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Kuschelkeks und Schneegestöber

von Ben Bertram (Autor:in) Kerry Greine (Autor:in)
210 Seiten

Zusammenfassung

Was passiert mit der Liebe, wenn aus weichem Schneegestöber ein dunkler Sturm wird? Er kann dafür sorgen, dass die Liebenden sich verlieren – oder sie vereinen … Tore will Jonnas Namen nie wieder aussprechen, geschweige denn, sie wiedersehen. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit. Doch dann kommt alles anders … Schwanger und ohne Geld versucht Jonna, kurz vor Weihnachten, in der Stadt ihrer Vergangenheit einen Neuanfang zu starten. Auf der Flucht vor ihrem Ehemann landet sie im norddeutschen Lüneburg. Sie will sich durchbeißen und es allein schaffen, ihr Leben zu sortieren. Allerdings hat sie die Rechnung ohne ihren Ex-Freund Tore gemacht. Er sammelt sie auf der Straße auf und bietet ihr Unterschlupf. Aber weshalb ist Tore Jonna gegenüber so reserviert? Er war es doch, der sie damals verlassen hat. Schnell wird beiden klar, dass Vergangenheit nicht immer bedeutet, dass etwas abgeschlossen ist. Vor allem, wenn es um die Liebe geht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Meine Flucht

Es war bereits dunkel, als ich auf den kleinen Parkplatz hinter dem Lüneburger Rathaus fuhr. Seufzend stellte ich den Motor meines schwarzen SUV ab und lehnte mich in den lederbezogenen Sitz zurück. Für einen Moment schloss ich meine Augen. Ich war endlich angekommen. Nach fast neun Stunden Fahrt quer durch Deutschland hatte ich mein Ziel erreicht. Diese kleine Stadt im Norden unseres Landes sollte mein neuer Anfang sein, hier würde ich meine Ruhe haben, hoffte ich.

Ich spürte, wie ich anfing, wegzudämmern, und riss mit Gewalt meine Augen wieder auf. Nicht einschlafen, nicht hier auf dem Parkplatz, mitten in der Innenstadt, wo an diesem Freitagabend noch reichlich Betrieb war. Egal, wie müde ich war. Erst einmal musste ich dringend etwas essen, bevor ich mir eine Bleibe für die Nacht suchen konnte. Das Einzige, was ich heute zu mir genommen hatte, waren ein abgepacktes Sandwich und ein paar Butterkekse, die ich mir an einer Raststätte besorgt hatte.

Wie auf Befehl ließ mein Magen ein lautes Knurren hören. Seufzend griff ich nach meiner Mütze, die ich neben mir auf dem Beifahrersitz liegen hatte, und setzte sie auf. Meine Winterjacke lag im Kofferraum, und so öffnete ich die Tür, um auszusteigen.

Die kalte Winterluft schlug mir entgegen und ließ mich sofort frösteln. Kein Wunder, in zwei Wochen war Weihnachten und das Thermometer meines Wagens hatte mir eine Außentemperatur von Minus 5 Grad angezeigt.

Schnell zog ich den Schlüssel aus dem Zündschloss, stieg aus und holte meine Jacke.

Bibbernd schloss ich den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Jetzt noch den dicken Strickschal und die Handschuhe, dann konnte ich hoffentlich der Kälte trotzen und mich um etwas zum Abendessen kümmern.

Der Duft von gebrannten Mandeln, Glühwein und Bratwurst zog mir in die Nase, als ich am Rathaus vorbei in Richtung des Weihnachtsmarktes ging, und wieder ließ mein Magen ein deutlich vernehmbares Knurren hören.

Ich schob mich durch die Menschenmassen zwischen den vielen Ständen hindurch. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bude, an der handgemachter Schmuck verkauft wurde. Die Sachen dort waren günstig und gleich auf den ersten Blick fielen mir ein Paar wunderschöne Hängeohrringe ins Auge.

Verschieden große Strasssteinchen in einem dunklen Purpurrot waren zu einem Herzchen aufgefädelt. Einen Moment lang blieb ich stehen, um sie mir genauer anzusehen. Michael hatte nie verstanden, dass es mir egal war, ob mein Schmuck echt oder nur Modeschmuck war. Für ihn zählte immer nur, dass alles möglichst teuer und edel war.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sprach die Verkäuferin mich an und ich schaute zu ihr auf. Ein hübsches junges Mädchen, mit Sicherheit eine Studentin, die sich hier ein wenig Taschengeld verdiente, sah mich freundlich an. Auf einmal weiteten sich ihre Augen, und ihr Mund öffnete sich, als wollte sie etwas sagen, doch es kam kein Ton heraus. Erschreckt starrte sie mich an, doch ich begriff nicht, warum. War mein Anblick etwa so furchtbar?

Schnell verneinte ich und ging weiter. Ich hatte nicht das Geld, mir Schmuck zu kaufen. Ich zog meine Mütze tiefer in die Stirn und senkte den Blick auf das Kopfsteinpflaster des Rathausplatzes.

An einer Wurstbude blieb ich stehen und bestellte mir eine Bratwurst und einen Becher heißen Kakao mit Sahne. Mittlerweile war mein Hunger so groß, dass ich klapprig wurde, und so schlang ich die Wurst viel zu schnell hinunter. Erst danach widmete ich mich dem kleinen Brötchen, das der Bratwurst beigelegt war, und trank in Ruhe von meinem heißen Kakao. Ich legte die Finger um den Becher und spürte, wie meine kalten Hände anfingen zu kribbeln. Erst als sie halbwegs aufgewärmt waren und der Kakao zur Hälfte leer war, stellte ich ihn auf den kleinen Stehtisch neben mir. Mir fiel auf, wie schön dieser Becher war. Dunkelblau und bedruckt mit einem liebevollen Weihnachtsmarktmotiv. Kurz fragte ich mich, wie viele von diesen Bechern wohl jeden Tag verschwanden, weil die Leute sie als Erinnerung behalten wollten. Obwohl ein hoher Pfandbetrag auf dem Becher war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass tatsächlich alle auch wieder abgegeben wurden.

Nachdem ich auch den letzten Schluck genommen und das Brötchen aufgegessen hatte, ging es mir besser. Ich drehte noch eine Runde über den Weihnachtsmarkt. Viele Familien waren unterwegs und die Schlangen am Kinderkarussell und der kleinen Eisenbahn, die durch einen Märchenwald fuhr, waren lang.

Direkt vor meinen Füßen stolperte ein vielleicht zweijähriger Junge auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes und schlug lang hin. Es war wie ein Reflex, dass ich sofort in die Hocke ging und ihm aufhalf.

„Hey, alles okay, kleiner Mann? Was machst du denn da auf dem Boden? Hast du etwas verloren?“, fragte ich ihn und zwinkerte ihm lächelnd zu. Er grinste zurück, und ich war erleichtert, dass er sich anscheinend nicht wehgetan hatte. Dann schaute ich mich um, ob ich seine Mutter irgendwo entdecken konnte. Tatsächlich kam eine Frau hektisch zu uns herübergelaufen.

„Leon, was ist denn passiert?“

„Ist das Ihr Sohn?“, fragte ich die Frau, die mittlerweile neben uns hockte und dem Jungen imaginären Dreck vom Schneeanzug klopfte.

„Ja, ich war nur schnell am Schalter und hab Chips für das Karussell gekauft.“ Sie drehte den Kopf in meine Richtung. Plötzlich sprang sie auf und griff Leon am Ärmel.

„Komm mit! Und wehe, du haust wieder ab. Außerdem darfst du nicht mit Fremden sprechen!“, schimpfte sie, und ich ersparte uns beiden die Bemerkung, dass ihr Sohn ja gar nicht mit mir gesprochen hatte. Ich wäre eh nicht mehr dazu gekommen, denn sie zog ihn bereits am Arm hinter sich her. Über die Schulter warf der Junge mir noch ein Lächeln zu, bevor die beiden in der Menge verschwanden. Ich stand auf und ging weiter; was auch immer sie für ein Problem mit mir hatte, es war nicht meins. Ich hatte ihrem Knirps nur helfen wollen.

Die Wärme, die der Kakao kurzfristig in mir hinterlassen hatte, verzog sich wieder. Die Kälte drang unbarmherzig durch meine Jeans und ließ meine Beine so kalt werden, dass ich mich entschloss, in mein Auto zurückzukehren.

Ich stellte die Standheizung an und holte mein Smartphone aus der Tasche. Ich war heute Morgen so überstürzt aus München abgehauen, dass mir erst zweihundert Kilometer später aufgefallen war, dass ich kaum Bargeld in der Tasche hatte. Schnell hatte ich an einem Geldautomaten auf einem Rastplatz so viel abgehoben, wie ich mit der Kreditkarte bekommen hatte. Tausend Euro waren nicht viel. Zumindest dann nicht, wenn man bedachte, dass ich hier in Lüneburg weder einen Job noch einen Platz zum Schlafen hatte. Aber gut, der Job stand dann wohl für die nächsten Tage auf meiner To-do-Liste ganz oben, während ich mich schnellstmöglich um einen Schlafplatz kümmern musste. Glücklicherweise hatte ich mir vorhin an der Raststätte auch gleich eine Prepaid-Karte für mein Handy besorgt, so konnte ich nicht nur telefonieren, sondern es jetzt dafür nutzen, eine Unterkunft für die Nacht zu finden.

Nacheinander rief ich die Nummern an, die mir meine Internetsuche ausspuckte, doch alle waren entweder bereits ausgebucht oder viel zu teuer. Erst bei meinem elften Versuch hatte ich Glück. Die Dame am anderen Ende war zwar recht unfreundlich, hatte aber ein Zimmer für mich, was noch dazu bezahlbar war. Der Nachteil war, dass sich diese Pension ein wenig außerhalb der Stadt befand, aber gut, ich konnte nicht alles haben, mir war vorher klar gewesen, dass ich in meinem neuen Leben Abstriche würde machen müssen.

Eine halbe Stunde später stand ich vor der angegebenen Adresse. Ein altes, rotes Backsteinhaus mit einem für Niedersachsen typischen Giebel war das Ziel, das mein Navi mir anzeigte.

Stirnrunzelnd stand ich auf dem Gehsteig, meinen Koffer neben mir, und schaute den fast zugewachsenen Weg hinauf. Hier sollte die Pension sein? Das Haus sah aus, als wäre es seit Jahren schon nicht bewohnt. Völlig heruntergekommen!

Hätte nicht ein kleines verstecktes Schild darauf hingewiesen, dass dies das „Haus Barbara“ war, ich wäre vermutlich umgekehrt. Doch stattdessen ging ich den Weg zum Haus hinauf und betätigte die Klingel.

Nur wenig später wurde mir geöffnet und ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Genau genommen in die Zeit, als meine Mutter mir mit Vorliebe Märchen vorgelesen hatte. In diesem Falle erinnerte mich die Frau, der ich gegenüberstand, an die Abbildung der Hexe bei Hänsel und Gretel. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wollte ich wirklich hierbleiben? Ich war mir nicht sicher, hatte aber auch keine andere Option. Mittlerweile wäre ich wohl so ziemlich überall geblieben, ich war so müde, dass ich kaum noch aus den Augen schauen konnte, und wünschte mir nichts sehnlicher, als mich auf einem Bett langzumachen.

„Was?“, blaffte die Frau mich an, und ihre Stimme klang, als würde sie täglich mehrere Zigarren rauchen.

„Ich … äh … hatte angerufen. Wegen eines Zimmers.“

„Ah, okay. Kommen Sie rein.“ Sie schob die Tür auf und trat beiseite, damit ich an ihr vorbei in den kleinen Eingangsbereich treten konnte.

Dann schlurfte sie hinter den dort stehenden Tresen und kramte in einem Schrank.

„Das da ausfüllen!“ Die Frau – ich vermutete, es war die im Namen der Pension genannte Barbara – schob mir einen Zettel über den Tisch. Ich überlegte nicht einmal, als ich mich mit dem Namen meiner Großmutter dort eintrug, doch als ich den Anmeldebogen zurückgab, hoffte ich, sie würde nicht nach einem Ausweis fragen. Jetzt erst schaute sie mich das erste Mal richtig an und legte den Kopf schief, während sie mich musterte.

„Ich will aber hier keinen Ärger haben! Dann fliegen Sie raus!“, betonte sie und nahm den Zettel an sich.

„Nein, ich werde Ihnen ganz sicher keinen Ärger machen!“, versprach ich.

„Dann ist ja gut. Okay, ihr Zimmer ist die Treppe rauf und dann das zweite rechts. Es gibt ein Gemeinschaftsbad auf dem Flur, aber Sie haben Glück, im Moment sind Sie die Einzige auf der Etage. Handtücher liegen auf dem Bett und werden einmal die Woche gewechselt. Frühstück gibt es nicht, das sagte ich ja bereits am Telefon. Aber Sie haben einen Kühlschrank auf dem Zimmer. Noch Fragen?“ Sie schob einen Schlüssel über den Tresen, an dem ein kleines Krokodil aus Metall baumelte. Was für ein ungewöhnlicher Schlüsselanhänger!

Ich nahm ihn an mich und wandte mich zur Treppe. Als ich bereits mit meinem Koffer auf dem Zwischenabsatz war, hörte ich sie noch einmal nach mir rufen.

„Denken Sie dran – wenn es Ärger gibt, fliegen Sie raus!“

Seufzend nahm ich die letzten Stufen in Angriff. Nein, ich würde ganz sicher keinen Ärger machen, ich war froh, wenn ich meine Ruhe hatte.

Müde stieß ich die Tür zu meinem Zimmer auf und schob den Koffer in die Ecke. Ein kurzer Rundumblick verriet mir, dass mein Zimmer ziemlich genau dem entsprach, was ich mir nach meinem ersten Blick auf das Haus bereits vorgestellt hatte. Die Möbel waren schlicht und stark abgenutzt. Außer dem Bett und einem kleinen Kleiderschrank stand nur ein Tischchen mit einem wacklig aussehenden Stuhl an der Wand neben dem Fenster. Vor diesen hingen verschlissene Vorhänge, die von einigen Löchern geziert wurden. Der versprochene Kühlschrank hatte definitiv auch schon bessere Tage gesehen und brummte laut in einer Ecke vor sich hin. Aber gut, immerhin schien das Zimmer halbwegs sauber zu sein, alles andere war mir gerade völlig egal. Erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen und versank innerhalb von Sekunden, so wie ich war, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Mitten in der Nacht wurde ich wach, weil ich in meiner Winterjacke schwitzte und die Stiefel an meinen Füßen drückten.

Mit halb geschlossenen Augen zog ich mich aus und krabbelte unter die Decke, die ein wenig unangenehm nach Mottenkugeln roch. Doch auch das interessierte mich nicht wirklich, ich war viel zu müde und schlief sofort wieder ein.

Eigentlich

Bedächtig war mein Schritt, als ich an diesem kalten Wintertag über die Anlage meines kleinen Hotels schlenderte. Es war immer wieder ein berauschendes Gefühl, über mein Anwesen gehen zu dürfen. Manchmal musste ich mich selbst kneifen, um zu begreifen, dass ich mir meinen größten Traum verwirklicht hatte.

Ich bin zu einem Hotelbesitzer geworden und mache in meinem Beruf eigentlich alles falsch, was ein Hotelier falsch machen kann.

Ein Grinsen bildete sich auf meinen Lippen, als sich dieser Gedanke in meinem Kopf breitmachte.

