meerschweinchen und er zog von dannen.

Nachdenklich schaute Jule ihm nach.

„Ob er sich wohl heute trauen wird, sie zu streicheln?“ Ich wusste genau, was sie meinte. Sie kannte meinen Sohn und wünschte sich ebenso sehr wie ich, dass er es endlich schaffte, über seinen eigenen Schatten zu springen. Es war nicht so, dass er die Tiere nicht mochte. Stundenlang hockte er vor den Ausläufen und beobachtete sie. Der sehnsuchtsvolle Ausdruck in seinen Augen sprach Bände und das Zucken, das ihm manchmal durch die Finger fuhr, zeigte, welch innere Kämpfe er ausfocht. Er würde so gern, aber er traute sich nicht.

„Nein, ich glaube nicht. Ach, Jule, was soll ich nur machen? Vorhin am Strand war es auch so. Er hat seine Nase ins Buch gesteckt und sich nicht bewegt. Zwischendurch hat er andere Kinder beim Spielen beobachtet, als er dachte, ich bekomme es nicht mit. Er sah so traurig aus. Es bricht mir fast das Herz, aber ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann“, erzählte ich ratlos.

Über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg schaute Jule mich an, während sie einen Schluck trank.

„Ich glaube, ihm fehlt eine männliche Bezugsperson. Jemand, der mal ein kleiner Junge gewesen ist. Der ihm helfen kann, ihn an die Hand nehmen. Jemand, der versteht, was es heißt, ein Junge zu sein.“

„Aber ich verstehe ihn doch. Und ich versuche, ihn an die Hand zu nehmen und ihm all das zu geben und zu zeigen.“ Ich war wirklich verzweifelt. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und Tränen stiegen mir in die Augen.

Beruhigend strich Jule mir über den Arm. „Das weiß ich ja, Schatz. Und Mateo weiß es sicherlich auch. Aber manchmal reicht Mutterliebe einfach nicht aus. Jungs brauchen Männer, und was sein Vater getan hat, kann man nun wirklich nicht als männliche Erziehung bezeichnen. Er hat ihn gedrillt und zu dem gemacht, was er ist.“

Seufzend nickte ich. Ja, vielleicht hatte sie recht. Aber woher sollte ich eine männliche Bezugsperson für Mateo hernehmen?

„Hat sein Vater sich eigentlich mal wieder gemeldet? Gibt es da etwas Neues? Hat deine Anwältin was erreichen können?“ Ich wusste, worauf Jule anspielte. Kurz nach unserer Trennung hatte Frank seinen Job bei der Bank aufgegeben und sich als Unternehmensberater selbständig gemacht. Schon länger hatte er davon gesprochen, beruflich kürzerzutreten, und nach unserer Trennung hatte er seinen Wunsch in die Tat umgesetzt. Allerdings war es letztlich auf Anraten seines Anwalts geschehen. Da unsere Trennung nicht gerade friedlich abgelaufen war und ihm der Bezug zu seinem Kind komplett fehlte, wollte er so viel Geld wie möglich einsparen und es uns nicht – wie er es sagte – in den Rachen werfen.

Da er durch eine große Erbschaft mehr als genug Rücklagen hatte und das Haus, in dem er lebte, abbezahlt war und ihm gehörte, hatte er sich zur Ruhe gesetzt. Die Unternehmensberatung war nur ein Alibi-Job, in den er nicht sonderlich viel Zeit und Energie steckte. Doch das hatte für ihn den Erfolg, dass er für Mateo nur den Mindestunterhalt und für mich gar nichts mehr zahlen musste. Seit Monaten hatte ich darum gekämpft, aber mittlerweile war klar, ich hatte verloren.

„Nein, sein Sohn ist ihm doch egal. Ich bekomme jeden Monat das Geld, und damit ist er der Meinung, er ist raus aus allen Verpflichtungen. Und was den Unterhalt angeht, sagt meine Anwältin, hätten wir keine Chance. Aber weißt du was? Ich will sein Geld gar nicht. Obwohl es immer knapp ist bei uns, wir kommen klar.“

Nachdenklich nickte Jule.

„Ja, kann ich verstehen. Soll er doch an seiner Kohle ersticken! Vielleicht ist es besser so.“

Mateo tauchte zwischen den Bäumen auf und schnell wechselten wir das Thema. Er musste von dem ganzen Stress, den ich mit Frank hatte, nichts mitbekommen. Es belastete ihn so schon genug, dass sein Vater sich nicht für ihn interessierte. Denn egal, was Frank ihm mit seinen Erziehungsmethoden angetan hatte, mein Mutterinstinkt sagte mir, dass Mateo noch häufig an ihn dachte.

Für immer

Er ist was?

Ich hatte meine Worte, die ich vor zwei Tagen erschrocken ins Telefon gesprochen hatte, noch immer in meinem Kopf. Zunächst glaubte ich, mich verhört zu haben. Dann hatte ich die kurze Hoffnung, dass Karl Friedrich bei unserem Telefonat einen schlechten Scherz gemacht hatte. Allerdings verwarf ich diese Hoffnung sofort, da mein Bruder kein Mensch war, der Scherze machte. Außerdem war es ein Thema gewesen, worüber man sowieso keine Witze machte. Trotzdem konnte es einfach nicht sein. Niemals war es möglich, dass ich meinen Bruder vor zwei Tagen am Telefon richtig verstanden hatte.

Leider war es dennoch so. Mein Vater war an seinem 61. Geburtstag an einem Herzinfarkt gestorben. Daher saß ich jetzt in einem Flugzeug, das mich in meine ehemalige Heimat, die schon lange nicht mehr mein Zuhause war, brachte. Silly kümmerte sich in der Zwischenzeit um meine Surfschule, und ich wusste, dass sie bei ihr in guten Händen war. Die Beerdigung würde am fünften Mai stattfinden, und es war so geplant, dass ich zwei Tage danach wieder auf Fuerteventura sein würde.

Alles, was mir blieb, waren Erinnerungen und ein plötzlich auftretendes schlechtes Gewissen, da wir in den letzten Jahren so gut wie keinen Kontakt mehr gehabt hatten.

Dass wir keinen Kontakt gehabt hatten, war genau der richtige Weg. Ich wusste es, und doch fühlte es sich, jetzt, wo er nicht mehr am Leben war, furchtbar an. Es ging mir mies, und immer wieder kamen in mir die Gedanken auf, dass ich ein schlechter Sohn für ihn gewesen war.

Am meisten Angst hatte ich jedoch davor, heute Nachmittag, wenn ich in Hamburg gelandet war und mein Bruder mich vom Flughafen abgeholt hatte, meiner Mutter unter die Augen zu treten. Ich liebte sie sehr, und doch hatte ich mich um sie, bedingt durch die Entfernung, viel zu wenig gekümmert. Nicht, dass sie Hilfe von mir benötigt hätte. Sie war fit wie ein Turnschuh, hätte sich jedoch über Besuche von mir gefreut. Telefonate waren halt leider etwas anderes als Gespräche, bei denen man sich in die Augen sah. Außerdem waren es Telefonate, die weder mein Vater noch mein Bruder mitbekommen durften. Meine Mutter wollte sich die leidigen Diskussionen mit den beiden ersparen, wofür ich vollstes Verständnis hatte.

Immer wieder stellte ich mir während des Fluges die Frage, die mir seit dem Anruf meines Bruders durch den Kopf ging.

Habe ich mich in den letzten Jahren richtig verhalten?

War ich zu egoistisch gewesen, als ich mich dafür entschieden hatte, mein Ding durchzuziehen? Hätte ich nicht irgendetwas anderes machen können? Auch in Hamburg hätte es ganz bestimmt viele Möglichkeiten gegeben, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Wenn ich dortgeblieben wäre, hätte sich vielleicht das miese Verhältnis zu meinem Vater normalisiert. Womöglich wären wir wieder zusammengewachsen. Also nicht nur mein Vater und ich. Wir alle. Wir als Familie.

Sosehr ich mich bemühte, mich aus meinem schlechten Gewissen und meinen Selbstzweifeln zu befreien, es gelang einfach nicht. Als wir bereits im Landeanflug auf Hamburg waren, sah ich erschrocken auf meine Hände. Sie zitterten und das Zittern war weder einer Höhenangst noch dem Fliegen selbst geschuldet.

Ich hatte Angst vor dem, was mich gleich erwarten würde.

Wenn uns jemand beobachtet hätte, wäre er niemals darauf gekommen, dass Karl Friedrich und ich Brüder waren. Unterkühlt, nur mit einem Handschlag, begrüßten wir uns am Flughafen und machten uns sogleich auf den Weg nach Blankenese. Wir fuhren in Richtung meiner Vergangenheit. Mir graute bereits jetzt davor, gleich die Villa zu betreten, die sich früher wie ein Gefängnis für mich angefühlt hatte. Sie war wie dieser berühmte goldene Käfig für mich. Ein Palast, um den mich sogar meine reichen Freunde beneideten, aus dem ich jedoch schon in jungen Jahren flüchten wollte. Unser Garten war fast parkähnlich und doch konnte ich nichts damit anfangen. Spielen im Garten war verboten. Die geliebten Rosen meines Vaters hätten ja von uns Kindern kaputtgemacht werden können. Der Rasen war englischer als jeder Englische Rasen selbst. Nie hatte ein Ball dieses Gras berühren dürfen und ein Spielen unter der riesigen Sprinkleranlage war untersagt. Während das alles meinem Bruder nichts ausgemacht hatte, waren meine Fußspuren häufig auf dem Rasen und in den Beeten zu finden gewesen. Natürlich hätte mein Vater diese niemals selbst entdeckt. Allerdings brauchte er es auch nicht, da entweder mein Bruder oder unser Gärtner das Petzen übernommen hatten. Immer wieder bekam ich einen Einlauf für mein Verhalten. Für ein Verhalten, das einfach kindlich und meinem Alter entsprechend gewesen war. Den größten Anschiss gab es allerdings, als ich weder den heiligen Rasen noch irgendwelche Beete betreten hatte.