Da war es, dieses Eigentlich. War Eigentlich nicht ein Wort, das es gar nicht zu geben brauchte? War diese Buchstabenkombination nicht völlig überflüssig? Viele Menschen behaupteten es und noch vor einigen Jahren gehörte ich ebenfalls zu dieser Kategorie Mensch.

In den letzten Jahren hatte ich erkannt, dass es dieses Wort sehr wohl verdient hatte, zu existieren.

Es gab nämlich einen riesigen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Niemand wusste es besser als ich. Zumindest in der Hotelbranche wusste es kaum einer besser, da ich diese Branche aus dem Effeff kannte.

Mein Telefon riss mich aus meinen Gedanken.

„Moin, Tore, geht es dir gut?“ Mark am anderen Ende der Leitung. Wir hatten uns vor knapp vier Jahren auf der Reha kennengelernt und verstanden uns sofort. Auch Mark hatte damals ein Burn-out gehabt und war zusammen mit mir in der Klinik gewesen. Damals lebte er noch in Hamburg. In der großen Weltstadt, die ihm Angst machte und aus der er flüchten wollte. Einige Monate nachdem wir die Reha beendet hatten, packte er seine Sachen und zog in das beschauliche Lüneburg. Seit seiner Flucht waren wir nicht nur Freunde, sondern auch fast Nachbarn geworden, da wir nun nur wenige Kilometer voneinander entfernt wohnten. Auch wenn Mark mit seinen Anfang fünfzig deutlich älter als ich war, war er mehr als nur ein väterlicher Freund für mich.

„Mir geht es gut. Ich laufe gerade über meine kleine Hotelanlage und sehe nach, ob alles in Ordnung ist.“

„Das freut mich. Wir haben schon sehr viel richtig gemacht.“

„Leider nicht immer.“

„Wer hat schon immer alles richtig gemacht? Ich glaube, das kann niemand von sich behaupten.“ Klar hatte Mark recht. Aber es gab einen Unterschied zwischen versehentlich oder bewusst. Allerdings war dies nicht der Augenblick, um zum tausendsten Mal über meine Vergangenheit zu sprechen.

„Was ist los?“

„Was soll los sein?“ Ich wunderte mich nur wenig über Marks Frage. Dann antwortete ich.

„Na ja, immerhin hast du mich ja angerufen.“ Ich musste lachen, da es typisch für Mark war. Wahrscheinlich hatte er den Grund für seinen Anruf bereits wieder vergessen.

„Ach ja, stimmt.“ Mark lachte nun ebenfalls.

„Und?“

„Du weißt doch, dass ich jetzt auch wieder den Tannenbaumverkaufsstand beim Supermarkt habe. Meine Frau ist krank und kann morgen nicht im Laden stehen. Hättest du Zeit, dich für drei Stunden in der Gärtnerei hinter den Tresen zu stellen? Gleich morgens. Vielleicht von acht Uhr an für drei Stunden? Damit würdest du mir echt helfen.“

„Klar. Das mache ich gerne.“ Dafür waren Freunde schließlich da.

„Super. Dann hast du einen gut bei mir.“

„Noch einen?“ Wir beide lachten erneut. Wo es nur ging, halfen wir uns gegenseitig. Immerhin hatten wir vor über drei Jahren fast gleichzeitig den Resetknopf gedrückt. Während ich mein kleines Hotel mit 23 Doppelzimmern aufgebaut hatte, begann Mark damit, eine Gärtnerei zum Laufen zu bringen.

„Den Schlüssel deponiere ich dann wie immer im Schuppen.“

„Alles klar. Habe noch einen schönen Abend.“

„Du auch, Tore.“

Wir haben schon sehr viel richtig gemacht.

Noch immer hatte ich diesen Satz von Mark in meinem Kopf. Hätte ich doch auch früher nur alles richtig gemacht. Sofort landete ich wieder in dem Moment, der mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte.

Noch vor vier Jahren war ich als Reisender unterwegs gewesen. Ich war DER Hotelretter und machte meinen Job gut. Anfragen aus Deutschland und ganz Europa trafen bei mir ein. Ja, ich hatte mir einen Namen in der Hotelbranche gemacht. Der Retter in der Not wurde ich genannt. Immer dann, wenn es schlecht um ein Hotel stand, wurde ich gerufen. Um Rat gefragt, passte wohl besser.

Dann kam ich und räumte auf. Umstrukturierungsmaßnahmen nannte man es so schön. Schön war an der Sache allerdings eher wenig. Mit meinem roten Kugelschreiber setzte ich an und die ersten Gelder, die eingespart wurden, betrafen die Gehälter. Nein, die Monatsverdienste der Mitarbeiter wurden nicht weniger. Sie flogen einfach raus. Standen von einem Tag auf den anderen auf der Straße und hatten Angst um ihre Existenz. Häufig hatten sie Familie und wussten nicht mehr, wie sie diese ernähren sollten.

Eigentlich machte ich alles richtig. Eigentlich mochte ich meinen Job. Eigentlich half ich den Menschen. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen.

Aber nur eigentlich!

Da war es wieder. Zwischen Theorie und Praxis lagen manchmal Welten. Welten, mit denen ich nicht mehr klargekommen war.

Ausschlaggebend für meine Kehrtwendung war ein groß aufgemachter Zeitungsausschnitt. Neben dem Bild einer von mir geretteten Hotelanlage im Harz gab es zwei weitere Bilder in diesem Bericht. Auf dem einen war ich zu sehen, was mich EIGENTLICH auch immer stolz gemacht hatte. Wer sah sein Angesicht nicht gerne in der Zeitung?

Auf dem dritten Bild war eine kleine Familie abgebildet. Ein stolzer Vater, eine liebevoll schauende Mutter, ein etwa zwölf Jahre alter Junge und sein kleines Schwesterchen, das fünf Jahre alt war.

„Ein tragischer Selbstmord im Harz!“ Laut las ich damals die Überschrift. Meine Worte hallten noch heute in meinen Ohren. Ich wurde sie nicht wieder los und wusste, dass sie mich auch mein restliches Leben begleiten würden. Walter K. aus dem Harz hatte sich erhängt. Er tat es in dem Hotel, in dem er fast sein ganzes Leben gearbeitet hatte. Bis zum zweiten Küchenchef hatte er sich hochgearbeitet, und das, obwohl er damals ohne Schulabschluss in dem Hotel angefangen hatte. Herr K. hatte geschuftet. Wo Not am Mann war, war er zur Stelle. Wenn jemand ausgefallen war, sprang er ein. Er liebte seinen Job und war stolz auf sein Erreichtes und auf seine kleine Familie. Alles war perfekt. Ja, es WAR perfekt!

Zumindest bis zu dem Moment, als ich aufgetaucht war und meinen Rotstift angesetzt hatte.

Ein Ungelernter als zweiter Küchenchef ging gar nicht. Ein Mensch ohne Schulabschluss war in einem Hotel nicht tragbar. Er war nicht nur als stellvertretender Küchenchef eine Fehlbesetzung, Herr K. war im ganzen Hotel nicht tragbar. Wie sollte ein solcher Mensch vernünftig mit Gästen kommunizieren? Niemals würde ihn das Personal ernst nehmen.

Nein. Wenn das Hotel wirklich vernünftig laufen sollte, gab es ausschließlich eine Möglichkeit.

Herr K. musste weg!

Ich kannte die Worte, die ich in meinem Analysebericht benutzt hatte, noch ganz genau. Abgesägt hatte ich ihn. Warum ich es getan hatte? Weil es im gesamten Hotel ansonsten nur Kleinigkeiten zu bemängeln gab. Ich hatte nichts gefunden, was schlecht lief. Doch ich war meinem Auftraggeber etwas schuldig. Ich musste Dinge finden, um ihm zu helfen. Immerhin hatte er sich an mich gewandt. An mich, den Hotel-Retter. Ich war derjenige, der alle Hotels retten konnte. Mit dem zukünftig entfallenden Jahresgehalt von Herrn K. sah mein Bericht schon sehr viel besser aus.

Mein Auftraggeber war zufrieden. Ich war zufrieden, und das Wichtigste war, meine Vita hatte keinen Kratzer abbekommen.

Jetzt war Herr K. nicht mehr am Leben. Seine Frau war zur Witwe geworden und zwei kleine Kinder hatten keinen Vater mehr.

Alles das war passiert, weil ich meinen guten Ruf nicht verlieren wollte. Weil ich unantastbar bleiben wollte. Weil ich der Beste war. Weil ich es war, der für alles eine Lösung hatte.

Eigentlich hatte ich nur meinen Job gemacht. Eigentlich hatte ich nur geholfen.

EIGENTLICH war ich ein Arschloch!

Jobsuche

Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag die Welt noch im Dunkel. Es war halb acht am Morgen, wie mir die Uhr an meinem Smartphone verriet. Jeder Knochen im Leib tat mir weh, und obwohl ich am liebsten den ganzen Tag einfach nur hier liegen geblieben wäre, sorgte ein dringendes Bedürfnis dafür, dass ich mich aus dem Bett und aus dem Zimmer quälte. Auf der Suche nach dem Gemeinschaftsbad tappte ich noch immer nicht ganz wach durch den Flur und versuchte mehrfach vergeblich, Türen zu öffnen. Sie waren alle verschlossen, aber gut, diese Barbara hatte ja gesagt, ich sei der einzige Gast hier auf der Etage. Endlich fand ich das Bad, und nachdem ich mich erleichtert hatte und gerade dabei war, mir die Hände zu waschen, fiel mein Blick auf den halb blinden Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Ich erschrak, als ich mein Gesicht sah.

So schlimm hatte ich noch nie ausgesehen! Schnell kehrte ich zurück in mein Zimmer. Auf einmal war ich hellwach. Ich verschloss die Tür hinter mir und zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Dann trat ich vor den Spiegel, der an der Tür des Kleiderschranks hing.

Einen Moment lang blieb mir die Luft weg – jetzt wusste ich, warum ich solche Schmerzen hatte. Gestern schien das Adrenalin noch dafür gesorgt zu haben, dass ich sie nicht spürte, aber jetzt … Jetzt war mir auch klar, warum die Mutter auf dem Weihnachtsmarkt so merkwürdig reagiert hatte. Und auch, was Barbara meinte, dass ich keinen Ärger machen sollte.

Wie konnte ich das nur vergessen? Hatte ich mich bereits so an solcherlei Schmerzen gewöhnt, dass ich sie als normal empfand?

Vorsichtig hob ich die Hand und tastete nach dem Riss in meiner Augenbraue. Dort war das Blut getrocknet und hatte eine Kruste gebildet. Ich hatte zuletzt gestern Morgen in den Spiegel geschaut, bevor ich aus München geflohen war. Obwohl die Schläge von Michael da erst wenige Minuten her gewesen waren, konnte man schon deutlich die Schwellung auf meiner Wange erkennen, und das Blut aus der Augenbraue hatte eine rote Spur hinterlassen, die ich nur notdürftig weggewischt hatte. Ich hatte mir nicht die Zeit genommen, meine Wunden ordentlich zu versorgen. Panisch hatte ich meine nötigsten Sachen in einen großen Koffer und eine Reisetasche geworfen und war losgefahren.

Mein Blick wanderte an meinem Körper hinunter und entdeckte immer mehr Prellungen in den unterschiedlichsten Farbschattierungen. Rechts auf meinen Rippen prangte ein besonders großer und tiefblauer Fleck. Vorsichtig fuhr ich mit den Fingerspitzen darüber und zog zischend die Luft ein – verdammt, tat das weh! Meine Arme, meine Beine, selbst der Rücken war nicht verschont geblieben. Trotzdem hatte ich diesmal Glück gehabt, es schien nichts gebrochen zu sein, das würde ich wohl merken. Die Prellungen würden heilen, ohne dass ich zu einem Arzt musste.

Ich hatte genug gesehen und kramte in meinem Koffer nach sauberen Klamotten. Dann ging ich zurück ins Bad, um zu duschen. Mit all meiner Willenskraft verdrängte ich die Gedanken an das, was gewesen war. Es durfte jetzt keine Rolle mehr spielen, ich musste es vergessen! Fest nahm ich mir vor, mein neues Leben nicht von dem beeinflussen zu lassen, was geschehen war. Ich wusste, wenn ich das zuließe, würde ich mich vor Angst und Paranoia hier verkriechen. Viel lieber wollte ich mich darum kümmern, hier in ein neues Leben zu starten, und dazu gehörte, dass ich schnellstmöglich einen Job fand.

Eine Stunde später lief ich durch die kleinen Straßen Lüneburgs auf der Suche nach einem Café, in dem ich günstig frühstücken konnte. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel und die Luft war klirrend kalt. So viel hatte sich in dieser Stadt in den letzten Jahren verändert, und doch fühlte es sich noch genauso an wie damals, als ich hier an der Uni studiert hatte. Diese Stadt mit seinen alten, schiefen Häusern, mit dem gotischen Rathaus, mit den Grünanlagen und den vielen wunderschönen Ecken und Winkeln hatte mich damals verzaubert. In diese Stadt hatte ich mich auf den ersten Blick verliebt. In der Schröderstraße unweit des Rathauses, in der sich Restaurants und Cafés aneinanderreihten, wurde ich fündig. Draußen in der Sonne vor einem Coffeeshop war ein Platz frei. Das war perfekt, so konnte ich meine Sonnenbrille und meine Mütze auflassen und würde niemanden mit meinem Anblick verschrecken. Die Reaktionen gestern hatten mir gezeigt, dass es wohl besser war, meine Prellungen zu verstecken.

Zum Glück lagen warme Fleecedecken auf den Stühlen und Heizpilze erwärmten den Außenbereich, so war es trotz der nur zwei Grad Außentemperatur gut auszuhalten.

Nachdem ich mir ein belegtes Brötchen und einen Milchkaffee bestellt hatte, griff ich nach einer der Tageszeitungen, die hier für die Gäste bereitlagen. Die Stellenanzeigen waren mein Ziel und so blätterte ich direkt dorthin.

Als ich das Café verließ, war ich frustriert. Ich hatte mich so gefreut, als ich tatsächlich ein paar Stellenanzeigen entdeckt hatte. Jetzt vor Weihnachten konnten anscheinend viele Geschäfte zusätzliches Personal gebrauchen, um dem Ansturm der Weihnachtsshoppenden gerecht zu werden. Ich hatte wirklich gedacht, dass ich innerhalb kurzer Zeit einen Job finden würde, immerhin war ich nicht wählerisch. Es war mir egal, ob ich im Supermarkt Regale einräumen oder Zeitungen austragen würde. Auch kellnern hätte ich mir durchaus vorstellen können. Hauptsache war nur, ich verdiente Geld, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch es schien, als hätten sich alle potenziellen Arbeitgeber gegen mich verschworen – nein, ich war wohl nur zu naiv und hatte mir den Arbeitsmarkt zu einfach vorgestellt. Denn eins hatten alle Anzeigen, die ich gelesen hatte, gemeinsam: Sie baten um vollständige Bewerbungsunterlagen inklusive der letzten Zeugnisse. Und genau das war mein Problem. Ich hatte zwar bei meiner überstürzten Flucht aus München gestern daran gedacht, alle wichtigen Unterlagen einzugepacken, doch mein Verständnis von „wichtigen Unterlagen“ beschränkte sich auf meinen Personalausweis und meine Bankkarten. Meine Studienabschlussunterlagen, alle Zeugnisse und Zertifikate, die ich im Laufe der Jahre gemacht hatte, lagen sicher im Tresor – in München!

Mir war zum Heulen zumute, als mir klar wurde, wie schwierig es werden würde, ohne all dies einen Job zu bekommen. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass mein Geld länger würde reichen müssen, als ich eigentlich geplant hatte. Ich schluckte gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals bildete. Nein, ich würde nicht aufgeben! Das war keine Option. Es würde sich eine Möglichkeit finden, wie ich Geld verdienen konnte.

Nach dem Frühstück stand ich mitten in der Fußgängerzone und überlegte, was ich als Nächstes machen konnte. Seufzend schaute ich hoch in den Himmel. Ein kleines Weihnachtswunder wäre jetzt nicht schlecht, doch darauf konnte ich wohl kaum hoffen. Ich musste mein Leben endlich selbst in die Hand nehmen und darauf vertrauen, dass sich alles irgendwie zum Guten wenden würde.

Nachdem ich mich im Discounter mit den nötigsten Lebensmitteln für die nächsten Tage eingedeckt hatte, kehrte ich nachmittags in die Pension zurück. Auf dem Weg in mein Zimmer kam mir auf der Treppe ein Mann entgegen. Er trug einen Anzug, der bereits auf den ersten Blick teuer zu sein schien. Anscheinend war ich nicht der einzige Gast hier im Haus Barbara. Ich wunderte mich ein wenig über seinen Anblick, aufgrund der teuren Klamotten hätte ich ihn nicht in ein Etablissement wie dieses hier sortiert. Doch fast sofort korrigierte ich mich selbst in meinen Gedanken. Wahrscheinlich konnte man dasselbe auch über mich denken. Auch meine Kleidung bestand ausschließlich aus teuren Markensachen und der Neupreis meines Autos überstieg wohl die finanziellen Möglichkeiten des Durchschnittsbürgers.

Genau wusste ich es nicht, denn ich hatte mich in der Zeit mit Michael nie mit Preisen auseinandersetzen müssen. Obwohl mir Geld eigentlich egal war, war es schon angenehm gewesen, einfach loszugehen und zu kaufen, wenn ich etwas haben wollte. Doch war es das wert? All das, was ich dafür im letzten Jahr hatte erleiden müssen? Nein! Definitiv nicht!

Als der Mann auf mich zukam und seinen Blick lächelnd über mich schweifen ließ, grüßte ich freundlich. Sofort blieb er mitten auf der Treppe stehen und versperrte mir den Durchgang.

„Oh, wen haben wir denn da? Hat Barbara einen neuen Gast? Das ist mir ja völlig entgangen.“

„Ja“, antwortete ich. „Ich bin erst gestern Abend angekommen und war heute Morgen bereits früh weg.“ Ich wollte mich an ihm vorbeischieben, doch er hatte wohl andere Pläne, ihm stand der Sinn nach weiterem Small Talk.

„Entschuldige, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Kurt.“

Er streckte mir die Hand hin und ich ergriff sie lächelnd.

„Ich heiße Jonna. Schön, dich kennenzulernen“, antwortete ich höflich und musterte ihn. Er sah gut aus mit seinen dunkelblonden kurzen Haaren. Die Augenfarbe konnte ich im Halbdunkel des Treppenaufgangs nicht erkennen, aber er war mir auf Anhieb sympathisch.

„Was hat dich hierher verschlagen?“, fragte er und lehnte sich entspannt gegen das Treppengeländer. Ich holte tief Luft, lügen lag mir gar nicht. Aber wenn man es genau nahm, war es keine Lüge, was ich ihm erzählen würde.

„Ich bin gerade erst hergezogen und hab noch keine Wohnung gefunden, daher wohne ich übergangsweise hier.“

„Ah, okay. Ja, die Pension hier ist zwar schlicht, hat aber eindeutig seine Vorteile. Ich wohne immer hier, wenn ich auf Geschäftsreise nach Lüneburg muss. Eigentlich komme ich aus Berlin, doch ich habe hier Geschäftspartner, die mich ab und an auch mal persönlich treffen wollen.“ Er zwinkerte mir zu. „Also, wenn dir abends mal langweilig ist, sag gern Bescheid, wir finden schon eine gemeinsame Beschäftigung.“

Ich wusste nicht so recht, was ich von seinem Angebot halten sollte, außerdem wurden meine Einkäufe allmählich schwer, deshalb lächelte ich nur schweigend und trat einen Schritt zur Seite, um ihm zu bedeuten, dass ich vorbeiwollte. Er schien zu verstehen, denn er gab den Weg frei. Als ich den oberen Treppenabsatz erreichte und über die Schulter schaute, stand er noch immer da und sah mir hinterher.

„Wenn du mich suchst, Jonna, ich wohne eine Etage über dir. Erste Tür links, einfach klopfen“, sagte er. Dann wünschte er mir noch einen schönen Tag und ging.

Buchhaltung

Gerne hatte ich heute Mark geholfen und war bei ihm eingesprungen, um seine Kundschaft in der Gärtnerei zu bedienen. Auch er stand mir häufig mit Rat und Tat zur Seite. Vor allem in der Anfangszeit, als ich mich dazu entschlossen hatte, mein eigenes kleines Hotel zu eröffnen, war er mir eine riesige Hilfe gewesen. Ganz sicher hätte ich aufgegeben, wenn Mark nicht gewesen wäre und mir immer wieder aufs Neue Mut gemacht hätte.

Mittlerweile war ich nicht nur stolz auf mein Erreichtes, sondern auch glücklich, da ich endlich etwas gefunden hatte, was mir Spaß machte. Ich hatte keinen Beruf. Nein, ich lebte meine Berufung und dachte nur noch selten an meine Vergangenheit zurück.

Damals, als ich durch die Lande zog, um anderen Menschen zu helfen, um ihre Hotels profitabler zu gestalten und andere Hotelbesitzer glücklich zu machen, verdiente ich gutes Geld. Sehr viel mehr Geld, als mein Hotel wahrscheinlich jemals einbringen würde. Doch ich fühlte mich dabei nicht wohl. Ich machte etwas, um reich zu werden.

Erst heute wusste ich, dass der wahre Reichtum etwas anderes war. Das Leben selbst war der Reichtum, der uns bereits mit in die Wiege gelegt wurde. Dieses eine Leben, das wir hatten, mussten wir genießen. Es war eindeutig der größte Luxus, den wir besaßen. Allerdings brauchte ich eine lange und schmerzhafte Zeit, um dies auch zu begreifen.

Ich musste erkennen, was ich wollte. Doch zu begreifen, was ich nicht wollte, war ein noch sehr viel längerer Weg. Ein steiniger Weg. Ich schaffte es nicht, zu erkennen, dass diese Steine Zeichen für mich waren. Von meinem Vater hatte ich gelernt, dass man nicht aufgeben durfte. Er lebte mir vor, dass alle Steine und Brocken, die sich vor einem auftürmten, zum Bauen benutzt werden mussten. Umwege waren nicht gestattet. Andere Wege waren verboten. Aufgeben war Schwäche, und schwach zu sein, war einzig und allein den Versagern gestattet.

Ob ich meinen Vater nicht enttäuschen wollte oder ob ich wirklich davon überzeugt war, das Richtige zu machen – ich konnte mir die Frage auch heute noch nicht wirklich beantworten.

Aber irgendwann werde ich es können.

Mit diesem Gedanken wischte ich einmal mehr meine Vergangenheit von mir und versuchte, mich erneut der Buchhaltung zu widmen.

Die stupide Büroarbeit war so ziemlich das Schlimmste für mich. Hass war ein großes Wort und trotzdem brachte ich es häufig mit dieser Arbeit in Verbindung.

Auch wenn ich versuchte, mir die Buchhaltungsarbeit mit kleinen besonderen Dingen zu verschönern, blieb sie ein lästiges Übel für mich.

Heute Abend hatte ich wieder einen solchen Versuch gestartet. Auf dem Markt hatte ich mir extra ein paar kleine Leckereien beim Fischmann gekauft. Delikat angerichtet stand ein Teller mit Fischhappen neben mir auf dem Schreibtisch. Es duftete nach Fisch und auch ein kühles Bier stand zum Greifen nah.

Es half mir auch heute nicht. Jegliche Konzentration verschwand in dem Moment, wenn meine Augen die vollen Ablagekörbe erblickten. Sowie mein Kopf auch nur im Entferntesten an diese Arbeit dachte, streikte mein Gehirn. Es weigerte sich förmlich, an diese Beschäftigung zu denken. Eine Leere machte sich in meinem Kopf breit und ich bekam es einfach nicht hin.

Damals hatte ich es doch auch gekonnt. Immer wenn ich meinen roten Stift angesetzt und mit diesem in den Unterlagen anderer Hotelbesitzer gestrichen hatte, klappte es vorzüglich.

Lag es wirklich daran, dass mich diese öde Tätigkeit zu sehr in meine Vergangenheit zurückversetzte? In die Zeit, als ich noch der Hotelretter gewesen war?

Ich hatte sogar sämtliche roten Stifte aus meinem Büro in den Mülleimer geschmissen. Nachdem ich dies damals getan hatte, war ich erneut aufgestanden und zum Mülleimer gegangen. Nicht, um sie wieder herauszunehmen, weil ich einen roten Stift brauchte. Nein, ich schnappte mir den Abfalleimer und trug ihn nach draußen. Tatsächlich ging ich mit diesem Eimer zu meinem Geräteschuppen, stellte ihn auf den Boden, nahm mir einen Spaten und begann zu buddeln. Als das Loch meiner Meinung nach tief genug gewesen war, hatte ich die Stifte genommen und sie in das Loch hineingeworfen. Nachdem ich es mit Erde gefüllt hatte, überlegte ich sogar, ob ich ein kleines Kreuz daraufstellen sollte. Ich hatte es sein lassen und war zurück in mein Büro gegangen. Zurück zu meiner Buchhaltung.

Rote Stifte hatte ich seitdem keine mehr. Die Buchhaltung bekam ich trotzdem nicht hin.

Mein Fischteller war fast leer. Ebenso mein Bier und nachdem ich mit einem kräftigen Zug die Flasche ausgetrunken hatte, ging ich in die Küche und holte mir ein zweites. Der Fisch musste schließlich schwimmen.

Mit gequälter Miene wühlte ich mich durch meine Zettelwirtschaft. Erneut nahm ich mir vor, zukünftig sofort alle Unterlagen vernünftig abzuheften. Wenn ich es so machen würde, hätte ich nicht nur bei der Buchführung weniger Arbeit, sondern auch ein kleineres Chaos vor meinen Augen. Wahrscheinlich würde es mir dann auch nicht so schwerfallen, mit dem lästigen Mist zu starten.

„Okay, ran an die Ablage. Die Buchführung muss warten.“ Ich sagte es so laut zu mir, dass ich sogar kurzfristig das Radio übertönte.

„Dieser Scheiß hier! Warum hab ich es noch immer nicht geschafft, mir jemand Neues für die Buchhaltung zu suchen? Das sollte ich dringend ändern!“ Erneut sprach ich mit mir selbst und amüsierte mich darüber, dass ich schon wieder Selbstgespräche führte.

„Wenn sonst keiner mit mir spricht, muss ich es wohl selbst tun.“ Mein Grinsen wurde immer breiter.

Die Ablage hatte ich hinter mich gebracht, und ich stand bereits vor dem großen Regal, in dem sich meine Rechnungen befanden. Ich musste die Rechnungen in das eigens dafür angeschaffte Rechnungsprogramm eingeben. Leider verließ mich die Muße schon, bevor der PC hochgefahren war.

Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und sah gegen die Wand. Ich blickte genau auf den Bierdeckel, den ich mit einer Pinnnadel an der Korkwand befestigt hatte. Eine Handynummer war darauf notiert. Eine Handynummer, von der ich nicht wusste, ob sie noch immer aktuell war. Ich hatte nicht nur vor langer Zeit diese Nummer aus meinem Handy gelöscht, sondern auch die dazugehörige Person aus meinem Leben verbannt.

Nichtsdestotrotz hatte ich es nie übers Herz gebracht, diesen Bierdeckel zu vernichten. Auch wenn er, ebenso wie die roten Stifte, eine tiefe Wunde in meiner Seele hinterlassen hatte, brachte ich es nicht übers Herz. Nicht über das Herz, was die Person, die mir diesen Bierdeckel gegeben hatte, gebrochen hatte.

Plötzlich war meine Vergangenheit wieder ganz nah bei mir, und ich wusste nicht genau, ob es ausschließlich der Buchhaltung geschuldet war.

Die Frau aus meiner Vergangenheit konnte Buchhaltung.

Ja, wir waren damals nicht nur ein perfektes Paar gewesen, wir hätten auch jetzt noch toll zusammengepasst. Während ich mich ausschließlich um das Hotel gekümmert hätte, wäre es ihre Aufgabe gewesen, sich mit dem Papierkram zu beschäftigen.

Leider würde es niemals dazu kommen!

Neue alte Heimat

In den nächsten Tagen machte ich mich mit meiner neuen, alten Heimatstadt wieder vertraut. Ich wollte und konnte meine Tage nicht in dem kleinen Pensionszimmer verbringen, daher lief ich stundenlang durch die Straßen und hielt weiterhin Ausschau nach Schildern und Aushängen, auf denen Personal gesucht wurde. Es musste doch möglich sein, eine Arbeitsstelle zu finden, für die man nicht Unmengen an Unterlagen einreichen musste. Doch weit gefehlt, Weihnachten rückte näher und ich war noch immer ohne Job.

Eine Woche war es mittlerweile her, dass ich Michael mein kleines Geheimnis anvertraut und damit diese erneute Lawine ausgelöst hatte, stärker als je zuvor, und die mich letztlich zur Flucht veranlasst hatte.

Ich stand unter der Dusche des kleinen Gemeinschaftsbads in der Pension, und während das warme Wasser über meinen Körper lief, gingen meine Gedanken zurück zu den Geschehnissen von letzter Woche. Zu meiner Flucht vor meinem Mann.

Unbewusst wanderte meine Hand auf die kleine Wölbung meines Bauches und legte sich schützend darüber. Viel war nicht zu sehen, ich konnte es noch gut unter einem weiten Pulli verbergen, doch ich wusste, das würde nicht mehr lange der Fall sein. In ein paar Wochen würde ich meine Schwangerschaft nicht mehr kaschieren können. Das hieß, ich musste schnellstmöglich einen Job finden, denn eine Schwangere würde vermutlich niemand einstellen.

Dieses kleine Würmchen, das in mir heranwuchs, war der Grund für Michaels Ausraster, der Grund für meine Flucht. Ich wusste, Michael hatte nie Kinder gewollt. Sie bedeuteten Einschränkung, die er nicht bereit war, zu geben. Er wollte sein Leben und die Aufmerksamkeit, die er bekam, genießen, und sich nicht an ein Baby binden. Es war auch nicht geplant, dass ich schwanger werden würde. Obwohl ich mir immer ein Kind gewünscht hatte, blieb er eisern bei seiner Meinung – keine Kinder! Und nun war es doch passiert. Wochenlang hatte ich es vor mir hergeschoben, es ihm zu erzählen. Doch allmählich rundete sich mein Bauch, und die Gefahr bestand, dass er es selbst bemerken würde, falls er mich einmal nackt sah, was so gut wie nie vorkam. Es sei denn, er kam zufällig herein, während ich mich umzog. Mir blieb keine andere Wahl mehr, ich musste es ihm sagen.