Zusammen mit zwei meiner besten Freunde hatte ich damals das Wasser für mich entdeckt. Häufig waren wir im Sommer mit unseren selbst gebauten Flößen auf der Elbe. Nachdem der Sommer sich verabschiedet und der Herbst inzwischen dafür gesorgt hatte, dass das Wasser der Elbe zu kalt geworden war, schlichen wir uns in den Keller. Ich hatte die Bilder noch immer vor meinen Augen, wie Sebastian Schmiere stand, während Giselbert und ich unser Floß heimlich die Stufen hinunter bugsierten. Hier befand sich unser Schwimmbad, das locker groß genug für eine Floßfahrt war.

Sebastian, Giselbert und Siegfried. Ja, wir fanden unsere Namen schrecklich. Es waren Namen, die nichts von der coolen Welt widerspiegelten, nach der wir uns so sehr sehnten. Schon damals bestand ich darauf, Sid genannt zu werden. Während aus Sebastian Seb geworden war, nannten wir Giselbert fast immer nur Gisela. Er hasste es natürlich sehr, hatte allerdings selbst Schuld an diesem Namen, da er sich in unseren Augen oft wie ein Mädchen aufgeführt hatte. Vor allem, was man sich nur vorstellen konnte, hatte er Schiss. Sein Respekt vor seinem Vater war noch größer als unser Respekt vor den alten Herren, die uns in die typische Blankeneser Gesellschaft zwängen wollten. An diesem Tag war Gisela jedoch mutig genug. Tatsächlich benötigten wir nicht viel Überredungskunst, ihn zum Mitmachen zu animieren. Sein Mut wurde allerdings nicht belohnt.

Selbstverständlich wurden wir im Schwimmbad erwischt und bekamen ebenso selbstverständlich einen Mordseinlauf für unsere Idee. Als die Eltern meiner Freunde unser Haus betraten, um ihre Kinder abzuholen, glaubte ich zunächst, dass Giselas Vater es nur aus der ersten Wut heraus gesagt hatte. Doch ich irrte, und so wurde aus den Worten, dass Gisela nie wieder Kontakt zu uns haben würde, ein gehaltenes Versprechen.

Bis zum heutigen Tag hatte ich weder etwas von ihm gehört noch ihn irgendwo getroffen. Nach einiger Zeit war er damals aus meiner Erinnerung verschwunden. Ganz im Gegenteil zu Seb, mit dem ich noch lange befreundet war. Erst als ich nach Fuerte aufgebrochen war, zerbrach auch unser Kontakt.

„Sid! Endlich bist du da.“ Die Autotür wurde aufgerissen und ein Ruf riss mich aus meiner Vergangenheit. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass wir uns bereits vor der Villa meines Elternhauses befanden. Meine Mutter sah mich freudig an. Nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war und nun vor ihr stand, brach sie in Tränen aus. Ob sie sich bis eben zusammengenommen hatte, wusste ich nicht. Schnell machte ich einen Schritt auf sie zu und nahm sie in die Arme. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie mein Bruder uns mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.

„Du hast mir sehr gefehlt, mein Sohn“, murmelte meine Mutter und schluchzte leise. Sie nuschelte ihre Worte gegen meine Brust und doch verstand ich jedes einzelne Wort ganz deutlich. Auch ich begann zu weinen, und ich brauchte einen Augenblick, um selbst etwas sagen zu können.

„Mama … Du hast mir auch gefehlt“, antwortete ich und hatte keine Ahnung, was in diesem Moment die richtigen Worte gewesen wären. Leider war ich in solchen Situationen nicht geübt und wurde prompt von meinem Bruder strafend angesehen. Vermutlich, weil ich meiner Mutter nicht als Allererstes mein Beileid ausgesprochen hatte.

„Lasst uns reingehen.“ Meine Mutter löste sich aus meiner Umarmung und griff nach meiner Hand. Als Karl Friedrich an mir vorbeiging, hörte ich, wie er sagte:

„Siegfried, du weißt schon, dass unser Vater gestorben ist?“ Trotzdem tat ich so, als hätte ich sie nicht verstanden. Eine Antwort von mir hätte einen Streit ausgelöst. Was glaubte dieser abgehobene Spießer eigentlich? War er wirklich der Meinung, dass ich die Situation nicht begriffen hatte? Wahrscheinlich bildete er sich noch immer etwas darauf ein, in einer Villa in Blankenese zu leben. In einer Villa, die gleich neben der meiner Eltern stand. In einer Villa, die meine Eltern bezahlt hatten. In einer Villa, in der ich bisher nie gewesen war und die ich ganz sicher niemals betreten würde. Was hatte er eigentlich in seinem bisherigen Leben erreicht? Klar war er ein angesehener Anwalt und durfte sich mit den wichtigen und mächtigen Bürgern Hamburgs auf irgendwelchen langweiligen Festlichkeiten unterhalten. Er durfte ihre Hände schütteln und über unwichtige Dinge mit ihnen reden. Er hielt Small Talk und schnallte wahrscheinlich gar nicht, dass er es lediglich aus einem einzigen Grund machen konnte. Der Grund war mein Vater. Besser gesagt mein Opa, wenn nicht sogar mein Uropa.

In dem Augenblick, als ich die Türschwelle überschritt, erwischte mich ein kalter Schauer der Erinnerung. Ich sehnte mich nach Fuerteventura. Nach meinem Meer, meinen Ständen und nach meiner Freiheit.

Zum Glück würde ich nur wenige Tage hier verweilen müssen. Am fünften Mai war die Beerdigung und zwei Tage später würde am späten Nachmittag mein Flieger zurückgehen.

Küchenhilfe

Mein Job auf dem Gut hatte wirklich viele schöne Seiten. Eine davon war, dass Mateo nach der Schule herkommen konnte, da der Bus direkt vor dem Gut hielt. Er bekam hier ein vernünftiges Mittagessen, da für die Arbeiter eh jeden Tag frisch gekocht wurde, und konnte sich den Nachmittag über auf dem Hof beschäftigen, seine Hausaufgaben machen, und falls etwas wäre, war ich erreichbar. Das war für mich wirklich wunderbar, da ich in Hamburg leider weder einen Platz in einer Ganztagsschule bekommen hatte noch einen Hortplatz in der Nähe der Schule.

So hatte ich die Möglichkeit, ein paar Stunden mehr in der Woche zu arbeiten. Ich brauchte das Geld wirklich dringend, um all meine Kosten decken zu können. Auch wenn ich unabhängig von Frank und seinem Geld sein wollte, regte mich die deutsche Rechtsprechung auf.

Er hat Unmengen an Kohle auf seinen Konten liegen, ein abbezahltes Haus und lebt von seinen Zinseinkünften und Ersparnissen deutlich mehr als nur „gut“. Warum zählt all das nicht für die Berechnung des Kindesunterhalts? Warum werden nur die realen Einkünfte dafür angesetzt?, fragte ich mich selbst zum unzähligsten Mal. Natürlich konnte ich ihn verstehen. Wozu sollte er viel arbeiten, wenn er es finanziell nicht nötig hatte? Aber für mich bedeutete das, dass ich mit dem geringen Mindestunterhalt für Mateo klarkommen musste. Dass ich mir bei jeder kleinen Ausgabe, und sei es nur ein Eis für Mateo, überlegen musste, ob es nicht mein knappes Budget sprengen würde. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal Klamotten für mich gekauft hatte. Es musste ewig her sein.

Es war nicht so, dass ich durchgestylt in den neusten Teilen herumlaufen musste, aber manchmal hätte ich mir schon ein kleines bisschen mehr finanzielle Freiheit gewünscht. Gerade auch für meinen Sohn.

„Die Haushälterin der von Globedanz’ hat angerufen und wollte dich sprechen“, begrüßte mich Jule, als ich nach meiner Mittagspause ins Büro zurückkehrte. „Sie klang ziemlich durch den Wind.“

„Ilse? Bestimmt will sie die Bestellung für Donnerstag durchgeben. Na, ich rufe sie mal zurück.“ Trotz meiner Worte wunderte ich mich schon ein wenig. Normalerweise gab Ilse auch bei Jule ihre Gemüsebestellungen auf, wenn ich gerade nicht erreichbar war. Während ich ihre Nummer aus unserer Kundenkartei suchte und wählte, warf ich einen Blick aus dem Fenster auf den Hof.

Ich entdeckte Mateo, der mit einem Buch vor der Nase auf der Holzbank unter einer großen Kastanie saß. Wieder einmal beobachtete er die anderen Kinder, die auf dem Gut spielten und den Sonnenschein genossen, nur heimlich über seine Brille hinweg. Ich konnte es an seiner Kopfhaltung erkennen, dass das Buch nur ein Alibi war. Wie immer, wenn ich ihn so sah, schnitt der Anblick mir ins Herz.

„Ah, Candela. Gut, dass Sie zurückrufen. Vielen Dank!“ Ilses Begrüßung riss mich aus meinen Betrachtungen, und ich versuchte, mich auf das Telefonat zu konzentrieren.

„Natürlich, gerne doch. Sie wollen sicher die Bestellung aufgeben, richtig?“, fragte ich.

„Ja … Nein … Also …“ Ich hörte, wie Ilse am anderen Ende tief durchatmete. Jule hatte recht, sie schien wirklich durch den Wind zu sein. „Es ist etwas Furchtbares passiert. Herr von Globedanz ist am Samstag verstorben. Ganz plötzlich. Ein Herzinfarkt. Und das auch noch an seinem Geburtstag!“ Es klang, als würde Ilse mit den Tränen kämpfen.