Als ich es ihm am Morgen meiner Flucht erzählt habe, ist er völlig ausgerastet, und hatte gedroht, mir dieses „Balg“ aus dem Bauch zu treten. Mit Fäusten hatte er auf mich eingeschlagen, und wäre nicht in diesem Moment unten die Haustür unserer Villa aufgegangen, er hätte sein Vorhaben in die Tat umgesetzt, da war ich mir absolut sicher.

Nur das Auftauchen unserer Haushälterin Ella hatte es geschafft, Schlimmeres zu verhindern. Sie hatte nicht bemerkt, was er im Schlafzimmer mit mir gemacht hatte, doch ihre Anwesenheit im Erdgeschoss ließ ihn aufhören, weiter auf mich einzuschlagen.

„Ich bin noch nicht fertig mit dir!“, hatte er nur noch boshaft gezischt, sich seine Krawatte gerichtet und unser Schlafzimmer verlassen, als wäre nichts gewesen. Voller Schmerzen durch seine Schläge und Tritte hatte er mich wie ein Stück Dreck auf dem kalten Parkett liegen gelassen. Einen Moment lang hatte ich nur still dagelegen und versucht, diesen Schmerz unter Kontrolle zu bringen. Hatte gespürt, wie das warme Blut vermischt mit meinen Tränen über mein Gesicht lief, und versucht, zu erfassen, was gerade geschehen war. Trotz meines Schockzustands hatte ich ihn mit Ella unten herumalbern und gut gelaunte Scherze machen gehört. Es war, als wäre er plötzlich ein anderer Mensch. Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Kurz darauf hatte er das Haus verlassen, um zur Arbeit zu gehen, und ich hatte nur noch zugesehen, dass ich wegkam. Mir war klar gewesen, dies war die einzige Chance, die ich hatte, mich und mein Baby zu retten.

Ich wusste, ich hätte keine andere Alternative gehabt, Michael zu entkommen.

Meine Freunde waren eigentlich seine Freunde und hielten zu ihm, egal, was kam. Von ihnen konnte ich keine Hilfe gegen meinen Mann erwarten.

Natürlich, jeder normale Mensch hätte mir gesagt, ich sollte ihn anzeigen, doch auch das war für mich keine Möglichkeit. Vor ungefähr einem Jahr war ich schon einmal so weit gewesen. Er hatte seine Wut an mir ausgelassen, mich zusammengeschlagen, dass drei Rippen gebrochen waren und ich unzählige Prellungen am ganzen Körper hatte, und ich war daraufhin zur Polizei gegangen. Leider hatte ich nicht bedacht, dass er ein Großunternehmer war, der der Stadt München mehr als reichlich Steuergelder in die Kassen spülte, und noch dazu allgemein als Wohltäter bekannt war. Niemand hatte mir geglaubt, nicht einmal der Arzt im Krankenhaus, der meine Verletzungen damals untersucht hatte.

Michael Huber, der Mann, der unzählige soziale Projekte förderte. Der Mann, der auf jeder Spendengala der High Society anzutreffen war und auf der Bühne einen riesengroßen Scheck pressewirksam übergab. Der sich für die Armen und Schwachen, für Kinderprojekte einsetzte – nein, es konnte nicht sein, dass dieser Mann seine eigene Frau seit einem Jahr regelmäßig brutal zusammenschlug.

Na gut, wenn mir jemand vor diesem Tag erzählt hätte, dass mein Mann mich einmal brutal zusammenschlagen würde, ich hätte es wohl auch nicht geglaubt. Ich habe es damals nicht geschafft, mich von ihm zu lösen. Auch wenn ich mich heute frage, was mich aufgehalten hat. Ich bin zu ihm zurückgegangen, habe seinen Entschuldigungen geglaubt, ihm vertraut, als er sagte, dass es nie wieder geschehen würde, dass er einfach nur eine schwere Zeit durchmachen würde und daher überreagiert hätte. Ich habe geschwiegen, als er meine Verletzungen mit einem Treppensturz erklärt hatte, habe die Anzeige zurückgezogen und so getan, als wäre zwischen uns alles in bester Ordnung.

Doch damals ging es nur um mich. Jetzt hingegen war ich noch für ein weiteres Wesen verantwortlich. Ich schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit ab. Das war vorbei! Ich war erfolgreich geflohen – hier würde er mich nicht suchen. Hier war ich in Sicherheit. Ich musste jetzt nach vorne schauen und nicht in meiner Angst vor ihm stecken bleiben. Ich musste und wollte stark sein. Allein schon für das kleine Würmchen in mir.

Ich hatte ihm zwar mal erzählt, dass ich früher in Lüneburg gelebt hatte, doch wie ich ihn kannte, hatte er das längst vergessen. Hier würde ich in Sicherheit sein, hier würde er mich nicht suchen – falls er es denn überhaupt tat.

Zurück in meinem Zimmer zog ich mich warm an und machte mir Toast zum Frühstück. Der Kühlschrank im Zimmer war wirklich praktisch, so war ich nicht darauf angewiesen, jeden Tag irgendwo etwas zu essen kaufen zu müssen.

Als ich mich, warm eingepackt, auf meine tägliche Runde in die Stadt aufmachen wollte, wurde ich im Vorraum der Pension von Barbara aufgehalten, die hinter dem Tresen saß.

„Ich bekomme dann noch die Miete für die nächste Woche“, sprach sie mich an. „Wie vereinbart, immer eine Woche im Voraus.“

Seufzend ging ich zu ihr an den Tresen. Da ich Sorge hatte, dass jemand in mein Zimmer kommen könnte, trug ich all mein Geld ständig in einem Brustbeutel bei mir. Nur einen kleinen Teil hatte ich in meiner Handtasche im Portemonnaie. Ich öffnete meine Jacke und zog den Beutel unter meinem warmen Strickpulli hervor.

„Ja, klar“, sagte ich und legte passend die 175 Euro auf den Tresen, die ich auch letzte Woche gezahlt hatte.

„Nein, das reicht nicht.“ Barbara griff nach den Scheinen und hielt mir die andere Hand geöffnet entgegen. „Das war der Preis für die letzte Woche. Diese Woche bekomme ich dreihundert von dir.“

Entsetzt starrte ich sie an. Dreihundert Euro für eine Woche? Und das in so einer Kaschemme wie dieser hier?

„Aber warum …?“, fragte ich und erntete ein berechnendes Grinsen von Barbara.

„Na, was denkst du denn, Mädchen? Es geht auf Weihnachten zu, da sind meine Zimmer begehrt. Und mit der Nachfrage steigen die Preise. Das nennt man Marktwirtschaft.“

Marktwirtschaft? Ja, ist klar!

In der ganzen Woche, die ich nun bereits hier wohnte, hatte ich nicht einen anderen Gast außer Kurt kennengelernt. Ich wusste, allein auf meiner Etage waren weitere drei Zimmer frei, so groß konnte die Nachfrage also nicht sein. Doch hatte ich eine Wahl? Wenn ich nicht zahlte, was sie verlangte, war ich raus. Und eine Woche vor Weihnachten eine neue Bleibe suchen? In dem Punkt hatte sie recht, die Nachfrage an Zimmern war mit Sicherheit gestiegen. Es war letzte Woche bereits schwierig gewesen, etwas zu finden, es würde heute sicher nicht leichter sein. Auch wenn ich es nicht als Marktwirtschaft, sondern als Abzocke betiteln würde, kramte ich in meinem Brustbeutel nach den fehlenden Scheinen und schob sie ihr über den Tresen. Nachdem ich eine Quittung von ihr bekommen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Haustür. Mit einer Hand bereits auf der Klinke drehte ich mich noch einmal um.

„Ach, nur zur Info … Was kostet mich die dritte Woche?“, fragte ich. Barbara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte breit grinsend die Arme vor der Brust.

„Natürlich auch dreihundert. Was denkst denn du? Das hier ist eine Pension. Wenn dir das zu teuer ist, musst du dir eine Wohnung suchen.“

Ich nickte nur stumm und verließ das Haus. Mit meinem SUV fuhr ich nur ein paar Straßen weiter, dann parkte ich am Straßenrand und ließ den Kopf verzweifelt gegen die Kopfstütze fallen.

In Gedanken überschlug ich meine Finanzen. 175 Euro für die erste Woche und dreihundert für die zweite. Dazu kamen die Lebensmittel, die ich gekauft hatte. Meine tausend Euro Startkapital waren bereits so zusammengeschrumpft, dass ich mir eine weitere Woche bei Barbara absolut nicht leisten konnte. Was sollte ich nur machen? Natürlich hatte sie nicht unrecht mit ihrem Vorschlag, mir eine Wohnung zu suchen, doch wie sollte ich das anstellen? Ich hatte keinen Job, kein Vermieter würde mir eine Wohnung geben. Es war ein Teufelskreis. Ohne Job keine Wohnung und ohne Papiere keinen Job. Die einzige Alternative, die ich momentan sah, war, zum Amt zu gehen. Doch meine Angst, dass Michael über seine diversen Verbindungen herausfinden würde, wo ich mich aufhielt, war einfach zu groß. Er durfte mich nicht finden! Und wenn ich in Lüneburg in irgendwelchen Ämtern in den Akten auftauchte, wenn ich hier registriert war … Nein, das konnte ich nicht riskieren! Aber aufgeben? Das war auch keine Option! Ich würde alles tun, um für mich und mein Kind zu kämpfen.

Ich richtete mich in meinem Sitz auf und startete den Wagen. Er wird mich nicht kleinkriegen, dachte ich kämpferisch und konzentrierte mich auf meine Wut, die ich für Michael empfand. Wut ist eine starke Antriebsfeder, stellte ich fest, als ich durch die Straßen Lüneburgs fuhr.

An einem großen Supermarkt entdeckte ich einen Weihnachtsbaumverkauf, der auf dem Parkplatz durch eine Art Bauzaun abgetrennt war. Ein Schild hing am Zaun „Verkäufer gesucht“, und ohne groß darüber nachzudenken, setzte ich den Blinker und fuhr auf den Parkplatz. Fragen kostete schließlich nichts.

„So, so. Sie wollen mir also beim Verkauf helfen?“, fragte der ältere Mann, dem die Bäume gehörten. „Haben Sie so etwas schon mal gemacht?“ Er wirkte mehr als skeptisch, schien aber nicht viele Alternativen zu haben.

„Nein, habe ich noch nicht“, sagte ich ehrlich. „Aber ich lerne schnell!“ Wie schwer konnte es schon sein, Weihnachtsbäume zu verkaufen?

Nachdenklich nickte er und musterte mich. Zum Glück waren die Prellungen in meinem Gesicht so weit verheilt, dass meine Wange nicht mehr blau war. Nur der Riss in der Augenbraue war noch zu erkennen, aber auch dieser heilte gut ab. Zumindest gab ich nicht mehr das schockierende Bild ab, das ich letzte Woche bei meiner Ankunft hier gezeigt hatte.

„Aber Sie wissen schon, dass die Bäume auch harzen? Sie werden sich die schicken Klamotten ruinieren.“ Ich schaute auf meine Daunenjacke hinab. Das Markenlabel zeigte, dass sie nicht günstig gewesen war, und ich liebte diese Jacke sehr, weil sie so herrlich warm hielt. Trotzdem war ein Job deutlich wichtiger als eine blöde Jacke.

„Ja, das ist mir klar. Aber das macht nichts. Es sind bloß Klamotten“, antwortete ich und sah ihm fest in die Augen.

„Ja, allein die Jacke dürfte aber mindestens fünfhundert gekostet haben, wenn nicht sogar mehr“, murmelte er leise und streckte mir dann die Hand hin. „Okay, ich zahle fünf Euro die Stunde, cash auf die Hand, und ich verspreche, keine weiteren Fragen zu stellen.“ Wieder wanderte sein Blick über mich, und ich konnte mir gut vorstellen, was in seinem Kopf vorging. Er dachte sicher, ich hätte sie geklaut, doch es war mir egal. Erleichtert, endlich einen Job gefunden zu haben, schlug ich ein.

„Fünf Euro sind super!“ Fünf Euro war zwar ein sehr geringer Stundensatz, doch was hatte ich für eine Alternative?

„Na dann, willkommen an Bord.“

In der nächsten halben Stunde erklärte er mir, welche Arten von Weihnachtsbäumen er hier im Angebot hatte, welcher Baum für wen geeignet war und wie viel die einzelnen Bäume kosteten. Nach ein paar Minuten schwirrte mir bereits der Kopf. Nordmanntanne, Edeltanne, Fichte … Es waren doch nur Tannen!

Mir fiel auf, dass ich mich noch nie um einen Weihnachtsbaum habe kümmern müssen. In den letzten Jahren mit Michael hatte das der Gärtner übernommen. Zumindest vermutete ich das, genau konnte ich es nicht sagen. Irgendwann in der Weihnachtszeit kam ein Lieferwagen einer Baumschule und hatte den Baum gemeinsam mit dem Gärtner in die große Empfangshalle der Villa gebracht und aufgestellt. Ella, unsere Haushälterin, hatte ihn dann geschmückt. Jedes Jahr wieder wollte ich ihr dabei helfen, aber sie hat mich immer abgewiegelt.

„Das ist doch keine Aufgabe für Sie, gnädige Frau“, waren ihre Worte gewesen. Auch Michael hatte es so gesehen und nicht gewollt, dass ich Ella half. Aber was war denn meine Aufgabe? Rückblickend weiß ich es gar nicht so recht. Ich hatte keinen Job, da Michael nicht wollte, dass ich arbeite. Ich engagierte mich für die sozialen Projekte, die er finanziell unterstützte, und freute mich, dass ich nebenbei noch viel Zeit zum Sport und zum Malen hatte. Stundenlang hatte ich im obersten Stockwerk am großen Panoramafenster gestanden und mich mit Acrylfarben auf den Leinwänden ausgetobt. Die Bilder wurden meist zugunsten des Münchner Frauenhauses versteigert – was für ein Hohn! Die misshandelte Ehefrau malt Bilder, die der Tyrann für misshandelte Frauen versteigern ließ, und erzielte dabei noch horrende Preise.

„Hey, nicht träumen! Kundschaft!“ Mein neuer Chef riss mich aus meinen Erinnerungen und brachte mich zurück in die Realität.

Den ganzen Tag über blieb ich an diesem Stand und verkaufte Weihnachtsbäume, schob sie in den Trichter, der sie einnetzte, und half den Kunden, die Bäume ins Auto zu schleppen. Es war wirklich eine Knochenarbeit, und bereits nach zwei Stunden taten meine Füße und mein Rücken so weh, dass ich am liebsten aufgegeben hätte. Mir war kalt, und ich war nass, denn es hatte im Laufe des Tages angefangen zu regnen. Doch es war, als hätte ich ein neues Lebensmotto gefunden. Aufgeben war keine Option!

Jeden Moment, wenn gerade kein Kunde da war, nutzte ich, mich am Feuerkorb, der zwischen den Bäumen stand, wieder aufzuwärmen. Um kurz vor acht ging der letzte Kunde, und Mark fing an, das Geld in der Kasse zu zählen. Dann drückte er mir einen Fünfzig-Euro-Schein in die Hand.