„O nein! Das tut mir wirklich sehr leid!“ Ich hatte Ilses Arbeitgeber nur ein paarmal gesehen, wenn ich dort gewesen war. Er war niemand, der mir auf Anhieb sympathisch war. Jedes Mal, wenn ich ihn getroffen hatte, wirkte er bärbeißig und übel gelaunt. Immer hatte er irgendwas zu meckern gehabt. Dennoch dachte ich an Ilse und seine Familie, die mit Sicherheit um ihn trauerten. Trotz allem hatte Ilse ihn gemocht, er war wohl ein guter Arbeitgeber gewesen.

„Danke, das ist lieb von Ihnen! Aber ich hab jetzt ein großes Problem, deshalb brauche ich unbedingt Ihre Hilfe.“ Ilse klang wirklich verzweifelt.

„Wenn ich Ihnen helfen kann – sehr gern. Worum geht es denn?“, fragte ich nach und hatte keine Ahnung, wie ich ihr helfen könnte.

„Morgen ist die Beerdigung und nach der Beisetzung wird die ganze Gesellschaft hier einkehren. Eines der Cafés in Ohlsdorf am Friedhof kommt selbstverständlich nicht infrage, das wäre ja nicht standesgemäß. Aber das bedeutet, ich brauche dringend eine Lieferung von Ihnen. Noch heute! Es tut mir leid, dass die Bestellung so kurzfristig kommt, in den letzten Tagen ist es hier drunter und drüber gegangen. Ich muss ein paar Kuchen backen und Kanapees herrichten. Meinen Sie, wir bekommen das irgendwie hin? Ich möchte ungern noch in den Großmarkt fahren müssen, es gibt so unendlich viel vorzubereiten.“

Puh … Das war ja eine Aufgabe! Mein Blick wanderte wieder aus dem Fenster zu Mateo, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Dann öffnete ich die Datei mit unseren Lieferungen für diesen Tag. Bereits auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass Maik, der heutige Auslieferungsfahrer, komplett belegt war und es nicht schaffen würde, die Villa der von Globedanz’ außer der Reihe zu beliefern.

„Unser Fahrer ist leider bereits unterwegs und sein Wagen ist voll. Er wird es heute nicht mehr hinbekommen.“ Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon gleich halb vier war. In einer halben Stunde hätte ich Feierabend. Da ich Ilse wirklich sehr mochte und dies eine absolute Notlage war, machte ich ihr einen Vorschlag.

„Das Einzige, was ich Ihnen anbieten könnte, wäre, wenn ich es Ihnen vorbeibringe. Allerdings müsste ich dann meinen Sohn mitbringen“, gab ich zu bedenken, obwohl ich wusste, dass es kein Problem für Ilse wäre. Ich hatte Mateo schon ein paarmal auf meiner Liefertour mitgenommen und die beiden verstanden sich wirklich gut.

Wie erwartet, stimmte Ilse erleichtert zu und gab mir ihre Bestellung durch. Im ersten Moment wunderte ich mich ein wenig über die Mengen, immerhin hatte sie erst letzte Woche für die Geburtstagsparty reichlich bestellt. Aber klar, das hatte sie sicher bereits verarbeitet. Auch wenn die Party durch Herrn von Globedanz’ plötzlichen Tod ausgefallen war, waren die gekochten Speisen nicht mehr gut genug für die Beerdigung.

Eine halbe Stunde später hatte ich alles zusammengesucht und befand mich mit Mateo auf dem Weg zur Villa.

„Gut, dass Sie so spontan kommen konnten. Es tut mir leid, dass ich Ihnen einen solchen Stress mache!“ Ilse stand bereits in der Tür zum Lieferanteneingang, als ich auf den Hof fuhr. Schnell lud ich die Kisten aus dem Kofferraum. Da ich in meinem kleinen Golf natürlich keine Sackkarre unterbringen konnte, trug ich die Kisten direkt in die Küche. Mateo folgte mir schweigend und setzte sich, nachdem Ilse ihn dazu aufgefordert hatte, artig auf die Holzeckbank am Küchentisch.

„Haben Sie denn alles dagehabt?“, fragte Ilse und fing an, die Lieferkisten auszuräumen.

„Ja, alles dabei. Und die Beerdigung ist bereits morgen? Da haben Sie aber ordentlich zu tun.“

Seufzend lehnte Ilse sich gegen die Arbeitsfläche.

„Wem sagen Sie das! Eine Küchenhilfe wäre heute nicht schlecht. Ich weiß gar nicht, wie ich das alles so schnell hinbekommen soll.“ Sie wirkte wirklich verzweifelt und ich konnte sie so gut verstehen. Immerhin musste sie mal eben spontan eine Beerdigung organisieren, auf der vermutlich weit über hundert Leute auftauchen würden. Ich warf Mateo einen Blick zu, als mir eine Idee in den Kopf schoss. Als könnte er meine Gedanken lesen, erwiderte er meinen Blick und nickte leicht. Ja, er kannte mich ebenso wie ich ihn.

„Und was ist, wenn ich Ihnen ein wenig zur Hand gehe? Ich koche gern, und Ihnen zuzuarbeiten, sollte ich wohl hinbekommen.“ Ilses Augen wurden immer größer, als sie realisierte, was ich ihr gerade angeboten hatte.

„Das würden Sie … Nein, das kann ich nicht annehmen!“ Ich konnte deutlich erkennen, dass es rein die Höflichkeit war, die es ihr verbot, meine Idee zu akzeptieren.

„Natürlich können Sie! Na los, sagen Sie mir, was ich machen soll!“

Ich sah, wie Ilse einknickte. „Na gut, aber wenn wir hier schon zusammenarbeiten, dann lassen wir endlich das Sie weg, finde ich!“, sagte Ilse und streckte mir die Hand hin.

„Okay, machen wir!“ Lächelnd ergriff ich ihre Hand. Danach ging ich resolut ans Werk und räumte die letzten Sachen aus den Kisten. Bereits kurze Zeit später schnippelten wir, während wir uns nebenbei unterhielten. Mateo hatte sich sein Buch aus dem Auto geholt und war schon wieder in die Geschichte der alten Römer versunken.

„Sogar Siegfried ist aus Spanien hergeflogen. Ich finde es ja so traurig, dass sie es nicht geschafft haben, sich zu Lebzeiten zu versöhnen“, erzählte Ilse.

„Aus Spanien? Lebt er dort?“ Ich wusste zwar, dass der jüngste Spross der von Globedanz’ ausgewandert war, aber ich hatte bisher nicht gewusst, wo er lebte.

„Ja, er hat eine Surfschule auf Fuerteventura.“

Erinnerungen kamen in mir hoch. Erinnerungen an meine Kindheit, die ich in Spanien verbracht hatte. Meine Mutter war Spanierin, während mein Vater ursprünglich aus Hamburg kam, und ich war bis zu meinem zehnten Lebensjahr in Barcelona aufgewachsen. Dann war mein Vater von seiner Firma nach Hamburg versetzt worden und wir waren hierhergezogen. Die ersten Jahre war ich sehr unglücklich hier gewesen und hatte Heimweh gehabt. Mit der Zeit hatte es sich gelegt, doch bis heute war Spanien das Land meiner Träume und ich beneidete Siegfried ein wenig. Nach Spanien auszuwandern, wäre mein großer Traum. Einfach alles hier hinter mir zu lassen und noch einmal neu anzufangen.

Räuberleiter

Am gestrigen Abend hatte ich noch mit Silly telefoniert. Ich musste einfach mit einem normalen Menschen sprechen und davon erzählen, wie unwohl ich mich in der Villa meiner Eltern fühlte. Am liebsten hätte ich diesen Ort, der sich für mich wie ein goldener Käfig anfühlte, sofort wieder verlassen und wäre in den nächsten Flieger nach Fuerteventura gestiegen.

Wäre meine Mutter nicht gewesen, hätte ich es ganz bestimmt auch getan. Doch ich konnte und wollte es ihr nicht antun. Innerlich schmunzelte ich noch immer über die Blicke meines Bruders am gestrigen Abend, weil unsere Mutter mich mehrfach mit Sid angesprochen hatte. Er sah uns an, als hätte sie etwas Verbotenes getan.

Als irgendwann am Abend noch Ellen, die eingebildete und wie immer viel zu stark geschminkte Frau meines Bruders, vorbeikam, war endgültig Schichtende für mich. Ich wollte und konnte diese für mich fremde Welt mit diesen noch fremderen Menschen, die ja eigentlich meine Familie waren, nicht länger ertragen. Ohne eine Erklärung und nur mit einem kurzen „Gute Nacht zusammen“ machte ich mich auf den Weg. Ich ging in das kleine, für mich hergerichtete Gästezimmer, das wahrscheinlich größer war als mein komplettes Haus auf Fuerteventura.

Heute Morgen sah die Welt schon etwas anders aus. Barfuß lief ich bereits gegen sechs Uhr über den Englischen Rasen, der fast golfplatzähnlich um die Villa herum angelegt war. Der Tau unter meinen Füßen und die aufgehende Sonne über mir zeigten mir deutlich, dass jeder Ort auch eine angenehme Seite haben konnte. Bilder liefen durch meinen Kopf. Bilder von meinem Vater und mir. Es waren nur einige wenige, da er sich für mich von klein auf nicht viel Zeit genommen hatte. Sein Leben war die Kanzlei, und die knappe Zeit, die er mit seiner Familie verbracht hatte, widmete er meistens meinem Bruder. Karl-Friedrich Senior und Karl Friedrich Junior führten schon damals Gespräche, die Väter normalerweise nicht mit einem Kind führten. Ständig war die Kanzlei das Thema. Über Opa Karl-Friedrich und meinen Uropa, der selbstverständlich ebenfalls Karl-Friedrich geheißen hatte, wurde auch gesprochen. Allerdings nicht lustige Geschichten aus dem Leben, sondern fast ausschließlich über den Aufbau der Hamburger Traditionskanzlei von Globedanz.

Plötzlich fiel mir etwas auf. Etwas, was eigentlich total unwichtig war, was mich in diesem Augenblick allerdings trotzdem interessierte. Warum wurden alle außer meinem Bruder mit Bindestrich zwischen den beiden Vornamen geschrieben? Ob es wohl eine sinnvolle Erklärung dafür gab? Ich nahm mir vor, meine Mutter danach zu fragen, und konnte es sogleich machen, da sie in diesem Augenblick auf mich zukam.

„Guten Morgen, Mama.“

„Guten Morgen, mein Sohn. Ich freue mich noch immer so sehr darüber, dass du da bist. Es ist ein schönes Gefühl.“ Ihre Freude zauberte mir ein Lächeln auf das Gesicht.

„Ich freue mich auch sehr, dich endlich wieder in die Arme nehmen zu können“, antwortete ich und zog sie an mich. Einen Moment lang schwiegen wir.

„Sag mal, Mama, warum wird der Name Karl Friedrich eigentlich ohne Bindestrich geschrieben?“, fragte ich dann. Natürlich konnte meine Mutter nicht gleich etwas mit meiner Frage anfangen. Nachdem ich ihr den Grund gesagt hatte, grinste sie.

„Da hat dein Vater damals einfach nur einen Fehler gemacht. Als wir den Namen haben eintragen lassen, wurde der Bindestrich schlichtweg von ihm vergessen.“

„Vergessen? Papa hat etwas vergessen? Das gibt es doch gar nicht.“ Die Frage, weshalb mein alter Herr nicht dagegen geklagt hatte, verkniff ich mir lieber. Ich hielt es für unpassend und amüsierte mich im Stillen darüber, dass Karl Friedrich einen falschen Namen trug. Es passte irgendwie perfekt zu ihm. Falsch war er auch, was er immer wieder aufs Neue bewies. Er redete jedem nach dem Mund, nur damit am Ende etwas Positives für ihn dabei herauskam. Wahrscheinlich war es eine berufsbedingte Krankheit, die auf der Karl-Friedrich-Linie vererbt wurde.

Auch diese Sätze verkniff ich mir, zu sagen. Warum sollte ich meiner Mutter mit diesen Worten wehtun?

„Ja, Sid, selbst dein Vater war ein Mensch mit Fehlern. Er hat es vergessen und anschließend dazu gestanden. Er war der Meinung, dass er andere Menschen nicht mit seinem Fehler belasten sollte. Außerdem war es ja nur ein Bindestrich. Zumindest dachte er dies, bis er eine Predigt von seinem Vater bekommen hat. Glaub mir, Sid, gegen deinen Opa war Papa ein Mensch voller Herzenswärme. Mein Schwiegervater war ein Arschloch. Für ihn gab es nur die Kanzlei, es ging ihm nur um Dinge, die für ihn von Vorteil waren. Dein Vater hingegen hat immer alles für seine Familie getan. Klar war er ein Geschäftsmann durch und durch, konnte aber trotzdem Beruf und Freizeit trennen.“ Stumm sah ich meine Mutter an. Das, was ich gerade über meinen Opa gehört hatte, konnte ich nicht beurteilen, da ich ihn nie gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte. Meine Erinnerung an ihn bestand lediglich aus dem Ölgemälde, das in diesem protzigen goldenen Rahmen in der Villa hing. Doch wie meine Mutter über meinen Vater sprach, deckte sich so gar nicht mit meiner Erinnerung an meine Kindheit. Ich fand es jedoch nicht angebracht, dieses Thema jetzt noch weiter zu vertiefen.

„Wie geht es dir, Mama? Das mit Papa kam ja sehr plötzlich“, fragte ich und griff nach ihrer Hand. Gestern hatten wir uns mehr über allgemeine Dinge unterhalten. Ich mochte es nicht, in der Anwesenheit meines Bruders über Gefühlsthemen zu sprechen.

„Ach Sid …“ Meine Mutter brach in Tränen aus. Es ging ihr wirklich ziemlich schlecht. Ich drückte sie ganz nah an meine Brust heran und strich ihr beruhigend über den Rücken.

Plötzlich stand mein Bruder hinter uns und polterte sofort los.

„Was ist denn hier los? Mutter, du bist ja noch gar nicht angezogen. In einer Stunde müssen wir in der Kanzlei sein. Hast du etwa den Termin mit Herrn Schmidt-Müller vergessen?“

„Entschuldige, Karl Friedrich. Ich mache mich schnell fertig. Gib mir zehn Minuten. Du kannst ja hier bei Sid auf mich warten.“

„Nein. Ich warte im Haus. Dann kann mir Ilse noch einen Kaffee zubereiten.“ Auch wenn es mir so lieber war, tat es mir für meine Mama sehr weh. Erneut hatte mein Bruder klargemacht, dass er ebenso wenig Interesse an mir wie ich an ihm hatte. Doch musste er es so deutlich zeigen? Konnte er in dieser Situation nicht eine Ausnahme machen und zumindest etwas Small Talk versuchen? Ihn darauf ansprechen konnte ich nicht mehr, da er bereits auf dem Weg ins Haus war. Achselzuckend sah meine Ma mich an. Als sie gehen wollte, stellte ich ihr eine Frage: „Wer ist dieser Schmidt-Müller?“

„Das ist der Notar. Es gibt noch einiges zu klären.“

„Okay.“ Mehr antwortete ich nicht. Während meine Ma sich auf den Weg machte, grübelte ich, was es wohl vor einer Testamentseröffnung zu klären gab. Würden vielleicht bereits heute die ersten Geier mit der Leichenplünderei starten? Ich hielt es für unangebracht und es machte mich traurig. Zum Glück musste ich an dieser Veranstaltung nicht teilnehmen. Nur kurz wunderte ich mich darüber, dass ich von diesem Termin nichts gewusst hatte. Immerhin war ich einer der Söhne und die sollten doch eigentlich alle dabei sein. Aber es war mir egal, da ich ja mehrfach enterbt war. Von diesem Geld, das mir meine Kindheit, Jugend und das frühe Erwachsenenalter zerstört hatte, wollte ich sowieso keinen einzigen Cent abhaben.

Während die anderen mit dem Notar zusammensaßen, machte ich mich auf den Weg in meine Vergangenheit. Ich ging hinunter zum Elbstrand. Dorthin, wo ich in meiner Kindheit die meiste meiner Zeit verbracht hatte. Ich saß hier und mein Blick fiel auf die Elbe. Auf das Wasser, das als Kind mein Ozean gewesen war. Die kleinen Wellen dieses Flusses waren es, die mich zum Träumen gebracht hatten. Der Sandstrand hier war mein Paradies, und damals begann ich, von der Ferne und meiner Freiheit zu träumen.

Einige Stunden später riss mich mein knurrender Magen aus meiner Vergangenheit. Da ich vergessen hatte, Geld einzustecken, machte ich mich auf den Heimweg.

Die Küche war leer. Obwohl es hier nach Vorbereitungen aussah, war von Ilse nichts zu sehen. Das Objekt meiner Begierde war der Kühlschrank, und nachdem ich mir ein großes Wurststück von dieser riesigen Mettwurst abgeschnitten hatte, öffnete ich den Kühlschrank ein weiteres Mal. Käse. Ich hatte doch vorhin ein Käsestück gesehen. Als ich die Rinde entfernt hatte, machte ich mich wieder auf den Weg in den Garten. Allerdings nur so lange, bis ich bemerkte, dass mein Kaffeedurst stärker als der Drang nach Sonne wurde. Im Haus war es unheimlich still. Fast totenstill, dachte ich und ärgerte mich über mein Wortspiel, das in diesem Moment alles andere als angebracht war.

Als ich zur großen Standuhr blickte, erkannte ich, dass wir es bereits späten Nachmittag hatten.

Ohne zu klopfen, betrat ich erneut die Küche und sah mich verwundert um. Nicht nur Ilse stand dort und schnippelte irgendwelche Sachen. Sie hatte Hilfe in Form einer wahnsinnig attraktiven Frau, die ebenso wie Ilse mit einem scharfen Küchenmesser bewaffnet war.

„Äh, sorry … Ich wollte nicht … Also, ich wollte nicht stören. Dann gehe ich wohl besser wieder.“ Während mich die junge Küchenhilfe mit einem fragenden, vielleicht sogar etwas erstaunten Blick ansah, schüttelte Ilse den Kopf.

„Sie stören nicht, Siegfried. Was kann ich für Sie tun?“

„Du kannst mich bitte Sid nennen“, erklärte ich lachend. „Ich wollte mir einen Kaffee holen.“

„Einen Augenblick. Ich wasche mir nur meine Hände. Dann serviere ich Ihnen den Kaffee. Wohin darf ich ihn bringen?“ Ilse legte das Messer aus der Hand.

„Nein. Du brauchst mir nichts zu servieren. Kaffee kann ich allein kochen. Ich bin doch schon groß, auch wenn es mir niemand aus der Familie wirklich glaubt.“ Ich zwinkerte der jungen Küchenhilfe zu.

Dann fragte ich mich, wie meine Eltern darauf gekommen waren, sie hier einzustellen. Sie war wunderschön, entsprach allerdings nicht der Optik des restlichen Personals, was nicht nur ihrer luftigen und legeren Kleidung geschuldet war.