„Super Arbeit, Mädchen! Ich hätte gedacht, dass du nach spätestens einer Stunde das Handtuch wirfst. Aber du hast wirklich gut durchgehalten. Sehe ich dich morgen wieder?“

Habe ich eine Wahl?, dachte ich im Stillen, antwortete aber:

„Ja, natürlich! Wann soll ich da sein?“ Nachdem wir uns für zehn Uhr hier verabredet hatten, lud Mark, wie mein neuer Chef hieß, mich noch auf einen Glühwein ein. Vor dem Supermarkt standen ein paar Holzbuden, die eine Art Mini-Weihnachtsmarkt darstellten und wo man Bratwürste, Glühwein und Süßigkeiten kaufen konnte. Ein kleines Karussell drehte tagsüber seine Runden, war allerdings schon vor einer Stunde geschlossen worden.

„Was trinken sehr gern, aber ich nehme lieber einen Kakao, ich muss noch Auto fahren.“ Den wahren Grund, warum ich keinen Alkohol trinken mochte, verriet ich ihm nicht. Mir war klar, dass mein neuer Job dann sofort wieder passé gewesen wäre.

Kein Schnee

Ich mochte den Dezember, und ich liebte es, wenn sich der erste Schnee sanft und zart auf die Bäume legte. Im Schneegestöber durch die Wälder unserer Umgebung zu laufen, war ein fantastisches Gefühl. Die verschneiten Wege zu beschreiten und dem Schnee beim Knirschen unter meinen Schuhsolen zuzuhören war eine Wohltat, die mir ebenso guttat, wie eine Woche in den Urlaub zu fahren.

Wie eine Woche Urlaub?

Ich amüsierte mich selbst über meinen Gedanken, da mein letzter Urlaub eine gefühlte Ewigkeit her war. Mein Hotel ließ es nicht zu. Besser gesagt, ich wollte mein Hotel nicht alleine lassen. Klar vertraute ich meinen Angestellten, und ebenso wusste ich, dass das Hotel auch locker eine Woche ohne mich auskommen würde. Doch warum sollte ich Urlaub machen? Machte man Urlaub nicht nur dann, wenn man sich von irgendetwas erholen musste? Auch wenn mir damals in der Therapie etwas anderes nahegelegt wurde, ging es mir gut, so wie es war.

Es gab nichts, wovon ich mich hätte erholen müssen. Ganz im Gegenteil. Wenn ich mir einen freien Tag gönnte, freute ich mich darauf, am nächsten Tag wieder tätig sein zu dürfen.

Erneut sah ich in den Himmel, der zwar von einem grauen Schleier verdeckt war, aber keinesfalls nach Schnee aussah. Tief sog ich den Duft der Landschaft durch meine Nase auf. Nein. Es roch auch nicht nach diesen beschaulichen weißen Flocken, denen ich so gerne beim Fallen zusah. Wenn kleine Schneeflocken aus den Wolken fielen und sich auf unserer Welt ausbreiteten, sah alles so sauber aus. Fast friedlich wirkte meine Heimatstadt. Mein Lüneburg, das ich sehr liebte.

Als ich jetzt durch die Felder ging und mir die Umgebung mit den angrenzenden Wäldern ansah, war ich zufrieden. Ich hatte alles richtig gemacht, als ich dieses Hotel am Rande der Stadt gekauft hatte.

Klar wünschte ich mir manchmal, eine Frau an meiner Seite zu haben. Allerdings war mir ebenso klar, dass es wahrscheinlich niemals wieder so kommen würde. Zu sehr wurde ich in meiner letzten Beziehung verletzt. Zu tief waren meine Narben, die zwar verschlossen, jedoch nicht verheilt waren.

Am Übergang zwischen den Feldern und dem Wald konnte ich vier Rehe erkennen. Still standen sie dort und suchten nach Pflanzen. Während ich mich auf den Schnee freute, hatten sie ganz bestimmt eine andere Meinung über diese Jahreszeit. Der Frühling war ihre Sehnsucht. Wenn die ersten frischen Triebe herauskamen und sie sich ihre Mägen mit zarten saftigen Pflanzen füllen konnten, war ihre Welt wieder in Ordnung. In Ordnung? Nein, das konnte ich nicht beurteilen. Aber zumindest war ihre Nahrungssuche um einiges einfacher.

Ob Rehe tatsächlich auch eine Art Kalender in ihren Köpfen hatten? Ob sie wussten, dass nun die harte Jahreszeit angebrochen war und es noch eine Weile andauern würde, bis sie sich wieder in ihren paradiesischen Zeiten befanden?

Ich liebte es, mir über solche Dinge Gedanken zu machen. Immer wieder erwischte ich mich dabei und freute mich sehr darüber, dass ich ein Auge für die Kleinigkeiten im Leben hatte. Einem kleinen Rotkehlchen dabei zuzuhören, wie es einen Gesang anstimmte, und dabei die Welt um sich herum vergaß, ließ mich auch meine Welt vergessen. Eine Amsel, die im Sommer bereits vor dem Sonnenaufgang zu singen begann, verfluchte ich nicht. Im Gegenteil, ich öffnete mein Fenster noch weiter und hörte ihr andächtig bei ihrem Gesang zu.

Erneut ging mein Blick in den Himmel hinein.

Nein. Ganz sicher wird heute kein Schnee mehr fallen, dachte ich und rief so laut ich konnte:

„Hey, Frau Holle. Es ist Winter! Wann willst du es endlich schneien lassen?“

Lachend ging ich weiter, und plötzlich kamen die Gedanken zu mir zurück, die ich über viele Jahre hinweg verdrängt hatte.

Damals genossen die Frau aus meiner Vergangenheit und ich es, gemeinsam die Stille des Schnees zu spüren. Manchmal sogar, die Stille des Schnees zu fühlen. Häufig knieten wir uns auf den Boden und strichen mit unseren Handflächen über das kalte Weiß. Stundenlang liefen wir durch das Schneegestöber und wärmten uns hinterher am Kaminfeuer wieder auf.

„Hör auf! Niemals wieder wirst du ein einziges Wort mit ihr wechseln. Selbst wenn sie angekrochen käme, würdest du es nicht machen. Dein Narbenherz würde es nicht zulassen und dein Stolz ebenfalls nicht.“

Laut maßregelte ich mich selbst. Was war nur los? Bereits gestern hatte ich an sie denken müssen. Warum hatte ich sie und somit auch meine beschissene Vergangenheit erneut in meinem Kopf?

Die Antwort war ganz einfach und so beantwortete ich mir meine Frage selbst.

„Diese dämliche Buchführung war schuld daran.“

Von Weitem konnte ich mein Hotel erkennen. Gleich war ich zu Hause und musste Mark anrufen. Ich hatte ihm versprochen, mich heute Abend zu melden. Eventuell brauchte er mich morgen wieder. Zumindest ein paar Stunden sollte ich ihm beim Tannenbaumverkauf helfen. Obwohl die Arbeitslosenzahlen nicht gerade gering waren, hielt es anscheinend niemand für nötig, sich seine Hände schmutzig zu machen. Seit einigen Tagen bereits hatte Mark ein Schild aufgehängt, mit dem er nach einer Aushilfe für die Vorweihnachtszeit suchte. Doch entweder war den Bewerbern die Arbeit zu dreckig, der Arbeitsplatz zu kalt oder der Verdienst zu gering.

Was war es nur für eine Zeit, in der wir lebten? Alle hatten für alles eine Ausrede. Nichts war gut genug und selbst im Guten wurde das Schlechte gesehen. Wenn es nichts zu meckern gab, wurde nach anderen Dingen gesucht. Wer etwas finden wollte, fand es auch.

Bei mir im Hotel war es doch ebenso. Was ich hier schon für Bewerber hatte, war kaum zu glauben. Häufig überlegte ich, ob sie sich für das Bewerbungsgespräch extra dreckige Klamotten angezogen hatten. Dass sie, nur um den Job nicht zu bekommen, sich mit Absicht blöd anstellten. Immerhin waren sie da und ließen sich diesen Termin auch quittieren. So stand einer weiteren Zahlung des Arbeitslosengeldes nichts im Weg.

„Hi, Mark. Wann soll ich morgen bei dir sein?“

„Bei mir sein? Habe ich etwas verpasst?“, fragte Mark verwirrt nach.

„Wohl eher vergessen.“ Ich wunderte mich darüber, dass er nicht gleich darauf kam. Immerhin brauchte er mich doch, und es war sonst nicht seine Art, Termine, die sein Geschäft betrafen, zu vergessen. Wir hatten zwar besprochen, dass er mich nur brauchte, wenn sich kein anderer Bewerber gemeldet hatte. Doch wer sollte sich ausgerechnet heute bei ihm gemeldet haben?

„Ehrlich, Tore. Ich stehe wohl gerade auf dem Schlauch. Gib mir mal einen Tipp.“

„Tannenbäume.“ Mehr sagte ich nicht.

„Ja, der Verkauf lief heute ausgezeichnet.“ Wollte Mark mich auf den Arm nehmen? Eigentlich war er normalerweise nicht der Typ dafür.

„Mark. Ich soll dir morgen beim Tannenbaumverkauf behilflich sein. Hast du das vergessen? Willst du da morgen wieder alleine stehen und zwischen dem Verkaufsstand und deinem Geschäft hin und her springen?“ Jetzt musste der Groschen bei ihm gefallen sein. Es ging gar nicht anders.

„Ach, das meinst du. Ich brauche dich nicht. Du kannst dich ganz in Ruhe um dein Hotel kümmern.“

„Warum? Wer hilft dir? Also, ich habe hier genug zu tun.“ Trotzdem war ich neugierig.

„Heute hat sich jemand beworben und sie hat auch gleich angefangen.“

„Tatsächlich? Wie cool für dich. Jemand, den ich kenne?“ Lüneburg war nicht so wahnsinnig groß und durch mein Hotel kannte ich hier so einige Leute.

„Nein. Aber ich muss noch was erledigen. Wir schnacken morgen. Tschüss, Tore.“

Da hatte ich mich wohl getäuscht. Ich musste etwas zurückrudern und meine aufgestellte Behauptung etwas revidieren. Es hatte sich doch jemand gefunden, der bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen und in der Kälte Marks Weihnachtsbäume zu verkaufen.

Weihnachtsbäume

Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Gestern Abend war ich nur noch ins Bett gefallen, ich hatte es nicht einmal mehr geschafft, mir etwas zu essen zu machen, so müde war ich gewesen. Na gut, mein Kühlschrank gab auch nicht mehr sonderlich viel her. Ein halbes Toastbrot und ein wenig Butter, das war alles, was ich noch hatte. Ich wusste, ich musste dringend einkaufen, aber die Bezahlung der Miete gestern hatte ein ganz schönes Loch in meine Finanzen gerissen. Auch wenn ich jetzt durch den Job wieder zu ein wenig Geld kam, würde es nicht für eine weitere Woche hier bei Barbara in der Pension reichen.

Ächzend quälte ich mich aus dem Bett. Ich hatte das Gefühl, jeder Knochen im Leib tat mir weh, und ich hatte Muskelkater an Stellen, von denen ich bisher nicht gewusst hatte, dass es dort Muskeln gab. Dazu kam, dass ich noch immer die Prellungen durch Michaels Schläge und Tritte an meinen Rippen spürte. Auch wenn sie kaum mehr zu sehen waren, taten sie weh, wenn ich mich ungünstig bewegte. Trotzdem wollte ich nicht aufgeben und den Weihnachtsbaumverkauf hinschmeißen. In einer Woche war eh alles vorbei, dann ging die Suche von vorn los, so lange würde ich schon durchhalten.

Aus meinem Koffer suchte ich eine warme Strumpfhose und zog sie an. Ein kleines Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich sah, wie sie sich über meinem Bäuchlein spannte. Vorsichtig legte ich meine Hände auf die Rundung und strich darüber, als würde ich mein Baby streicheln.

„Mein kleines Würmchen“, flüsterte ich und Tränen der Freude stiegen mir in die Augen. „Egal, was noch kommen wird. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit es dir gut geht!“

Ich atmete tief durch, bevor ich zu rührselig wurde. Außerdem verriet mir ein Blick auf die Uhr an meinem Handy, dass ich mich sputen musste. Es war bereits nach halb zehn und um zehn öffnete der Weihnachtsbaumverkauf. Ich hatte Angst, dass Mark mich gleich wieder feuern würde, wenn ich nicht pünktlich erscheinen würde.

„Hey, da bist du ja wieder!“, begrüßte mich mein Chef freudig, als ich zwischen den Tannen zu ihm trat. Dann stutzte er und musterte mich von oben bis unten.

„Geht’s dir gut? Du wirkst blass um die Nase.“

Ich winkte ab. „Klar, alles gut. Ich hab nur ein wenig schlecht geschlafen.“ Natürlich stimmte das nicht – nach den Strapazen der letzten Tage und dem ganzen Tag stehen und schleppen gestern hatte ich geschlafen wie ein Stein, aber sollte ich ihm die Ohren volljammern, dass ich Muskelkater hatte? Oder ihm womöglich von den blauen Flecken erzählen, die meinen Körper unter den Klamotten zierten? Nein! Kam gar nicht infrage – er würde mich vermutlich eh nur auslachen oder gleich wieder feuern.

„Okay, dann ist ja gut.“ Mark gab sich mit meiner Antwort zufrieden und widmete sich der ersten Kundin, die gerade in den Verkaufsbereich trat.

Den ganzen Tag über arbeiteten wir Hand in Hand, als wären wir schon seit Ewigkeiten ein eingespieltes Team. Der Standort hier auf dem Supermarktparkplatz schien perfekt zu sein, es kamen immer mehr Kunden und kauften ihre Bäume bei uns. Gegen Mittag fuhr ein Trecker mit Anhänger vor und brachte Nachschub an Tannen in allen Größen.

„Willst du mit abladen helfen oder übernimmst du so lange allein die Kunden?“, fragte Mark, und ich entschied mich dafür, am Stand zu bleiben. Ich hatte sowieso gerade noch ein junges Ehepaar, das sich nicht auf einen Baum einigen konnte.

„Nein, Mika, der Baum ist doch viel zu klein. Der wirkt doch gar nicht in unserem Wohnzimmer. Lass uns lieber den großen da drüben nehmen.“

„Aber Schatz, der ist viel zu breit. Wo sollen wir den denn unterbringen?“

„Na, neben dem Sessel.“ Genervt rollte der Mann die Augen, und ich konnte ihn gut verstehen, so ging das bereits seit zwanzig Minuten. Er favorisierte eine wunderschön gewachsene Nordmanntanne, die bei normaler Deckenhöhe fast bis hoch gehen würde, sodass man noch eine klassische Tannenbaumspitze aufsetzen könnte. Seine Frau hingegen ging von einem Baum zum nächsten und hatte alle paar Schritte einen anderen, der es unbedingt sein musste, weil er angeblich schöner wäre. An seiner Stelle wäre mir längst der Geduldsfaden gerissen, doch er blieb total ruhig. Na gut, wahrscheinlich kannte er seine Frau schon etwas länger und war mit dieser Macke von ihr vertraut.

„Schau mal, Mika, wie wäre es mit dem hier?“, rief sie, und seufzend folgte er seiner Frau, die zielstrebig eine ungefähr 2,80 Meter hohe Tanne ansteuerte. Sie griff nach dem Baum, ließ ihn aber im selben Moment auch wieder los.