„Aber …“

„Kein Aber. Schnippelt ihr mal weiter und ich ziehe mir einen Kaffee.“

„Sie ziehen?“ Innerlich lachte ich mich über Ilse und ihre Frage kaputt, versuchte aber trotzdem, eine neutrale Antwort zu geben. „Ziehen bedeutet so viel wie kochen.“ Erst jetzt, als ich mich der Maschine zuwandte, entdeckte ich einen kleinen Jungen.

„Hey, wer bist denn du?“

„Mateo. Guten Tag, Herr …“ Der Kleine brach ab. Hilfe suchend ging sein Blick zu der hübschen Küchenhilfe.

„Das ist Herr von Globedanz.“ Leise, jedoch für alle gut hörbar, verriet sie dem Jungen meinen Namen.

„Danke, Mama. Guten Tag, Herr von Globedanz.“ Erleichtert nannte mich der Kleine beim Namen.

„Nenn mich einfach Sid. Das sagen alle Freunde zu mir.“ Nach einem weiteren Hilfe suchenden Blick zu seiner Mutter nickte er.

„Warum sitzt du bei diesem schönen Wetter hier in der Küche? Geh doch in den Garten.“ Zur Antwort bekam ich ein schüchternes Kopfschütteln. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich mich bei seiner Mutter noch gar nicht vorgestellt hatte.

„Sorry, wie unhöflich von mir! Ich bin Sid.“ Ich streckte ihr meine Hand entgegen. Auf einmal kam mir eine Idee. „Stört es dich, wenn ich deinen Sohn für ein paar Minuten entführe?“ Ja, ein wenig Gesellschaft im Garten zu haben, wäre wirklich schön.

„Ich bin Candela. Wenn Mateo mag, darf er gern mit nach draußen.“ Freundlich lächelnd erwiderte sie meinen Handschlag.

„Los jetzt. Komm, lass uns den Garten entern. Ich zeige dir ein paar coole Stellen.“ Dass es hier keine coolen Stellen gab, wusste ich selbst. Allerdings fand ich, dass Mateo in diesem Moment sehr viel besser im Garten aufgehoben war. Ich griff nach seiner Hand und zog ihn von der Eckbank. Etwas widerwillig gab er nach und folgte mir, löste seine Hand aber fast sofort wieder aus meiner. Erst als ich bereits an der Tür angekommen war, drehte ich mich um und sah, dass Mateo mitten in der Küche stehen geblieben war. Sein erneut Hilfe suchender Blick zu seiner Mutter wurde ebenfalls erneut mit einem Nicken beantwortet.

„Komm jetzt. Das Buch kann hierbleiben. Es wäre ja ärgerlich, wenn es dreckig werden würde.“

„Wieso dreckig?“, fragte ich nach, machte mir aber keine weiteren Gedanken darüber. Ich nahm Mateo das Buch aus der Hand, griff anschließend nach derselbigen und schon machten wir uns auf den Weg nach draußen.

Um die laufende Sprinkleranlage machte Mateo im Gegensatz zu mir einen großen Bogen. Auch als ich auf einen der Bäume kletterte und ihn von oben dazu ermutigen wollte, es ebenfalls zu tun, zeigte er keinerlei Interesse daran. Doch so einfach wollte ich nicht aufgeben. Obwohl ich bemerkte, dass er irgendwie anders als andere Kinder war, fand ich, dass er Freude haben musste. Ich sprang vom Baum hinunter und machte ihm eine Räuberleiter. Mit einem Fuß stand er in meinen Händen, während er nach einem der Äste griff.

Plötzlich ließ er den Ast los, und nur dank meiner schnellen Reaktion fiel er nicht auf den Boden, sondern landete in meinen Armen.

„Du kannst doch nicht einfach loslassen!“, rief ich erschrocken. Mateo antwortete nicht. Nachdem ich ihn auf dem Rasen abgesetzt hatte, stand er nur da und sah auf seine Handinnenflächen.

„Hey, ist alles gut? Hast du dir wehgetan?“

„Wo kann ich meine Hände waschen?“

„Wo kannst du was?“ Obwohl ich seine Worte genau verstanden hatte, fragte ich automatisch nach.

„Wo ich meine Hände waschen kann. Sie sind am Baum ganz dreckig geworden.“

„Komm mit.“ Ich war gerade überfordert. Was hatte er denn nur für eine Mutter? Eine Mutter, die anscheinend nicht mochte, dass er sich dreckig machte. Ich nahm meine Gedanken von vorhin zurück. Sie passte doch perfekt in diesen goldenen Käfig.

An der Sprinkleranlage blieb ich stehen und hielt mit einer Hand einige Löcher zu, sodass nur zwei Wasserstrahlen übrig blieben.

„Jetzt kannst du deine Hände waschen.“ Auffordernd grinste ich.

„Hier? Wie soll das denn gehen?“

„Versuche es einfach. Es wird funktionieren.“ Gespannt darauf, was nun passieren würde, sah ich ihn an.

„Aber hier ist keine Seife.“

„Du brauchst keine. Das geht auch so.“ Tatsächlich begann Mateo, seine Hände unter einem der beiden Wasserstrahlen zu waschen. Es juckte mich dabei, meine Hand wegzuziehen. Es war ein heißer Tag und Wasser auf der Kleidung hatte immerhin noch niemandem geschadet.

„Achtung!“, rief ich laut und nahm im gleichen Augenblick meine Finger von der Anlage. Hoch und kräftig schoss das Wasser nun wieder aus allen Öffnungen und sorgte dafür, dass wir nass wurden.

„Lauf!“ Ich griff nach Mateos Hand und schon rannten wir über den Rasen und flüchteten vor dem Wasser. Als wir weit genug weg waren, blieben wir stehen. Während ich lachte, sah Mateo an sich hinab.

„Ich bin ganz nass.“

„Ja. Ich auch. Cool, oder? Ich hatte gerade total Spaß. Und du?“

Sein Gesichtsausdruck lockerte sich ein wenig. „Ich weiß nicht.“ Immerhin hatte er meine Frage nicht verneint. Ich wertete es als ein gutes Zeichen und schon machten wir uns auf den Weg zurück in die Küche.

Währenddessen versuchte Mateo, die Brille an seinem Shirt zu reinigen. Selbstverständlich war sie ebenfalls von den Wassertropfen getroffen worden.

„Alles gut bei dir?“ Ich blieb stehen und sah den Jungen fragend an.

„Meine Brille.“ Sein Blick fiel auf die verschmierten Gläser.

„Gib mal her.“ Jetzt versuchte ich mein Glück und schaffte es tatsächlich, die Brille in ihren alten Zustand zu versetzen. Zumindest einigermaßen. „Hier, bitte.“

„Danke, Herr von …“

Ich unterbrach ihn. „Sid. Bitte nenn mich einfach Sid.“ Ein Nicken war seine Antwort. Dann gingen wir weiter.

Kurz vor dem Eingang war ein Beet angelegt, in dem die verschiedensten Tulpen in allen Farben leuchteten.

„Mag deine Mama Blumen?“

„Sehr sogar“, antwortete er prompt und strahlte mich an.

„Dann pflücken wir ihr jetzt einen Strauß.“

„Ehrlich?“

„Ja klar. Such für sie die schönsten aus.“ Gemeinsam hockten wir uns vor das Beet. Gerade als wir fertig waren und in das Haus zurückkehren wollten, kam mein Bruder.

„Was machst du da?“

„Wir haben einen Blumenstrauß für meine Mama gepflückt“, antwortete Mateo stolz. Nachdem ich ihm zugeflüstert hatte, dass er schon ins Haus gehen sollte, richtete ich mich vor meinem Bruder auf.

„Wenn es dir nicht passt oder ich mal wieder etwas Verbotenes getan haben sollte, dann schreib mir einfach eine Rechnung.“ Mehr sagte ich nicht. Anschließend drehte ich mich herum und folgte Mateo.

Danke!

Als Herr von Globedanz Junior vorhin in die Küche gekommen war, hatte ich nicht schlecht gestaunt. Ich wusste selbst nicht so genau, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, aber ganz sicher nicht so.

Seinen Vater und seinen Bruder hatte ich immer perfekt gekleidet erlebt. Sie trugen feine Stoffhosen, steife Hemden und Krawatten, egal, wie warm es draußen war. Als Siegfried hereinkam, dachte ich im ersten Moment, er wäre ein Hausangestellter. Locker sitzende Cargoshorts, ein Tanktop dazu und Flip-Flops an den nackten Füßen. Die Haare ungefähr kinnlang und mit von der Sonne gebleichten blonden Strähnen, die Haut gebräunt, als würde er sich normalerweise den ganzen Tag draußen aufhalten. Hätte Ilse ihn mir als Gärtner des Unternehmens, das das Anwesen pflegt, vorgestellt, ich hätte ihr sofort geglaubt. Erst durch die Unterhaltung mit Ilse verstand ich, wer er wirklich war – der freigeistige Sohn der Familie von Globedanz. Während mein Kopf noch dabei war, ihn mit dem Rest der Familie zusammenzusortieren, sprach er Mateo an, der mit seinem Buch auf der Eckbank saß.

Immer wieder traf mich ein Hilfe suchender Blick meines Sohnes, als Siegfried sich mit ihm unterhielt, und ich war hin- und hergerissen. Sollte ich erlauben, dass er mit ihm in den Garten ging? Was ich bisher von den Anlagen gesehen hatte, war dies hier ebenso penibel gepflegt wie der Garten von Frank. Eine Rasenfläche, bei der man das Gefühl hatte, die Schuhe ausziehen zu müssen, um ihn nicht zu beschmutzen. Rosenbeete, die mich schon auf den ersten Blick an meinen Exmann erinnerten. Kein noch so kleines Fitzelchen Unkraut war irgendwo zu entdecken. Selbst Löwenzahn, Gänseblümchen, Quäke oder Klee trauten sich nicht, sich zwischen den sorgsam gestutzten Grashalmen anzusiedeln.

Da ich meinen Sohn aber gut genug kannte, dass er keinen Unsinn anstellen würde, stimmte ich zu. Vielleicht tat es ihm gut, mal für ein paar Minuten von meinem Rockzipfel wegzukommen.

Während die beiden draußen waren, widmeten Ilse und ich uns wieder den Vorbereitungen. Ich war gerade dabei, Teig zu kneten, als die Küchentür erneut aufging und mich, wie schon eben von Siegfried, ein erstaunter Blick traf.

„Oh, wie ich sehe, haben Sie Hilfe bekommen?“, fragte Frau von Globedanz mit Seitenblick auf mich. Kurz bekam ich Angst, dass es ihr nicht recht sein könnte, dass ich Ilse half. Doch das freundliche Lächeln, das sie mir zuwarf, beruhigte mich.

„Sie haben nicht zufällig auch morgen Nachmittag Zeit?“ Mein Blick wanderte zwischen ihr und Ilse hin und her. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit sagen wollte. Morgen war doch die Beerdigung?

„Mathilda kommt morgen und hilft mir servieren.“ Nach Ilses Worten machte es bei mir klick. Natürlich, wenn die High Society hier auflief, wurde jemand benötigt, der mit Getränken und den Kanapees herumging und dafür sorgte, dass alle Gäste zufrieden waren. Wahrscheinlich war Mathilda eine Aushilfe für solche Fälle.

„Ja, genau deshalb bin ich hier. Mathilda hat gerade angerufen. Sie ist beim Fensterputzen zu Hause von der Leiter gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Das heißt, Sie sind morgen allein, Ilse. Daher meine Frage.“

Frau von Globedanz wandte sich direkt an mich. „Ich weiß, meine Bitte kommt sehr spontan. Aber da Sie hier bereits bei den Vorbereitungen helfen … Könnten Sie es sich vielleicht vorstellen? Ich habe keine Idee, wo ich sonst so schnell jemanden herbekommen soll.“ Es sah aus, als würde Frau von Globedanz jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie es ihr ging. Ihr Mann war so plötzlich verstorben, er war gerade erst 61 gewesen. Sie trauerte sehr um ihn, das konnte ich sehen. Doch sie musste die Flagge hochhalten und das Ganze irgendwie durchstehen. Ich wusste nicht, wie Siegfried dazu stand, aber Karl Friedrich war ihr sicher keine große Hilfe. Auf einmal musste sie alles allein regeln und durfte innerhalb weniger Tage eine Beerdigung mit ein paar hundert Gästen organisieren.

„Es tut mir leid, ich würde wirklich gern, aber ich muss morgen bis 15 Uhr arbeiten. Und außerdem habe ich keine Betreuung für meinen Sohn.“

Die Enttäuschung stand Frau von Globedanz ins Gesicht geschrieben und sie wirkte auf einmal müde. Als hätte alle Kraft sie verlassen. Seufzend nahm sie auf der Holzeckbank Platz, auf der Mateo vor Kurzem noch gesessen hatte. Sie tat mir unendlich leid, mein viel zu weiches Herz wollte ihr so gern einen Teil ihrer Last abnehmen, ihr irgendwie helfen, aber ich wusste nicht wie.

„Kannst du Mateo nicht mitbringen? Er ist doch schon ein großer Junge mit seinen sieben Jahren. Den merkt man ja gar nicht. Außerdem ist die Beisetzung erst nachmittags.“

Frau von Globedanz’ Kopf ruckte hoch bei Ilses Worten. „Ja, das ist eine wirklich gute Idee. Bringen Sie ihn mit. Wenn Sie wollen, kann ich einen DVD-Player in einem der Gästezimmer aufstellen lassen. Vielleicht bringen Sie ihm einen Film mit oder etwas zu spielen. Meinen Sie nicht, das wäre eine Möglichkeit? Sie werden auch gut bezahlt!“ Auf einmal schien wieder Leben in sie zu kommen und sie strahlte mich an.

Ich spürte genau, wie ich unter den flehentlichen Blicken dahinschmolz. Selbst ohne dafür bezahlt zu werden, wäre ich in diesem Moment eingeknickt. Obwohl ich das Geld mehr als gut gebrauchen konnte! Mateo brauchte unbedingt neue Hosen und Schuhe, da er aus seinen Sachen rausgewachsen war, daher sagte ich zu.

Während Frau von Globedanz sich überschwänglich bedankte, sah ich aus dem Augenwinkel meinen Sohn, der in der Tür zur Küche auftauchte.

Ohne ihn direkt anzusehen, wusste ich schon – irgendetwas war anders. Eine zweite, größere Person erschien im Türrahmen, und als ich den beiden entgegensah, hörte ich Siegfried. „Na los, Kleiner.“ Er legte kurz die Hand auf die Schulter meines Sohnes, dann schickte er ihn zu mir. Beide hatten ein breites Lächeln im Gesicht, vielleicht war es das, was mir als Erstes aufgefallen war. Wann hatte Mateo zuletzt so strahlend gelächelt?

Erst auf den zweiten Blick sah ich die Blumen in seiner kleinen Hand und seine Kleidung, die von oben bis unten nassgespritzt war. Direkt vor mir blieb Mateo stehen und schaute ein wenig verunsichert zu mir auf. Das Lächeln war wieder verschwunden. Noch immer sprachlos wegen seiner Erscheinung hockte ich mich vor ihn, nahm ihn bei den Schultern und musterte ihn.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder gleich vor Freude weinen sollte.

„Die sind für dich!“, sagte Mateo schüchtern und hielt mir den selbst gepflückten Blumenstrauß entgegen, der in seiner Hand bereits ein wenig gelitten hatte.

„Du … du hast mir Blumen …? Und du bist nass? Und ein bisschen schmutzig. Ich glaube … O Mateo! Danke! Ich freue mich so sehr!“ In diesem Moment konnte ich nicht anders. Schluchzend zog ich ihn in meine Arme. Tränen der Freude liefen mir über die Wangen, als ich mein Kind fest an mich presste.

Was hatte dieser Siegfried nur gemacht? Wie hatte er es geschafft, dass mein Sohn derart aus sich herausgegangen war? Noch vor wenigen Minuten hätte ich nicht daran geglaubt, dass ich ihn jemals so sehen würde.

Ich hob den Kopf und suchte Siegfrieds Blick.

„Danke!“, sagte ich nur. Vermutlich hatte er keine Ahnung, was ich damit meinte, er kannte uns ja nicht. Doch ich war ihm in diesem Moment einfach so unendlich dankbar, wie ich es bisher nur wenigen Menschen in meinem Leben gewesen war.

Noch immer schniefend und um Fassung ringend, machte ich mich von Mateo los und richtete mich auf. Ein wenig peinlich berührt wegen meines rührseligen Ausbruchs schaute ich zu Frau von Globedanz. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, und nachdem sie mir leicht zugenickt hatte, ging sie zu ihrem Sohn hinüber. Sie legte ihre Hand an seine Wange und murmelte leise: „Du bist mein Sohn. Und du bist perfekt, so wie du bist!“

Obwohl ich den Hintergrund ihrer Worte nicht verstand, spürte ich doch, dass dieser Moment auch für die beiden ein ganz besonderer war.

„Na, Mateo, wollen wir mal eine Vase suchen gehen?“ Als er nickte, nahm Ilse meinen Sohn an die Hand und machte sich mit ihm auf den Weg in den angrenzenden Hauswirtschaftsraum.

„Ja, ich … will dann mal … Also …“ Siegfried deutete auf die Küchentür als Zeichen, dass er gehen wollte.

„Vielen Dank, dass Sie mit meinem Sohn im Garten waren!“, sagte ich noch einmal.

Ein hintergründiges Lächeln legte sich auf Siegfrieds Lippen. Als wären seine Gedanken gar nicht mehr wirklich hier, sondern irgendwo ganz woanders.

Selbst als Mateo längst schlief, ließ mich der Gedanke an Siegfried von Globedanz nicht los. Ich schaute auf die Tulpen, die in einer Vase auf meinem Couchtisch standen, und dachte über den heutigen Nachmittag nach. Was auch immer er mit meinem Kind angestellt hatte, ich hatte das Gefühl, in Mateos Mauern waren klitzekleine Risse zu erkennen. Den ganzen Abend hatte er vollkommen begeistert von Sid, wie er Siegfried nannte, erzählt und wie sehr er sich freute, morgen wieder dort in der Villa zu sein. Ich war ein wenig hin- und hergerissen. Mateo mochte Sid so, dass ich Angst hatte, er würde sich zu sehr hineinsteigern.

Siegfried hatte sich sicher nur aus Langeweile mit ihm beschäftigt. Wir waren nicht seine Schicht der Gesellschaft, egal, wie locker er sich gab. Wir gehörten dahin, wo wir heute gewesen waren – in die Küche. Nicht in den Salon.

Noch einmal hatte er bestimmt keine Lust, mit einem schüchternen, introvertierten Kind seine Zeit zu verbringen. Und selbst wenn doch, morgen war die Beerdigung seines Vaters. Wahrscheinlich würde er bald danach nach Spanien zurückkehren und nie wieder einen Gedanken an Mateo verschwenden. Sid würde in seiner Welt verschwinden und wir in unserer bleiben. Ich lächelte, als ich bemerkte, dass ich Siegfried in meinen Gedanken gerade Sid genannt hatte.

Unsere Gruft

Heute war meine Premiere. Tatsächlich war es so, dass ich am heutigen Tag zum ersten Mal in meinem Leben auf eine Beerdigung gehen musste.

Abschiede hatte ich schon einige genommen. Von meiner Familie hatte ich mich damals verabschiedet, genau wie von meiner Heimat und von meinen Freunden.