„Au! Die piekt ja!“, rief sie entrüstet, und ich musste mir ein Lachen verkneifen, als Mika nur trocken antwortete:

„Ja, Schatz, das haben Tannen so an sich.“

Eine Weile trieben wir das Spielchen noch so weiter, und ich versuchte dem Mann beizustehen und seiner Frau die Nordmanntanne schmackhaft zu machen, die er ausgesucht hatte. Irgendwann gab sie auf und verzog schmollend den Mund.

„Na gut, dann nehmen wir halt diesen hier. Wird schon irgendwie gehen. Die Bäume hier sind aber auch wirklich alle nicht sonderlich schön. Da ist der noch einer der besten.“

Damit war die Aktion Tannenbaumkauf für sie anscheinend erledigt, denn sie verließ den Verkaufsbereich und wartete vor dem Zaun mit einer Zigarette im Mundwinkel darauf, dass Mika bezahlte und mit der ausgesuchten Nordmanntanne zu ihr kam.

„Vielen Dank für Ihre Geduld. Sie haben wirklich eine tolle Auswahl hier – da fällt es schon mal schwer, sich zu entscheiden.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln, das bestimmt dem Verhalten seiner Frau geschuldet war, drückte er mir die Scheine in die Hand und verzichtete auf sein Wechselgeld. Ich freute mich über das Trinkgeld. Mark hatte mir gleich zu Beginn gesagt, dass ich es, wenn es mal vorkam, behalten durfte.

„Vielen Dank! Ich wünsche Ihnen wunderschöne Weihnachten!“, verabschiedete ich mich. Er lächelte mir zu und murmelte irgendetwas. Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, war es ein wenig begeistertes „Schauen wir mal …“.

„Na, alles gut hier?“, fragte Mark und stellte den letzten der neuen Bäume an seinen Platz. „Was war denn mit denen? Konnten sie sich nicht entscheiden?“ Mein Chef deutete mit dem Kopf in Richtung Mika und seiner Frau. Kichernd erzählte ich ihm, wie verzweifelt der Mann war, weil seine Frau sich so gar nicht entscheiden konnte.

„Na, sie schien mir auch nicht so, als hätte sie jemals selbst einen Weihnachtsbaum gekauft. Töchterchen aus reichem Hause.“ Er zwinkerte mir grinsend zu. „Für so was hat sie bestimmt normalerweise Personal.“

Ich zuckte zusammen bei seinen Worten. Sie fühlten sich an, als würde mir jemand einen Spiegel vor die Nase halten. War ich auch so wie diese Frau? Zumindest hatte ich in den letzten Jahren mehr als genug Personal gehabt und musste mich selbst um solche profanen Dinge wie Wäsche waschen, kochen oder auch Weihnachtsbäume kaufen nicht kümmern. Wahrscheinlich hätte ich vor ein paar Wochen noch genauso ein Bild abgegeben, wie sie es gerade getan hatte. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab, als Mark mich ansprach.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du bist gerade so blass geworden. Nicht, dass du mir hier schlappmachst.“

Ich wiegelte ab. „Wirklich, es geht mir gut. Ich hab nur ein wenig Hunger.“

Das war nicht gelogen, mein Magen knurrte, und ich spürte, wie ich ein bisschen klapprig wurde.

„Dann los, lauf schnell in den Supermarkt. Da gibt es einen Bäcker, der macht wirklich leckere belegte Brötchen. Hol dir was, bevor du mir hier noch zusammenklappst.“

Mark ließ keine Widerrede zu und so machte ich mich auf den Weg. Der Bäcker war leicht zu finden, er befand sich direkt hinter dem Eingangsbereich. Während ich mich in die Schlange der Wartenden einreihte, betrachtete ich die Auslagen. Oha, 4,70 Euro für ein belegtes Brötchen? Ich schluckte und rechnete im Kopf nach, wie viel ich noch zur Verfügung hatte. Ich wollte möglichst wenig ausgeben, denn wer wusste schon, wann ich den nächsten Job finden würde, wenn der Weihnachtsbaumverkauf schloss.

„Was darf es sein?“, fragte die Verkäuferin, als ich dran war. Sehnsüchtig schaute ich auf eine Art Ciabatta, das dick mit Käse, Salat und Ei belegt war. Es sah so gut aus, dass mir regelrecht das Wasser im Mund zusammenlief. Davon wäre ich sicher für den Rest des Tages satt.

„Ein normales Brötchen, bitte“, bestellte ich und löste meine Augen von dem lecker aussehenden Ciabatta. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, das sich am Schaufenster des Spielwarenladens die Nase plattdrückte, weil es die vielen schönen Spielzeuge nicht haben konnte.

„Das macht dann 35 Cent.“ Ich kramte in meiner Jackentasche nach Kleingeld und legte es ihr passend auf den Tresen. Dann griff ich nach meiner Papiertüte mit dem trockenen Brötchen darin und trat ein paar Schritte beiseite an einen Stehtisch. Ich schaute durch das große Frontfenster auf den Parkplatz und konnte Mark entdecken, der bereits wieder einen Kunden bediente, während zwei weitere Männer sich umsahen. Schnell biss ich ein paarmal von meinem Brötchen ab. Dann verstaute ich den Rest in meiner Jackentasche und ging auf die Kundentoilette. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, trank ich durstig aus meinen hohlen Händen. Nicht nur das Essen, auch das Trinken war den heutigen Tag über viel zu kurz gekommen, und ich hatte das Gefühl, das Brötchen klebte mir im Hals.

Dann beeilte ich mich, wieder zu Mark zu kommen. Er brauchte meine Unterstützung, bevor es den Kunden zu lange dauerte und sie wieder gingen.

Als ich endlich Feierabend hatte, fühlte ich mich noch erschlagener als am Abend zuvor. Nachdem wir den Zaun abgeschlossen hatten, fragte mich Mark wieder, ob wir noch einen Glühwein trinken wollten, aber ich winkte nur ab und fuhr zurück in meine Pension.

Als ich vor meiner Zimmertür stand, hörte ich Kurt heraufkommen. Er hatte die Pension anscheinend kurz nach mir betreten, und wie es klang, war er nicht allein. Eine Frau war bei ihm, und noch während ich den Schlüssel im Schloss drehte, kamen die beiden am oberen Treppenabsatz an. Eine blonde, für meinen Geschmack viel zu grell geschminkte Frau im hautengen pinkfarbenen Minikleidchen hing an seinem Arm und himmelte ihn an. Kurt grinste mich an, und obwohl er mir bisher nicht unsympathisch gewesen war, lief mir ein Schauer über den Rücken, und ich sah zu, dass ich nach einem knappen „Hallo“ in mein Zimmer kam. Ich setzte mich auf mein Bett und dachte darüber nach, was gerade so anders gewesen war, dass ich mich ein wenig geängstigt fühlte. Er war ebenso gut gekleidet wie beim letzten Aufeinandertreffen, doch in seinem Blick lag diesmal keine Freundlichkeit. Ich wusste nicht, was es war, doch es ließ die Alarmglocken in meinem Kopf schrillen.

Während ich in meinen Schlafanzug schlüpfte, machte ich mir den Fernseher an. Ein paar Minuten noch stumpf berieseln lassen, während ich die zweite Hälfte meines Brötchens aß – diesmal zumindest mit Butter darauf –, dann wollte ich das Licht ausmachen und meinen müden Körper ausruhen. Morgen wollte ich endlich wieder ein wenig fitter als heute sein.

Kaum lag ich in der Dunkelheit, hörte ich Geräusche von oben. Soweit ich wusste, war Kurt der einzige Gast auf der Etage, sie konnten also nur aus seinem Zimmer kommen. Ich wollte nicht lauschen, doch das Quietschen der Bettfedern und das dazu passende Stöhnen waren nicht zu überhören. In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Frau, die an Kurts Arm gehangen hatte, war eine Prostituierte. Ich wusste nicht, ob die Erklärung, die mir in dem Moment in den Kopf schoss, richtig war, doch sie klang in meinen Ohren logisch.

Ich hatte mich gewundert, warum ein so gut gekleideter Mann wie Kurt in solch einer Kaschemme wie der Pension Barbara unterkam – jetzt meinte ich es zu wissen. Hier scherte sich keiner drum, ob er Prostituierte mit auf sein Zimmer nahm. Das wäre in einem Hotel sicher anders.

Innerlich schüttelte ich den Kopf – wo war ich hier nur gelandet?

Großeinkauf

Als ich die Vorhänge geöffnet und auch meine Gardine zur Seite gezogen hatte, begann mein Herz etwas schneller zu schlagen. Meine Nachricht an Frau Holle hatte etwas bewirkt. Zwar lag noch immer kein Schnee, dafür war die Natur über Nacht zu einer Winterwelt geworden. Alles war weiß gefroren. Herr Frost hatte ganze Arbeit geleistet und mir meinen Wunsch erfüllt.

„Na, hat Frau Holle gepetzt?“

Während ich dieses aussprach, öffnete ich das Fenster und atmete die Kälte tief ein. Meine Lungen füllten sich mit der eisigen Luft, und als ich sie wieder herausatmete, konnte ich meinen Atem gut erkennen. Es war fast so, als würde ich den Rauch einer Zigarette auspusten.

Jetzt sog ich den Duft der Natur mit meiner Nase auf. Tatsächlich, es roch nach Schnee, und ich war gespannt, wann die ersten Flocken auf die Erde fallen würden.

Ich saß bereits sehr früh in meinem Büro, und es machte mir nichts aus, auf die Buchhaltungsordner zu schauen. Sie störten und nervten mich nicht, da ich heute einen Bogen um sie machen konnte. Ein anderer Kampftag lag vor mir. Der Ausdruck Kampftag war durch meinen Vater entstanden. Schon als ich ein kleiner Junge war, wurde dieser Ausdruck immer von meinem alten Herren benutzt. Damals war es der Freitag, der diesen Namen erhalten hatte. Drei Stunden am Freitag waren dafür verantwortlich, dass dieser Tag den Namen bekommen hatte. Wahrscheinlich hatte mein Vater diesen Tag sogar offiziell auf diesen Namen getauft. Wenn es so war, dann an einem Freitagabend, wenn er nach getaner Arbeit mit seinen Freunden beim Skat in seiner Stammkneipe gesessen hatte. Bestimmt hatte er damals feierlich sein Bierglas gehoben und die Worte gesagt:

„Ich taufe dich auf den Namen Kampftag!“

Anschließend trank er sein erstes Bier auf ex und bestellte für sich und seine Skatfreunde eine neue Runde.

Ganz im Gegensatz zu mir hasste mein Vater es, einkaufen gehen zu müssen. Wenn es zumindest nur in einem Geschäft gewesen wäre, hätte er es vielleicht noch mit Humor ertragen. Doch meine Mutter hatte nicht nur einen Einkaufszettel. Nein. Drei waren es, und wenn es im einheimischen Supermarkt noch spezielle Angebote gab, dann konnten es sogar auch vier dieser gefüllten Zettel sein. Für jeden Supermarkt hatte meine Mutter einen eigenen Einkaufszettel geschrieben. Fein säuberlich nach den Gängen und Regalen sortiert, standen die Produkte auf diesem Zettel. Weder mein Vater noch ich konnten verstehen, wie man dies alles im Kopf abgespeichert haben konnte. Woher wusste meine Mutter, welche Produkte sich wo in welchem Supermarkt befanden?

Jahrelang war es ein Rätsel für meinen Vater und für mich. Während es für meinen Vater immer Rätsel ohne Auflösung geblieben war, hatte ich es gelöst. Richtig gelöst vielleicht nicht. Allerdings war ich heute ebenfalls in der Lage, die Einkäufe für mein Hotel auf diese Art zu notieren.

Grinsend saß ich auf meinem Schreibtischstuhl und hielt meinen Becher Kaffee in der Hand. Der zweite Einkaufszettel war geschrieben und nun musste ich nur noch einen kleinen Zettel für den hiesigen Einkaufsladen schreiben. Nicht, dass ich diese Sachen nicht auch in den anderen Märkten bekommen hätte. Allerdings fand ich mich irgendwie dazu verpflichtet, unseren alteingesessenen Laden zu unterstützen. Bei Weitem kaufte ich dort nicht alles. Ich konnte es mir einfach nicht leisten und wollte es auch gar nicht. Auch ich musste sparen. Zwar nicht mehr so sehr wie in den ersten Jahren, trotzdem wollte ich mein Geld nicht zum Fenster hinausschmeißen.

Ungefähr acht bis zehn Dinge kaufte ich bei Familie Bartsch ein. Dieser Laden bestand schon lange und wurde inzwischen in der dritten Generation geführt.

Nachdem ich meinen Becher geleert hatte, stellte ich ihn auf den Schreibtisch und schnappte mir Zettel und Stift. Jetzt war der letzte Einkaufszettel dran. Die Bartsche-Liste, wie ich diesen Einkaufszettel immer nannte. Für heute hatte ich mich dazu entschlossen, zwölf Dinge auf die Bartsche-Liste zu schreiben, was allerdings nicht ausschließlich meiner Großzügigkeit geschuldet war. In den letzten Wochen hatte die Familie Bartsch immer häufiger tolle Sparangebote. Entweder hatten sie dazugelernt oder einfach einen günstigeren Lieferanten gefunden. Wie auch immer. Ich freute mich darauf, heute Abend meinen Einkauf zu machen, und besonders freute ich mich auf die Familie Bartsch, die mich immer so nett bediente.

Ja, ich hatte doch eine ganze Menge von meiner Mutter geerbt. Die Verteilung der Gene war ziemlich ausgeglichen ausgefallen.

Die nächsten Stunden kümmerte ich mich um mein Hotel. Zimmerkontrolle war angesagt. Auch wenn ich wusste, dass ich mich auf meine Mitarbeiter verlassen konnte, wollte ich nicht darauf verzichten, ihre Arbeit zu begutachten. Das Wort Kontrolle vermied ich, so gut es ging. Ich wollte niemanden kontrollieren. Mein Ziel war es, ein schönes Arbeitsklima ohne Kontrollen zu bieten. Nur wer sich wohlfühlte, konnte auch eine gute Leistung im Job erzielen. Ebenso wie das Wort Kontrolle vermied ich es auch, ein weiteres Wort in den Mund zu nehmen.

Angestellte war dieses Wort. Auch wenn das Wort an sich keinen wirklich negativen Touch hatte, sagte ich es so gut wie nie. Wenn es mir tatsächlich mal über meine Lippen kam, verbesserte ich mich meistens schnell. Die Menschen, die für mich arbeiteten, waren meine Mitarbeiter. Sie arbeiteten mit mir. Zusammen waren wir stark. Gemeinsam waren wir ein Team. Nur in einer nahezu perfekten Gemeinschaft waren wir in der Lage, auch unseren Gästen einen nahezu perfekten Aufenthalt zu bieten.

Mit einem Lächeln im Gesicht kam ich aus dem letzten der Zimmer. Einige hatte ich mir in den vergangenen beiden Stunden angesehen und auch dort nachgeschaut, wo erfahrungsgemäß das Säubern gerne mal vergessen wurde.

Ich war stolz. Verdammt stolz und verdammt glücklich!

Nichts, aber auch gar nichts gab es zu bemäkeln. Meine Mitarbeiter hatten wirklich tolle Arbeit geleistet, und ich freute mich schon jetzt darauf, es ihnen bei der nächsten Teamsitzung mitteilen zu dürfen. Am liebsten hätte ich sofort eine angesetzt, was allerdings den kompletten Tagesablauf auf den Kopf gestellt hätte. Meinen Mitarbeitern hätte ich diese kleine Auszeit gegönnt. Allerdings musste ich selbstverständlich auch an meine, nein, an UNSERE Gäste denken.

Bei meinem Blick auf die Uhr erschrak ich fast ein wenig. Die letzten Stunden waren wie im Fluge vergangen. Schnell machte ich mich auf den Weg in mein Büro und holte die Einkaufszettel, die noch immer auf meinem Schreibtisch lagen.

Nachdem ich auch meine Einkaufskisten im Wagen verfrachtet hatte, stieg ich ebenfalls ein.

Ich war bereit. Der Großeinkauf konnte gestartet werden.

„Auf in den Kampftag.“

Ich lachte freudig über meinen Satz, den ich relativ laut durch das Auto rief. Meine Eltern wären in diesem Moment stolz auf mich gewesen.

Begegnung

Als ich an diesem Morgen erwachte, war etwas anders, das spürte ich sofort, als ich die Augen aufschlug. Nachdem ich die Gardinen vor dem Fenster meines Zimmers zurückgezogen hatte, stockte mir einen Moment lang der Atem, als ich die Winterwelt vor meinem Fenster entdeckte.

Bei meiner Ankunft in Lüneburg war es kalt gewesen und hatte gefroren. Aber seitdem waren die Temperaturen immer höher gestiegen und das Wetter hatte sich die letzten Tage von seiner norddeutschen Weihnachtsseite gezeigt. Wir hatten sechs bis acht Grad, grauen Himmel und Nieselregen gehabt. Ja, nicht gerade perfektes Weihnachtswetter.

Doch über Nacht waren die Temperaturen anscheinend in den Minusbereich gefallen und der Frost hatte alles mit einer weißen Schicht überzogen. Die Scheiben der Autos waren zugefroren, das, was gestern noch eine ungepflegte Rasenfläche vor dem Haus gewesen war, war nun eine weiße Fläche, die in der Sonne glitzerte. An meinem Fensterrahmen war ein altes Spinnennetz mit Tausenden eiskalter Kristalle überzogen und funkelte wie kleine Diamanten. Staunend stand ich einen Moment lang nur da und sog diesen wunderschönen Anblick in mich auf. Ich konnte mich gar nicht daran sattsehen. Am liebsten hätte ich noch stundenlang hier gestanden, doch ich musste los, wenn ich pünktlich beim Weihnachtsbaumverkauf sein wollte. Noch drei Tage, dann war Heiligabend, morgen war der vierte Advent. Wer weiß, vielleicht würde es dieses Jahr wieder einmal weiße Weihnachten geben?

Als ich aus dem Haus trat, sog ich die kalte Luft tief in meine Lungen. Es roch tatsächlich ein wenig nach Schnee.

Heute hatten Mark und ich echte Probleme, all die Kunden zu bedienen, die einen Baum kaufen wollten. Vielleicht lag es daran, dass morgen bereits der vierte Advent und in drei Tagen Weihnachten war.

Ich kannte es von früher, als ich noch ein Kind gewesen war. Am Samstag vor dem vierten Advent wurde traditionell der Baum besorgt und zu Hause im Garten auf seinen Fuß gestellt, damit die Zweige, die durch das Netz nach oben gedrückt wurden, sich wieder senken konnten. So hatte der Weihnachtsbaum ein paar Tage Zeit, seine volle Pracht zu entfalten. An Heiligabend wurde er dann ins Haus geholt, und es war meine Aufgabe gewesen, ihn gemeinsam mit meinem Papa zu schmücken, während meine Mama in der Küche den Weihnachtsbraten vorbereitete.

Nachmittags haben wir dann immer alle gemeinsam mit meinen Großeltern Kaffee getrunken und danach war die Bescherung. Ein Päckchen nach dem nächsten wurde aus dem großen braunen Jutesack gezogen und in aller Ruhe ausgepackt, bevor der nächste ein Geschenk bekam. Manchmal dauerte eine Bescherung bei uns dadurch drei Stunden, aber es war herrlich, die Vorfreude und die Aufregung, ob wohl noch ein Päckchen für mich in dem Sack war, ob all meine Wünsche erfüllt werden würden. Ich hatte mir immer besonders viel Mühe mit meinem Wunschzettel gemacht und in absoluter Schönschrift in verschiedenen Farben aufgeschrieben, was der Weihnachtsmann mir bringen sollte. Der Zettel wurde dann noch mit passenden kleinen Zeichnungen um den Rand herum verziert, bevor ich ihn in einem Umschlag auf meinen Nachttisch legte, wo er am Nikolaustag abgeholt wurde. Meine Eltern hatten mir immer erzählt, der Nikolaus holt den Wunschzettel und übergibt ihn an den Weihnachtsmann. Selbst als ich längst aus dem Alter raus war, an den Weihnachtsmann zu glauben, gefiel mir dieses Ritual so gut, dass ich es weiterführte, und ich nahm mir vor, es mit meinem Kind ebenso zu machen und diese Tradition weiterzuführen.

„Ist alles gut? Hast du Bauchschmerzen?“ Ich schreckte aus meinen Träumereien auf, als Mark mich ansprach.

„Äh … Nein, wie kommst du darauf?“

Sein Blick wanderte auf meinen Bauch und ich schaute an mir hinab. Unbewusst hatte ich beide Hände auf meine kleine Kugel gelegt, während ich in meinen Erinnerungen versunken war. Schnell nahm ich sie hinunter und vergrub sie in den Taschen meiner dicken Daunenjacke.

„Ach so, nein. Alles gut. Ich glaube, ich hab nur ein wenig Hunger.“

„Na dann, lass uns doch noch eine Bratwurst essen gehen, ich bin hier gleich fertig, ich muss nur noch den Zaun abschließen.“

Ich zögerte kurz, aber der Gedanke an eine fetttriefende Bratwurst und ein paar Pommes dazu ließ mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen und mein Magen fing lautstark an zu knurren.

Ein paar Minuten später standen wir nebeneinander an einem der Stehtische vor der Wurstbude und warteten auf unsere Bestellung. Mein Blick wanderte über den großen Parkplatz, der sich allmählich leerte. In einer halben Stunde würde der Supermarkt schließen.

„Was machen die eigentlich mit den ganzen Gemüsekisten dahinten?“, fragte ich Mark und deutete in Richtung des Anlieferungsbereiches. Bereits in den letzten Tagen war mir mehrfach aufgefallen, dass die Mitarbeiter jeden Abend mehrere Kisten mit Obst, Gemüse und auch Brot dort aufstellten.

„Das geht zur Entsorgung.“ Ich verschluckte mich an dem Bissen Bratwurst, an dem ich gerade gekaut hatte.

„Wie bitte? Das wird weggeschmissen?“, fragte ich entsetzt, als ich wieder Luft bekam.

„Ja, ich kenne die genauen Vorgaben nicht, aber was nicht mehr verkauft werden darf, wird weggeworfen.“

Ich war völlig fassungslos.

„Aber warum wird das denn nicht gespendet? Ich weiß nicht, für irgendeine Obdachlosentafel oder so?“

„Auch die Tafeln dürfen solche Lebensmittel nicht mehr annehmen. Und der Hohn an dem Ganzen ist, wenn wir jetzt hingehen würden und uns, sagen wir, ein paar Äpfel mitnehmen würden, weil sie noch gut genug für uns sind, wäre es Diebstahl. Wir würden angezeigt werden.“

„Aber das kann doch nicht sein! Auch hier gibt es Menschen, die hungern. Warum können die nicht …“

„Weil es das Gesetz so will. Was soll der Supermarkt denn machen? Sie würden sich strafbar machen, wenn sie die Sachen weggeben würden.“

„Ich würde die Sachen mit Kusshand nehmen!“ Nachdem ich mich in der letzten Zeit hauptsächlich von Brot ernährt hatte, sehnte ich mich regelrecht danach, mal wieder in einen Apfel zu beißen. Doch mein Budget gab Obst und Gemüse im Moment leider nicht her, ich musste all mein Geld sparen, in der Hoffnung, die Miete bei Barbara noch für eine weitere Woche zahlen zu können.

Nachdenklich sah Mark mich nach meinen letzten Worten an. Ich hatte das nicht laut sagen wollen, es war mir einfach so rausgerutscht, und jetzt schämte ich mich ein wenig dafür. Er kannte mich kaum, hatte keine Ahnung, in welchen Verhältnissen ich lebte. Er sah sicher auch nur das teure Auto, das ich fuhr, und die Markenklamotten.

„Du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn du etwas brauchst, oder? Ich wollte es dir schon längst anbieten, aber ich wusste nicht so recht wie, ohne dich vor den Kopf zu stoßen und zu beschämen. Ich weiß, du bist nicht die, die du zu sein scheinst – ansonsten würdest du nicht für mich arbeiten. Wenn du irgendetwas brauchst – ganz egal was, und sei es nur eine warme Mahlzeit –, du kannst immer zu mir kommen.“

Marks Worte hatten mich berührt. In den letzten Tagen war er für mich wie eine Art väterlicher Freund geworden, dennoch hatte ich nicht damit gerechnet, dass er mich so sah. Ich wollte sein Angebot nicht annehmen, dazu war ich zu stur, und wollte es allein schaffen, doch es war gut zu wissen, dass es jemanden gab, an den ich mich im Notfall wenden konnte.

Nachdenklich machte ich mich auf den Weg zu meinem Auto, das ganz hinten auf dem Parkplatz in einer verlassenen Ecke stand.

Als ich an den Müllcontainern vorbeiging, blieb ich stehen. Noch immer konnte ich nicht fassen, dass all diese Lebensmittel einfach weggeworfen wurden. Als ich dichter an die Kisten herantrat, konnte ich erkennen, dass das Gemüse und das Obst noch absolut essbar aussahen. Ja, klar, es hatte die eine oder andere Druckstelle, doch wenn ich daran dachte, wie es in anderen Ländern aussah. Ich erinnerte mich daran, wie ich einmal auf Teneriffa einen Markt besucht hatte. Dort hatten wir Pfirsiche gekauft, die auch bereits Druckstellen hatten – aber es waren die köstlichsten Pfirsiche, die ich je gegessen hatte. Sie waren nicht perfekt rund und gleichmäßig, aber so süß und saftig, dass mir allein beim Gedanken daran das Wasser im Munde zusammenlief.

„Sie wissen, dass es eigentlich Diebstahl ist, wenn Sie davon etwas mitnehmen, oder? Soll ich aufpassen, dass keiner kommt?“ Eine tiefe Stimme riss mich aus meinen Gedanken und erschreckt drehte ich mich um. Sprachlos starrte ich den hochgewachsenen, leicht schlaksigen Mann an, der mich ebenso erstaunt musterte. Als er mich erkannte, verdüsterte sich sein Gesicht schlagartig. Erinnerungen an lang vergangene Zeiten kamen in mir auf. Er sah noch immer genauso gut aus wie damals, obwohl er mich alles andere als freundlich anschaute. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, und für den Bruchteil einer Sekunde vergaß ich, was damals zwischen uns geschehen war. Dann kam der Schmerz zurück, den ich seinetwegen empfunden hatte. Doch auch er war augenscheinlich alles andere als begeistert, mich hier zu sehen. Die Augenbrauen zusammengezogen, die Hände tief in den Taschen einer ausgewaschenen Jeans vergraben, stand er da. Je länger wir uns anschauten, desto mehr verdüsterte sich sein Gesicht, und ich spürte, wie bei mir eine Art Fluchtinstinkt einsetzte. Ich musste mich zwingen, vor ihm stehen zu bleiben, mich nicht einfach umzudrehen und wegzulaufen. Von allen Menschen, die ich hier in Lüneburg einmal gekannt hatte, war er der Einzige, den ich niemals wiedersehen wollte. Erinnerungsfetzen zuckten wie Flashbacks vor meinem inneren Auge. Szenen von glücklichen Zeiten – vielleicht die glücklichsten meines Lebens. Bis zu jenem Tag …

„DU!“ Nur ein einziges Wort kam aus Tores Mund, ausgesprochen voller Wut und Hass. Ich zuckte zusammen, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Hallo, Tore. Wie geht es dir?“ Wie eine Art Schutzmechanismus, weil ich eigentlich nicht wusste, was ich sagen sollte, verfiel ich in Small Talk. Das hatte ich mir über die letzten Jahre in der Münchener High Society angeeignet. Wenn du nichts zu sagen weißt, mach Small Talk.

Tore schüttelte leicht den Kopf, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. Na klar, mit solch einer Reaktion hatte er wohl am wenigsten gerechnet.

„Was willst du hier?“, fragte er, ohne auf meine Worte einzugehen.

„Ich …“ Bewusst stellte ich mich aufrecht hin und straffte die Schultern, weil ich merkte, wie schwer es mir fiel, ihm gegenüberzustehen. „Ich wohne hier. Also, nicht hier direkt natürlich. Ich wohne ja nicht in einem Supermarkt. Aber hier in Lüneburg.“ Verdammt, was gab ich eigentlich für einen Mist von mir?

„Hab ich mich also doch nicht verguckt vorhin. Ich dachte, es wäre nur eine böse Halluzination, als ich dich am Weihnachtsbaumstand verkaufen sah. Aber nein, das warst wohl tatsächlich du. So, so, bist du so tief gefallen, dass du jetzt Weihnachtsbäume für einen Hungerlohn verkaufen musst? Was ist mit deinem tollen, reichen Macker geschehen? Ach egal, ich will es gar nicht wissen.“

Seit wann war Tore derart arrogant geworden? Ich wurde sauer, weil er versuchte, mich runterzumachen. Das wollte ich mir nicht bieten lassen und so blaffte ich ihn an:

„Auch Weihnachtsbäume zu verkaufen, ist eine Arbeit, die jemand machen muss. Warst du es nicht immer gewesen, der mir erzählt hat, es gäbe keine niederen Jobs? Dass es egal wäre, welcher Arbeit man nachginge, und dass man gerade denjenigen dankbar sein müsste, die einen Job machen, den sonst keiner will? Warst du nicht derjenige, der den Reinigungskräften immer besonders viel gegeben hat, weil du meintest, man müsste sie wertschätzen für das, was sie tun?“ So langsam hatte ich mich in Rage geredet.

„Auf so eine Diskussion werde ich mich ganz sicher nicht mit jemandem wie dir einlassen.“ Verächtlich musterte er mich von oben bis unten, als wäre ich eine dreckige Kakerlake, die er am liebsten zermalmen würde.

„Wie schön! Ich hab nämlich auch keine Lust auf ein weiteres Gespräch mit dir. Normalerweise wäre ich so höflich, zu sagen, es war schön, dich getroffen zu haben. Aber nein, es war nicht schön, auf diese Begegnung hätte ich gern verzichtet.“

Mit diesen Worten ging ich an ihm vorbei zu meinem Auto und stieg ein. Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte, merkte ich, wie sehr meine Hände nach dieser Begegnung zitterten. Tore Jacobsen. Der Mann, den ich nie wiedersehen wollte.

Ich parkte aus und fuhr in Richtung der Parkplatzausfahrt. Als ich an den Müllcontainern vorbeikam, stand Tore noch immer dort und schaute mir hinterher. In der Dunkelheit konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, doch ich war mir ziemlich sicher, er war froh, dass ich weg war.

Rasend

Nicht nur das zufällige Treffen mit meiner Vergangenheit hatte mich rasend gemacht. Auch das Gaspedal meines Autos drückte ich auf der Landstraße bis zum Anschlag durch und so raste ich auf dem schnellsten Wege nach Hause.