Als mein Opa gestorben war, durfte ich nicht mit auf die Beerdigung. Mein Vater hatte gemeint, dass ich dort nichts zu suchen hätte. Ich würde wahrscheinlich Blumen pflücken oder auf irgendwelchen umliegenden Gräbern spielen. Ich sollte mir ein Beispiel an meinem Bruder nehmen. Erst wenn ich irgendwann ebenso reif war wie er, durfte auch ich an Begräbnissen teilnehmen.

So reif wie mein Bruder war ich noch immer nicht. Doch da mein Vater nicht mehr die Entscheidungen treffen konnte, würde mich mein Weg nachher zum Ohlsdorfer Friedhof führen. Dorthin, wo sich unsere Familiengruft befand. Ich musste den Weg gehen, der mich zum Abschiednehmen führte. Heute war der Tag des wirklichen Abschieds. Mein damaliger zählte nicht mehr, und er war definitiv etwas anderes gewesen, da mein alter Herr noch gelebt hatte. Ja, bis vor einigen Tagen war er noch da, obwohl er nicht bei mir war. Nein, obwohl ich nicht bei ihm war!

Ich hatte keine Ahnung, wie sich das Gefühl der Trauer anfühlte. Besser gesagt, wie es sich anfühlen müsste. Das, was ich empfand, war bis zum gestrigen Abend nur mein schlechtes Gewissen gewesen. Manchmal wunderte ich mich über mich selbst. Ja, in einigen Situationen hatte ich mich in der Villa umgesehen und darauf gewartet, dass mein Vater durch eine der vielen Türen hindurchkommen würde.

Erst heute Morgen nahm ich zum ersten Mal bewusst wahr, dass er es niemals wieder machen würde. Dass es nicht ging. Dass mein Vater nicht mehr da war. Dass er nicht nur für mich nicht mehr da war, sondern dass er diese Welt verlassen hatte.

Auch die Stärke und Kraft meiner Mutter, über die ich mich in den letzten Tagen gewundert hatte, war verschwunden. Heute Morgen saß sie wie ein Häufchen Elend in der Küche und trank einen Kaffee. Im Moment brauchte meine Ma Ilses Gesellschaft und saß daher in der Küche. Dies war eine Situation, mit der ich nur schwer umgehen konnte. So kannte ich meine Mutter nicht, so wollte ich sie auch gar nicht kennen, und doch lag es nun an mir, ihr Kraft für den heutigen Tag zu geben. Ebenfalls mit einem Kaffeebecher in der Hand setzte ich mich neben sie. Ganz nah war ich auf der Holzbank an meine Mutter herangerutscht und spürte, wie ihr Zittern langsam etwas weniger wurde.

„Sid, wir müssen heute stark sein.“

Verwundert sah ich sie an. Ich sortierte meine Worte, da ich nichts Falsches sagen wollte. Dann verwarf ich meine geordneten Worte und sagte das, was ich der Meinung war, sagen zu müssen. „Wir müssen gar nichts. Das Einzige, was wir tun sollten, ist, diesen schrecklichen Tag so gut wie möglich über die Bühne zu bringen.“

„Doch, Sid. Die Gesellschaft erwartet es von mir.“ Ich wurde wütend. Wütend auf das Leben, das meine Mutter führen musste. Wütend, dass mein Vater ihr dieses Leben eingebrockt hatte. Wütend auf meinen Bruder, der nicht eingegriffen hatte. Aber am meisten war ich auf mich selbst wütend, da ich mich in den letzten Jahren viel zu wenig um meine Mutter gekümmert hatte. Ich hatte mein Leben genossen, während meine geliebte Ma hier weiterhin eingesperrt gewesen war. Auch wenn sie es sich selbst so ausgesucht hatte und natürlich nie wirklich eingesperrt gewesen war, fühlte es sich für mich in diesem Augenblick so an.

„Die anderen sind egal. Nur du zählst an diesem Tag. Soll ich den ganzen Firlefanz für heute Nachmittag absagen? Wollen nur du, Karl Friedrich und ich zum Abschluss noch einen Kaffee zusammen trinken?“, fragte ich und hatte das Gefühl, dass meine Mutter nur zu gern zugestimmt hätte. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Weißt du, Sid, am liebsten …“

Jäh wurde sie unterbrochen. „Auf eine solche Idee kann auch nur mein Bruder kommen. Sich absetzen, die Familie im Stich lassen und dann nach der Rückkehr über Dinge reden, von denen man keine Ahnung hat, ist schon sehr obskur.“ Karl Friedrich stand im Rahmen der Küchentür und hatte zu allem Überfluss auch noch Ellen dabei, die eifrig nickte. Dieses Nicken hatte nichts zu bedeuten. Sie fand alles toll, was mein Brüderchen von sich gab. Sie war einfach froh, in diesen Kreisen sein zu dürfen, und hätte dafür wahrscheinlich sogar ihr eigenes Kind verkauft. Das Kind, das sie niemals haben würde, da es nicht in den Masterplan meines Bruders passte.

Es wunderte mich zwar, da so kein neuer Juniorchef heranwachsen konnte, allerdings nicht so sehr, dass ich meine Neugier dazu befriedigen musste. Nein, ein Gespräch über die Familienplanung meines Bruders zu führen, war mir ungefähr so wichtig, wie die Sandkörner am Elbstrand zu zählen. Falsch! An den Körnern hätte ich mehr Interesse gehabt.

„Es geht um unsere Mutter!“ Hasserfüllt sah ich meinen Bruder an.

„Um unsere Mutter? Um die Frau, die du im Stich gelassen hast? Nein, Siegfried, es geht um die Familie und darum, wie ein großer Mann in Kreisen wie den unseren verabschiedet wird. Da muss jeder sein eigenes Ego zurückstellen und sich an die Gepflogenheiten der Gesellschaft halten.“ Ich schaute zu meiner Mutter. Deutlich war zu erkennen, wie sie mit den Tränen kämpfte.

Was hatte der Schwachmat da gerade von sich gegeben? War das wirklich seine Meinung? Klar war sie es und am liebsten hätte ich sie aus ihm herausgeprügelt. Ellen stand noch immer nickend hinter ihrem Mann und machte ein wichtiges Gesicht. Zumindest versuchte sie es.

Als ich aufstehen wollte, um mich vor meinem Bruder aufzubauen, hielt mich meine Ma an der Hand fest. Ein kurzer Griff genügte, um mir zu zeigen, dass ich sitzen bleiben sollte. Sie hatte ja recht, das war es nicht wert, und so widmete ich mich einfach meinem Kaffeebecher und ignorierte die Worte meines Bruders. Zumindest für heute, da ich bei solchen Sachen ein Gedächtnis wie ein Elefant hatte.

„Ich werde es schon schaffen. Wir müssen es für euren Vater hinbekommen. Er hätte es sich so gewünscht.“ So war meine Mutter. Schon immer war ihr mein Vater wichtiger gewesen als ihr eigenes Leben.

„Und für die Kanzlei.“ Während Ellen erneut den Wackeldackel spielte, ignorierte meine Mutter den Satz meines Bruders. Genau, wie ich es tat.

Je näher wir dem Nachmittag kamen, desto mehr zog ich mich zurück. Am liebsten wäre ich an die Elbe gelaufen und hätte den Wellen und Schiffen zugesehen. Dieser Anblick gab mir immer ein Gefühl von Freiheit. Von genau dieser Freiheit, nach der ich mich in diesem Moment sehnte.

Als wir an der Kapelle auf dem Friedhof angekommen waren, erinnerte mich die Szenerie an einen Film. Auf dem Parkplatz standen nebeneinander in einer Reihe etliche blank geputzte Millionen. Ein Fahrzeug war teurer als das andere und immer weitere kamen hinzu.

Aus der Kapelle wäre ich am liebsten geflüchtet. Als dann noch das Lieblingslied meines Vaters gespielte wurde, war ich tatsächlich kurz davor, aus diesem für mich unwirklichen Raum zu fliehen. Allein für Mutter blieb ich und so verließen wir erst nach der Predigt diesen Ort.

Vor uns waren lediglich die Sargträger, die meinen Vater langsam im Gleichschritt in Richtung unserer Familiengruft trugen.

Ich war in der ersten Reihe und meine Mutter hatte sich bei mir untergehakt. Direkt hinter uns gingen mein Bruder und seine Frau. Nur zu gerne hätte ich mich umgedreht und nachgesehen, ob sein Blick noch immer derselbe wie vor einigen Minuten war. Wie in dem Moment, als unsere Mutter ihm deutlich gemacht hatte, dass sie neben mir in der ersten Reihe gehen wollte und er sich mit seiner Frau gefälligst hinter uns einzureihen hatte.

Nein, ich fühlte mich hier nicht wohl. Und nein, ich legte keinen Wert auf diese erste Reihe. Am liebsten wäre ich der Gesellschaft hinterhergetrottet und hätte dabei ganz allein und auf meine Art und Weise Abschied genommen. Doch nun war es so, und ich fand, dass ich es meiner Mutter, aber auch meinem Vater schuldig war.

Meine Ma stand eingehakt neben mir, und ich erkannte an ihrem immer mal wieder zuckenden Körper, wie sehr sie mit sich und den Tränen zu kämpfen hatte.

Endlich hatten wir es geschafft. Nachdem wir uns in der Familiengruft am Sarg von meinem Vater verabschiedet hatten, blieben wir noch einen Moment vor dem kleinen Gebäude stehen, bevor wir uns langsam auf den Weg zu unserer Limousine machten.