Wenn ich nicht diese dämlichen Einkäufe in meinem Wagen gehabt hätte, wäre ich sofort in die Küche gelaufen und hätte mir ein Bier aus dem Kühlschrank geholt. Ein Bier würde diese unangenehme Begegnung mit der Frau, deren Namen ich niemals wieder aussprechen wollte, zwar nicht löschen, allerdings bestand die Möglichkeit, dass es mir anschließend etwas besser ginge.

Die Kisten standen nicht nur in der Abstellkammer, ich hatte sie auch bereits geleert. Ebenso wie das erste Bier, von dem nur noch die leere Flasche auf meiner Arbeitsplatte in der Küche zu erkennen war.

Schnell griff ich nach einer zweiten Flasche und hoffte darauf, dass diese irgendeine Wirkung brachte. Konnte es nicht ein Zaubertrank sein, der dafür sorgte, dass es wieder wie vor einer Stunde war? Gab es nicht die Möglichkeit, irgendetwas zu unternehmen, dass die Zeit zurückgedreht werden würde? Nur um eine einzige verkackte Stunde. Nur um sechzig Minuten, die mir genügen würden, wieder in meiner Welt zu landen. In meiner Welt, in der diese Frau absolut nichts mehr zu suchen hatte. Ich würde meine Einkaufstour anders legen. Hätte diesen Parkplatz gemieden. Vielleicht hätte ich dann den ganzen Einkauf auf morgen verschoben.

Es gab circa 75 000 Einwohner in Lüneburg. Warum um alles in der Welt musste ich ausgerechnet meiner Vergangenheit über den Weg laufen? Warum konnte nicht irgendjemand auf mich aufpassen? Mir Schutz geben? Warum nur um alles in der Welt hatte jemand zugelassen, dass ich diese Frau, deren Namen ich niemals wieder aussprechen wollte, heute treffen musste?

Und Mark! Wie konnte Mark ein gemeinsames Spiel mit ihr machen? Er hatte ihr tatsächlich einen Job gegeben. Was hatte er plötzlich gegen mich? Wie konnte er mir so was antun? Was hatte ich ihm getan?

„Er kennt diese Frau, die mich in meiner Vergangenheit so sehr verletzt hatte, gar nicht.“

Laut sprach ich mal wieder mit mir selbst.

„Sie war es, die Mark für ihre Spielchen ausgenutzt hatte.“ Erneut sagte ich etwas, und es tat gut, mir den Frust von der Seele zu reden.

„Dieses Miststück! Die ist ganz sicher nur für einen Kurztrip hierhergekommen, um mir mein Leben kaputtzumachen! Wahrscheinlich hat sie mitbekommen, dass es mir gut geht. Genau wie damals auch, gönnt sie es mir auch heute noch nicht, glücklich zu sein.“

Aber wie passt es dann, dass sie bei den Mülltonnen nach Essen sucht?

Erst jetzt kam mir dieser Gedanke, doch ich schob ihn fast sofort wieder beiseite. Ich wollte nicht über sie und das, was sie tat, nachdenken.

Das zweite Bier war geleert. Ob eine dritte Flasche helfen würde? Ob ich diese dumme Schlampe nach einer dritten Flasche vergessen konnte? Vielleicht war sie danach weg?

Oder war sie gar nicht da? Hatte ich mir alles nur eingebildet? Vielleicht träumte ich ja auch nur? Mit meiner Faust schlug ich auf die Küchenablage. Schnell kamen Schmerzen in mir auf, und ich vergaß tatsächlich einen Augenblick lang die Gedanken an die Frau, deren Namen ich niemals wieder aussprechen wollte.

Leider vergingen die Schmerzen wieder. Dafür war meine Begegnung von vorhin wieder präsent. Wahrscheinlich sogar präsenter als vor meinem Schlag.

Ich hatte mich inzwischen gegen ein drittes Bier entschieden. Alkohol konnte keine Lösung sein. Stattdessen war ich dabei, mir einen Kaffee aufzusetzen. Während das Wasser in den Filter lief, kam mir einer meiner Sätze von vorhin in mein Gedächtnis zurück.

„So, so, bist du so tief gefallen, dass du jetzt Weihnachtsbäume für einen Hungerlohn verkaufen musst?“

Ich murmelte ihn vor mich hin und wiederholte ihn mehrmals.

Wie konnte ich eine solche Aussage treffen? Nicht, dass es mir IHR gegenüber leidtat. Aber Mark war mein Freund. Hatte ich tatsächlich so abwertend über einen Freund gesprochen? Waren es wirklich meine Worte, die ich über die Arbeit von Mark gesagt hatte?

So, so, bist du so tief gefallen, dass du jetzt Weihnachtsbäume für einen Hungerlohn verkaufen musst?

Immer wieder flog dieser Satz durch meine Gedanken. Das war nicht ich. So was sagte ich niemals. Im Gegenteil, ich verurteilte alle Menschen, die solche Aussagen tätigten.

Es gab keine schlechten Arbeiten. Es gab lediglich Menschen, die Schlechtes über einige Tätigkeiten sagten.

Gehörte ich jetzt zu diesem Menschenschlag dazu? Außerdem hatte ich keine Ahnung, was Mark der Frau, deren Namen ich niemals wieder in den Mund nehmen wollte, bezahlte.

„Scheiße!“ Laut und deutlich sagte ich dieses Wort.

Ein einziges Treffen hatte mich derart aus der Bahn geworfen. Es fühlte sich fast an wie DAMALS.

Wie dieses DAMALS, das ich nie wieder erleben wollte. Kein Mensch durfte mir jemals wieder so etwas antun.

Und doch war es eben passiert. Was wollte SIE hier? Wie sah ihr Plan aus?

Plötzlich kam ein weiterer Satz von vorhin zu mir zurück.

„Was ist mit deinem tollen, reichen Macker geschehen? Ach egal, ich will es gar nicht wissen.“ Reden befreite! Mein Kaffee war inzwischen auch fertig, und so setzte ich mich auf den Hocker, der sich in meiner Küche befand.

„Ganz sicher fährt sie schon bald zu ihm zurück. Immerhin hatte sie diese typischen Angeber-Klamotten an und ein teures Angeber-Auto war sie ebenfalls gefahren.“

Langsam kam ich etwas runter. Meine Gedanken ließen sich sortieren und einordnen.

„Wäre es doch mit der Buchhaltung auch so leicht, sie zu sortieren und einzuordnen.“ Ich lachte über meine Worte. Doch sofort verstummte dieses Lachen abrupt.

War ich etwa für das Erscheinen von der Frau, deren Namen ich niemals wieder sagen wollte, selbst verantwortlich? War ich es nicht, der während der Buchhaltung an sie gedacht hatte? Hatte ich nicht sogar daran gedacht, dass sie hierher passen würde?

Ich mache das Hotel und sie die Büroarbeit.

Während ich mir diesen Satz aus der Erinnerung kramte, stieg ein Unwohlsein in mir auf.

Ich hatte SIE selbst gerufen. Hatte es mir gewünscht.

„Scheiße, sonst gehen Wünsche doch auch nicht in Erfüllung!“ Ich schrie diesen Satz durch das inzwischen geöffnete Küchenfenster hinaus.

„Verpiss dich! Ich will dich niemals wiedersehen!“ Diese Worte schickte ich hinterher und verschloss anschließend das Fenster wieder.

Wenn sich meine anderen nicht beabsichtigten Wünsche erfüllten, musste es doch auch mit diesem funktionieren.

Ich nahm mir vor, Mark über alles zu informieren. Allerdings nicht mehr heute.

Nochmals wollte ich nicht über die Frau, deren Namen ich niemals wieder sagen wollte, reden.

Auch nicht mit meinem Freund Mark!

Harte Wochen

Als ich an der Pension ankam, war ich noch immer wütend. Ich knallte meine Autotür viel zu laut zu und stapfte in Richtung Haustür.

Barbara saß im Vorraum hinter ihrem Tresen.

Die hat mir gerade noch gefehlt, dachte ich genervt. Ich hatte jetzt keine Lust mehr, mit irgendjemandem zu sprechen, daher murmelte ich nur einen Gruß und ging an ihr vorbei. Mit einem Fuß bereits auf der ersten Stufe blieb ich stehen, als sie nach mir rief.

„Du denkst daran, dass morgen die nächste Miete fällig wird, oder?“

„Wie bitte? Geht’s noch? Die Woche ist noch nicht um! Ich habe am 17. für eine Woche bezahlt, morgen ist aber erst der 22.!“

Barbara schaute fies grinsend zu mir herüber und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Dann hob sie die Schultern und zwinkerte mir zu.

„Meine Pension, meine Regeln. Ich hab dir von Anfang an gesagt, wenn du Ärger machst, fliegst du raus. Morgen früh bekomme ich vierhundert Euro von dir. Wie lange das reicht, kommt darauf an, wie sehr du hier mitarbeitest.“

Einen Moment lang blieb mir die Luft weg. Vierhundert Euro? Wie sollte ich das bezahlen? Ich wusste es nicht! Verzweifelt ging ich zu ihr hinüber zum Tresen.

„Aber das können Sie doch nicht machen. Das kann ich nicht zahlen! Ich hab mir diese Pension ausgesucht, weil sie günstig war, aber das … Das ist doch Wucher!“

Ungerührt zuckte Barbara nur mit den Schultern.

„Es steht dir jederzeit frei, zu gehen. Ich weiß, dass du das zahlen kannst – dafür muss ich mir nur deinen teuren Wagen und die schicken Klamotten anschauen.“

„Ich hab das Geld nicht! Ehrlich! Können wir das nicht irgendwie anders regeln? Bitte, es ist doch Weihnachten!“, flehte ich sie fast schon an. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, doch ich weigerte mich, vor Barbara loszuheulen. Mein Gefühl sagte mir, dass meine Tränen sie nur noch mehr gegen mich aufbringen würden.

Nachdenklich musterte sie mich, dann zog sie die Lippen kraus.

„Ich hätte ja eine Idee, wie du dir die Miete hier verdienen könntest.“ Ich horchte auf. Bot Barbara mir gerade einen Job an? Ein wenig Hoffnung regte sich in mir. Sollte ich mich doch in ihr getäuscht haben?

„Was soll ich dafür machen?“, fragte ich freudig nach. „Die Zimmer putzen? An was hatten Sie gedacht?“

Barbara lachte schallend auf.

„Bist du wirklich so naiv oder hast du es echt noch nicht geschnallt? In was für einer Welt lebst du eigentlich? Du hast doch Kurt bereits kennengelernt. Glaubst du wirklich, Geschäftsmänner wie er würden hier bei mir absteigen, wenn ich ihnen nicht noch ein gewisses Extra bieten würde? So ein Mädchen wie dich kann ich immer gebrauchen. Unschuldig, naiv, jung und knackig – da stehen meine Gäste drauf.“

Noch immer verstand ich nicht ganz, was sie mir damit sagen wollte, doch eine Ahnung beschlich mich.

„Soll das heißen, das hier ist ein Puff?“, fragte ich entsetzt. Ich konnte es mir nicht vorstellen, doch andererseits … Die Frau, mit der ich Kurt neulich Abend gesehen hatte, seine vermeintliche Einladung. Okay, wie es aussah, hatte er mit „gemeinsam Spaß haben“ etwas völlig anderes gemeint, als ich gedacht hatte.

„Ach komm, ein Puff! Ich führe eine ganz normale Pension. Na gut, meine Gäste müssen nicht immer gleich für die ganze Nacht buchen, es geht auch nur für ein paar Stunden. Und wenn sie selbst keine Begleitung dabeihaben, helfe ich ein wenig bei der Vermittlung.“

Ich war schockiert! Sprachlos starrte ich Barbara an und wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Also, wie sieht es aus? Willst du dir nicht ein wenig dazuverdienen? Kurt zahlt wirklich gut!“

Schützend legte ich meine Hand auf meinen Bauch. Nein! Und wenn ich in meinem Auto schlafen müsste, so verzweifelt könnte ich nicht sein. Mein Baby würde keine Prostituierte zur Mutter haben!

Wortlos drehte ich mich zur Treppe und ging nach oben. Ich hörte noch, wie Barbara mir hinterherrief: „Die junge Dame ist sich anscheinend zu fein, zu arbeiten. Du hast Zeit bis morgen früh, dich zu entscheiden. Entweder du zahlst oder du fliegst raus. Alternativ könnte ich dir auch Kurt vorbeischicken – er würde sich freuen, dich mal so richtig durchzunehmen.“

Mir war eiskalt, als ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir ins Schloss drückte. Einen Moment lang lehnte ich mich dagegen. Ich war geschockt von dem, was gerade passiert war, und konnte es noch immer nicht ganz glauben. Die Drohung, die in ihren letzten Worten mitgeschwungen hatte, war mir nicht entgangen.

Übelkeit drehte mir den Magen um, als in meinem Kopf Bilder auftauchten, wie Kurt auf mir lag.

Schnell riss ich die Tür auf und rannte über den Flur in das Gemeinschaftsbad. Gerade eben schaffte ich es noch, die Toilettenschüssel zu treffen und mich nicht auf dem Boden zu übergeben.

Nachdem mein Magen restentleert war, lehnte ich meine verschwitzte Stirn gegen die kalten Fliesen. Eines war mir klar, ich musste hier weg! Morgen früh würde ich meine Sachen ins Auto laden und zusehen, dass ich eine andere Bleibe fand. Hier konnte ich nicht bleiben, selbst wenn ich es hätte bezahlen können, hätte ich in diesem Haus keine ruhige Minute mehr.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt hatte, schaute ich auf meine Armbanduhr. Mittlerweile war es bereits nach elf – viel zu spät, um noch heute aufzubrechen, auch wenn ich es zu gern würde.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer kam mir Kurt entgegen. Süffisant grinste er mich an, dann hob er die Hand und legte sie sanft auf meine Wange. Sofort trat ich einen Schritt zurück, raus aus seiner Reichweite, doch er folgte mir. Mit dem Rücken an die Wand gepresst, starrte ich ihn an wie das sprichwörtliche Kaninchen die Schlange. Ich wartete, was jetzt passierte, wie er reagierte, ob er zudringlich werden würde. Doch nichts geschah. Er grinste mich nur an und zwinkerte mir zu.

„Keine Sorge, heute lasse ich dich noch in Ruhe. Morgen Abend werden wir unseren Spaß haben. Bis dahin darfst du dich gern noch zieren. Das steigert meine Vorfreude, wenn du verstehst.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752127614
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Mann Frau Winter Weihnachtsroman Hamburg Roman Sehnsucht Liebe Vertrauen Winterzeit

Autoren

  • Ben Bertram (Autor:in)

  • Kerry Greine (Autor:in)

Ben Bertram ist ein Hamburger Jung. Er erblickte er das Licht der Welt und fand im Umgang mit Wort und Witz schnell ein Hobby, welches er pflegt. Er verbringt viel Zeit auf der Sylt, auf die er sich auch gerne zum Schreiben zurückzieht. Kerry Greine ist Autorin aus Leidenschaft. Sie ist eine Träumerin, Bloggerin, Tänzerin und emotionale Chaotin. Ein Dorfkind mit großer Liebe zu Hamburg. So viel Zeit wie möglich verbringt sie mit ihrer "Wauz" auf Sylt, denn im Herzen ist sie ein Inselkind.
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