„Das war wirklich sehr schön. Ein tolles Ereignis, das Papa mehr als verdient hatte. Ich freue mich schon auf unseren Empfang. Was meinst du, Mutter, ob unser Erster Bürgermeister wohl erscheinen wird?“, fragte Karl Friedrich. Meine Mutter, die sich bei mir untergehakt hatte, blieb stehen und löste sich aus meinem Arm. Langsam drehte sie sich zu meinem Bruder herum. Ernst sah sie ihm in die Augen und sprach dann in einem ruhigen, jedoch bestimmten Tonfall Worte, die ich niemals wieder vergessen würde.

„Karl Friedrich! Ob unser Bürgermeister oder der Kaiser von China gleich bei uns sein wird, ist mir vollkommen wurscht. Mein geliebter Mann ist gestorben und ich nehme Abschied von ihm. Alles andere ist mir egal. Schön fand ich diese Beerdigung nicht. Wenn überhaupt, war sie passend auf euren Vater abgestimmt“, wies sie ihn zurecht. Anschließend drehte sie sich wieder um, hakte sich bei mir ein und zusammen machten wir uns auf den Weg zum Parkplatz.

Als wir bei der Villa ankamen und die Limousine verließen, herrschte noch immer Eiszeit zwischen meiner Mutter und Karl Friedrich. Ellen war es, die die Wogen glätten wollte.

„Ich finde, ihr habt beide recht. Es ist doch schön, dass ihr euch so ergänzt.“ Freudestrahlend und stolz auf sich sah sie zunächst zu meinem Bruder und anschließend zu meiner Mutter, die sie jedoch stehen ließ und einfach nur kopfschüttelnd ins Haus ging.

„Und ich finde, dass du in den letzten Jahren noch dümmer geworden bist.“ Leise warf ich Ellen diesen Satz zu und folgte meiner Mutter.

High Society

Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft ich mit Frank auf solchen High-Society-Veranstaltungen gewesen war. Beerdigungen, Hochzeiten, Empfänge, Hauseinweihungen, Spendengalas und zu diversen anderen Gelegenheiten. Doch heute war es anders. Heute war ich nicht eine von denen, die aufgerüscht bis unters Dach dieses dämliche Spiel von Sehen-und-gesehen-werden spielte. Ich musste mir vorher keinen Termin bei der Kosmetikerin und beim Friseur geben lassen, um auch wirklich so auszusehen, wie es sich gehörte.

Als Servicekraft auf der Trauerfeier von Herrn von Globedanz reichten der schwarze Bleistiftrock und eine schlichte, hochgeschlossene weiße Bluse, die beide noch aus meiner Zeit mit Frank stammten.

Da ich es nach Feierabend nicht nach Hause schaffen würde, um mich umzuziehen, hatte ich die Kleidung für die Trauerfeier schon morgens mit zur Arbeit genommen. Bereits als ich mich auf der Angestelltentoilette des Guts umzog, merkte ich, dass ich solche Klamotten definitiv nicht vermisst hatte. Ich fühlte mich eingeengt und ein wenig wie verkleidet. Ich hatte mich so sehr an einfache Jeans und Shirts gewöhnt, dass ich mich in einem Clownskostüm nicht unwohler gefühlt hätte.

Jule konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken, als ich in unser Büro zurückkehrte, um meine Sachen zu holen und Feierabend zu machen.

„Hey, ich hätte dich beinahe nicht erkannt. So hab ich dich ja noch nie gesehen. Steht dir aber auch nicht.“

Kindisch streckte ich ihr die Zunge raus. „Das weiß ich selbst. Ist ja zum Glück nur für heute Nachmittag. Ich bin jetzt schon froh, wenn ich das Zeug wieder ausziehen darf“, entgegnete ich seufzend und rollte mit den Augen, während Jule mich eingehend musterte.

„Die Schuhe dazu sind allerdings der Hammer!“ Jule brach in schallendes Gelächter aus. „Damit erregst du bestimmt eine Menge Aufsehen!“

Ich schaute an mir hinab auf meine bunten Sneakers.

„Vielleicht sollte ich das wirklich so lassen? Die Gesichter würde ich zu gern sehen. Dann hätte die steife Gesellschaft wenigstens was zu lästern. Obwohl, das finden sie sowieso. Die finden immer etwas, worüber sie sich das Maul zerreißen können. Man will es kaum glauben, doch die tratschen mehr als ein Dorf, in dem ein Bauer seine Kühe lila anmalt.“ Trotzdem gefiel mir die Vorstellung und ich stimmte in Jules Gelächter mit ein.

„Dann darfst du aber nicht vergessen, mir reichlich Fotos von den pikierten Gesichtern zu schicken.“

Kopfschüttelnd schnappte ich mir den Beutel, in dem meine schwarzen Pumps waren, und verabschiedete mich. Draußen auf dem Hof sammelte ich Mateo ein, der wieder einmal auf der Bank unter der Kastanie saß und las.

„Ob Sid heute auch da ist?“, fragte er hoffnungsvoll, nachdem er im Auto saß und sich angeschnallt hatte.

„Ja, der ist da. Es ist ja sein Papa, der gestorben ist. Aber er wird heute keine Zeit für dich haben. Da sind ganz viele Gäste, um die er sich kümmern muss.“ Ich wollte nicht, dass Mateo sich falsche Hoffnungen machte, doch im Rückspiegel erkannte ich, dass er nachdenklich aus dem Fenster schaute.

„Irgendwie ist mein Papa auch so was wie tot, oder? Ich meine, er ist weg. Einfach so. Er mag mich nicht mehr und will mich nicht sehen. Das ist ein bisschen wie tot für mich.“

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte. Ja, so musste es sich für Mateo anfühlen. Er hatte keinen Papa mehr, das war für einen Siebenjährigen, als wäre die Person gestorben.

Bevor ich etwas erwidern konnte, sprach Mateo schon weiter. Über den Rückspiegel sah ich, dass er mich anschaute.

„Aber vielleicht bekomme ich ja irgendwann einen neuen Papa. Wenn du einen neuen Mann findest.“

Warum mir bei seinen Worten das Gesicht von Siegfried durch den Kopf schoss, konnte ich mir selbst nicht erklären. Wahrscheinlich, weil er sich gestern so lieb mit Mateo beschäftigt hatte. Ja, so einen Vater würde ich mir für meinen Sohn wünschen. Natürlich keinen Millionär, wie Siegfried es war. Nein, danke! Von den Reichen und Schönen hatte ich die Nase gestrichen voll, dahin wollte ich nie wieder zurück. Aber ich wünschte, Mateo bekäme irgendwann einen Papa, der sich mit ihm beschäftigt. Einen, der ein Vorbild für ihn war und ihm half, aus seinem Schneckenhaus zu kommen. So wie Siegfried es gestern nach so kurzer Zeit bereits geschafft hatte.

Von Ilse bekam ich eine weiße Rüschenschürze, die mich ein wenig an österreichische Kaffeehäuser erinnerte. Nachdem ich sie umgebunden hatte, schlüpfte ich in meine Pumps. Dem Geräuschpegel nach füllte sich das Haus langsam, und aus dem Fenster konnte ich erkennen, dass immer mehr teure Luxuslimousinen auf das Anwesen fuhren.

Das Buffet im Salon war hergerichtet, der Kaffee stand bereit, und meine Aufgabe war es jetzt, mit Champagnergläsern umherzugehen und den Leuten etwas anzubieten. Selbstverständlich gehörte es dazu, das benutzte Geschirr abzuräumen und die leeren Kanapee-Platten gegen neue auszutauschen.

Während ich mich mit dem Tablett in der Hand durch die Menge schlängelte, beobachtete ich die hier Anwesenden. Auf einmal fuhr mir ein Schrecken in die Glieder. Ein Bekannter von Frank stand in der Nähe des Fensters und unterhielt sich mit einer Dame, die durch einen schwarzen Hut mit einem kleinen Schleier vor den Augen fast nicht zu erkennen war. Das Champagnerglas in seiner Hand war leer und er schaute sich suchend um. Als er mich entdeckte, winkte er mich heran. Ohne mich näher anzuschauen, stellte er das Glas auf mein Tablett und nahm sich ein volles.

Einen Moment lang blieb ich erstaunt stehen, dann wandte ich mich nachdenklich ab. Er müsste mich eigentlich erkannt haben. Wir hatten oft gemeinsam solche Veranstaltungen besucht, an einem Tisch gesessen, und ich erinnerte mich an mehr als einen Walzer, den ich mit ihm getanzt hatte.

Wollte er mich nicht erkennen? Oder tat er es tatsächlich nicht?

Wieder ließ ich meinen Blick schweifen, ob noch jemand was benötigte. Dabei fiel mir etwas auf. Er war nicht der Einzige, der mich nicht anschaute. Nicht eine Person in diesem Raum nahm mich wirklich wahr. Es war, als wäre ich unsichtbar.

Nachdenklich kehrte ich in die Küche zurück, um mein Tablett aufzufüllen. War ich früher auch so gewesen? Hatte ich die Servicekräfte, die auf unseren Feiern bedient hatten, ebenfalls derartig ignoriert? Ich wusste es nicht mehr, aber ich hoffte sehr, dass ich nie so ein snobistisches Verhalten an den Tag gelegt hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752130706
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Meer Millionär Villa Vernunft Reichtum Geld Hamburg Elbe Liebe Strand Horror Roman Abenteuer

Autoren

  • Ben Bertram (Autor:in)

  • Kerry Greine (Autor:in)

Ben Bertram ist ein Hamburger Jung. Er erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er pflegt. Er verbringt viel Zeit auf der Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Kerry Greine ist Autorin aus Leidenschaft. Sie ist eine Träumerin, Bloggerin, Tänzerin und emotionale Chaotin. Ein Dorfkind mit großer Liebe zu Hamburg. So viel Zeit wie möglich verbringt sie mit ihrer "Wauz" auf Sylt, denn im Herzen ist sie ein Inselkind.
Zurück

Titel: Millionär wider Willen